II

Es ist nun mehr als ein Jahr her, als ich mit meinem Vater und meinem Bruder nach Eastbourne, das an der Küste von Sussex liegt, ging.
Mein Bruder war damals wieder, wie wir hofften, von den Auswirkungen eines Sturzes beim Jagen genesen. Er beklagte sich dennoch über einen Schmerz in seinem Kopf; und die Ärzte rieten uns, es mit etwas Seeluft zu versuchen. Wir zogen nach Eastbourne, ohne einen Verdacht zu hegen, von welch ernster Art die Verletzung war, die er davongetragen hatte. Ein paar Tage lang ging alles gut. Wir mochten den Ort; die Luft tat uns gut und wir beschlossen, unseren Aufenthalt auf die kommenden Wochen auszudehnen.

An unserem sechsten Tag an der See - ein denkwürdiger Tag für mich aus Gründen, die Du noch hören wirst - beklagte sich mein Bruder wieder über den alten Schmerz in seinem Kopf. Er und ich gingen zusammen weg, um herauszufinden, was für Bewegungen nötig sein würden, um seine Schmerzen zu lindern. Wir spazierten durch die Stadt bis zu dem Fort am einen Ende derselben und folgten sodann einem Fußpfad, der an der Meeresküste entlanglief, über eine triste Wüste aus Strandkies, die landeinwärts durch die Straße nach Hastings und jenseits davon vom sumpfigen Umland begrenzt war.

Wir hatten das Fort in einiger Entfernung hinter uns gelassen. Ich ging voraus und James folgte mir. Er sprach so leise wie gewöhnlich, als er plötzlich mitten im Satz anhielt. Ich drehte mich überrascht um und entdeckte, daß mein Bruder mit schrecklichen Krämpfen auf dem Pfad lag.

Es war der erste epileptische Anfall, dessen Zeuge ich gewesen war. Meine Geistesanwesenheit verließ mich völlig. Ich konnte nur noch meine Hände in Entsetzen ringen und um Hilfe schreien. Niemand erschien. Weder aus der Richtung des Forts noch der Hauptstraße. Ich war zu weit weg, nehme ich an, um mich hörbar zu machen. Als ich vor mir den Pfad entlangsah, erkannte ich zu meiner unendlichen Erleichterung eine männliche Person, die mir entgegenrannte. Als er näher kam, sah ich, daß er unverkennbar ein Gentleman war - jung und übereifrig, mir zu helfen.

»Bitte beruhigen Sie sich doch«, sagte er, nachdem er meinen Bruder gesehen hatte, »Es ist sehr schrecklich mitanzusehen, aber es ist nicht gefährlich. Wir müssen warten, bis die Krämpfe vorbei sind, dann kann ich Ihnen helfen.«
Er schien so viel davon zu wissen, daß ich dachte, er wäre ein Amtsarzt. Ich stellte ihm schlicht diese Frage.
Er errötete und schaute etwas verlegen.
»Ich bin kein Doktor«, sagte er, »ich habe Personen gesehen, die mit Epilepsie belastet sind und ich habe Ärzte gehört, die sagten, daß es nutzlos ist, sich einzumischen, bevor der Anfall vorbei ist. Sehen Sie !« fügte er hinzu. »Ihr Bruder ist schon leiser geworden. Er wird bald ein Gefühl der Erleichterung verspüren, was ihn mehr als entschädigen wird für das, was er durchgemacht hat. Ich werde ihm helfen, ins Fort zu kommen und sobald wir da sind, können wir nach einer Kutsche schicken, um ihn nach Hause zu bringen.«

Fünf Minuten später waren wir auf dem Weg zum Fort. Der Fremde stützte meinen Bruder so bedacht und sanft, als wäre er ein alter Freund gewesen. Als uns die Kutsche erreicht hatte, bestand er darauf, uns bis zu unserer Haustür zu begleiten für den Fall, daß seine Dienste uns noch nützen konnten. Er verließ uns, wobei er um Erlaubnis fragte, anzurufen und sich am nächsten Tag nach James Befinden erkundigen zu dürfen. Eine anständigere, vornehmere und bescheidenere Person habe ich nie getroffen. Er weckte nicht nur meine wärmste Dankbarkeit; ich interessierte mich für ihn schon bei unserem ersten Treffen.
Ich hebe den Eindruck, den dieser junge Mann auf mich machte, hervor - warum, wirst Du bald herausfinden.

Am nächsten Tag machte der Fremde seinen versprochenen Besuch und erkundigte sich nach meinem Bruder. Seine Karte, die er nach oben schickte, setzte uns davon in Kenntnis, daß sein Name Roland Cameron war. Mein Vater, der nicht leicht zu erfreuen ist, faßte sofort eine Zuneigung zu ihm. Sein Besuch wurde auf unsere Bitte hin ausgedehnt. Er sagte gerade genug, um uns davon zu überzeugen, daß wir eine Person empfingen, die mindestens den gleichen Rang wie wir besaß. Er war in eine schottischen Familie in England geboren worden und hatte beide Eltern verloren. Es war nicht lange her, daß er ein Vermögen von einem seiner Onkel geerbt hatte. Es erschien uns etwas seltsam, daß er von seinem Vermögen mit einer deutlichen Änderung der Stimme und seines Verhaltens sprach. Das Thema war für ihn offensichtlich aus irgendwelchen unbegreiflichen Gründen ekelerregend.

Obwohl er reich war, räumte er ein, ein einfaches und einsames Leben zu führen. Er fand wenig Gefallen an Gesellschaft und hatte keine Vorlieben wie die anderen jungen Männern seines Alters. Aber er hatte seine eigenen unschuldigen Vergnügen und Beschäftigungen; und nicht zuletzt hatten ihn Kummer und Leid gelehrt, nicht zu viel vom Leben zu erwarten. Dies alles sprach er bescheiden mit einem gewinnenden Charme in seinem Blick und seiner Stimme, der mich unbeschreiblich anzog. Seine persönliche Erscheinung halfen dem günstigen Eindruck, den sein Verhalten und seine Redeweise auf mich machten. Er war von mittlerer Größe, leicht und stark gebaut, sein Teint blaß; seine Hände und Füße waren klein und zart geformt; sein natürliches braunes, gelocktes Haar, seine dunklen und großen Augen mit einer gelegentlichen Unentschlossenheit in ihrem Ausdruck, welche meiner Ansicht nach weit davon entfernt war, ein Bedenken für sie zu sein. Sie schien mit einer gelegentlichen Unentschlossenheit in seinen Worten zu harmonieren; während er fortfuhr, war ich geneigt, eine vorübergehende Unentschlossenheit in seinen Gedanken zu erkennen, deren Überwindung ihn immer eine kleine Anstrengung kostete.

Überrascht es Dich zu hören, wie genau ich einen Mann beobachte, der nach unserem ersten Gespräch nur eine zufällige Bekanntschaft war? Oder erleuchtet Dich Dein Argwohn und Du sagst Dir, Sie hat sich in Mr. Roland Cameron auf den ersten Blick verliebt? Ich kann zu meiner eigenen Verteidigung sagen, daß ich nicht romantisch genug war, um so weit zu gehen. Aber ich gestehe, daß ich auf seinen nächsten Besuch mit einer Ungeduld wartete, die meines Wissens neu für mein nüchternes Selbst war. Und, was noch schlimmer ist: Als der Tag kam, wechselte ich meine Kleider dreimal, bevor meine neuentwickelte Eitelkeit mit dem Bild zufrieden war, das der Spiegel von mir zeigte.

Vierzehn Tage später begannen mein Vater und mein Bruder die tägliche Gesellschaft unseres neuen Freundes als eine alte Gewohnheit in ihrem Leben zu betrachten. Weitere zwei Wochen später waren Mr. Cameron und ich - obwohl keiner von uns wagte, es einzugestehen - so hingebungsvoll ineinander verliebt, wie es junge Menschen nur sein konnten. Ach, was für eine herrliche Zeit! und wie grausam unser Glück bald ein Ende fand!
Während der kurzen Zeit, die ich hier beschrieben habe, beobachtete ich gewisse Eigenheiten in Roland Camerons Verhalten, welche mich verblüfften und beunruhigten, sobald ich mich in meinen Gedanken mit ihm beschäftigte, wenn ich allein war.

Zum Beispiel verfiel er in seltsames Schweigen, wenn er und ich miteinander sprachen. Während diesen Momenten nahmen seine Augen einen müden, abwesenden Blick ein, und seine Gedanken schienen wegzuwandern - weit von der Unterhaltung, weit von mir. Er war sich seiner eigenen Krankheit absolut nicht bewußt, er fiel unbewußt in sie und kam unbewußt aus ihr heraus. Wenn ich ihm gegenüber bemerkte, daß er mir nicht zugehört hatte oder wenn ich ihn fragte, warum er still gewesen war, konnte er überhaupt nicht verstehen, was ich meinte: ich verwirrte und beunruhigte ihn. Was er in diesen Schweigepausen dachte, war mir unmöglich zu erraten. Sein Gesicht, das zu anderen Zeiten außergewöhnlich beweglich und ausdrucksvoll war, wurde fast zu einem vollkommenen Nichts. Litt er an einem fürchterlichen Schicksalsschlag in einer vergangenen Zeit seines Lebens und war sein Geist nie davon befreit worden? Ich sehnte mich danach, ihm die Frage zu stellen und schreckte davor zurück, ich hatte so erbärmliche Angst, ihn zu quälen; oder um es in schlichtere Worte zu kleiden, ich war so wahrhaftig und zärtlich in ihn verliebt.

Dann wiederum, obwohl er gewöhnlich, wie ich aufrichtig glaube, der liebenswürdigste und reizendste Mensch war, gab es Gelegenheiten, wenn er mich mit heftigen Gefühlsausbrüchen überraschte, erregt von den reinsten Kleinigkeiten. Ein Hund, der plötzlich dicht hinter ihm bellte, oder ein Junge, der Steine auf die Straße warf, oder ein aufdringlicher Ladenbesitzer, der versuchte, ihm etwas zu verkaufen, was er nicht wollte, warfen ihn in eine wilde Raserei, die, ohne zu übertreiben, wirklich furchtbar anzusehen war. Er entschuldigte sich immer für diese Ausbrüche, in Worten, die zeigten, daß er sich aufrichtig für seine eigene Heftigkeit schämte. Aber er war nie darin erfolgreich, sich zu kontrollieren. Die Ausbrüche in diese Leidenschaft ergriffen ebenso wie die Ausbrüche in Schweigen Besitz von ihm, und taten mit ihm fürs erste gerade, was sie wollten.

Noch ein weiteres Beispiel für Rolands Eigentümlichkeiten und ich bin fertig. Das Merkwürdige in seinem Verhalten wurden von meinem Vater und meinem Bruder in diesem Fall ebenso wie von mir bemerkt.
Wenn Roland abends bei uns war, egal ob er zum Dinner oder zum Tee kam, er verließ uns ausnahmslos um genau neun Uhr. Was wir auch versuchten, ihn zu überreden, länger zu bleiben, er lehnte immer höflich, aber bestimmt ab. Nicht einmal ich hatte in dieser Angelegenheit Einfluß auf ihn. Wenn ich ihn drängte, zu bleiben und obwohl es ihn Mühe kostete, zog er sich exakt zum neunten Glockenschlag zurück. Er nannte keinen Grund für dieses seltsame Verfahren; er sagte nur, daß es eine seiner Gewohnheiten war und bat uns, darin mit ihm nachsichtig zu sein, ohne daß wir nach einer Erklärung verlangten. Meinem Vater und meinem Bruder gelang es (als Männer), ihre Neugier zu kontrollieren. Mich für meinen Teil (als Frau) machte jeder Tag, der vorüberging, mehr und mehr begierig darauf, dieses Geheimnis zu durchdringen. Ich entschloß mich heimlich, eine Zeit zu wählen, wenn Roland in einer teilweise zugänglichen Stimmung war und ihn dann um die Erklärung zu bitten, die er bisher abgelehnt hatte zu geben - zum Zeichen einer besonderen Zuneigung zu mir.

Zwei Tage später hatte ich meine Gelegenheit.
Ein paar unserer Freunde, die sich uns in Eastbourne angeschlossen hatten, schlugen eine Picknickparty auf dem berühmten benachbarten Felsen namens Beachey Head vor. Wir nahmen die Einladung an. Der Tag war schön und das ländliche Dinner war wie gewöhnlich einem Dinner innerhalb des Hauses (in gewisser Hinsicht) unendlich vorzuziehen. Gegen Abend teilte sich unsere kleine Versammlung in Gruppen von zwei und drei Personen, um die Umgebung zu erkunden. Roland und ich fanden selbstverständlich zusammen. Wir waren glücklich und wir waren allein. War es die richtige oder die falsche Zeit, ihm die unheilvolle Frage zu stellen ? Ich kann es nicht entscheiden; ich weiß nur, daß ich sie stellte.


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