Ein tiefes Geheimnis



Zweites Kapitel

Dicht am Rande

Die erste Nacht in Porthgenna verging, ohne das mindeste Geräusch und ohne die geringste Unterbrechung irgendeiner Art. Kein Gespenst, kein Traum von einem Gespenst störte Rosamunde in ihrem festen, gesunden Schlafe. Sie erwachte in ihrer gewöhnlichen frohne Stimmung und bei gewohnter Gesundheit und war schon vor dem Frühstück draußen im westlichen Garten.

Der Himmel war umwölkt und der Wind sprang launenhaft nach allen Punkten des Kompasses herum.

Im Verlaufe ihres Spazierganges begegnete Rosamunde dem Gärtner und fragte ihn, was er vom Wetter dächte.

Der Mann antwortete, es könne Vormittag vielleicht regnen, wenn er sich aber nicht sehr irre, so werde es noch vor Ablauf der nächsten vierundzwanzig Stunden wieder sehr warm werden.

„Habt Ihr jemals von einem Zimmer auf der Nordseite unseres alten Hauses gehört, welches man das Myrtenzimmer nennt?“ fragte Rosamunde. Sie hatte sich gleich beim Aufstehen diesen Morgen vorgenommen, keine Gelegenheit zu versäumen, die überaus wichtige Entdeckung zu machen, und deshalb es nicht an Fragen gegen jedermann in der Nachbarschaft fehlen zu lassen. Demgemäß begann sie mit dem Gärtner.

„Davon habe ich nichts gehört, Madame“, sagte der Gärtner. „Der Name ist jedoch sehr wahrscheinlich, denn die Myrte gedeiht hier wirklich sehr gut.“

„Stehen vielleicht Myrtenbüsche an der nördlichen Seite des Hauses?“ fragte Rosamunde, welche plötzlich bedachte, daß es vielleicht möglich sei, das geheimnisvolle Zimmer durch Erörterungen außerhalb des Hauses, anstatt innerhalb desselben zu ermitteln. „Ich meine dicht an der Mauer“, setzte sie hinzu, als sie sah, daß der Mann ein verblüfftes Gesicht machte, „unter den Fenster, wißt Ihr.“

„So lange ich da bin, habe ich unter den Fenstern nie etwas anderes gesehen als Unkraut und Gerüll“, entgegnete der Gärtner.

Gerade in diesem Augenblicke läutete die Frühstücksglocke. Rosamunde kehrte in das Haus zurück mit dem Entschluß, den nördlichen Garten zu untersuchen und wenn sie ein Überbleibsel von einem Myrtenbeete fände, sich das darüber befindliche Fenster zu merken und das betreffende Zimmer sofort öffnen zu lassen.

Sie teilte diesen neuen Plan ihrem Gatten mit. Er lobte ihren Scharfsinn, gestand aber, daß er nach dem, was der Gärtner von Unkraut und Gerüll gesagt, keine große Hoffnung auf Entdeckungen außerhalb des Hauses habe.

Sobald das Frühstück vorüber war, zog Rosamunde die Klingel, um den Gärtner rufen zu lassen und zu sagen, daß die Schlüssel zu den nördlichen Zimmern gebraucht würden.

Auf den Ruf der Klingel erschien Mr. Franklands Diener, der die soeben vom Postboten abgegebenen Briefe mitbrachte.

Rosamunde sah die Adressen rasch durch, hielt einen davon mit einem ganz besondern Ausdruck von Freude fest und sagte zu ihrem Gatten:

„Der Poststempel von Long Beckley! Endlich Antwort vom Vikar!“

Sie öffnete den Brief und überflog ihn mit den Augen, dann ließ sie ihn plötzlich in den Schoß fallen, während ihr Gesicht dunkel erglühte.

„Lenny“, rief sie, „hier erhalten wir Nachrichten, über welchen einem der Kopf schwindlig werden möchte. Der Brief des Vikars hat mir förmlich den Atem geraubt.“

„Lies ihn vor“, sagte Mr. Frankland; „ich bitte dich, lies ihn sogleich.“

Rosamunde erfüllte diesen Wunsch mit sehr schwankender, unsicherer Stimme. Doktor Chennery begann seinen Brief mit der Meldung, daß sein Gesuch an Andrew Treverton unbeantwortet geblieben sei; er fügte aber hinzu, daß er nichtsdestoweniger zu Ergebnissen geführt habe, welche niemand hätte voraussehen können; über den Gegenstand dieser Ergebnisse verwies er Mr. und Mistreß Frankland auf eine angefügte Kopie einer als vertraulich bezeichneten Mitteilung, die er von seinem Geschäftsagenten in London erhalten.

Diese Mitteilung enhielt einen ausführlichen Bericht über eine Unterredung, welche zwischen Mr. Trevertons Diener und dem Boten stattgefunden, der Antwort auf Doktor Chennerys Brief hatte holen wollen. Sie beschrieb die kaltblütig von Shrowl selbst erzählten Umstände, unter welchen die Kopie von dem alten Plan der nördlichen Zimmer gemacht worden, und meldete die Bereitwilligkeit des Kopisten, dieses Dokument gegen eine Entschädigung von fünf Pfund herauszugeben. In der Nachschrift war ferner angegeben, daß der Bote den kopierten Plan gesehen und sich überzeugt, daß derselbe wirklich die Lage der Türen, Treppen und Zimmermit den Namen derselben enthielte und, soweit sich dies nach dem Augenschein beurteilen ließe, wirklich nach einem echten Original kopiert zu sein schiene.

Wieder seinen eigenen Brief aufnehmend, schrieb Doktor Chennery weiter, er müsse es nun gänzlich Mr. und Mistreß Frankland anheimstellen, zu entscheiden, welches Verfahren sie einzuschlagen hätten. Er habe sich nach seiner Ansicht schon ein wenig kompromittiert, indem er sich eine Eigenschaft beigelegt, die ihm nicht zukäme, und er fühle, daß er für seine Person in der Sache, jetzt, wo dieselbe eine völlig neue Gestalt gewonnen, nicht weiter gehen und daher auch weder eine Meinung aussprechen noch einen Rat erteilen könne. Er sei überzeugt, daß seine jungen Freunde zu der richtigen Entscheidung gelangen würden, sobald sie die Sache nach allen Seiten hin reiflich erwogen hätten. In dieser Überzeugung habe er seinen Geschäftsagenten beauftragt, in der Sache nichts weiter zu unternehmen, als bis er wieder von Mr. Frankland gehört, und sich nach den Weisungen zu richten, welcher dieser ihm geben würde.

„Weisungen!“ rief Rosamunde, indem sie den Brief, sobald sie ihn zu Ende gelesen, in einem Zustande gewaltiger Aufregung zusammenknitterte. „Alle Weisungen, die wir zu geben haben, können in wenigen Minuten niedergeschrieben und in einer Sekunde gelesen werden. Was um aller Welt willen meint der Vikar, wenn er von reiflicher Überlegung schwatzt? Es versteht sich doch von selbst“, rief Rosamunde, indem sie nach Weiberart gerade auf das Ziel schauete, welches sie im Auge hatte, ohne einen Gedanken an die Mittel zu verschwenden, durch welche es erreicht werden sollte – „es versteht sich doch von selbst, daß wir dem Mann seine Fünfpfundnote geben und uns mit umgehender Post den Plan schicken lassen.“

Mr. Frankland schüttelte ernsthaft den Kopf.

„Ganz unmöglich“, sagte er. „Wenn du dir die Sache einen Augenblick lang überlegst, liebes Kind, so wirst du sicherlich sehen, daß keine Rede davon sein kann, mit einem Diener wegen einer Auskunft zu unterhandeln, die er sich verstohlenerweise aus der Bibliothek seines Herrn verschafft hat.“

„O, sage das nicht!“ bat Rosamunde, ganz erschrocken über die Ansicht, welche ihr Gatte von der Sache faßte. „Was tun wir denn Unrechtes, wenn wir dem Mann seine fünf Pfund geben? Er hat ja bloß eine Kopie gemacht – er hat ja nichts gestohlen!“

„Nach meinen Begriffen von der Sache hat er die Auskunft allerdings gestohlen“, sagte Leonard.

„Nun gut, wenn er dies auch getan hätte“, fuhr Rosamunde hartnäckig fort, „welchen Schaden tut das seinem Herrn? Nach meiner Ansicht verdient übrigens sein Herr, daß ihm die Auskunft gestohlen wird, da er nicht einmal die gewöhnliche Höflichkeit gehabt hat, sie dem Vikar mitzuteilen. Wir müssen den Plan haben – O, Lenny, schüttle nicht den Kopf! Wir müssen ihn haben, du weißt, daß wir ihn haben müssen! Was kann es denn nützen, gewissenhaft mit einem alten Knauser zu sein – denn so muß ich ihn nennen, obschon er mein Onkel ist – mit einem alten Knauser, sage ich, der sich nicht einmal in die gewöhnlichsten Sitten der Gesellschaft fügt. Mit einem solchen – und ich bin überzeugt, der Vikar würde, wenn er hier wäre, dasselbe sagen – mit einem solchen kann man nicht umgehen wie mit zivilisierten Menschen, oder wie mit Menschen, die ihren richtigen Verstand haben, was, wie alle Welt sagt, bei ihm nicht der Fall ist. Was nützt ihm der Plan der nördlichen Zimmer? Und überdies, wenn ihm derselbe etwas nützt, so hat er ja das Original! Sein Eigentum wird ihm durchaus nicht gestohlen, denn er behält es ja – mußt du das nicht selbst sagen, Lenny?“

„Rosamunde, Rosamunde!“ rief Leonard, über die durchsichtige Sophistik seiner Gattin lächelnd, „du versuchst zu folgern wie ein Jesuit.“

„Ich frage nicht danach, wie ich folgere, dafern ich nur den Plan bekomme.“

Mr. Frankland schüttelte immer noch den Kopf. Da Rosamunde sah, daß ihre Argumente nichts halfen, so nahm sie klüglich ihre Zuflucht zu der seit undenklichen Zeiten bei ihrem Geschlecht gewöhnlichen Waffe – der Überredung – und gebrauchte dieselbe so energisch und mit so gutem Erfolg, daß sie endlich die widerstrebende Zustimmung ihres Gatten zu einer Art Vergleich erhielt, welcher ihr gestattete, Anweisung zum Kaufe des kopierten Plans zu erteilen, aber unter einer Bedingung.

Diese Bedingung bestand darin, daß man den Plan, sobald man ihn zu Rate gezogen, an Mr. Treverton zurücksende, denselben von der Art und Weise, auf welche man dazu gelangt war, in Kenntnis setze und zur Rechtfertigung dieses Verfahrens seinen eigenen Mangel an Höflichkeit geltend machte, womit er eine an und für sich bedeutungslose Auskunft verweigert habe, die jeder andere an seiner Stelle sicherlich ohne weiteres mitgeteilt haben würde.

Rosamunde bemühte sich sehr, eine Zurücknahme oder Modifikation dieser Bedingung zu erwirken, der empfindsame Stolz ihres Gatten aber vertrug selbst von ihrer leichten Hand ungestraft keine Berührung.

„Ich habe ohnehin schon meiner Überzeugung Gewalt angetan“, sagte er, „und will dies nicht noch mehr tun. Wenn wir uns durch Unterhandlungen mit diesem Diener erniedrigen wollen, so wollen wir es ihm wenigstens unmöglich machen, uns als seine Mitschuldigen zu betrachten. Schreibe daher, Rosamunde, in meinem Namen an Doktor Chennerys Geschäftsagenten und sage, daß wir bereit sind, den kopierten Plan unter der von mir gestellten Bedingung zu kaufen – von welcher Bedingung er natürlich den Diener in den schlichtesten, unumwundensten Ausdrücken in Kenntnis setzen wird.“

„Und wenn der Diener es nun nicht auf die Gefahr ankommen lassen will, seinen Dienst zu verlieren, was doch der Fall sein muß, wenn er auf unsere Bedingung eingeht?“ frug Rosamudne, indem sie mit einigem Widerstreben nach dem Schreibtisch ging.

„Wir wollen uns doch nicht mit Voraussetzungen quälen, liebes Kind! Laß uns warten und hören, was geschieht, und demgemäß handeln. Wenn du zum Schreiben bereit bist, so sag’ es mir – ich will dir bei dieser Gelegenheit den Brief diktieren. Ich wünsche, den Geschäftsagenten des Vikars begreiflich zu machen, daß wir deshalb so verfahren, weil wir erstens wissen, daß Mr. Andrew Treverton ein Mann ist, mit welchen man nicht nach den in der Gesellschaft geltenden Regeln verhandeln kann, und zweitens, weil der Aufschluß, den sein Diener uns bietet, in einem Auszug aus einem gedruckten Buch enthalten ist und weder direkt noch indirekt mit Mr. Trevertons Privatangelegenheiten in Zusammenhang steht. Jetzt, wo du mich überredet hast, Rosamunde, in diesen Kompromiß zu willigen, muß ich denselben vor andern ebenso wie vor mir selbst so vollständig als möglich rechtfertigen.“

Da Rosamunde sah, daß Leonards Entschluß unerschütterlich feststand, so hatte sie Takt genug, sich aller weiteren Einwendungen zu enthalten. Der Breif ward daher genau so geschrieben, wie Leonard ihn diktierte.

Als er in den Postbeutel gesteckt worden und auch die beiden andern Briefe, die an diesem Morgen eingegangen, gelesen und beantwortet waren, erinnerte Mr. Frankland seine Gattin an ihre vor dem Frühstück zu erkennen gegebene Absicht, den nördlichen Garten zu besuchen und wünschte, daß sie ihn mit dorthin nehme.

Er gestand offen, seitdem er den Inhalt von Doktor Chennerys Brief kenne, wolle er gern fünfmal so viel geben als Shrowl für die Kopie des Plans verlange, wenn das Myrtenzimmer ohne Beistand von irgendeiner Seite entdeckt werden könnte, ehe der Brief an den Geschäftsagenten des Vikars auf die Post gegeben würde. Nichts, sagte er, würde ihm größeres Vergnügen machen, als wenn er diesen Brief ins Feuer werfen und statt dessen eine glatte Weigerung, wegen des Plans zu unterhandeln, absenden könnte.

Sie gingen in den nördlichen Garten, aber hier überzeugte Rosamunde sich mit eigenen Augen, daß sie nicht die mindeste Absicht hatte, in der Nähe irgendeines der Fenster auch nur eine Spur von einem Myrtenbeet zu entdecken.

Aus dem Garten kehrten sie in das Haus zurück und ließen sich die Tür öffnen, welche in die nördliche Halle führte.

Man zeigte ihnen den Platz auf den Steinplatten des Fußbodens, wo die Schlüssel gefunden worden, und die Stelle oben an der Treppe, wo man Mistreß Jazeph entdeckt, als der Lärm entstanden war.

Auf Mr. Franklands Anraten ward nun die Tür des Zimmers geöffnet, welche sich dieser Stelle unmittelbar gegenüber befand.

Ein ödes Schauspiel von Staub, Schmutz und Düsterkeit bot sich dar. Einige alte Gemälde lagen an einer der Wände aufeinandergetürmt, einige zerbrochene Stühle standen in der Mitte des Zimmers, einiges zerbrochene Porzellangeschirr stand auf dem Kaminsims und ein halb verfaulter, von oben bis unten geborstener Schrank in einer Ecke.

Diese wenigen Überbleibsel von dem Meublement und der Ausstattung des Zimmers wurden alle sorgfältig untersucht, aber man entdeckte nichts von auch nur der mindesten Bedeutung, nichts, was im entferntesten dazu hätte beitragen können, das Geheimnis des Myrtenzimmers aufzuklären.

Mr. Frankland machte nun bemerklich, daß vielleicht Spuren von Fußtritten auf dem staubigen Fußboden des Vorplatzes zu sehen wären, aber auch davon war nichts zu finden.

Zu einer frühern Zeit war der Fußboden mit Binsendecken belegt worden und die zerrissene, zerfetzte, vor Alter verfaulte Fläche war jetzt überall viel zu uneben, als daß der Staub glatt darauf hätte liegen bleiben können. Hier und da, wo man ein Loch in den Brettern des Vorplatzes entdeckte, glaubte Mr. Franklands Diener in dem Staube Spuren zu entdecken, welche von der Spitze oder dem Absatz eines Schuhes herrühren könnten; diese schwachen und zweifelhaften Andeutungen aber lagen ellenweit auseinander und einen Schluß von auch nur der mindesten Bedeutung daraus zu ziehen, war platterdings unmöglich.

Nachdem man so eine Stunde mit der Untersuchung der Nordseite des Hauses zugebracht, mußte Rosamunde bekennen, daß sie nichts entdecken würden.

„Der Brief muß abgehen, Lenny“, sagte sie, als sie in das Frühstückszimmer zurückkehrten.

„Ja, es läßt sich nicht ändern“, antwortete Leonard. „Schicke den Postbeutel fort und laß uns vor der Hand nicht weiter über die Sache sprechen.“

Der Brief ward mit der Post desselben Tages abgefertigt.

Bei der Abgelegenheit des Schlosses Porthgenna und dem noch unvollendeten Zustande der Eisenbahn zu jener Zeit, mußten zwei Tage vergehen, ehe man eine Antwort von London zu erhalten hoffen konnte. Überzeugt, daß es für Rosamunde besser sein würde, wenn diese Zeit der Ungewißheit außerhalb des Hauses zugebracht würde, schlug Mr. Frankland vor, sie durch einen kleinen Ausflug längst der Küste nach einigen Orten auszufüllen, die wegen ihrer Umgegend berühmt waren. Er setzte voraus, daß sie seine Gattin interessierten und daß es ihr eine angenehme Beschäftigung sein würde, sie ihrem blinden Gatten an Ort und Stelle zu schildern.

Dieser Vorschlag ward sofort angenommen und ausgeführt. Das junge Ehepaar verließ Porthgenna und kehrte erst am Abend des zweiten Tages zurück.

Am Morgen des dritten Tages lag der ersehnte Brief von dem Geschäftsagenten des Vikars auf dem Tische, als Leonard und Rosamunde in das Frühstückszimmer traten. Shrowl hatte sich entschlossen, auf Mr. Franklands Bedingung einzugehen, erstens weil er der Ansicht war, daß jeder, der sich weigerte, eine Fünfpfundnote zu nehmen, wenn sie ihm angeboten würde, nicht recht bei Verstande sein könnte, und zweitens weil er glaubte, sein Herr sei zu unbedingt abhängig von ihm, um ihn wegen irgendeiner Ursache fortzujagen.

Demgemäß war der Handel in fünf Minuten abgeschlossen worden – und diese Tatsache ward durch die dem Briefe beigeschlossene Kopie des Planes außer allen Zweifel gesetzt.

Rosamunde breitete das hochwichtige Dokument mit zitternden Händen auf dem Tische aus, überflog es einige Sekunden lang mit begierigen Blicken und legte den Finger auf das Viereck, welches die Lage des Myrtenzimmers bezeichnete.

„Hier ist es!“ rief sie. „O, Lenny, wie mir das Herz schlägt! Eins, zwei, drei, vier – die vierte Tür der ersten Etage ist die Tür des Myrtenzimmers.“

Sie würde sofort die Schlüssel zu den nördlichen Zimmern verlangt haben, ihr Gatte aber bestand darauf, daß sie wartete, bis sie sich ein wenig gefaßt und etwas von dem Frühstück genossen hätte.

Trotz alles dessen aber, was er sagen konnte, ward das Mahl so rasch beendet, daß, ehe noch zehn Minuten vergingen, der Arm seines Weibes in dem seinen lag und sie ihn nach der Treppe führte.

Die Prophezeiung des Gärtners in Bezug auf das Wetter war in Erfüllung gegangen – es war wieder heiß geworden – schwül, neblig, dunstig, drückend heiß. Eine einzige, weiße, zitternde Nebelwolke breitete sich dünn über den ganzen Himmel, rollte sich am Horizont abwärts nach dem Meere und stumpfte die scharfen Ränder der fernen Moorlandschaft ab.

Die Sonne schien bleich und zitternd, die leichtesten und höchsten Blätter an offenen Fenstern stehender Blumen waren still, die Haustiere lagen schläfrig in dunkeln Winkeln, hier und da ein zufälliges Geräusch von häuslichen Verrichtungen dröhnte dumpf und schwer durch die träge, luftlose Stille, welche sich mit der Hitze auf die Erde herabgesenkt zu haben schien.

Unten in der Dienerhalle war in der gewöhnlichen Rührigkeit der Morgenarbeit ebenfalls eine Pause eingetreten. Als Rosamunde auf ihrem Wege nach dem Zimmer der Haushälterin hineinsah, um die Schlüssel zu holen, fächelten sich die Weiber und die Männder saßen in Hemdsärmeln.

Alle sprachen verdrießlich über die Hitze und alle kamen dahin überein, daß ein solcher Tag im Monat Juni noch niemals erlebt worden.

Rosamunde nahm die Schlüssel, lehnte das Anbieten der Haushälterin, sie zu begleiten, ab, führte ihren Gatten die Gänge entlang und schloß die Tür der nördlichen Halle auf.

„Wie unnatürlich kühl es hier ist!“ sagte sie, als sie in die verlassenen öden Räume traten.

Am Fuße der Treppe blieb sie stehen und faßte den Arm ihres Gatten fester.

„Ist dir etwas?“ fragte Leonard. „Berührt der Übergang in die feuchte Kühle dieses Ortes dich vielleicht unangenehm?“

„Nein, nein“, antwortete sie hastig. „Ich bin viel zu aufgeregt, um Hitze oder Feuchtigkeit so zu fühlen, wie ich sie zu andern Zeiten fühlen würde. Aber, Lenny, gesetzt nun, deine Vermutung in Bezug auf Mistreß Jazeph wäre richtig?“

„Ja – nun?“

„Und gesetzt, wir entdeckten das Geheimnis des Myrtenzimmers, könnte dasselbe nicht etwas meinen Vater oder meine Mutter Betreffendes sein, was wir nicht wissen sollen? Ich dachte daran, als Mistreß Pentreath sich erbot, uns zu begleiten, und es bestimmte mich, mit dir allein hierherzugehen.“

„Ebenso wahrscheinlich ist es auch, daß das Geheimnis etwas sei, was wir wissen sollten“, entgegnete Mr. Frankland, nachdem er einen Augenblick nachgedacht. „Auf jeden Fall ist übrigens meine Idee in Bezug auf Mistreß Jazeph bloß eine Vermutung ins Blaue hinein. Indessen, Rosamunde, wenn du vielleicht noch warten willst –“

„Nein! Möge daraus kommen was da wolle, Lenny, nun können wir nicht wieder zurücktreten. Gib mir die Hand wieder. Wir haben das Geheimnis bis hierher miteinander verfolgt und wollen es auch gemeinschaftlich vollends enthüllen.“

Sie ging die Treppe hinauf und führte ihn, während sie sprach, hinter sich her. Auf dem Vorplatz warf sie nochmals einen Blick auf den Plan und überzeugte sich, daß der erste Eindruck, den sie davon in Bezug auf die Lage des Myrtenzimmers gewonnen, richtig war. Sie zählte die Türen bis zur vierten, suchte dann aus dem Schlüsselbunde den mit „4“ numerierten heraus und steckte ihn ins Schloß.

Ehe sie ihn umdrehte, hielt sie inne und sah sich nach ihrem Gatten um.

Er stand neben ihr, sein geduldiges Gesicht nach der Tür gewendet. Sie legte die rechte Hand an den Schlüssel, drehte ihn langsam im Schlosse um, zog ihren Gatten mit der linken Hand näher an sich und machte wieder eine Pause.

„Ich weiß nicht, was auf einmal über mich gekommen ist“, flüsterte sie matt. „Es ist mir, als fürchtete ich mich, die Tür aufzustoßen.“

„Deine Hand ist kalt, Rosamunde. Warte ein wenig – schließe die Tür wieder zu – schiebe es auf bis einen andern Tag.“

Er fühlte, wie die Finger seines Weibes seine Hand immer dichter und dichter umschlossen, während er diese Worte sagte. Dann trat ein Augenblick – ein einziger denkwürdiger, atemloser Augenblick, der nie wieder vergessen werden sollte – gänzlichen Schweigens ein.

Dann hörte Leonard das laute knarrende Geräusch der sich öffnenden Tür, er fühlte sich plötzlich in eine andere Atmosphäre hineingezogen und wußte, daß Rosamunde und er im Myrtenzimmer standen.


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