Mann und Weib



Glasgow.

Zweiunddreißigstes Kapitel - Anne consultirt Advocaten

An dem Tage, wo Sir Patrick das zweite Telegramm von Edinburgh erhielt, wurden vier respectable Bewohner der Stadt Glasgow durch das Erscheinen eines interessanten Gegenstandes an dem monotonen Horizont ihres täglichen Lebens in Aufruhr versetzt. Die Personen, welche in dieser Weise aufgeregt wurden, waren Mr. und Mrs. Karnegie, Besitzer des »Schöpfen-Hotels«, und die Herren Camp und Crum, Beide Advocaten.

Es war noch früh am Tage, als eine Dame in einem Fiaker, von der Eisenbahn vor dem »Schöpfen-Hotel« anlangte; ihr Gepäck bestand aus einem schwarzen Koffer und einer abgenutzten ledernen Reisetasche. Der Name auf dem Koffer, wie er auf einem frischen Gepäck zettel geschrieben stand, war ein in Schottland und England sehr wohltönender, einer großen Anzahl von Damen gemeinsamer: Mrs Graham.

Mrs. Graham bat den in der Thür des Hotels stehenden Wirth, ihr ein Schlafzimmer anzuweisen, und wurde alsbald dem dienstthuenden Hausmädchen übergeben.

Als Mr. Karnegie in den Raum hinter dem Schenktisch, wo die Rechnungen geführt wurden, zurückkehrte, überraschte er seine Frau durch schnellere Bewegungen und ein heitereres Aussehen, als sie bei ihm gewöhnlich waren. Mr. Karnegie, der sich den schwarzen Koffer auf dem Vorplatz betrachtet hatte, meldete, daß eben eine Mrs. Graham angekommen und auf der Stelle als Bewohnerin des Zimmers No. 17. zu buchen sei. Da seine Frau ihm in wenig verbindlicher Weise zu wissen that, daß diese Mittheilung durchaus nicht genüge, um das Interesse, welches eine völlig Fremde bei ihm erregt zu haben scheute, zu erklären, rückte Mr. Karnegie mit der Sprache heraus und berichtete, daß Mrs. Graham die hübscheste Frau sei, die er seit langer Zeit gesehen habe, und daß er fürchte, es stehe mit ihrer Gesundheit nicht zum Besten.

Bei dieser Antwort wurden Mrs. Karnegie’s Augen bebeutend größer und ihre Wangen bedeutend rother. Sie erhob sich von ihrem Stuhl und erklärte, es werde wohl eben so gut sein, wenn sie die Einführung Mrs. Graham’s in ihr Zimmer selbst überwache und sich selbst überzeuge, ob Mrs. Graham ein passender Gast für das »Schöpfen-Hotel« sei.

Darauf that Mr. Karnegie was er immer that, er stimmte seiner Frau bei.

Mrs. Karnegie entfernte sich auf kurze Zeit. Bei ihrer Rückkehr richteten sich ihre Augen mit einem tigerartigen Ausdruck auf ihren Gatten; sie beorderte Thee und eine leichte Erfrischung auf No. 17 und wandte sich, nachdem sie das gethan hatte, ohne daß sie irgend wie zu einer beleidigenden Bemerkung gereizt worden wäre, gegen Mr. Karnegie mit den Worten: »Karnegie, Du bist ein Narr!«

Karnegie fragte: »Warum liebes Kind?«

Mrs Karnegie schnalzte mit den Fingern und sagte: »Das gebe ich für ihr hübsches Gesicht, wenn Du die hübsch findest, weißt Du nicht, was eine hübsche Frau ist!«

Mr. Karnegie stimmte seiner Frau bei. Dann sagten Beide nichts weiter und der Kellner erschien mit seinem Theebret am Schenktisch. Nachdem Mrs. Karnegie das Theebret hatte fortbringen lassen, ohne ihre gewöhnliche Untersuchung mit demselben anzustellen, setzte sie sich plötzlich heftig nieder und sagte zu ihrem Gatten, der inzwischen kein Wort geäußert hatte: »Sprich mir nicht von ihrer schlechten Gesundheit. Das gebe ich für ihre schlechte Gesundheit, Sie hat Kummer!«

Mr. Karnegie sagte: »In der That?s«

Mrs. Karnegie erwiderte: »Wenn ich etwas gesagt habe, so betrachte ich es als eine Beleidigung, wenn jemand Anderes fragt, ob es sich in der That so verhält.«

Mr. Karnegie stimmte seiner Frau bei.

Es entstand eine neue Pause. Mrs. Karnegie schrieb mit dem Ausdruck der Entrüstung eine Rechnung aus. Mr. Karnegie sah sie erstaunt an. Mrs. Karnegie fragte ihn möglich, »Warum er seine Zeit damit vergeude, sie anzusehen, da er doch binnen Kurzem wieder Mrs. Graham ansehen könne.«

Darauf versuchte Mr. Karnegie die Sache dadurch gütlich beizulegen, daß er inzwischen seine eigenen Stiefel ansah.

Mrs. Karnegie fragte nun, ob sie nach einer zwanzigjährigen Ehe vielleicht einer Antwort von ihrem eigenen Manne würdig wäre. Wenn er sie mit der einfachsten Höflichkeit, mehr erwarte sie nicht, behandelt hätte, so würde sie ihm noch weiter mitgetheilt haben, daß Mrs. Graham im Begriff stehe auszugehen; vielleicht hätte sie sich auch bewogen gefunden zu erwähnen, daß Mrs. Graham eine sehr merkwürdige Frage geschäftlicher Natur an sie, während sie oben war, gerichtet habe. Wie die Dinge aber nun standen, wären Mrs. Karnegie’s Lippen geschlossen und Mr. Karnegie würde nicht leugnen können, daß er eine solche Behandlung reichlich verdient habe.

Mr. Karnegie stimmte seiner Frau bei.

Eine halbe Stunde später kam Mrs. Graham die Treppe herunter und man holte einen Fiaker für sie herbei.

Mr. Karnegie hielt sich in Furcht vor den Folgen, die ein anderes Verhalten nach sich ziehen konnte, in einem Winkel. Mrs. Karnegie folgte ihm in den Winkel und fragte, wie er sich unterstehen könne, sich so zu benehmen und wie er es wagen könne, nach zwanzigjähriger Ehe zu glauben, daß seine Frau eifersüchtig sei. »Geh’, Du Dummkopf, und hilf Mrs. Graham in den Wagen.« —— Mr. Karnegie gehorchte. An dem Wagenfenster fragte er, wohin er den Kutscher dirigiren solle. —— Die Antwort lautete: »nach dem Bureau des Advocaten Mr. Camp.«

Die Voraussetzung daß Mrs. Graham eine Fremde in Glasgow sei und die Thatsache, daß Mr. Camp Mr. Karnegies Advocat war, legten diesem den Schluß nahe, daß Mrs. Graham’s merkwürdige an seine Frau gerichtete Frage, sich auf ein Rechtsgeschäft und auf die Empfehlung einer vertrauenswürdigen Person, die im Stande sei, das Geschäft für sie abzuschließem bezogen habe.

An den Schenktisch zurückgekehrt, fand Mr. Karnegie seine älteste Tochter mit der Beaufsichtigung der Bücher und Rechnungen und der Kellner beschäftigt. Mrs. Karitegie hatte sich auf ihre Zimmer zurückgezogen, mit Recht über das abscheuliche Benehmen, mit dem Mr. Karnegie, Mrs. Graham vor ihren eigenen Augen in den Wagen geholfen hatte, entrüstet.

»Es ist die alte Geschichte, Papa!« bemerkte Miß Karnegie vollkommen ruhig. »Natürlich hatte Mama Dich aufgefordert, es zu thun und erklärte dann Du habest sie vor allen Kellnern, beleidigt; ich begreife nicht wie Du das aushältst.«

Mr. Karnegie blickte auf seine Stiefel und sagte: »Ich begreife es auch nicht, liebes Kind!«

Miß Karnegie sagte: »Du willst doch nicht wieder zu Mama gehen.«

Mr. Karnegie blickte wieder von seinen Stiefeln auf und sagte: »ich muß, liebes Kind!«

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»Mr. Camp saß in seinem Arbeitscabinet in seine Akten vertieft. Zahlreich, wie diese Documente waren, schienen sie Mr. Camp doch noch nicht zu befriedigen. Er zog die Klingel und beorderte weitere Papiere. Der Schreiber erschien mit einem neuen Convolut von Papieren und überbrachte gleichzeitig die Botschaft: »Eure, von dem »Schöpfen-Hotel« empfohlene Dame wünsche Mr. Camp in Geschäften zu sprechen.« Mr. Camp sah nach seiner Uhr, die in einem kleinen Uhrgehäuse auf dem Tische, vor seinen Augen, die kostbare Zeit angab und sagte: »Führen Sie die Dame in zehn Minuten herein.« Nach zehn Minuten erschien die Dame, sie setzte sich auf den für Clienten bereit gehaltenen Stuhl und lüftete den Schleier. Denselben Eindruck, den ihr Anblick auf Karnegie hervorgebracht hatte, empfing jetzt auch Mr. Camp. Zum ersten Male seit langen Jahren fühlte er ein persönliches Interesse an einer ihm vollkommen Fremden. Vielleicht war es etwas in ihrem Wesen, aber was es auch sein mochte, es fesselte ihn und machte ihn zu seiner eigenen Ueberraschung außerordentlich begierig zu hören, was sie ihm zu sagen habe. Die Dame berichtete mit einer leisen, sanften, von einer stillen Trauer umflorten Stimme, daß sie sich eine Auskunft über eine Frage des schottischen Eherechts zu erbitten komme und daß ihr eigener Seelenfrieden und das Glück einer ihr sehr theuren Person gleich sehr von der Meinung abhingen, welche Mr. Camp, nachdem er in den Besitz der nöthigen Thatsachen gelangt sein werde, abgeben könne. Dann schritt sie dazu, die Thatsachen, ohne Namen zu nennen, anzugeben, indem sie bis auf die kleinsten Umstände genau dieselbe Folge von Ereignissen mittheilte, welche Geoffrey Delamayn bereits an Sir Patrick mitgetheilt hatte, mit dem einzigen Unterschiede, daß sie offen bekannte, selbst die Person zu sein, welche zu erfahren wünsche, ob sie nach schottischem Recht jetzt als eine verheirathete Frau zu betrachten sei oder nicht.

Die Meinung, welche Mr. Camp, nachdem er gewisse Fragen gethan und beantwortet erhalten hatte, abgab, wich von der Meinung, die Sir Patrick in Windygates ausgesprochen hatte, ab; auch er citirte den Ausspruch des berühmten Richters Lord Deafe, aber er zog seinen eigenen Schluß daraus. »In Schottland bewirkt die Uebereinstimmung beider Theile den Abschluß einer Ehe«, sagte er, »und diese Uebereinftimmung kann durch Schlüsse bewiesen werden. Ich finde genügende Veranlassung zu einem Schluß auf Uebereinstimmung in den mir von ihnen mitgetheilten Umständen und erkläre: »Sie sind eine verheirathete Frau!«

Die Wirkung, die dieser Ausspruch auf die Dame hervorbrachte, war so beunruhigend, daß Mr. Camp sich veranlaßt fand, eine Botschaft an seine Frau hinauf zu senden. In Folge dessen erschien Mrs. Camp, zum ersten Male in ihrem Leben während der Geschäftsstunden, in dem Arbeits-Cabinet ihres»Gatten. Als Mrs. Camps Dienste die Dame einigermaßen wieder zu sich gebracht hatten, stellte sich auch Mr. Camp mit einem Worte berufsmäßiger Tröstung ein. Wie Sir Patrick, so anerkannte auch er die seandalöse, durch die Verwirrung und Unsicherheit des schottischen Eherechts hervorgerufene Verschiedenheit der Ansichten. Wie Sir Patrich so erklärte auch er es für vollkommen möglich, daß ein anderer Advocat zu einem ganz anderen Schluß gelangen könne. »Gehen Sie«, sagte er, indem er ihr seine Karte mit einer geschriebenen Zeile gab, »zu meinem Collegen Crum und sagen Sie, daß ich Sie schicke!«

Die Dame sagte Mr. und Mes. Camp ihren verbindlichsten Dank und begab sich direct nach Mr. Crum’s Bureau. Mr. Crum war der ältere und härtere der beiden Advocaten und doch war auch er nicht unempfindlich für den Reiz, den diese Frau mehr oder weniger auf jeden Mann, der mit ihr in Berührung kam, ausübte. Er hörte ihr mit einer Geduld zu, die selten bei ihm war, stellte ihr seine Fragen mit einer sanften Freundlichkeit, die noch seltener bei ihm war, und sprach, als er sich im Besitz der Thatsachen befand, eine der Ansicht seines Collegen gerade entgegengesetzte Meinung aus. »Das ist keine Heirath, Madame«, erklärte er positiv, »Indicien, aus denen vielleicht Schlüsse auf eine Heirath gezogen werden können, wenn Sie beabsichtigen, einen Anspruch auf den Mann geltend zu machen, das beabsichtigen Sie aber, »wenn ich recht verstanden habe, nicht.«

Der Trost, den die Dame bei dein Ausspruch dieser Meinung empfand, überwältigte sie beinahe. Einige Minuten lang war sie unfähig, zu reden.

Mr. Crum that, was er in seinem ganzen Leben noch nicht gethan hatte, er klopfte seiner Clientin auf die Schulter und, noch unerhörter, er gestattete dieser Clientin, ihn um seine Zeit zu bringen.

»Warten Sie ruhig, bis Sie sich gefaßt haben«, sagte Mr. Crum, indem er einen Paragraphen des Gesetzes der Humanität zur Anwendung brachte. Die Dame gewann wieder Fassung.

»Ich muß noch einige Fragen an Sie richten«, sagte Mr. Crum, indem er sich nun wieder dem Gesetz des Landes zuwandte.

Die Dame verneigte sich und hörte seine Fragen an.

»Ich weiß bereits, daß Sie keinen Anspruch an den Herrn erheben wollen; ich möchte jetzt wissen, ob der Herr einen Anspruch an Sie erheben wird?«

Die Antwort auf diese Frage lautete ganz positiv; der Herr habe nicht einmal eine Ahnung von der Lage, in der er sich befinde, und noch mehr, er sei verlobt mit der theuersten Freundin, die sie auf der Welt habe.

Mr. Crum machte große Augen, dachte nach und that in möglichst delicater Weise eine andere Frage.

»Würde es nicht allzu peinlich für Sie sein, mir zu sagen, wie der Herr in die fatale Situation gekommen ist, in der er sich jetzt befindet?«

Die Dame gestand, daß es ihr unbeschreiblich peinlich sein würde, die Frage zu beantworten.

Mr. Crum versuchte es, ihr in Gestalt einer Frage die Antwort an die Hand zu geben. »Würde es Ihnen auch peinlich sein, die Umstände der Zusammenkunft —— im Interesse des künftigen Glückes des Mannes —— einer discreten Person, am besten einem Juristen mitzutheilen, der Ihnen nicht, wie, ich, völlig fremd wäre?«

Die Dame erklärte sich bereit, unter diesen Umständen, um ihrer Freundin willen, jedes noch so schmerzliche Opfer zu bringen.

Mr. Crum dachte noch eine Weile nach und gab dann seinen Rath dahin: »Bei dem gegenwärtigen Stand der Dinge brauche ich Ihnen nur den ersten Schritt anzugeben, den Sie unter den obwaltenden Umständen zu thun haben. Benachrichtigen Sie auf der Stelle den Herrn mündlich oder schriftlich von der Lage, in der er sich befindet, und autorisiren Sie ihn, den Fall einer Ihnen Beiden bekannten Person vorzulegen, die competent ist, darüber zu entscheiden, was Sie zunächst zu thun haben. Habe ich Sie recht verstanden, daß Sie eine dazu qualificirte Person kennen?«

Die Dame bejahte diese Frage.

Mr. Crum fragte, ob bereits»ein Tag für die Hochzeit des Herrn festgesetzt sei.

Die Dame antwortete, daß sie selbst diese Frage bei der letzten Gelegenheit, wo sie die Verlobte des Herrn gesehen, an diese gerichtet und von ihr erfahren habe, daß die Hochzeit an einem später festzusetzenden Tage Ende Herbst stattfinden solle.

»Das ist ein glücklicher Umstand«, sagte Mr. Gram. »Sie haben also noch Zeit, und die Zeit ist hier von großer Wichtigkeit, sehen Sie sich wohl vor, daß Sie sie nicht ungenützt verstreichen lassen.«

Die Dame erklärte, sie wolle in ihr Hotel zurückkehren, um noch mit der Abendpost an den Herrn zu schreiben, ihn über die Lage, in der er sich befinde, aufzuklären und ihn zu autorisiren, die Angelegenheit einem ihnen Beiden befreundeten, competenten und vertrauenswürdigen Mann zu übergeben. Als sie aufstand, um das Zimmer zu verlassen, ergriff sie ein Schwindel und ein plötzlicher Schmerz, der sie tödtlich erbleichen machte und sie zwang, sich wieder niederzusetzen.

Mr. Crum war unverheirathet, hatte aber eine Haushälterin und bot der Dame an, diese kommen zu lassen. Die Dame machte eine abwehrende Bewegung, sie trank etwas Wasser und bekämpfte ihren Schmerz.

»Es thut mir leid, daß ich Sie beunruhigt habe«, sagte sie. »Es ist nichts, es geht mir schon besser.« Mr. Crum gab ihr den Arm und führte sie an den Wagen; sie sah so bleich und schwach aus, daß er sich erbot, seine Haushälterin mitzuschicken, und bemerkte, es seien nur fünf Minuten nach dem Hotel zu fahren. Die Dame dankte und fuhr allein fort.

»Der Brief!« sagte sie, als sie allein war, »wenn ich nur noch so lange lebe, um den Brief zu schreiben.«



Kapiteltrenner


Dreiunddreißigstes Kapitel - Anne in den Zeitungen

Mrs. Karnegie war eine Frau von schwacher Intelligenz und heftigem Temperament, leicht beleidigt und meistens nicht leicht wieder zu beschwichtigen, aber ihr Charakter war, wie es bei uns Allen mehr oder weniger der Fall ist, aus sehr verschiedenen Elementen zusammengesetzt und sie hatte neben ihren mancherlei Fehlern auch ihre guten Eigenschaften. Saamenkörner guter Gefühle waren in den entferntesten Winkeln ihres Herzens verstreut und harrten nur der befruchtenden Gelegenheit, um aufzukeimen. Die Gelegenheit bot sich und übte ihren wohlthuenden Einfluß, als der Wagen Mr. Crum Clientin nach dem Hotel zurückbrachte. Das Aussehen der erschöpften und tief betrübten Frau, als sie langsam über den Vorplatz schritt, brachte alle besseren Seiten in Mrs. Karnegie’s Natur zur Entfaltung und sprach vornehmlich zu ihr: Eifersüchtig auf dieses gebrochene Geschöpf? Bist Du nicht auch Weib und Mutter und hörst Du hier nicht einen Aufruf an Eure gemeinschaftliche Weiblichkeit?

»Ich fürchte, Sie haben sich zu sehr angestrengt, Madame, soll ich Ihnen nicht eine Erfrischung hinaufschicken?«

»Schicken Sie mir Feder, Tinte und Papier, ich habe einen Brief zu schreiben und zwar sofort!«

Mrs. Karnegie’s Vorstellungen dagegen waren vergeblich. Mrs. Graham war bereit, Alles anzunehmen, was man ihr vorschlug, wenn man sie nur zuerst mit den Schreibmaterialien versehen wolle.

Mrs. Karnegie schickte dieselben hinauf und braute dann mit eigenen Händen ein Getränk aus Eiern und heißem Wein, für weiches das »Schöpfen-Hotel« berühmt war. In fünf Minuten war dasselbe bereitet und Miß Karnegie wurde von ihrer Mutter, die im Augenblick etwas: Anderes zu thun hatte, damit hinauf geschickt. Nach Verlauf einiger Minuten hörte man von dem oberen Vorplatz her einen« beunruhigenden Schrei. Mrs. Karnegie erkannte die Stimme ihrer Tochter und eilte nach dem Schlafzimmer.

»O Mama, sieh’ sie an, sieh sie an;« der Brief, von dem die ersten Zeilen geschrieben waren, lag auf dem Tisch, die Frau lag auf dem Sopha, das Taschentuch zwischen die Zähne geklemmt, mit schrecklich anzusehendem verzerrten Gesicht.

Mrs. Karnegie richtete sie ein wenig auf, untersuchte sie genau, wechselte dann plötzlich die Farbe und schickte ihre Tochter mit der Weisung hinaus, sofort einen Boten nach einem Arzte abzusenden.

Sobald sich Mrs. Karnegie mit der Leidenden allein befand, trug sie diese in ihr Bett. Als sie sie hinlegte, sank Anne’s linke Hand hilflos über das Bett herab. Mrs. Karnegie hielt das Wort der Theilnahme, das ihr auf den Lippen schwebte, plötzlich zurück, erfaßte die Hand und betrachtete mit einem streng forschenden Blick den dritten Finger derselben. An dem Finger steckte ein Ring. Mrs. Karnegie’s Gesicht nahm sofort wieder einen milderen Ausdruck an; das Wort des Mitleids, das sie noch eben zurückgehalten hatte, sprach sie nun aus. »Armes Kind»sagte die respektable Wirthin, indem sie sich an dem Schein genügen ließ. »Wo ist Ihr Mann, liebes Kind? Versuchen Sie, es mir zu sagen.«

In diesem Augenblick erschien der Arzt.

Die Zeit verfloß und Mr. Karnegie und seine Tochter, welche die Hotelgeschäfte weiter besorgt hatten, erhielten nach einiger Zeit eine Botschaft Von oben, die ein ungewöhnliches Ereigniß zu verkündigen schien.

Die Botschaft lautete dahin, Mr. Karnegie möge die Güte haben, sofort zu einer erfahrenen Wärterin, deren Namen und Adresse angegeben wurden, mit einer Empfehlung des Doktors zu schicken.

Die Wärterin wurde geholt und hinauf geschickt.

Wieder verfloß die Zeit, die Geschäfte des Hotels nahmen ihren Fortgang und es war bereits spät geworden, als Mrs. Karnegie endlich wieder hinter dem Schenktisch erschien.

Das Gesicht der Wirthin trug einen feierlich ernsten Ausdruck, ihr ganzes Wesen schien gedämpft. »Sehr, sehr krank,« lautete die einzige Antwort, die sie aus die Fragen ihrer Tochter gab.

Etwas später, als sie mit ihrem Gatten allein war, erzählte sie demselben genauer, was oben vorgegangen war.

»Ein todtgebornes Kind,« sagte Mrs. Karnegie in einem sanfteren Ton, als er ihr sonst geläufig war. »Und die arme Mutter liegt, so viel ich sehen kann, im Sterben.«

Etwas später kam der Doctor herunter.

»Ist sie todt?«

»Nein.«

»Wird sie am Leben bleiben?«

»Das kann ich unmöglich sagen.«

»Der Doctor kam noch zweimal im Laufe der Nacht. Beide Male hatte er auf alle Fragen nur die eine Antwort: »Wir müssen bis morgen warten.«

Am folgenden Tage erholte sich die Kranke ein wenig. Nachmittags fing sie an zu reden. Der Anblick fremder Gesichter an ihrem Bett schien sie nicht zu überraschen; sie phantasirte, verfiel dann wieder in einen Zustand völliger Bewußtlosigkeit und dann wieder in Fieberphantasien.

Der Doctor erklärte: »Dieser Zustand kann noch Wochen dauern, kann aber auch rasch mit einem plötzlichen Tode enden; es ist Zeit, daß Sie Schritte thun, um ihre Angehörigen zu ermitteln.«

Man erholte sich Raths bei Mr. Camp. Das erste, was er zu sehen verlangte, war der unvollendete Brief.

Der Brief war mit Tintenflecken bedeckt und von den wenigen geschriebenen Worten war mehr als eines unleserlich. Mit Mühe und Anstrengung brachte man die Anrede und hie und da einige Fragmente der auf dieselbe folgenden Zeilen heraus.

Der Brief begann: »Lieber Mr. Brinkworth.« Dann wurde die Handschrift allmählich immer schlechter, nur schwer konnte man die folgenden Worte entziffern. »Ich würde....schlecht vergelten ... Blanche’s Interessen . . . . Um Gotteswillen! . . . . denken Sie nicht an mich....« Dann folgten noch einige völlig unleserliche Zeilen. Mit den in dem Brief vorkommenden Namen beschäftigte sich die Kranke, wie der Doctor und die Wärterin berichteten, auch in ihren Fieberphantasien. »Mr. Brinkworth« und »Blanche« —— bei diesen beiden« Personen verweilten ihre Gedanken fortwährend. Das einzige, außer diesen Namen, von ihren Phantasien Verständliche, war der Brief, dessen sie beständig in Verbindung mit jenen beiden Personen gedachte. Sie versuchte es unablässig, den unvollendeten Brief auf die Post zu bringen, konnte aber nie hingelangen. Bisweilen lag die Post jenseits des Meeres, bisweilen auf dem Gipfel eines unersteiglichen Berges, ein anderes Mal war sie von riesigen Mauern rings umgeben; dann wieder hielt ein Mann sie grausam in dem Augenblick zurück, wo sie die Post erreicht hatte, und schleppte sie Tausende von Meilen weit weg; ein- oder zweimal nannte sie diesen Mann beim Namen. Die Umstehenden brachten heraus, daß der Name »Geoffrey«, war.

Da man weder in dem unvollendenten Briefe, noch in den verworrenen Reden, die ihr von Zeit zu Zeit entfuhren einen Aufschluß über ihre Person fand, so beschloß man, ihr Gepäck zu durchsuchen und die Kleider, die sie bei ihrem Eintreffen im Hotel getragen hatte, genau zu besichtigen. Ihr schwarzlederner Reisekoffer trug seine Neuheit an der Stirn. Beim Oeffnen desselben fand man darin die Adresse eines Glasgower Sattlers. Auch ihr Leinenzeug war neu und ungezeichnet; man fand noch die quittirte Rechnung über dasselbe. Die betreffenden Ladeninhaber, an die man sich in beiden Fällen wandte, sahen in ihren Büchern nach. Es ergab sich, daß die Dame sowohl den Koffer wie das Leinenzeug erst am Tage ihres Eintreffens im Hotel, gekauft hatte.

Demnächst öffnete man die schwarze Reisetasche. Man fand darin eine Summe von achzig bis neunzig Pfund in Banknoten, einige Toilettengegenstände, Nähmaterial und die Photographie einer jungen Dame, auf der die Worte standen: »Anne, von Blanche«, aber keine Briefe und Nichts, was auch nur entfernt auf die Spur der Person der Eigenthümerin hätte führen können. Dann untersuchte man die Tasche ihre Kleides; dieselbe enthielt eine Börse, eine leere Visitenkartentasche, und ein neues, ungezeichnetes Taschentuch.

Mr. Camp schüttelte den Kopf.

»Das Gepäck einer Dame«, sagte er, »das keine Briefe enthält, erweckt in mir die Vermuthung, daß die Dame ihre besonderen Gründe hat, ihre Bewegungen geheim zu halten. Ich argwöhnt, daß sie zu diesem Zweck ihre Briefe vernichtet und ihre Visitenkartentasche geleert hat.«

Der Bericht, den Mrs. Karnegie erstatten, nachdem sie das Leinenzeug, daß die sogenannte Mrs. Graham bei ihrem Eintreffen im Hotel getragen, untersucht hatte, bestätigte die Richtigkeit der Ansicht des Abdocaten. Aus jedem einzelnen Stück war das Namenzeichen ausgeschnitten. Mrs. Karnegie fing an zu zweifeln, ob der Ring, den sie an dem dritten Finger der linken Hand der Dame gesehen hatte, mit der Sanction des Gesetzes aufgesteckt sei.

Es blieb nur noch eine Möglichkeit, ihre Angehörigen aufzufinden, übrig. Herr Camp entwarf eine Anzeige, die man in die Glasgower Zeitungen einrücken lassen wollte. Wenn diese Zeitungen zufällig einem Mitglied ihrer Familie zu Gesicht kommen sollten, so würde die Familie sich höchst wahrscheinlich melden. Im entgegengesetzten Fall würde nichts zu thun übrig bleiben, als ihre Wiederherstellung oder ihren Tod abzuwarten und inzwischen ihr Geld zu versiegeln und in dem Geldschrank des Wirths zu verschließen.

Die Anzeige erschien. Man wartete drei Tage, aber es erfolgte nichts. Auch in dem Befinden der Kranken trat während dieser Zeit keine bemerkenswerthe Veränderung ein. Am Abend des dritten Tages erschien Mr. Camp und sagte: »Wir haben unser Bestes gethan, es bleibt uns jetzt nichts übrig, als zu warten.«

An demselben Abend herrschte in weiter Ferne, in Perthshire in Windygates-House, laute Freude. Blanche hatte endlich Arnold’s Bitten ein williges Ohr geliehen und hatte sich damit einverstanden erklärt, daß man ihr Hochzeitskleid in London bestelle.



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