Wilkie Collins - Ein biographisch-kritischer Versuch

von Ernst Freiherr von Wolzogen (1855-1934)

Kapitel 8



Einer der besten und neben Hide und Seek der erfreulichste und psychologisch interessanteste ist der in Deutschland unter dem Titel „Die Blinde“ bekannte Roman unseres Autors „Poor Miss Finch“. In diesem vortrefflichen Werke werden wir endlich einmal mit Kriminal- und Gespenstergeschichetn verschont und erhalten dafür eine höchst fesselnde Erzählung voll psychologischen wie pathologischen Interesses. An Stelle des sonst unvermeidlichen genialen Detektivs oder Advokaten, welcher das übliche geheimnisvolle Verbrechen ans Tageslicht bringt, ist hier ein deutscher Augenarzt getreten, welcher die Katastrophe herbeiführt, indem er der blinden Heldin die Sehkraft wiedergibt. Man glaube aber nicht, daß in diesem Werke nur die Gerichtsstube mit dem Krankenzimmer und die Prozeßakten mit der Lanzette vertauscht seien: Es ist vielmehr in „Poor Miss Finch“ der Schwerpunkt des Interesses auf die wirklich tiefen, seelischen Konflikte und nicht auf die Spannung der Neugierde durch eine verwickelte Intrige gelegt.

Es handelt sich nämlich um folgendes: In einem entlegenen Dorfe Süd-Englands lebt die seit ihrer frühesten Kindheit blinde Tochter des Dorfpastors Finch ein stilles, zufriedenes Leben, im Vaterhause selbst abgeschieden von der lärmenden Kinderschar aus der zweiten Ehe des Pastors. Ein junger Mann, welcher unter dem falschen Verdacht eines Mordes vor den Assisen gestanden hat, zieht sich in die Einsamkeit seines Dörfchens zurück, da seine allzu empfindliche Natur sich scheut, mit dem Brandmal jenes schmählichen Verdachtes in der großen Welt zu leben. Die blinde Miß Finch begegnet ihm und verliebt sich in seine Stimme. Er, Oscar Dubourg, erwidert sehr bald ihre Liebe und da er sehr wohlhabend ist, steht eigentlich nichts ihrer Verbindung im Wege. Da stellen sich bei ihm epileptische Zufälle ein, welche die Heirat unmöglich machen würden, wenn er sich nicht zur Anwendung des Höllensteins entschlösse, welcher, innerlich genommen, bekantnlich eine graublaue Färbung der Haut erzeugt. Nun hat seine Verlobte, wie viele Blinde, eine instinktive Abneigung vor dunkeln Farben und der schwache Oskar kann sich infolgedessen nicht entschließen, ihr seine Entstellung einzugestehen. Die Hochzeit ist bereits nahe in Aussicht genommen, als Oskars, ihm in allen Dingen, mit Ausnahme des Charakters, höchst ähnlicher Zwillingsbruder Nugent kommt, um seine zukünftige Schwägerin kennenzulernen. Er faßt sofort eine wahnsinnige Leidenschaft zu ihr, welche er lange Zeit seinem ihn vergötternden Bruder zuliebe zu verbergen sucht. Er hat auf seinen Reisen einen hervorragenden deutschen Augenarzt namens Grosse kennengelernt. Dieser kommt und erklärt eine Operation für aussichtsvoll. Miß Finch ist überglücklich in der Hoffnung, ihren Geliebten vielleicht bald sehen zu können, Oscar aber widersetzt sich der Operation aus naheliegenden Gründen. Sie wird dennoch vollzogen und gelingt. Je näher der Tag rückt, an welchem die Binde abgenommen werden soll, desto unwiderstehlicher tritt an Nugent die Versuchung heran, in jenem entscheidenden Augenblick zugegen zu sein, um zu versuchen, ob Miß Finch nicht ihn für Oscar halten und beim Anblick des blauen Gesichts seines Bruders einen alle Liebe unmöglich machenden Abscheu empfinden würde. Oscar hat ihr nämlich weiß gemacht, daß sein Bruder der blaue Mann sei, von dem sie durch die Kinder gehört hat. Nugent erreicht wirklich seinen Zweck. Als die Binde abgenommen wird, hält Miß Finch ihn für Oscar und kehrt sich schaudernd von dem wahren Oscar ab. Jener ist in seiner Verzweiflung noch so aufopfernd, daß er seinem Bruder zuliebe alle Ansprüche auf seine Braut aufgibt und ins Ausland geht. Die Aufdeckung der grausamen Täuschung, in welcher sich Lucilla (so heißt Miß Finch) befindet, darf noch nicht gewagt werden, da alles darauf ankommt, ihre geistige Ruhe nicht zu stören, solange ihre Augen noch so empfindlich sind. Sie wird unter Aufsicht einer Tante, welche von der Entstellung ihres Bräutigams nichts weiß, in ein Seebad geschickt, und diese günstige Gelegenheit benutzt Nugent, um seine Rolle als Oscar weiter zu spielen. Lucilla ist aber nicht glücklich in seiner Nähe; sie kann sich diesen Abstand im Wesen des früheren von dem des jetzigen Oscars nicht erklären; sie empfindet bei seinen Liebkosungen nichts, und in seiner, durch das quälende Schuldbewußtsein oft gereizten Stimmung verletzt er Lucilla häufig so sehr, daß sie sich fast zwingen muß, an ihre Liebe zu ihm zu glauben. Die ewigen Aufregungen, die sein Betragen ihr verursacht, und das unmäßig lange Schreiben an ihrem Tagebuch, in welches sie aus Mangel einer Freundin das Herz ausschüttet, rauben ihr allmählich wieder das kaum gewonnene Augenblicht. Nugent, welcher täglich die Entdeckung des Betruges fürchten muß, besonders da Doktor Grosse erklärt, er werde seiner Patientin alles sagen, wenn er sich nicht selbst entschlösse, sein schmachvolles Spiel aufzugeben, zwingt Lucilla sich mit ihm heimlich zu verheiraten. Er bringt sie für die Zeit, welche zur Beschaffung der erforderlichen Papiere nötig ist, quasi als Gefangene in das Haus einer Verwandten. Dort findet sie durch die Bemühungen der treuen Gesellschafterin Lucillas Oscar zwei Tage vor der Hochzeit auf. Die Aufklärung erfolgt endlich. Die wieder gänzlich erblindete Lucilla nimmt nicht den geringsten Anstoß an dem „blauen Mann“, denn bei seiner ersten Berührung kehrt das selige Gefühl, welches sie früher dabei empfand, zurück und sie ist glücklich in ihrer Blindheit wie früher. Nugent ist tief zerknirscht und geht den Liebenden aus dem Wege, in dem er sich einer Nordpolexpedition anschließt.

Was in diesem flüchtigen Umriß unwahrscheinlich klingt, ist in der Erzählung vortrefflich motiviert: es fehlt auch nicht ein Glied in der festgefügten Kette von Ursache und Wirkung. Die Charaktere sind mit wirklicher Meisterschaft dargestellt, detailiert in der Zeichnung und seelisch vertieft, wie in keinem anderen Romane Collins. Die Figur der armen Miß Finch ist die liebenswürdigste, welche er je geschaffen hat. Ihre madonnenhafte Anmut, ihre rührende Einfachheit des Gefühls, ihre naive Fröhlichkeit, wie ihr tiefes Herzeleid treten uns mit ergreifender Anschaulichkeit vor Augen. Dabei ist sie nicht etwa die seraphische Mädchengestalt der beliebten Damenromane, sondern ein echtes Evakind mit allen liebenswürdigen und unliebenswürdigen Schwächen ihres Geschlechts. Aber sie ist nur um so reizender, wenn sie schmollt, ihrem unentschlossenen Geliebten den Kopf zurechtsetzt, oder gar bissige Antworten gibt. Die Darstellung der Eigenschaften der Blinden und ihr Verhalten nach der Operation bezeugt, daß sich der Autor aufs Gewissenhafteste über diese Dinge orientierte. Ehe ich irgendwelches Zitat hierher setze, muß ich einige Worte über die Form der Darstellung sagen. Der Roman ist wieder als Bericht eines Augenzeugen in der ersten Person geschrieben, und zwar ist diesmal diese Form besonders angenehm für den Leser, weil der Memoirenschreiber eine höchst originelle Persönlichkeit ist, eine von Wilkie Collins‘ glücklichsten Gestalten. Der Verfasser ist nämlich eine republikanische Witwe, einst die Gattin des großen Pratolungo, welcher sich damit beschäftigte, in Südamerika Tyrannen zu stürzen und dabei sein Leben sowie das Vermögen – seiner Frau der großen Sache opferte. Madame Pratolungo ist eine neue Auflage der beliebten Collins‘schen Heldinnen, welche mit bewunderungswerter Energie die schlimmsten Hindernisse des feindlichen Zufalls zu beseitigen wissen. Diesmal aber französischen Ursprungs und mit ihrem warmen Herzen, ihrem gesunden Humor und ihrem prächtig anschaulichen Stil eine sehr liebenswürdige Dame.

Frau Finch muß ich dem Leser in einer Probe anschaulich machen, denn sie ist die beste komische Figur unseres Autors, eine von denen, welche man nicht wieder vergißt. Hier die Darstellung des ersten Eintritts von Madame Pratolungo in das Finch‘sche Pfarrhaus.

Ein unordentlich aussehendes Dienstmädchen öffnete mir die Tür.

Vielleicht war die Pflicht, Fremde zu empfangen, etwas Neues für diese Person, oder vielleicht wurde sie durch eine Horde von Kindern in schmutzigen Kleidern, welche auf dem Vorplatze auf uns losstürzten, bei dem Anblick einer Fremden aber dann eben so rasch kreischend wieder in unsichtbare hintere Räume verschwanden, außer Fassung gebracht, - jedenfalls schien auch sie durchaus nicht zu wissen, was sie mit mir anfangen sollte. Nachdem sie mein Gesicht eine Zeitlang angestarrt hatte, öffnete sie plötzlich eine am Vorplatz liegende Tür und führte mich in ein kleines Zimmer. Aus diesem mir so gebotenen Asyl stürzten bei meinem Eintritt wieder zwei Kinder in schmutzigen Kleidern kreischend heraus. Ich nannte meinen Namen, sobald ich zu Worte kommen konnte. Das Mädchen schien entsetzt über die Länge des Namens. Ich gab ihr meine Karte; sie nahm sie zwischen ihren schmutzigen Zeigefinger und ihren ebenso schmutzigen Daumen, betrachtete sie, als ob es eine außerordentlich Naturmerkwürdigkeit sei, drehte sie um, indem sie mit ihrem Zeigefinger und Daumen verschiedene schwarze Flecke darauf drückte, verzweifelte dann ersichtlich daran, über die Bedeutung der Karte ins Klare zu kommen und ging hinaus. Draußen wurde sie, wie ich aus den an mein Ohr dringenden Tönen schloß, durch einen neuen Sturm der Kinder auf dem Vorplatz zurückgehalten. Ich hörte Flüstern, Kichern und dann und wann einen lauten Stoß gegen die Tür. Vermutlich auf Antrieb der Kinder, jedenfalls von ihnen geschoben, trat das Mädchen plötzlich wieder in die Tür. „Wollen Sie gefälligst mit mir kommen“, sagte sie. Die Kinderschar zog sich wieder treppenaufwärts zurück. Eines derselben, das meine Karte in der Hand hielt, schwang diese, auf dem ersten Treppenabsatz stehend, hin und her.

Das Mädchen führte mich über den Vorplatz und öffnete eine ander andern Seite desselben liegende Tür. Unangemeldet trat ich so in ein anderes größeres Zimmer. Was fand ich hier?

Endlich war das Glück mir günstig gewesen. Mein guter Stern hatte mich zu der Frau vom Hause geführt. Ich machte meinen besten Knix und fand mich einer großen blonden, languissanten, sympathischen Dame gegenüber, die sich in dem Augenblicke meines Erscheinens offenbar die Zeit damit vertrieben hatte, im Zimmer auf- und abzugehen. Wenn es wirklich Wassernixen gibt, so war sie gewiß eine. Auf ihrem farblosen Gesicht lag ein feuchter Schimmer und ihre blaßblauen Augen hatten etwas unaussprechlich Wässeriges. Ihr Haar war ungemacht und ihre Spitzenhaube saß ihr ganz schief auf dem Kopfe. Ihr Oberkörper war in eine lose Jacke von blauem Merino gekleidet, ihr Unterkörper von einem Dimiti-Schlafrock von zweifelhaftem Weiß umhüllt. In der einen Hand hielt sie ein schmutziges, reichlich mit Eselsohren versehenes Buch, dem ich es auf der Stelle ansah, daß es ein Leihbibliotheksroman war. Mit der andern Hand hielt sie ein auf ihrem Arm ruhendes, in Flanell gewickeltes Baby, das an ihrer Brust sog. So trat mir die Frau des ehrwürdigen Finch zuerst entgegen, und so und nicht anders sollte sie mir auch in der Folge immer wieder erscheinen. Niemals ganz angezogen, niemals ganz trocken, immer mit einem Baby in der einen und einem Roman in der andern Hand.

„O! Madame Pratolungo? Ja. Ich hoffe, daß jemand Fräulein Finch angezeigt hat, daß Sie hier sind. Sie hat ihr eigenes Logis und besorgt alle ihre Angelegenheiten selbst. Haben Sie ein gute Reise gehabt?“ Sie sprach diese Worte wie abwesend, als ob ihr Geist mit etwas anderem beschäftigt sei. Mein erster Eindruck war, daß sie eine schwache, gutmütige Frau sei und daß sie früher eine untergeordnete Stellung im Leben eingenommen haben müsse.

„Ich danke Ihnen, Frau Finch“, antwortete ich, „die Reise über Ihre schönen Hügel hat mir das größte Vergnügen gemacht.“

„O, gefallen Ihnen die Hügel? Entschuldigen Sie meinen Anzug. Ich bin diesen Morgen eine halbe Stunde zu spät aufgestanden. Und wenn man in diesem Hause einmal eine halbe Stunde verloren hat, kann man sie nie wieder einbringen, mag man es versuchen, wie man will.“

Ich sollte bald dahinter kommen, daß Frau Finch regelmäßig jeden Tag eine halbe Stunde verlor und daß es ihr niemals unter irgendwelchen Umständen gelang, diese verlorene halbe Stunde wieder einzuholen.

„Ich begreife, Frau Finch. Die Sorge für eine zahlreiche Familie -“

„Ja, das ist es gerade!“ (eine Lieblingsphrase von Frau Finch) „Zuerst kommt Finch; er steht früh auf und arbeitet im Garten. Dann kommt das Waschen der Kinder und die schreckliche Wirtschaft in der Küche. Und Finch kommt herein, wenn es ihm beliebt, und verlangt sein Frühstück. Und natürlich kann ich das Baby nicht verlassen und eine halbe Stunde geht einem dabei so leicht verloren, daß ich nicht weiß, wie ich sie wieder einholen soll.“ In diesem Augenblick fing das Baby an durch gewisse Anzeichen zu erkennen zu geben, daß es mehr mütterliche Nahrung zu sich genommen habe, als sein kindlicher Magen gut vertragen konnte. Ich hielt den Roman, während Frau Finch ihr Taschentuch erst in ihrer Schlafrockstasche, dann hier und dort überall im Zimmer suchte.

In diesem kritischen Augenblicke wurde an die Tür geklopft. Es erschien eine ältliche Frau, welche einen sehr wohltuenden Kontrast zu den Mitgliedern des Hauses bildete, die ich bis jetzt kennengelernt hatte. Sie war sauber gekleidet und begrüßte mich mit der höflichen Ruhe eines zivilisierten Wesens.

„Verzeihen Sie, Madame, meine junge Herrin hat erst eben von Ihrer Ankunft gehört. Wollen Sie die Güte haben, mir zu folgen?“

Ich wandte mich wieder an Frau Finch. Sie hatte ihr Tuch gefunden und hatte die Folgen ihrer Befeuchtung beseitigt und ihr Baby wieder in Ordnung gebracht. Ich gab ihr mit ehrerbietiger Miene den Roman wieder.

„Ich danke Ihnen“, sagte Frau Finch. „Ich finde, daß Romane mein Gemüt beruhigen. Lesen Sie auch Romane? Erinnern Sie mich daran, ich will Ihnen morgen diesen Roman leihen.“

Ich dankte für diese Freundlichkeit und verließ das Zimmer.

Der ehrwürdige Mr. Finch ist ein würdiges Pendant für seine feuchte Frau. Der Gegensatz zwischen seinem jämmerlichen Äußeren und seiner dröhnenden Baßstimme, seine Salbung und Wichtigtuerei zusammen mit seinem wenig erbaulichen Trachten nach weltlichen Gütern, welches alle seine Handlungen bestimmt, bilden in ihrem Verein ein allerdings outriertes, aber darum nicht minder lebensvolles Portrait. Ich lasse hier die Beschreibung der erwartungsvollen Morgenstunde des Tages folgen, an welchem Lucilla zum erstenmal ihre Sehkraft erproben soll. Der ehrwürdige Finch spielt dabei eine hervorragende Rolle:

Sie saß allein in der trüben Dunkelheit, mit verbundenen Augen, ihre niedlichen Hände geduldig im Schoße gefaltet. Das Herz schwoll mir bei ihrem Anblick; die schreckliche Entdeckung, die ich kurz zuvor gemacht hatte, drängte sich mir wieder mit ganzer Gewalt auf. „Verzeihen Sie mir, daß ich Sie verlassen habe“, sagte ich mit so fester Stimme, wie es mir irgend möglich war, und küßte sie.

Auf der Stelle entdeckte sie meine Aufregung, so sorgfältig ich dieselbe auch zu verbergen bemüht war.

„Sie ängstigen sich auch!“ rief sie, indem sie meine Hände ergriff.

„Ängstigen, liebes Kind?“ wiederholte ich ganz verdutzt, ohne recht zu wissen, was ich sagen sollte.

„Ja, jetzt, wo die Zeit so nahe rückt, sinkt mir der Mut. Böse Ahnungen aller Art bedrängen mich. O, wann wird es vorüber sein? Wie wird mir Oscar erscheinen, wenn ich ihn sehe?“

Ich beantwortete die erste Frage. Wer konnte die zweite beantworten?

„Herr Grosse kommt mit dem Morgenzug“, antwortete ich. „Es wird bald vorüber sein.“

„Wo ist Oscar?“

„Ohne Zweifel auf dem Wege hierher.“

„Beschreiben Sie ihn mir noch einmal“, sagte sie eifrig, „zum letzten Mal, bevor ich selbst sehe – seine Augen, seine Haare, seine Hautfarbe, alles.“

Wie ich die peinliche Aufgabe, die sie mir in ihrer Unschuld gestellt hatte, gelöst haben würde, wenn ich es hätte unternehmen müssen, daran mag ich kaum denken. Eine wahre Erlösung war es daher für mich, als sich, da ich eben das erste Wort gesprochen hatte, die Tür öffnete und eine Familiendeputation eintrat.

Voran schritt langsam und feierlich, die eine Hand pathetisch auf seine geistliche Weste gelegt, der ehrwürdige Finch; ihm zunächst folgte seine Frau, ohne alles ihr eigentümliche Zubehör, mit Ausnahme des Baby, ohne ihren Roman, ihre Jacke, ihren Unterrock, ihren Schal, ja selbst ohne ihr Schnupftuch, das sie immer zu verlieren pflegte. Zum ersten Mal, solange ich sie kannte, war sie angetan in ein vollständiges Kleid; die feuchte Frau Finch war wie umgewandelt. Hätte sie nicht das Baby getragen, ich glaube, ich hätte sie in dem trüben Dämmerlichte für eine Fremde gehalten. Sie blieb, offenbar unsicher, welchen Empfang sie zu erwarten habe, zaudernd an der Schwelle stehen und verdeckte so ein drittes Mitglied der Deputation, welches die allgemeine Aufmerksamkeit durch eine klägliche kleine Stimme, die mir wohl bekannt war, und durch eine Ausdrucksweise, die ich auch schon früher kennengelernt hatte, auf sich zu lenken suchte.

„Jicks will herein kommen.“

Der Pfarrer erhob seine Hand zu einem schwachen Protest gegen das Eindringen des dritten Mitglieds. Frau Finch rückte mechanisch ins Zimmer vor.

Jicks hielt ihre sehr disreputierlich aussehende Puppe fest in die Arme geschlossen und trug die Spuren einer kürzlichen Wanderung durch weißen Sand, der von ihrem Kittel und ihren Schuhen auf den Teppich herabfiel, an sich und ging auf die Stelle zu, wo ich saß. Als sie dicht an mich herangetreten war, blickte sie mit einem verschmitzten Ausdruck durch das im Zimmer herrschende Dunkel zu mir auf, ergriff ihre Puppe bei den Beinen, versetzte mir mit dem Kopf derselben einen derben Schlag aufs Knie und sagte:

„Jicks will da sitzen.“

Ich rieb mir das Knie und hob Jicks, wie mir geheißen war, auf den Thron. Gleichzeitig stolzierte Herr Finch feierlich auf seine Tochter zu, legte ihr die Hände aufs Haupt, erhob die Augen zur Zimmerdecke und sagte mit tiefen Baßtönen, welche von väterlicher Aufregung erdröhnten:

„Der Herr segne Dich, mein Kind!“

Bei dem Klang der prächtigen Stimme ihres Gatten wurde Frau Finch wieder ganz sie selbst. In bescheiden demütigem Tone sagte sie:

„Wie geht es dir, Lucilla?“ setzte sich in eine Ecke und gab ihrem Baby die Brust.

Herr Finch setzte zu einer seiner Reden an.

„Man hat meinen Rat in den Wind geschlagen, Lucilla, meinen väterlichen Einfluß nicht zur Geltung kommen lassen. Mein moralisches Gewicht ist sozusagen beiseite gesetzt worden. Ich beklage mich nicht. Verstehe mich wohl, ich konstatiere nur traurige Tatsachen.“ (Bei diesen Worten wurde er mich gewahr.) „Guten Morgen, Madame Pratolungo, ich hoffe, Sie befinden sich wohl. Es hat eine Meinungsverschiedenheit zwischen uns bestanden, Lucilla. Ich komme, mein Kind, und bringe Heilung auf meinen Flügeln (Heilung sollte hier so viel heißen wie Versöhnung), ich komme und bringe meine Frau mit – rede nicht, Frau! - um meine innigsten Wünsche, meine heißen Gebete an diesem wichtigen Tage im Leben meiner Tochter darzubringen. Nicht gemeine Neugierde hat meine Schritte hierher gelenkt. Keine Andeutung einer bösen Ahnung, welche ich vielleicht noch dieser rein weltlichen Einmischung in die Wege einer unerforschlichen Vorsehung gegenüber hege, soll über meine Lippen kommen. Ich bin hier als Vater und Friedensstifter. Meine Frau begleitet mich, - rede nicht, Frau! - als Stiefmutter und Friedensstifterin. Sie verstehen meine Distinktion, Madame Pratolungo. Danke, gute Frau. Sollte ich wohl von der Kanzel herab Verzeihung empfangenen Unrechts predigen und diese Verzeihung nicht in meinem Hause üben? Kann ich bei dieser wichtigen Gelegenheit mit meinem Kinde uneinig sein? Lucilla! Ich verzeihe dir, aus vollem Herzen und mit tränenvollen Blicken verzeihe ich dir. Sie haben, glaube ich, nie Kinder gehabt, Madame Pratolungo? Dann können Sie diesen Moment unmöglich begreifen, gute Frau, das ist aber nicht Ihre Schuld. Laß dir den Friedenskuß geben, mein Kind, den Friedenskuß.“ Feierlich beugte er sein borstiges Haupt über Lucilla hin und drückte ihr den Friedenskuß auf die Stirn. Er seufzte majestätisch und reichte dann in überströmender Großherzigkeit mir die Hand. „Hier haben Sie meine Hand, Madame Pratolungo. Beruhigen Sie sich, weinen Sie nicht, Gott segne Sie.“ Frau Finch war von dem edlen Benehmen ihres Gatten so tief erregt, daß sie von einem Weinkrampf befallen wurde. Das Baby, das sich durch die Aufregung seiner Mutter in seinen Funktionen gestört fand, hub ein sympathetisches Geschrei an, Herr Finch ging mitten durch das Zimmer auf sie zu, um ihnen auf seinen Flügeln häusliche Heilung zu bringen. „Das macht dir Ehre, Frau; aber unter den obwaltenden Umständen mußt du der Sache ein Ende machen. Denk an das Kind und nimm dich zusammen. Geheimnisvoller Mechanismus der Natur!“ rief der Pfarrer, indem er mit seiner Stentorstimme das immer lauter werdende Geschrei des Baby übertönte. „Wunderbare und schöne Sympathie, welche die mütterliche Nahrung gewissermaßen zum leitenden Medium der Störung zwischen Mutter und Kind macht! Welche Probleme stehen uns gegenüber, welche Kräfte umgeben uns selbst in diesem irdischen Leben! Natur! Maternität! Unerforschliche Vorsehung!“

„Unerforschliche Vorsehung“ war für den Pfarrer eine verhängnisvolle Phrase, sie zog für ihn immer eine Unterbrechung nach sich; so war es auch dieses Mal. Noch ehe Herr Finch seiner Überfülle pathetischer Apostrophen durch weitere Exklamationen Luft machen konnte, öffnete sich die Tür und Oscar trat ein.

Lucilla erkannte sofort seine Tritte. „Ist noch nichts von Herrn Grosse zu sehen, Oscar?“ fragte sie.

„Ja, man hat seinen Wagen schon auf der Landstraße gesehen; er wird gleich hier sein.“

Eine weitere höchst originelle Figur ist der groteske und doch so liebenswürdige deutsche Augenarzt, dessen unmanierliches Betragen, reizende Grobheit und unwiderstehliche Herzlichkeit prächtig geschildert sind – wozu im Original noch sein drolliges Englisch kommt.

Die psychologisch interessantesten Figuren sind die Zwillingsbrüder Oscar und Nugent. Oscars durch und durch weibliche Natur, sein ewiges Schwanken in allen Dingen, welche ihn selbst angehen und die Unerschütterlichkeit seines liebenden Glaubens an Nugent sind mit feinstem Verständnis für solche Gemüter dargestellt. Ebenso ist Nugents Abfall von seinem besseren Selbst, seine traurige Verblendung durch die Leidenschaft und die schließliche gänzliche Verwirrung seines moralischen Bewußtseins mit großer Feinheit motiviert und echt künstlerisch ausgeführt.

Das einzig störende in diesem sonst so harmonischen Werke ist das Tagebuch Lucillas, dessen Stil für die Schreiberin nicht charakteristisch genug ist und welches deshalb zu deutlich seinen Zweck als Lückenbüßer erkennen läßt.

Ich bin der Meinung, daß neben „The Woman In White“ „Poor Miss Finch“ dasjenige Werk ist, welches am meisten dazu geeignet erscheint, den Namen Wilkie Collins der Nachwelt zu überliefern.

Die recht gute Übersetzung von Emil Lehmann ist bei E.J. Günther in Leipzig erschienen.

Die Erzählung „Fräulein oder Frau“ (Miss or Mrs?) nimmt einen sehr hübschen Anlauf. Die Personen der Handlung befinden sich an Bord einer Vergnügungsyacht, und die leichte Skizzierung ihrer Charaktere, sowie ihrer gegenseitigen Beziehungen ist in den knappen Dialogszenen der ersten Kapitel sehr glücklich und anschaulich ausgeführt. Leider stellt es sich aber bald heraus, daß wir es mit einer ziemlich gewöhnlichen Mordgeschichte zu tun haben, welche aus den bekannten Ingredienzen: Benutzung eines eigentümlichen Gesetzesparagraphen, einer heimlichen Ehe, schweren Folgen kleiner zufälliger Ereignisse und raffinierten Mordplänen des Bösewichts zusammengebraut ist.

Wie so häufig finden wir auch in dieser Erzählung wieder eine dramatisch angelegte und darum packende Schilderung einer Mordnacht. Allein diesmal erreicht die Rache den Verbrecher sofort, indem er durch das Losgehen seiner eigenen Waffe getötet wird und dadurch den Liebenden den Weg zu ihrem Glücke frei legt. Als ganz gut durchgeführte humoristische Figuren heben ich die des Sir Joseph und dessen altjungferliche Schwester hervor. Im Übrigen kann man von diesem Buche nur sagen, daß es eines ist von welchen zwölf aufs Dutzend gehen – wohl verstanden, auf ein Dutzend von Wilkie Collins, denn seine Meisterschaft in der Kunst des Erzählens und in der Erfindung einer spanennden Intrige verleugnet er auch in seinen unbedeutendsten Arbeiten nicht.


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