Blinde Liebe

Siebenzigstes Kapitel

»Ich werde mich freuen, ein Farmer zu werden«, fuhr Lord Harry fort, während Iris das Buch öffnete und Fannys Niederschrift zu lesen begann. »Ja, ich freue mich darauf, nach allen meinen Abenteuern mich an einem ruhigen Ort niederzulassen und den Boden zu bebauen. An Markttagen werden wir zusammen in die Stadt fahren« - er sprach, als ob Kentucky Warwickshire wäre - »neben einander in einem kleinen Wagen sitzend. Wir werden Getreideproben in kleinen Säckchen mit uns führen, und Du wirst Butter und Käse in Deinem Korb haben. Zur gewöhnlichen Zeit werden wir dann bescheiden zu Mittag speisen, und nach dem Essen werde ich bei einem Glase Grog und einer Pfeife mit Dir über das Wetter und die Ernte plaudern. Und während wir so in Verborgenheit glücklich zusammenleben, wird der Name Lord Harrys hier in Vergessenheit geraten. Das ist sonderbar, nicht wahr? Wir sollen weiter leben, nachdem wir längst tot, begraben und vergessen sind! Beim Jupiter, Iris, wenn wir erst einmal alte Leute sind, dann werden wir in die Heimat zurückkehren und uns zusammen die alten Orte, an denen wir gelebt haben, ansehen! Es ist doch etwas Angenehmes, wenn man auf etwas hinblicken kann, wenn man einen gewissen Lebenszweck hat. Ich fühle mich heute abend außerordentlich glücklich, Iris, glücklicher, als ich seit Monaten gewesen bin. Dieser langweilige Ort hat uns beide hypochondrisch gemacht. Ich murre nicht gern, aber diese Einsamkeit und Abgeschlossenheit hat mich doch furchtbar verstimmt, und Dir ist es genau ebenso gegangen. Du bist dadurch veranlasst worden, über allerhand unmögliche und unnötige Dinge nachzugrübeln. Jetzt blicke ich für meinen Teil wieder hoffnungsfreudiger in die Zukunft. Wir waren ja hier ganz angenehm von der Vergangenheit abgeschnitten, aber damit ist es jetzt vorbei; wir wollen überhaupt an die Vergangenheit gar nicht mehr denken. Was geschehen ist, kann niemals entdeckt werden. Nicht eine Seele weiß es außer dem Doktor, und zwischen ihn und uns haben wir einige tausend Pfund gestellt. - Ja, was ist Dir denn, Iris? Was fehlt Dir denn?«

Iris war nämlich plötzlich aufgestanden; sie hatte bisher unausgesetzt in dem Buch gelesen, während ihr Gatte weitergesprochen hatte. Jetzt ließ sie das Buch fallen und blickte ihren Gatten mit entsetzten Augen an.

»Was gibt es denn?« fragte Lord Harry noch einmal.

»Mein Gott, ist das wahr? - Ist das wirklich wahr?«

»Was denn?«

»Ich kann es nicht sagen. Kann denn dies überhaupt wahr sein?«

»Was denn? So sprich doch nur, Iris!« Er sprang von seinem Stuhl auf. »Ist es - ist es entdeckt?«

»Entdeckt? - Ja, alles - alles - alles - alles ist entdeckt!«

»Wo? Wie? Gib mir das Buch, Iris, schnell, gib es mir! Wer weiß es? Was weiß man?«

Er riss ihr das Buch aus der Hand. Sie schrak zurück vor der Berührung seiner Hände. Sie stieß ihren Stuhl weg und stand aufrecht, als ob sie sich gegen einen unvermuteten Angriff verteidigen sollte, während sie die verstörten Blicke auf ihren Gatten heftete, wie man sie auf etwas Gefahrdrohendes zu heften pflegt. Er überflog hastig die Aufzeichnungen Fannys Seite für Seite, denn er wollte alles wissen, selbst wenn es das Schlimmste wäre. Dann warf er das Buch auf den Tisch.

»Nun?« fragte er, ohne die Augen zu erheben.

»Der Mann ist ermordet worden, ist auf gemeine Weise ermordet worden«, flüsterte sie mit rauher Stimme.

Er gab keine Antwort.

»Und Du hast zugesehen, während er ermordet wurde, Du hast zugesehen und warst damit einverstanden? Du bist ein Mörder!«

»Ich habe keinen Teil daran gehabt. Ich wusste damals nicht und weiß auch jetzt noch nicht, ob er vergiftet worden ist.«

»Das ist eine Lüge! Du wusstest es ganz genau schon damals, als er in Dein Haus kam. O, der tote Mann, der ermordete Mann, der befand sich in der Villa, als ich bei Dir war. Deine Hände waren rot von Blut, als Du mich hinwegbrachtest, damit ich nicht weiter im Wege stünde und damit ich es nicht bemerken sollte!«

Sie hielt inne, - sie konnte nicht weiter reden.

»Ich wusste es nicht, Iris, wenigstens nicht mit Bestimmtheit! Ich glaubte, dass er sterben würde damals, als er in mein Haus kam. Aber er starb nicht; er wurde sogar von Tag zu Tag gesünder. Als der Doktor ihm die Medizin gab, nachdem Dein Kammermädchen fort war, da schöpfte ich den ersten Verdacht. Und dann, als er starb, dann war mein Verdacht gerechtfertigt. Da forderte ich den Doktor auf, mir die Wahrheit zu gestehen. Er leugnete sie nicht. Glaube mir, Iris, ich habe weder davon gewusst, noch etwa gar damit übereingestimmt.«

»Das ist auch wieder nicht wahr! Du hast Dich nur dabei beruhigt. Du hast stillschweigend beigestimmt. Denn Du hättest sonst dem - dem andern Mörder sagen sollen, Du würdest der Polizei anzeigen, woran der Mann gestorben. Das tatest Du aber nicht, Du zogst im Gegenteil Vorteil aus seinem Tode. Denn der Tod dieses armen Unglücklichen setzte Dich instand, Deinen Betrug mit meiner Hilfe auszuführen. Ja, mit meiner Hilfe! Du hast mich zur Genossin eines Mörders gemacht.«

»Nein, meine Iris, Du hast nichts davon gewusst! Kein Mensch kann Dich jemals anklagen, dass -«

»Das verstehst Du nicht. Ich bin es, die selbst eine Anklage gegen sich erhebt.«

»Was das Mädchen schreibt«, fuhr ihr Gatte fort, »ist leider wahr. Ich halte es für vollständig nutzlos, irgendein Wort davon abzuleugnen, denn sie war ja hinter dem Vorhang verborgen. Sie hörte und sah alles. Mein Gott im Himmel, wenn Vimpany sie gefunden hätte! Was würde er dann getan haben? Er hatte doch recht! Niemand ist gefährlicher als eine Frau. Ja, sie hat Dir genau erzählt, was geschehen ist. Sie hegte überdies schon länger Argwohn. Wir hätten so klug sein sollen, sie schon längst fortzuschicken und unsere Pläne zu ändern. Das kommt aber daher, wenn man zu schlau sein will. Der Doktor glaubte, dass gar nichts anderes nötig sei als der Tod dieses Mannes. Ich glaubte, das heißt, wir beide glaubten, dass er eines natürlichen Todes sterben werde. Das tat er aber nicht, und ohne seinen Tod waren wir ratlos. Wir brauchten einen toten Mann, Iris; ich verspreche Dir, ich will nichts vor Dir verheimlichen, was sich ereignet hat. Ich will alles gestehen. Ja, Du hast recht, Du hast recht, ich wusste, dass er sterben werde. Damals, als es ihm besser ging, da glaubte ich an Vorbedeutung, weil ich wusste, dass es ihm nicht beschieden sein sollte, gesund aus der Villa wegzugehen. Denn auf welche Weise sollten wir uns einen Leichnam verschaffen? Es ist kaum möglich, einen Leichnam zu stehlen oder sonst einen aufzutreiben, und wir mussten doch einen haben als Beweis des Todes von Lord Harry Norland. Ich bekenne«, - seine Stimme klang rauh und wild - »ich bekenne, dass ich wusste, dass er sterben musste. Ich las sein Todesurteil in dem Gesicht des Doktors, und wir hatten kein Geld mehr für einen neuen Versuch, wenn Oxbye wieder gesund werden und fortgehen würde. Sobald es so weit war, bemächtigte sich meiner ein tödlicher Schrecken. Ich würde alles darum gegeben haben, alles, wenn der Mann sich von seinem Bett erhoben hätte und weggegangen wäre. Aber es war zu spät. Ich sah, wie der Doktor ihm seine letzte Medizin zubereitete, und als der Kranke das Glas an seine Lippen setzte, da sah ich in den Augen Vimpanys, dass es der Todestrank des Dänen war. Jetzt habe ich Dir alles bekannt.«

»Ja, Du hast mir alles bekannt«, wiederholte sie, »alles, Gott im Himmel, alles!«

»Ich habe Dir nichts verheimlicht, ich weiß nichts mehr hinzuzufügen!«

Sie stand still - wie erstarrt. Sie hatte ihre Hände gefaltet, und ihre Augen ruhten auf dem Gesicht ihres Gatten. Ihr Gesicht war bleich und traurig.

»Was jetzt tun?« fragte sie. »Was jetzt tun?«

»Iris, ich beschwöre Dich, lass keine Änderung in unseren Plänen eintreten!«

»Nein! Ich weiß genau, was ich jetzt zu tun habe. Mein Plan liegt bestimmt vor mir!«

»Iris, ich beschwöre Dich nochmals, lass keine Änderung in unseren Plänen eintreten. Lass uns weit weggehen, wie wir uns vorgenommen haben. Lass uns die Vergangenheit vergessen. Komm mit mir!«

»Ich soll mit Dir zusammen fortgehen? Mit Dir - wirklich mit Dir? O mein Gott!«

Sie bebte zurück vor Entsetzen.

»Iris, ich habe Dir alles gesagt. Wir wollen zusammen fortgehen, gerade als ob Du nichts gehört hättest. Wir können ja nicht tiefer voneinander getrennt sein, als wir es die letzten drei Monate waren. Wenn Du willst, so lass es uns auch noch weiter bleiben, bis Du wieder imstande bist, irgendetwas für mich zu fühlen, bis Du wieder imstande bist, Mitleid mit mir zu haben und mir zu vergeben.«

»Das verstehst Du nicht. Ich soll Dir vergeben? Davon kann jetzt nicht mehr die Rede sein. Wer bin ich denn, dass meine Vergebung nur den geringsten Wert für Dich haben könnte, für Dich oder einen andern?«

»Um was handelt es sich denn sonst?«

»Ich weiß es nicht. Ein schreckliches Verbrechen ist begangen worden, ein schreckliches, fürchterliches Verbrechen, wie man es nur in Zeitungen und Büchern liest und sich dabei wundert, dass es überhaupt Menschen geben kann, die imstande find, ein solches Verbrechen zu begehen. Und nun ist mein Gatte ein solcher Mensch - und ich, ich bin eine von den entsetzlichen Frauen, die es fertig gebracht haben, die Genossin eines solchen Mannes zu werden!«

»Du darfst sagen, Iris, was Du willst, ganz, was Du willst.«

»Ich hab' es gewusst, aber erst, seitdem ich hieher gekommen bin, habe ich es verstanden, dass ich mein Leben einer blinden Liebe geopfert habe. Ja, Harry, ich habe Dich blindlings geliebt, und das war mein Fluch. Ich bin Dir gefolgt, obgleich mich alle Welt davor gewarnt hat, und was ist jetzt meine Belohnung dafür? Wir müssen im Verborgenen leben, denn wenn wir entdeckt würden, dann würden wir sofort wegen verbrecherischer Handlungen verhaftet werden. Ja, wir können von Glück sagen, dass das noch nicht geschehen ist, und dass wir noch nicht unser Leben am Galgen beendet haben. Das ist meine Belohnung!«

»Ich habe niemals Dir gegenüber, Iris, den Heuchler gespielt; ich habe niemals behauptet, Tugenden zu besitzen, die ich nicht besitze. In so weit -«

»Still! Sprich kein Wort mehr! Ich habe Dir noch eins zu sagen, dann werde ich nie mehr zu Dir reden. Still, lass mich meine Gedanken sammeln. Ich kann jetzt nicht die Worte finden, ich kann nicht... warte, warte, um Gottes willen! O, ich Unglückliche!«

Sie setzte sich nieder und brach in ein heftiges Weinen aus, aber nur für kurze Zeit; dann sprang sie energisch auf und trocknete ihre Tränen.

»Für das Jammern und Wehklagen ist es noch später Zeit genug, wenn alles vorüber ist«, sagte sie. »Höre mir jetzt aufmerksam zu, Harry. Es sind die letzten Worte, die ich zu Dir spreche. Du wirst niemals wieder etwas von mir hören. Du musst Dir jetzt Dein Leben selbst einrichten, ganz, wie Du es willst. Ob Du es vernichtest, oder ob Du es erhältst, das ist ganz Deine Sache; ich habe in Zukunft keinen Teil mehr daran. Ich werde nach England zurückkehren und zwar allein. Ich werde Deinen Namen niederlegen und wieder meinen Mädchennamen annehmen oder irgend einen andern. Ich werde irgendwo leben, wo Du mich nicht auffinden kannst. Du wirst ja vielleicht kaum Dich um mich bekümmern.«

»Nein, das werde ich auch nicht«, entgegnete er: »so viel bin ich Dir schuldig, ich werde niemals wieder nach Dir fragen.«

»Was das Geld betrifft, das ich für Dich unter falschen Voraussetzungen bekommen habe, so gehören die fünftausend Pfund, die ich auf mein eigenes Konto eingezahlt habe, selbstverständlich der Versicherungsgesellschaft. Ich werde sie der Gesellschaft sofort zurückerstatten.«

»Gott im Himmel, Iris, dann wirst Du ja als eine Verbrecherin behandelt.«

»Werde ich das wirklich? Das tut nichts, wenn ich nur den Betrogenen alles das, was ich ihnen geraubt habe, wiedererstatten kann. Ja, ich werde es bei Heller und Pfennig zurückzuzahlen suchen.«

»Ist das wirklich Deine Absicht? Willst Du das wirklich tun, nachdem Du Dir alles genau überlegt hast?«

»Wort für Wort so, wie ich Dir sage, wird es geschehen. Ich werde nichts tun und nichts sagen, was Dich irgendwie verraten könnte, aber das Geld, das ich der Versicherungsgesellschaft wiedererstatten kann, das werde ich ihr wiedererstatten, so wahr mir Gott helfe!«

Mit überströmenden Augen erhob sie ihre Hand zum Schwur.

Ihr Gatte beugte sein Haupt.

»Hast Du alles gesagt, was Du sagen wolltest?« fragte er leise.

»Ich habe alles gesagt.«

»Dann lass mich nur noch einmal, nur noch ein einzigesmal in Dein liebes Gesicht sehen. Ja, Iris, ich habe Dich geliebt, Iris, ich habe Dich immer geliebt. Es wäre besser, bei weitem besser gewesen, wenn Du damals an dem Tag, wo Du meine Frau wurdest, tot zu meinen Füßen niedergesunken wärest, dann, dann würde Dir viel Unglück erspart geblieben sein. Du hast recht, Iris; was Du jetzt zu tun hast, das liegt klar vor Dir, und ich, ich muss auch an das denken, was mir jetzt noch übrig bleibt. Lebe wohl, die Lippen eines Mörders sind nicht wert, auch nur den Saum Deines Kleides zu berühren. Lebe wohl auf ewig!«

Er verließ sie; sie hörte, wie er die Haustür öffnete und wieder schloss. Sie wusste, dass sie ihren Gatten niemals wiedersehen würde.

Sie ging in ihr Zimmer und packte ihren Koffer mit den wenigen notwendigen Sachen, die sie mitnehmen wollte. Dann klingelte sie nach dem Hausmädchen und sagte ihr, dass sie sofort nach England abreisen werde; deshalb müsse sie Brüssel noch heute abend erreichen. Das Mädchen brachte einen Gepäckträger, der ihren Koffer auf die Bahn trug.

Iris verließ Louvain, - verließ ihren Gatten für immer.


Vorheriges Kapitel
Nächstes Kapitel
Inhaltsverzeichnis für diese Geschichte