Zwei Schicksalswege

Zehntes Kapitel

St. Antonios Brunnen

Ich stand auf der felsigen Höhe, vor den Ruinen der St. Antonio-Kapelle, und genoss die herrliche Aussicht auf Edinburgh und den alten Palast von Holyrood, vom hellsten Mondlicht begünstigt. Der Brunnen lag, wie der Doktor mir gesagt, hinter der Kapelle. Ich wartete einige Augenblicke an der Vorderseite der Ruine, teils um nach Ersteigung des Hügels zu Atem zu kommen, teils, ich gestehe es, um der nervösen Erregung Herr zu werden, die meine seltsame Lage in diesem Augenblick hervorgerufen hatte. Vielleicht war die Frau, oder die Erscheinung einer Frau - was es auch sein mochte, - wenige Schritte von mir entfernt. Kein lebendes Wesen war vor der Kapelle zu sehen, kein Laut traf mein Ohr auf dem einsamen Hügel. Ich versuchte meine ganze Aufmerksamkeit den Schönheiten der mondbeleuchteten Aussicht zuzuwenden, aber es war unmöglich. Meine Gedanken waren weit ab von den Gegenständen, auf denen meine Augen ruhten. Mein Geist weilte bei der Frau, die ich im Lusthause in meinem Buche schreiben gesehen.

Ich ging an der Seite der Kapelle herum. Noch wenige Schritte über den unebenen Boden und der Brunnen lag vor mir am Fuße des hohen Felsens, sein Wasser plätscherte fröhlich im Mondenschein.

Dort stand sie.

Ich erkannte sogleich ihre Gestalt, wie sie an den Felsen gelehnt dastand, die Hände auf der Brust gekreuzt, tief in Gedanken verloren. Als sie, durch den Widerhall meiner Fußtritte in der tiefen Stille erschreckt, aufblickte, erkannte ich auch ihr Gesicht.

War es die Frau selbst oder nur ihre Erscheinung? Ich wartete - und blickte sie schweigend an.

Sie sprach. Der Ton ihrer Stimme hatte nicht den geheimnisvollen Klang, wie ich sie dort im Lusthause hörte - es war derselbe Ton, wie ich ihn auf der Brücke, wo wir uns zuerst im düsteren Abendlichte trafen, vernahm.

»Wer sind Sie? Was führt Sie hierher?«

Indem sie diese Worte sprach, erkannte sie mich. »Sie hier! Was bedeutet das?« fuhr sie fort und trat mir mit unverhehltem Erstaunen einen Schritt näher.

»Ich bin gekommen, um Sie auf Ihre eigene Aufforderung hier zu treffen,« erwiderte ich.

Sie trat wieder zurück und lehnte sich an den Felsen. Der helle Mondschein fiel auf ihr Gesicht; als sie mich erblickte, drückten ihre Augen Schreck und Erstaunen aus.

»Ich verstehe Sie nicht,« sagte sie, »ich habe Sie ja nicht gesehen, seit wir auf der Brücke miteinander sprachen.«

»Verzeihen Sie,« erwiderte ich, »aber ich habe Sie oder Ihre Erscheinung wenigstens doch seitdem gesehen. Ich hörte sie sprechen und sah Sie schreiben.«

Sie sah mich mit einem Gemisch von Zorn und Neugierde an. »Was habe ich denn gesagt, was geschrieben?« fragte sie.

»Sie sagten: Gedenke mein und komme zu mir. Sie schrieben: Wenn der Vollmond scheint an St. Antonios Brunnen.«

»Wo?« rief sie, »wo tat ich das ?«

»In einem Lusthause, das an einem Wasserfall liegt,« antwortete ich. »Kennen Sie den Ort nicht?«

Ihr Kopf fiel gegen den Felsen, während Sie einen Schreckensruf ausstieß, ihr Arm, der auf dem Felsen ruhte, glitt herab. Ich sprang eilig hinzu, weil ich fürchtete, dass sie auf den steinigen Boden fallen könnte. Sie raffte sich wieder auf und rief mir entgegen: »Rühren Sie mich nicht an, gehen Sie zurück, mein Herr! Sie ängstigen mich!«

Ich versuchte sie zu beruhigen. »Wieso ängstige ich Sie, da Sie wissen wer ich bin? Können Sie an meinem Interesse für Sie zweifeln, da ich doch zu Ihrem Lebensretter berufen war?«

Augenblicklich verschwand ihre Rückhaltung, sie trat zu mir und erfasste meine Hand.

»Ich bin Ihnen Dank schuldig,« sagte sie, »und ich statte ihn gern ab. Halten Sie mich nicht für so undankbar, wie ich Ihnen erscheinen muss, auch nicht für eine Verworfene, mein Herr! Ich war nur elend und verzweifelt, als ich den Entschluss fasste mich zu ertränken. Misstrauen Sie mir nicht! Verachten Sie mich nicht!« Sie hielt inne, ich sah wie sie die Tränen, die ihre Wangen herabrollten, mit einer heftigen Bewegung abtrocknete. Wiederum verwandelten sich ihr Ton und ihre Haltung zu ihrer früheren Kälte und sie blickte mich mit Argwohn und Zorn an. Darauf sagte sie kurz und abgebrochen: »Beherzigen Sie das Eine! Als Sie glaubten mich schreiben zu sehen, träumten Sie! Sie haben mich weder gesehen, noch hörten Sie mich sprechen, wie hätte ich so vertraulich zu einem Fremden reden können? Das sind alles Gebilde Ihrer Phantasie, von denen Sie, um mich zu ängstigen, wie von wirklichen Tatsachen sprechen!« Wiederum wechselte ihr Benehmen und ihre Augen nahmen den sanften, traurigen Ausdruck an, der so unwiderstehlich schön war. Die kalten Schauer der Nachtluft nötigten sie, sich fester in ihren Mantel zu hüllen und ich hörte sie leise zu sich selbst sagen: »Was ist mir? Warum vertraue ich diesem Manne in meinen Träumen und scheue mich dessen, wenn ich wach bin?«

Dieser seltsame Ausspruch gab mir Mut ihr zu gestehen, dass ich ihn gehört hätte.

»Sie lassen mir nur Gerechtigkeit widerfahren,« sagte ich, »wenn Sie mir in Ihren Träumen vertrauen, aber tun Sie jetzt auch ein Gleiches - schenken Sie mir Ihr Vertrauen! Sie bedürfen eines Freundes, denn Sie sind unglücklich und verlassen und ich bin bereit Ihnen zu helfen.«

Als sie zögerte, versuchte ich ihre Hand zu erfassen, aber das seltsame Wesen entzog sie mir mit einem Aufschrei; sie schien meine Berührung vor Allem zu fürchten.

»Geben Sie mir Zeit zum Nachdenken,« sagte sie, »denn Sie ahnen nicht, was auf mir lastet. Ich werde Ihnen morgen schreiben. Bleiben Sie in Edinburgh?«

Ich hielt es für geraten, mich wenigstens dem Scheine nach mit ihrem Wunsche einverstanden zu erklären und so schrieb ich ihr auf meine Karte die Adresse des Hotels, in dem ich wohnte. Sie las die Karte, als ich sie ihr reichte, beim Lichte des Mondes.

»George!« wiederholte sie sich und warf bei Nennung meines Namens einen verstohlenen Blick auf mich. »George Germaine!« »Germaine« ist mir ganz unbekannt, aber der Name »George« ruft alte Erinnerungen in mir wach.« Sie lächelte trübe, als diese Erinnerung, von der ich ja nichts ahnen konnte, an ihr vorüberzog. »Es ist durchaus nichts Absonderliches »George« zu heißen, fuhr sie fort, der Name ist sehr gangbar, man begegnet ihm überall als Männernamen, und doch - ihre Augen beendeten den Satz, indem Sie mir sagten: »Nun ich weiß, dass Du »George« heißt, fürchte ich dich nicht so sehr!«

So führte sie mich unbewussterweise auf die Spur zur Entdeckung!

Hätte ich sie nur gefragt, welche Erinnerungen sich für sie an meinen Taufnamen knüpften, hätte ich sie nur vermocht zu mir über ihre Vergangenheit u sprechen, wenn auch nur in der kürzesten, rückhaltendsten Weise, - so musste ja die Scheidewand fallen, welche die Veränderung unserer beiderseitigen Namen und der Verlauf von zehn Jahren zwischen uns aufgerichtet hatten. Wir hätten uns wiedererkennen müssen. Ich verfiel mit keinem Gedanken darauf und zwar aus dem einfachen Grunde nicht - weil ich verliebt in sie war. Das Einzige, was mich eben ganz erfüllte, war die selbstsüchtige Idee, das freundliche Interesse, das mein Name eben in ihr erweckt hatte, auszunutzen, um mich noch mehr in ihrer Gunst zu befestigen.

»Warten Sie nicht bis Sie mir schreiben können,« sagte ich. »Verschieben Sie nichts auf morgen, wer weiß, was bis morgen geschieht? Ich fordere nicht viel, aber einen kleinen Lohn verdiene ich wohl für die lebhafte Teilnahme, die ich Ihnen widme. Wollen Sie mich nicht, ehe wir diese Nacht scheiden, glücklich machen, indem Sie meine Dienste annehmen?«

Ehe sie sich's versah, nahm ich ihre Hand und es schien, als wenn ihr ganzes Wesen sich mir bei dieser Berührung hingab. Ihre Hand lag widerstandslos in der meinen, während ihre reizende Gestalt sich mir leicht mehr und mehr näherte, bis ihr Kopf fast meine Schulter berührte. Seufzend flüsterte sie mir leise zu: »Missbrauchen Sie mein Vertrauen nicht, ich bin so verlassen, so ganz in Ihrer Macht.« Ehe ich antworten, ja ehe ich mich bewegen konnte, drückte sie mir die Hand und legte ihren Kopf an meine Schulter, indem sie in Tränen ausbrach.

Sie musste in diesem Augenblick jedem Manne, der nicht ein geborener und geschulter Schurke war, Achtung einflößen. Ich zog ihre Hand in meinen Arm und führte sie sanft an den Ruinen der Kapelle vorbei, den Hügel hinab.

»Dieser einsame Ort beängstigt Sie,« sagte ich, »wir wollen ein wenig auf- und abgehn, damit Sie sich erholen.«

Sie lächelte wie ein Kind durch ihre Tränen.

»Ja, aber nicht diesen Weg,« sagte sie hastig. Ich hatte zufällig die Richtung von der Stadt abwärts eingeschlagen, aber sie bat mich, dass wir uns den Häusern und Straßen zuwenden möchten. So wanderten wir nach Edinburgh zurück und sie betrachtete mich bei dem hellen Mondschein wiederholt mit unschuldigen, erstaunten Blicken. »Welchen unbegreiflichen Einfluss üben Sie auf mich aus!« sagte sie mir. »Haben Sie mich vor dem Abende, als wir uns dort am Flusse begegneten, jemals gesehen oder auch nur meinen Namen gehört?«

»Niemals!«

»Und auch ich habe nie vorher Ihren Namen gehört oder Sie gesehn. Das ist seltsam, sehr seltsam! Und doch erinnere ich mich jemandes, freilich war's nur eine alte Frau, die mir das Rätsel gelöst haben würde. Wo werde ich je ihresgleichen finden?«

Sie seufzte tief und schwer, jedenfalls war ihr die verlorene Freundin oder Verwandte sehr teuer gewesen. »War sie eine Verwandte von Ihnen?« fragte ich, eigentlich mehr um sie um Sprechen zu bewegen, als weil ich an irgendeinem Mitgliede ihrer Familie außer ihr selbst ein Interesse hatte.

Wiederum waren wir am Rande der Entdeckung angelangt und wiederum war es unser Verhängnis nicht weiter darin vorzudringen!

»Fragen Sie mich nicht nach meinen Angehörigen,« sprach sie schmerzvoll. »In dem Kummer, der mich jetzt drückt, darf ich der Verstorbenen nicht gedenken, denn ich würde wieder in Tränen ausbrechen, wenn ich mich jetzt der Heimat und der lieben alten Zeit erinnerte. Ich will Sie nicht wieder beunruhigen, mein Herr, darum lassen Sie uns von etwas Anderem, ganz Anderem sprechen.«

Da das Geheimnis ihrer Erscheinung in dem Lusthause noch nicht aufgeklärt war, so benutzte ich diese Gelegenheit, um den Gegenstand zu berühren.

»Sie sagten mir vorhin, dass Sie von mir geträumt hätten,« begann ich, »erzählen Sie mir doch Ihren Traum.«

»Ich weiß wirklich nicht, ob es ein Traum oder etwas Anderes war,« antwortete sie, »ich nenne es nur so, weil mir ein besserer Ausdruck fehlt.«

»War es nachts?«

»Nein, es war am Tage - nachmittags.«

»Spät am Nachmittag?«

»Ja - nach dem Abend.«

In meiner Erinnerung stieg die Geschichte des Doktors von dem schiffbrüchigen Manne auf, dessen Doppelgänger ja auch auf dem reisenden Schiffe erschienen war, das er selbst im Traume gesehen.

»Erinnern Sie ich des Datums und der Stunde?« fragte ich.

Sie nannte mir beides und es war genau derselbe Tag, wo meine Mutter und ich die Fahrt nach dem Wasserfall gemacht hatten, dieselbe Stunde, in der ich die Erscheinung im Lusthause vor meinem Buche schreibend fand!

Ich stand still und konnte mein Erstaunen kaum unterdrücken. Währenddessen waren wir auf unserem Rückwege zur Stadt bis an den Palast von Holyrood gekommen und nachdem sie einen Blick auf mich geworfen hatte, wendete sich meine Gefährtin dem düsteren, alten Bauwerk zu, das eben der liebliche Mond mit sanfter Schönheit übergoss.

»Seit ich in Edinburgh bin,« sagte sie einfach, »ist dieses mein Lieblingsspaziergang. Die Einsamkeit schreckt mich nicht, weil ich die tiefe Stille der Nacht so sehr liebe.« Wiederum sah sie mich an. »Was ist Ihnen,« fragte sie, »dass Sie nicht sprechen und mich nur ansehen?«

»Ich möchte mehr von Ihren Träumen hören,« sagte ich. »Wie kam es, dass Sie bei Tage schliefen?«

Im Weitergehen sagte sie: »Was ich eigentlich tat, weiß ich selbst nicht, dazu war ich zu bedrückt und krank und fühlte meine hilflose Lage an jenem Tage grade so tief. Dass es um die Mittagszeit war, weiß ich noch und dass ich nicht essen mochte, sondern hier im Gasthause, wo ich wohne, hinauf in mein Zimmer ging und mich aufs Bett legte. Ich war sehr erschöpft und weiß nicht, ob ich ohnmächtig war oder nur schlief - ich hatte das Bewusstsein für Alles was mich umgab verloren und dafür ein anderes Bewusstsein; ob das nun Traum war, kann ich nicht sagen, jedenfalls war es der lebhafteste Traum, den ich je hatte.

»Fing er damit an, dass Sie mich sahen?« fragte ich.

»Nein, ich sah Ihr Skizzenbuch auf dem Tische in einem Lusthause liegen.«

»Können Sie mir das Lusthaus beschreiben, wie Sie es sahen?«

Sie beschrieb nicht nur das Lusthaus, sondern auch die Aussicht auf den Wasserfall, den man durch die geöffnete Tür hatte. Sie kannte die Größe und den Einband meines Skizzenbuches, das in diesem Augenblick in meinem Schreibtisch eingeschlossen lag.

»Und erinnern Sie sich, dass Sie etwas in jenes Buch hinein schrieben und was Sie schrieben?« fuhr ich fort.

Als schäme sie sich dieses Teiles ihres Traumes, wendete sie sich verwirrt von mir ab.

»Sie sagten es ja schon selbst,« sagte sie, »wozu soll ich Ihnen die Worte wiederholen. Aber beantworten Sie mir nun eine Frage, standen Sie auf dem Wege zu dem Lusthause einen Augenblick still ehe Sie eintraten?«

Es war ja richtig, ich hatte im Erstaunen über die Frau, die vor meinem Buche saß, stillgestanden. Ich bejahte also ihre Frage und bat sie mir zu sagen, was sie da getan, als ich in das Lusthaus eingetreten war.

»Ich tat das Ungewöhnlichste,« antwortete sie in leisem, erregten Tone. »Wenn Sie mein Bruder gewesen wären, hätte ich Sie nicht mit mehr Vertraulichkeit behandeln können, denn ich winkte Sie zu mir heran und legte Ihnen meine Hand auf die Brust. Ich sprach ja zu Ihnen, wie ich nur zu einem alten, treuen Freunde sprechen würde. »Gedenke mein und komme zu mir!« sagte ich. O ich war so tief beschämt über das Alles, als ich wieder zu mir kam und mich dessen erinnerte! Ist zwischen einer Frau und einem vollkommen fremden Manne, den sie nur einmal im Leben sah, eine solche Vertraulichkeit - selbst im -Traume denkbar?«

»Wie viel Zeit verging ungefähr von da, wo sie sich zu Bett legten, bis Sie wieder erwachten?«

»Ich kann es ungefähr berechnen,« erwiderte sie, »denn es war Mittagszeit als ich mich niederlegte, wie ich Ihnen schon sagte, und als ich wieder zum Bewusstsein gekommen war hörte ich eine Turmuhr schlagen. Danach waren drei Stunden zwischen der Zeit wo ich mich legte und wieder aufstand verflossen.«

Konnte ich darin den Schlüssel zu dem Verschwinden der geheimnisvollen Schrift suchen?

Nach später gemachten Entdeckungen bin ich fast geneigt es zu glauben, denn grade nach drei Stunden waren jene Zeilen, die die Erscheinung niederschrieb unsichtbar geworden und nach eben drei Stunden, als sie erwachte, schämte sie sich der vertraulichen Weise in der sie mit mir verkehrt hatte. So lange sie mir in jenem wunderbaren Schlafe vertraut hatte, - vertraut weil ihr Geist fessellos den meinen zu erkennen vermochte - so lange war die Schrift sichtbar gewesen, nun aber im wachen Zustande ihr Wille, den Willen der Träumenden vernichtete, verschwand die Schrift. Vielleicht ist das die Erklärung und wo soll ich sie suchen, wenn sie es nicht ist?

Wir erreichten so den Teil der Canongatestraße, in der sie wohnte und standen vor der Tür still.


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