Die Frau in Weiß

Fortsetzung der Aussage Walter Hartrights

IX.

Ich verließ das Haus, indem ich fühlte, daß Mrs. Catherick mir widerwillen einen Schritt weiter geholfen. Ehe ich noch bis an die Ecke des Platzes kam, wurde meine Aufmerksamkeit durch eine sich hinter mir schließende Thür erweckt. Ich blickte zurück und sah auf der Thürschwelle des Hauses, das, soviel ich zu urtheilen im Stande war, diesseits von Mrs. Cathericks Wohnung derselben zunächst stand, einen kleinen Mann in schwarzer Kleidung stehen. Derselbe ging schnellen Schrittes der Ecke zu, an der ich stille stand. Ich erkannte ihn als den Advokatenschreiber, der mir nach Blackwater Park vorausgereist war und dort einen Streit mit mir anzufangen gesucht hatte, als ich ihn fragte, ob ich das Haus sehen dürfe.

Ich wartete, wo ich stand, um zu sehen, ob er diesmal mit mir anfangen werde. Zu meinem Erstaunen ging er schnell vorbei, ohne eine Wort zu sagen, ja ohne mir selbst ins Gesicht zu sehen. Dies war so vollkommen das entgegengesetzte Verfahren, welches ich von ihm zu erwarten Ursache hatte, daß dadurch meine Neugierde, oder vielmehr mein Verdacht erweckt ward, und ich meinerseits beschloß, ihn im Auge zu behalten und zu ermitteln, welcher Art die Geschäfte seien, mit denen er augenblicklich beauftragt war. Ohne mich darum zu kümmern, ob er mich sähe oder nicht, ging ich ihm nach. Er schaute sich nicht ein einziges Mal um und führte mich geradeswegs durch die Straßen nach der Eisenbahnstation.

Der Zug war im Begriffe abzufahren, und zwei oder drei Passagiere, welche spät kamen, drängten sich um die kleine Oeffnung, durch welche die Billete ausgegeben wurden. Ich trat zu ihnen heran und hörte den kleinen Advocatenschreiber ganz deutlich ein Billet nach der Station Blackwater fordern. Ich ging nicht eher fort, als bis ich mich überzeugt hatte, daß er wirklich mit dem Zuge abgefahren sei.

Ich konnte Das, was ich soeben gesehen und gehört hatte, mir nur auf eine Weise deuten. Ich hatte den Mann ohne alle Frage ein Haus verlassen sehen, das dicht an Mrs. Catherick’s Wohnung stand. Ohne Zweifel hatte er sich auf Sir Percival’s Befehl in der Erwartung dort eingemiethet, daß meine Nachforschungen mich früher oder später zu Mrs. Catherick führen würden. Er hatte mich wahrscheinlich hineingehen und wieder herauskommen sehen und eilte nun mit dem ersten Zuge fort, um in Blackwater Park seinen Bericht abzustatten – wohin Sir Percival sich natürlich verfügen mußte (nach dem was er offenbar von meinen Schritten wußte), um auf der Stelle bereit zu sein, wenn ich nach Hampshire zurückkehrte. Es schien jetzt im höchsten Grade wahrscheinlich, daß er und ich, noch ehe viele Tage vergingen, einander begegnen würden.

Welcher Erfolg jedoch immer den Ereignissen bestimmt sein mochte, ich beschloß, meinem eigenen Pfade zu folgen, gerade auf das Ziel losgehend und ohne weder für Sir Percival noch irgend Jemanden stille zu stehen oder auf die Seite zu treten. Die große Verantwortlichkeit, die in London so schwer auf mir lastete – die Verantwortlichkeit nämlich, die geringste meiner Handlungen so einzurichten, daß sie nicht durch einen Zufall Laura’s Zufluchtsort verrieth – war mir in Hampshire abgenommen. In Welmingham konnte ich nach Gefallen kommen und gehen. Und falls ich zufälligerweise eine nothwendige Vorsichtsmaßregel versäumte, so trafen die unmittelbaren Folgen des Versehens doch Niemanden als mich.

Der Abend brach ein, als ich die Station verließ. Es war wenig Hoffnung vorhanden, daß meine Nachforschungen nach Dunkelwerden in einer mir fremden Gegend von Nutzen gewesen wären. Demzufolge begab ich mich nach dem nächsten Gasthofe und bestellte mein Mittagsmahl und mein Bett. Darauf schrieb ich an Marianne, um ihr zu sagen, daß ich wohl und in Sicherheit sei und Aussichten auf Erfolg habe. Ich hatte sie beim Abschiede gebeten, ihren ersten Brief (welchen ich am nächsten Morgen erwartete) nach »Welmingham, poste restante« zu adressiren, und ersuchte sie jetzt, es mit dem nächsten ebenso zu machen. Ich konnte mir, falls ich zufälligerweise zur Zeit der Ankunft der Post abwesend sein sollte, leicht den Brief durch den Postmeister zuschicken lassen.

Das Gastzimmer des Hotels wurde später Abends eine wahre Eremitage, und ich konnte über Das, was ich am Nachmittage ausgerichtet, ohne jegliche Unterbrechung und wie wenn das Haus mein eigenes gewesen wäre, nachdenken. Ehe ich mich zur Ruhe begab, hatte ich meine merkwürdige Unterredung mit Mrs. Catherick von Anfang bis zu Ende aufmerksam durchdacht und mir mit Muße die Schlüsse vergegenwärtigt, die ich vorhin nur in Eile hatte ziehen können.

Die Sacristei der Kirche von Alt Welmingham war der Ausgangspunkt, von dem aus mein Geist langsam den Weg durch Alles, was ich Mrs. Catherick hatte sagen hören und thun sehen, wieder zurücklegte.

Als Mrs. Clements mir zum ersten Male die Sacristei der Kirche als den Ort nannte, welchen Sir Percival sich zu seinen heimlichen Zusammenkünften mit der Frau des Küsters gewählt, war es mir bereits aufgefallen, welch ein sonderbarer und unbegreiflicher Ort dieselbe zu diesem Zwecke sei. Durch diesen Eindruck getrieben – und durch nichts Anderes – hatte ich der »Sacristei der Kirche« auf’s Gerathewohl hin vor Mrs. Catherick Erwähnung gethan; es war dies einer der unbedeutenderen Punkte der Geschichte, welche mir während des Sprechens einfiel. Ich war darauf vorbereitet, daß sie mir zornig oder verwirrt antworten werde; aber der entsetzensvolle Schrecken, welcher sie erfaßte, als ich die Worte aussprach, überraschte mich im höchsten Grade. Ich hatte Sir Percival’s Geheimniß längst mit der Verheimlichung eines ernsten Verbrechens in Verbindung gebracht, um welches Mrs. Catherick wußte – aber ich war in meinen Vermuthungen nicht weiter gegangen. Des Weibes Paroxismus von Schreck aber brachte dies Verbrechen jetzt – entweder direct oder indirect – mit der Sacristei in Verbindung und überzeugte mich, daß sie nicht allein Zeuge desselben, sondern sogar ohne allen Zweifel eine Mitschuldige gewesen war.

Welcher Art war das Verbrechen gewesen? Es mußte sicher eine verächtliche Seite sowohl als eine gefährliche haben, sonst hätte Mrs. Catherick meine Worte in Bezug auf Sir Percival’s Rang und Macht nicht mit so ausfallender Verachtung wiederholt. Es war also ein verächtliches sowohl als ein gefährliches Verbrechen, und sie hatte Theil daran genommen, und es hatte mit der Sacristei der Kirche zu thun.

Der nächste Punkt, den ich zu überlegen hatte, führte mich noch einen Schritt weiter.

Mrs. Catherick’s unverhohlene Verachtung für Sir Percival erstreckte sich offenbar auch auf seine Mutter. Sie hatte mit dem bittersten Spotte auf die hohe Familie, von der er abstamme, angespielt – »namentlich von mütterlicher Seite.« Was sollte dies bedeuten? Es schienen mir nur zwei Erklärungen möglich. Entweder war seine Mutter von niederer Herkunft? oder ihr Ruf war nicht rein gewesen, und Sir Percival und Mrs. Catherick theilten das Geheimniß hierüber? Ich konnte mir über Ersteres nur Auskunft verschaffen, indem ich im Kirchenbuche ihr Heirathscertificat aufsuchte und mich so über ihren Mädchennamen und ihre Verwandtschaft unterrichtete; als Einleitung zu ferneren Nachfragen.

Dagegen, falls der zweite angenommene Fall der wahre gewesen, welcher Art war da der Flecken auf ihrem Rufe? Indem ich mich an Das erinnerte, was Marianne mir über Sir Percival’s Vater und Mutter und über deren ungesellige, verdächtig abgeschlossene Lebensweise erzählt hatte, frug ich mich jetzt, ob es nicht möglich sei, daß seine Mutter am Ende gar nicht verheirathet gewesen? Hier wieder konnte das Kirchenbuch durch ein geschriebenes Certificat der Heirath mir wenigstens beweisen, daß dieser Verdacht ein unbegründeter war. Wo aber dieses Kirchenbuch finden? Bei diesem Punkte nahm ich die Schlüsse wieder auf, zu denen ich bereits vorher gekommen, und derselbe Gedankengang, welcher die Lokalität des verborgenen Verbrechens entdeckt hatte, brachte jetzt das Kirchenbuch in die Sacristei der Kirche zu Alt-Welmingham

Dies waren die Erfolge meiner Unterredung mit Mrs. Catherick – und dies waren die verschiedenen Betrachtungen, die alle gerade an einem Punkte zusammenlaufend mir mein für den nächsten Tag zu beobachtendes Verfahren vorzeichneten.

Der Morgen war trübe und wolkig, doch ohne Regen. Ich ließ meinen Nachtsack im Gasthofe zurück, bis ich ihn mir abholen würde, und nachdem ich mich nach dem Wege erkundigt, ging ich zu Fuße nach der Kirche zu Alt-Welmingham.

Es war dies ein Spaziergang von etwas mehr als zwei Meilen auf fortwährend allmälich berganwärts gehendem Boden.

Auf dem höchsten Punkte stand die Kirche – ein altes verwittertes Gebäude mit schwerfälligen Formen und einem großen viereckigen Thurme. Die Sacristei an der Hinterseite war aus der Kirche herausgebaut und schien dasselbe Alter zu haben. Rund um die Kirche her sah man die Ueberbleibsel des Dorfes, in dem, wie Mrs. Clements mir erzählt, ihr Mann früher gewohnt und das die bedeutendsten Einwohner desselben längst verlassen hatten, um nach der neuen Stadt zu ziehen. Einige von den leeren Häusern waren bis auf die äußeren Mauern abgerissen; andere waren den verheerenden Angriffen der Zeit überlassen, und andere wieder wurden noch bewohnt, aber offenbar von Leuten der allerärmsten Klasse. Es war ein trauriger, öder Anblick, und doch in all seinem Verfalle noch nicht so öde wie die neue Stadt, die ich soeben verlassen hatte. Hier ruhte das Auge doch wenigstens auf der braunen, lustigen Fläche der umliegenden Felder aus; hier brachten doch die Bäume, so entlaubt sie auch waren, eine Abwechselung in die Einförmigkeit des Ortes und halfen dem Auge des Geistes, dem Sommer und dem Schatten entgegensehen.

Als ich mich von der Hinterseite der Kirche abwandte und an einigen der abgerissenen Häuschen vorbeiging, um mir Jemanden zu suchen, der mir sagen konnte, wo ich den Küster finden würde, erblickte ich zwei Männer, welche hinter einer Mauer herum kamen und mir nachgingen. Der größte von Beiden – ein stämmiger, muskulöser Mensch in der Kleidung eines Wildwärters – war mir fremd. Der Andere aber war einer von den beiden Männern, die mir an dem Tage, wo ich Mr. Kyrle’s Expedition verließ, gefolgt waren. Ich hatte ihn mir damals besonders gemerkt, und war ich deshalb jetzt über seine Identität vollkommen sicher.

Weder er noch sein Begleiter versuchten, mit mir zu sprechen, und Beide hielten sich in achtungsvoller Entfernung; doch war der Zweck ihrer Anwesenheit in der Nähe der Kirche klar in die Augen fallend. Die Sache verhielt sich gerade so, wie ich vermuthet hatte: Sir Percival war bereits auf mich vorbereitet. Mein Besuch bei Mrs. Catherick war ihm am Abend vorher berichtet worden, und jene beiden Männer waren in Erwartung meines Erscheinens in Alt-Welmingham in der Nähe der Kirche als Wache aufgestellt worden. Hätte ich noch eines ferneren Beweises bedurft, daß meine Nachforschungen endlich die rechte Richtung genommen hatten, so hätte der jetzt von ihnen angenommene Beobachtungsplan mir denselben geliefert.

Ich ging weiter, von der Kirche fort, bis ich bei einem der bewohnten Häuser anlangte, an das sich ein Stückchen Küchengarten schloß, in welchem ein Mann bei der Arbeit war. Er gab mir den Weg nach der Küsterwohnung an, einem Häuschen, das in einiger Entfernung ganz allein am äußersten Ende des verlassenen Dorfes stand. Der Küster war zu Hause und gerade beschäftigt, seinen großen Ueberrock anzuziehen. Er war ein munterer, zutraulicher, lautgesprächiger alter Mann und hegte – wie ich bald gewahr wurde – eine sehr geringe Meinung von dem Orte, in dem er wohnte, zugleich aber ein glückliches Bewußtsein persönlicher Ueberlegenheit über seine Nachbarn, vermöge der großen Auszeichnung, einstmals in London gewesen zu sein.

»Es trifft sich glücklich, daß Sie so früh kamen, Sir,« sagte der alte Mann, nachdem ich ihn mit dem Zwecke meines Besuches bekannt gemacht. »In zehn Minuten wäre ich nicht mehr dagewesen. Kirchspielangelegenheiten, Sir – und ein ziemlich langer Trab, ehe Alles abgethan ist, für einen Mann in meinen Jahren. Aber ich bin, Gott sei Dank, noch immer ganz gut auf den Beinen! So lange ein Mann noch über seine Beine zu gebieten hat, ist auch noch Arbeit in ihm. Sind Sie nicht auch der Ansicht, Sir?«

Während er sprach, nahm er seine Schlüssel von einem Haken hinter dem Kamine herunter und verschloß, nach dem wir hinausgegangen waren, seine Hausthür hinter uns.

»Kein Mensch d’rin, um meinen Haushalt zu führen,« sagte der Küster mit einem frohen Gefühle der Freiheit von allen Familienbürden. »Meine Frau liegt da drüben auf dem Kirchhofe, und meine Kinder sind alle verheirathet. Ein erbärmlicher Ort dies, nicht wahr, Sir? Aber es ist ein großes Kirchspiel – es würde nicht Jeder so gut damit fertig werden wie ich. Das macht aber die Bildung – und davon habe ich mein Theil gehabt und vielleicht noch ein Bischen mehr. Ich kann der Königin Englisch sprechen (Gott erhalte die Königin!) – und Das ist mehr, als die meisten Leute hier herum im Stande sind. Sie kommen aus London, wie ich vermuthe, Sir? Ich war vor ungefähr fünfundzwanzig Jahren in London. Was giebts Neues dort, wenn ich fragen darf?«

Unter solchem Geplauder führte er mich nach der Sacristei zurück. Ich schaute umher, um zu sehen, ob sich die beiden Spione noch blicken ließen; doch waren sie nirgendwo zu sehen. Nachdem sie sich von meinem Besuche beim Küster überzeugt, hatten sie sich wahrscheinlich an irgend einer Stelle verborgen, von der aus sie, ohne bemerkt zu werden, meine nächsten Schritte überwachen konnten.

Die Thür der Sacristei war von starkem alten Eichenholze und mit großen Nägeln beschlagen, und der Küster steckte den großen schweren Schlüssel mit der Miene eines Mannes ins Schloß, welcher wußte, daß er eine schwere Aufgabe vor sich hatte, und sich nicht ganz sicher fühlte, daß er dieselbe auf rühmliche Weise lösen werde.

»Ich bin genöthigt, Sir, Sie von dieser Seite hereinzuführen,« sagte er, »weil die Thür, welche von der Kirche aus hineinführt, auf der Seite der Sacristei verriegelt ist. Wir hätten sonst durch die Kirche hineingehen können. Dies ist ein so halsstarriges, altes Schloß, wie es je eins gab. Es ist groß genug für ein Gefängnißthor und schon wer weiß wie viele Male verdreht worden; es hätte längst abgenommen und ein neues an seine Stelle gelegt werden sollen. Ich habe das dem Herrn Kirchenvorsteher wenigstens schon fünfzig Mal gesagt; er spricht jedesmal: ich werde dafür sorgen und thut es doch nicht. Ach ja, ’s ist ein erbärmliches Nest dies. ’S ist kein London – nicht wahr? Gott bewahre! wir sind hier Alle im Schlaf. Es fällt uns gar nicht ein, mit der Zeit fortzuschreiten.«

Nach einigem Drehen und Wenden des Schlüssels gab das Schloß endlich nach, und er öffnete die Thür.

Die Sacristei war größer, als ich nach der Außenseite zu urtheilen vermuthet hätte. Es war ein düsteres, moderiges, melancholisches altes Zimmer mit einer niedrigen Balkendecke. An zwei Seiten – denjenigen, welche dem Innern der Kirche zunächst lagen – zogen sich schwere, durch Alter wurmstichig gewordene Holzschränke hin. In einem derselben hingen an einem Haken mehrere Priesterhemden, welche alle an ihren unteren Enden in einem unehrerbietig aussehenden Kleiderbündel aufbauschten und nur der Beine bedurft hätten, um auf Jeden den Eindruck zu machen, als ob sie ein Rattenkönig verwahrloster Pfarrgehülfen gewesen wären, die Selbstmord begangen, indem sie sich auf gesellschaftliche Weise Alle zusammen erhängten. Unter den Priesterhemden am Boden standen drei Packkisten, deren Deckel nur halb befestigt waren und aus denen durch jeden Riß und jede Spalte hindurch sich ungeduldiges Stroh drängte. Hinter diesen in einem Winkel lag eine unordentliche Masse staubiger Papiere, von denen einige groß und zusammengerollt waren, wie Baupläne, andere dagegen lose wie Briefe oder Rechnungen auf Bindfaden gezogen waren. Das Zimmer hatte ehedem durch ein kleines Seitenfenster Licht erhalten; aber dasselbe war zugemauert und durch ein Gewölbefenster ersetzt worden. Die Atmosphäre drinnen war schwer und moderig und wurde durch den Umstand, daß die Thür nach der Kirche zu verschlossen war, noch drückender. Diese Thür war ebenfalls von festem Eichenholze und von der Seite der Sacristei oben und unten verriegelt.

»Wir könnten etwas ordentlicher sein, wie, Sir?« sagte der muntere Küster. »Aber was kann man von Leuten erwarten, die in einem solchen erbärmlichen Neste wohnen? Sehen sie nur – sehen Sie sich blos diese Packkisten an. Da haben sie seit länger als einem Jahre gestanden, um nach London geschickt zu werden – da stehen sie und machen die Stube unordentlich – und da werden sie stehen bleiben, so lange ihre Nägel sie zusammenhalten. Ich will Ihnen ’was sagen, Sir, wie ich schon vorhin bemerkte, dies ist kein London. Wir sind hier Alle im Schlafe. Wir schreiten nicht mit der Zeit fort, Gott bewahre!«

»Was enthalten diese Packkisten?« frug ich.

»Kleine Stückchen von dem Holzgeschnitzel an der Kanzel, Paneele vom Altar und geschnitzte Bilder von der Orgel,« sagte der Küster. »Portraits in Holz von den zwölf Aposteln – wovon nicht einer ’ne heile Nase mehr hat. Alles zerbrochen und wurmstichig und in Staub zerbröckelnd – so zerbrechlich wie Töpferwaare, Sir, und so alt wie die Kirche – wo nicht noch älter.«

»Und wozu sollen sie nach London gebracht werden? Zum Ausbessern?«

»Richtig, Sir. Zum Ausbessern; und wo sie nicht mehr ausgebessert werden können, sollen sie in starkem Holze wieder nachgeahmt werden. Aber, der Herr segne Sie! – sie kamen mit dem Gelde zu kurz – und jetzt steht das Zeug da und wartet auf neue Subscriptionen, und kein Mensch will Etwas dazu hergeben. Die Geschichte wurde vor einem Jahre angefangen, Sir. Sechs Herren speisten darüber in dem Gasthofe in der neuen Stadt. Sie hielten Reden, faßten Beschlüsse, schrieben ihre Namen auf und druckten Tausende von Plänen. Wunderschöne Pläne, Sir, über und über mit gothischen Sinnbildern in rother Tinte bemalt, und welche ankündigten, daß es eine Schande sei, die Kirche nicht wieder herzustellen und das berühmte Schnitzwerk nicht ausbessern zu lassen und dergleichen mehr. Da hinter den Packkisten im Winkel liegen die Prospectusse und Baupläne und Rechnungen und Anschläge und die ganze Correspondenz, die in Nichts als allgemeiner Balgerei endete. Es kam anfangs ein Bischen Geld eingetröpfelt – aber ich bitte Sie, was kann man außerhalb London erwarten? Es war gerade genug, um das zerbrochene Schnitzwerk zu packen, die Anschläge und die Druckerrechnungen zu bezahlen – und dann war kein Heller mehr übrig. Da stehen die Sachen, wie ich schon sagte. Wir können sie sonst nirgendwo lassen – den Leuten in der neuen Stadt liegt nichts daran, uns gefällig zu sein – wir leben hier in einem Loche, und dies ist eine sehr unordentliche Sacristei, und wer soll’s ändern? – das frage ich blos.«

Mein eifriger Wunsch, das Kirchenbuch durchzusehn, bewog mich, nicht in des alten Mannes Gesprächigkeit einzugehen. Ich gab ihm Recht, daß kein Mensch im Stande sei, eine Abänderung in dem unordentlichen Zustande der Sacristei zu treffen, und schlug dann vor, daß wir ohne Verzug zur Sache kämen.

»Ja, ja, das Kirchenbuch, ja wohl,« sagte der Küster, indem er ein kleines Schlüsselbund aus der Tasche nahm. »Wie weit wollen Sie zurücksuchen, Sir?«

Marianne hatte mich zur Zeit, als wir von Laura’s Verlobung mit Sir Percival Glyde gesprochen, von des Letzteren Alter unterrichtet. Sie hatte ihn damals als fünfundvierzig Jahre alt beschrieben. Indem ich von da an zurück und das Jahr mit einrechnete, welches seit der Zeit verflossen war, fand ich, daß er im Jahre 1804 geboren sein mußte und daß ich mit Sicherheit bei diesem Datum im Kirchenbuche anfangen konnte.

»Ich wünsche mit dem Jahre 1804 anzufangen,« sagte ich.

»Nach welcher Richtung hin von da an, Sir?« frug der Küster. »Vorwärts oder rückwärts?«

»Von 1804 an rückwärts.«

Er öffnete die Thür eines der Schränke – desjenigen, an welchem die Priesterhemden aufgehangen waren – und nahm ein großes Buch, das in schmierigem braunem Leder gebunden war, heraus. Es fiel mir auf, wie sehr unsicher dasselbe verwahrt war. Die Thür des Schrankes war durch das Alter gebogen und geborsten, und das Schloß war von der kleinsten und gewöhnlichsten Art. Ich hätte es bequem mit meinem Spazierstocke sprengen können.

»Wird das als ein hinreichend sicherer Platz für das Kirchenbuch angesehen?« frug ich. »Mich dünkt, ein Buch von solcher Wichtigkeit sollte doch durch ein besseres Schloß und in einer eisernen Kiste verwahrt werden!«

»Na, das ist doch merkwürdig!« sagte der Küster, das Buch, welches er so eben geöffnet hatte wieder schließend und fröhlich mit der Hand darauf schlagend. »Ganz dasselbe pflegte mein alter Meister immer zu sagen, als ich noch ein Bursche war. ›Warum,‹ sagte er, ›warum wird das Kirchenbuch (womit er dieses hier meinte, welches ich in der Hand habe) nicht in einer eisernen Kiste aufbewahrt?‹ Das habe ich ihn nicht einmal, sondern hundertmal sagen hören. Er war hier der Advocat damals, Sir, und hatte dabei das Amt des Kirchspielschreibers inne. Ein prächtiger, aufrechter alter Herr – und der eigenste alte Herr, den es nur geben konnte. So lange er lebte, bewahrte er auf seiner Expedition in Knowlesbury eine Abschrift dieses Buches und ließ von Zeit zu Zeit die bei uns eingetragenen Certificate genau in derselben nachschreiben. Sie werden es kaum glauben, aber er hatte seine bestimmten Tage, ein oder zweimal alle Vierteljahre auf seinem alten weißen Pony hier nach der alten Kirche herüberzureiten, um mit eigner Hand das Kirchenbuch nach seiner Abschrift zu controliren. ›Wie kann ich wissen‹ (pflegte er zu sagen) ›wie kann ich wissen, ob nicht dies Kirchenbuch einmal gestohlen oder vernichtet werden mag? Warum verwahrt man es nicht in einer eisernen Kiste? Warum sind andere Leute nicht ebenso vorsichtig wie ich? Es wird sich eines Tages irgend etwas Ungehöriges ereignen – und wenn dann das Kirchenbuch fort ist, werden die Herren den Werth meiner Abschrift erkennen.‹ Dann pflegte er seine Prise zu nehmen und so stolz wie ein Lord um sich zu blicken. Ach! Seinesgleichen als Geschäftsmann ist so leicht nicht wiederzufinden. Sie können nach London gehn und selbst dort nicht einen Mann finden, der ihm gleich käme. Welches Jahr sagten Sie, Sir? Achtzehnhundert und wieviel?«

»Achtzehnhundert und vier,« entgegnete ich, heimlich entschlossen, dem alten Manne keine fernere Gelegenheit zum Schwatzen zu geben, bis ich mit meiner Durchsicht des Kirchenbuches fertig sein würde.

Der Küster setzte seine Brille auf und wandte die Blätter des Buches um, indem er bei jedem dritten Blatte sorgfältig den Zeigefinger und Daumen benetzte. »Da ist es, Sir,« sagte er, indem er abermals vergnügt auf das Buch klopfte. »Da ist das Jahr, welches Sie suchen.«

Da ich nicht wußte, in welchem Monate Sir Percival geboren war, begann ich meine Nachsuchung mit dem Anfange des Jahres. Das Kirchenbuch war eins nach der alten Art: die Certificate waren auf leere Blätter geschrieben und durch Linien getrennt, welche mit Tinte dicht unter jedes Certificat über die ganze Seite hingezogen waren.

Ich kam bis zum Schlusse des Jahres Achtzehnhundert und vier, ohne die Heirath zu finden und ging dann rückwärts durch Achtzehnhundert und drei, durch den December, November, October, durch –

Nein! nicht durch den September. Unter der Unterschrift dieses Monats fand ich die Heirath!

Ich besah das Eingetragene aufmerksam. Dasselbe stand am unteren Ende einer Seite und war wegen Mangels an Raum auf einen kleineren Platz zusammengedrängt, als die Certificate der Heirathen darüber einnahmen. Die unmittelbar vorhergehende Heirath prägte sich meinem Gedächtnisse durch den Umstand ein, daß der Taufname des Bräutigams derselbe war, den ich trug. Die unmittelbar folgende (an der Spitze der nächsten Seite) fiel auf andere Weise auf, indem sie einen größeren Raum einnahm, als die übrigen, da sie die Vermählung zweier Brüder zu gleicher Zeit berichtete. Das Certificat der Heirath von Sir Felix Glyde war durch Nichts bemerkbar, außer durch den engen Raum, in den das Geschriebene zusammengedrängt war. Ueber seine Gemahlin enthielt es genau dieselbe Art von Auskunft, welche gewöhnlich in solchen Fällen gegeben wird. Sie war angeführt als: »Cäcilia Jane Elster aus Park-View Cottages, Knowlesbury; einzige Tochter des weiland Patrick Elster, Esquire, ehedem aus Bath.«

Ich schrieb mir diese Einzelheiten in mein Taschenbuch ein, wobei sich einigermaßen Zweifel und Entmuthigung in Bezug auf meine zunächst zu thuenden Schritte bei mir einschlich. Das Geheimniß, von dem ich bis zu diesem Augenblicke geglaubt hatte, daß ich es schon fast ergriffen, schien mir jetzt ferner denn je entrückt.

Welche Andeutungen auf unerklärte Geheimnisse hatte mein Besuch in der Sacristei ergeben? Ich sah deren keine. Welche Fortschritte hatte ich gemacht, um den geargwöhnten Flecken auf dem Rufe seiner Mutter zu entdecken?

Das einzige Factum, worüber ich mir Gewißheit verschafft, sprach denselben vollkommen rein. Neue Zweifel, neue Schwierigkeiten, neue Zeitverluste begannen sich in unabsehbarer Weite vor mir zu erheben. Was sollte ich zunächst beginnen? Die einzige unmittelbare Hülfsquelle, die mir noch übrig blieb, schien die folgende zu sein: ich konnte Nachfragen über »Miß Elster in Knowlesbury« anstellen auf die Aussicht hin, den Hauptzweck meiner Forschungen dadurch zu fördern, daß ich das Geheimniß von Mrs. Catherick’s Verachtung für Sir Percival’s Mutter entdeckte.

»Haben Sie gefunden, was Sie suchten, Sir?« frug der Küster, als ich das Kirchenbuch schloß.

»Ja,« erwiderte ich; »aber ich habe Ihnen noch einige Fragen vorzulegen. Ich vermuthe, daß der Geistliche, welcher im Jahre Achtzehnhundert und drei den Gottesdienst in dieser Kirche verrichtete, nicht mehr am Leben ist?«

»Nein, nein, Sir. Er war schon vor drei oder vier Jahren, ehe ich hieher kam, gestorben – und das war im Jahre Achtzehnhundert und siebenundzwanzig. Ich bekam die Stelle, Sir,« fuhr mein geschwätziger alter Freund fort, »dadurch, daß mein Vorgänger sie aufgab. Man sagt, daß seine Frau ihn aus Haus und Hof vertrieben – und die lebt noch, da drüben in der neuen Stadt. Ich selbst weiß nicht genau, wie die Geschichte zusammenhängt; das Einzige, was ich weiß, ist, daß ich die Stelle bekam. Mr. Wansborough verschaffte sie mir – der Sohn meines alten Herrn, von dem ich Ihnen erzählte. Er ist ein freier, freundlicher Mann, liebt die Jagd, hält sich seine Hunde und all’ dergleichen. Er ist jetzt unser Kirchspielschreiber, wie sein Vater es vor ihm war.«

»Sagten Sie nicht, Ihr früherer Herr wohnte in Knowlesbury?« frug ich, indem ich mich der langen Erzählung über den pünktlichen Herrn aus der alten Zeit  erinnerte, mit der mich mein redseliger Freund vorhin gelangweilt hatte.

»Ja wohl, Sir,« entgegnete der Küster. »Der alte Mr. Wansborough wohnte zu Knowlesbury, und der junge Mr. Wansborough wohnt dort ebenfalls.«

»Sie erwähnten soeben, daß er, wie sein Vater, Kirchspielschreiber hier sei. Ich weiß nicht recht, was eigentlich ein Kirchspielschreiber ist?«

»Wirklich nicht, Sir? – und kommen noch dazu aus London! Jedes Kirchspiel, müssen Sie wissen, hat sowohl seinen Kirchspielschreiber wie seinen Büttel. Der Büttel ist ein Mann wie ich (ausgenommen, daß ich ein gut Theil mehr Bildung habe; wie die meisten von ihnen – obgleich ich nicht damit prahle). Kirchspielschreiber ist eine Art Amt, welches die Advocaten bekommen; so daß, falls für die Sacristei Geschäfte zu machen sind, sie dieselben sofort übernehmen können. Es ist in London ebenso. Jede Kirche hat ihren Kirchspielschreiber, und Sie können mir auf’s Wort glauben, daß derselbe jedesmal ein Advocat ist.«

»Dann ist vermuthlich auch der junge Mr. Wansborough ein Advocat?«

»Das versteht sich, Sir! Advocat in der Hochstraße, Knowlesbury – das alte Geschäftslocal, das schon sein Vater hatte. Die unzähligen Male, daß ich jene Expedition ausgekehrt und den alten Mann auf seinem weißen Pony zum Geschäft hereintraben gesehen habe, wobei er die ganze Straße entlang rechts und links blickte und allen Leuten zunickte! Das war ein beliebter Mann, kann ich Ihnen sagen! Der hätte in London leben sollen!«

»Wie weit ist es von hier nach Knowlesbury?«

»Ein ganzes Stück, Sir,« sagte der Küster, mit jener übertriebenen Idee von Entfernungen und jener lebhaften Schätzung der Schwierigkeiten, um von einem Orte zum andern zu gelangen, welche allen Landleuten eigen sind. »Nahe an fünf Meilen, kann ich Ihnen sagen!«

Es war noch früh am Vormittage und Zeit genug, um nach Knowlesbury und von dort zurück nach Welmingham zu spazieren; es gab in der Stadt wahrscheinlich Niemanden, der mich besser über die Stellung und den Ruf von Sir Percival’s Mutter vor ihrer Heirath unterrichten konnte, als der Advocat des Orts. Indem ich beschloß, sofort zu Fuße nach Knowlesbury aufzubrechen, ging ich dem Küster voran aus der Sacristei.

»Danke schönstens, Sir,« sagte der Küster, als ich ihm mein kleines Geschenk in die Hand drückte. »Wollen Sie wirklich den ganzen Weg nach Knowlesbury und zurück zu Fuße machen? Nun! Sie sind gut zu Fuße, und das ist ein großes Glück, wie? Das da ist der Weg; Sie können nicht fehl gehen. Ich wollte, ich hätte Ihres Weges zu gehen – es ist sehr angenehm, einem Herrn aus London zu begegnen. Da hört man doch einmal, was in der Welt vorgeht. Wünsch’ Ihnen einen guten Morgen,Sir – und danke Ihnen nochmals recht schön.«

Wir gingen auseinander. Als ich die Kirche hinter mir ließ, schaute ich zurück – und da unten auf der Straße waren wieder die beiden Männer, zu denen sich noch ein dritter gesellt hatte; dieser Dritte war der kleine Mann im schwarzen Anzuge, dem ich am Abende zuvor nach der Eisenbahnstation gefolgt war.

Die Drei standen eine Weile und sprachen zusammen und trennten sich dann. Der kleine Mann in Schwarz ging allein nach Welmingham zu; die andern Beiden blieben beisammen, indem sie offenbar warteten, bis sie mir, sobald ich weiter gehen würde, wieder folgen könnten.

Ich setzte meinen Weg fort, ohne sie gewahr werden zu lassen, daß ich sie bemerkt hatte. Ich war in diesem Augenblicke nicht besonders aufgebracht über sie – im Gegentheil, sie belebten meine sinkenden Hoffnungen wieder etwas. In meiner Ueberraschung, den Beweis der Heirath zu finden, hatte ich ganz vergessen, zu welchem Schlusse ich gekommen, als ich jene beiden Männer in der Nähe der Sacristei erblickt hatte. Ihr Wiedererscheinen erinnerte mich, daß Sir Percival meinen Besuch in der Kirche von Alt-Welmingham als nächste Folge meiner Unterredung mit Mrs. Catherick vorausgesehen – widrigenfalls er sicher nicht seine Spione dorthin geschickt haben würde, um mich zu erwarten. So glatt und offen die Sache sich in der Sacristei auch herausgestellt, so war doch etwas Verkehrtes darunter– es war in dem Kirchenbuche Etwas, das ich vielleicht noch nicht ausfindig gemacht hatte.


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