Der Mondstein



Fünfte Erzählung.

Wiederaufnahme der Geschichte durch Franklin Blake.

Erstes Capitel.

Es wird nur weniger Worte von mir bedürfen, um die vorstehende Erzählung aus Ezra Jennings Tagebuch zu ergänzen.

Von mir selbst habe ich nur zu melden, daß ich am Morgen des 26sten ohne eine Ahnung von dem erwachte, was ich unter dem Einfluß des Opiums von dem Augenblick an, wo der Trank zuerst zu wirken begann, bis zu dem Augenblick, wo ich auf dem Sopha in Rachel’s Wohnzimmer die Augen öffnete, gesagt und gethan hatte.

Ueber das, was nach meinem Erwachen geschah, fühle ich mich nicht berufen, einen ausführlichen Bericht zu erstatten. Ich will mich vielmehr lediglich auf die Mittheilung von Resultaten beschränken und berichten, daß Rachel und ich uns vollkommen verstanden, ohne daß Einer von uns Beiden ein Wort der Erklärung zu sagen nöthig gehabt hätte. Ich sowohl wie Rachel versuchen es nicht, uns die außerordentliche Raschheit unserer Aussöhnung zu erklären. Lieber Leser und liebe Leserin, erinnert Euch der Zeit, wo Ihr Euch leidenschaftlich liebtet, und Ihr werdet gerade so gut wie ich wissen, was geschah, nachdem Ezra Jennings die Thür des Wohnzimmers hinter sich geschlossen hatte. Ich sehe indessen nicht ein, warum ich nicht hinzufügen soll, daß wir ohne Rachel’s Geistesgegenwart unzweifelhaft von Mrs. Merridew entdeckt worden wären. Sie vernahm das Rauschen des Kleides der alten Dame auf dem Corridor und eilte sofort zu ihr hinaus. Ich hörte Mrs. Merridew sagen: »Nun, was giebt’s?« und Rachel antworten: »Die Explosion!« Mrs. Merridew ließ es sieh auf der Stelle gefallen, daß Rachel ihr den Arm gab und sie aus dem Bereich der bevorstehenden Erschütterung in den Garten führte.

Bei ihrer Rückkehr in’s Haus begegnete mir die alte Dame in der Halle und sprach ihr Erstaunen über die außerordentlichen Fortschritte aus, welche die Wissenschaft seit den Zeiten ihrer Jugend gemacht habe. »Die Explosionen, Herr Blake, sind jetzt unendlich viel gelinder als damals. Ich versichere Sie, ich habe Herrn Jennings Explosionen im Garten kaum gehört. Und gar kein Geruch im Hause, so viel ich merken kann! Ich muß mich wirklich bei Ihrem medicinischen Freund entschuldigen. Man muß billiger Weiser anerkennen, daß er seine Sachen gut gemacht hat«

So hatte Ezra Jennings nach der Reihe Herrn Bruff, Betteredge und selbst Mrs. Merridew für sich gewonnen. Im Grunde fehlt es doch den meisten Menschen keineswegs an einer wenn auch unentwickelten Empfänglichkeit für eine ekle Gerechtigkeit!

Beim Frühstück theilte mir Herr Bruff die Gründe, aus welchen er wünsche, daß ich ihn nach London begleiten möge, unumwunden mit. Die vor, der Bank aufgestellte Wache und die Entdeckungen, zu denen diese Aufstellung vielleicht führen würde, übten einen so unwiderstehlichen Reiz auf Rachel’s Neugierde, daß sie sich sofort entschloß, uns, falls Mrs. Merridew nichts dagegen einzuwenden habe, nach London zu begleiten, um dort den Fortgang unseres Verfahrens aus nächster Nähe beobachten zu können.

Mrs. Merridew war ganz Nachgiebigkeit und Gefälligkeit, seit die Explosion sich so äußerst rücksichtsvoll benommen hatte, und Betteredge wurde nun benachrichtigt, daß wir alle Vier mit dem Morgenzug abreisen würden. Ich war ganz darauf gefaßt, daß er um die Erlaubniß bitten würde, uns begleiten zu dürfen. Aber Rachel hatte vorsorglich für eine Beschäftigung ihres alten Dieners gesorgt, die sein Interesse ganz in Anspruch nahm. Sie hatte ihn beauftragt, die Wiederinstandsetzung des Hauses zu vervollständigen und die mit der Ausführung dieses Auftrages verbundene Verantwortlichkeit erfüllte ihn zu sehr, als daß das Entdeckungsfieber die Wirkung auf ihn hätte üben können, die es unter andern Umständen wahrscheinlich geübt haben würde. Das Einzige, was wir bei unserer Abreise nach London bedauerten, war, daß uns dieselbe nöthigte, uns früher von Ezra Jennings zu trennen als wir es gewünscht hätten. Er war nicht zu überreden, uns zu begleiten. Ich konnte nichts thun als ihm versprechen zu schreiben, und Rachel nahm ihm das Versprechen ab sie zu besuchen, sobald sie nach Yorkshire zurückgekehrt sein würde. Es war alle Aussicht dazu vorhanden, daß wir uns in wenigen Monaten wiedersehen würden, und doch hatte es etwas sehr Trauriges, unsern besten und theuersten Freund allein auf dem Perron zurückbleiben zu sehen, als sich der Zug in Bewegung setzte.

Bei unserer Ankunft in London wurde Herr Bruff auf dem Bahnhof von einem kleinen Jungen angesprochen, der Jacke und Hofe von fadenscheinigem schwarzen Tuch trug und durch seine merkwürdig hervorstechenden Augen auffallen mußte. Sie traten dermaßen heraus und bewegten sich so unabhängig, daß man sich eines unbehaglichen Erstaunens darüber nicht erwehren konnte, daß sie nicht aus den Augenhöhlen herausfielen. Nachdem er den Jungen angehört hatte, bat Herr Bruff die Damen, ihn und mich entschuldigen zu wollen, wenn wir sie nicht nach Portland Place begleiteten. Ich hatte kaum Zeit, Rachel zu versprechen, bald wieder zu ihr zu kommen und ihr Alles zu erzählen, denn schon ergriff mich Herr Bruff am Arm und drängte mich in eine Droschke. Der Junge mit den losen Augen setzte sich neben den Kutscher auf den Bock und der Kutscher wurde beordert, nach Lombard Street zu fahren.

»Neuigkeiten von der Bank?« fragte ich, als wir abfuhren.

»Neuigkeiten von Herrn Luker,« sagte Herr Bruff »Vor einer Stunde haben meine Leute gesehen, wie Herr Luker sein Haus in Lambeth in Begleitung von zwei Männern, die sie als Polizei-Offizianten in Civil erkannten, verlassen hat. Wenn Herrn Luker’s Furcht vor den Indiern hinter dieser Maßregel steckt, so ist der Schluß daraus leicht genug gezogen: er ist im Begriff, den Diamanten aus der Bank zu holen.«

»Und wir wollen nach der Bank fahren, um zu sehen, was weiter geschieht?«

»Ja, oder zu hören, was geschehen ist, wenn schon Alles vorüber sein sollte. Haben Sie meinen Jungen da oben angesehen?«

»Mir sind seine Augen aufgefallen.«

Herr Bruff lachte. Auf meinem Bureau nennen sie den armen kleinen Bengel Stachelbeere. Ich gebrauche ihn zu Botengängen, und ich wünschte nur, daß meine Schreiber, die ihm den Spitznamen gegeben haben, so unbedingt zuverlässig wären, wie er. Stachelbeere ist einer der gescheitesten Jungen in London, trotz seiner Augen.

Die Uhr war zwanzig Minuten vor fünf, als wir vor der Bank in Lombardstreet hielten. Stachelbeere blickte sehnsüchtig zu seinem Herrn auf, als er die Droschkenthür öffnete.

»Möchtest Du mit hineingehen? fragte Herr Bruff freundlich. »So komme mit und halte Dich bis auf Weiteres dicht bei mir. »Der Junge begreift so rasch wie der Blitz,« flüsterte mir Herr Bruff zu. »Bei Stachelbeere richtet man mit zwei Worten so viel aus, wie bei andern Jungen mit zwanzig.«

Wir gingen in die Bank. Das äußere Comtoir mit dem langen Zahltisch, hinter welchem die Kassirer saßen, war mit Menschen dicht angefüllt, die alle noch vor dem um fünf Uhr erfolgenden Schluß der Bank Zahlungen empfangen oder leisten wollten. Kaum war Herr Bruff eingetreten, als zwei Männer aus der Menge sich ihm näherten.

»Nun,« fragte der Advokat,« haben Sie ihn gesehen?«

»Vor einer halben Stunde, Herr, ist er hier an uns vorüber in das innere Bureau gegangen.«

»Ist er noch nicht wieder herausgekommen?«

»Nein, Herr!«

Herr Bruff wandte sich gegen mich und sagte: »Lassen Sie uns warten.«

Ich sah mich in der Menge nach den drei Indiern um, aber nirgends war eine Spur von ihnen zu erblicken. Die einzige anwesende Person von auffallend dunkler Hautfarbe war ein langer Mann, der, mit einem Seemannsrock und rundem Hut bekleidet, wie ein Matrose aussah. Sollte sich Einer von ihnen unter dieser Verkleidung verbergen? Unmöglich! Der Mann war von höherem Wuchs als einer der Indier und sein Gesicht war an den Stellen, wo es nicht durch einen buschigen, schwarzen Bart verdeckt war, mindestens zwei Mal so breit, wie eines ihrer Gesichter.

»Einen Spion werden sie jedenfalls hier haben,« sagte Herr Bruff, als er jetzt auch des schwarzen Matrosen ansichtig wurde, »und vielleicht ist es der Mann da.«

Ehe er noch ein Wort weiter sagen konnte, zupfte ihn sein dienstbarer Kobold mit den Stachelheer-Augen respectvoll am Rockschoß. Herr Bruff sah nach der Stelle, auf welche der Junge seinen Blick richtete. »St!« sagte er, »da ist Herr Luker!«

Der Geldverleiher trat in Begleitung der beiden Polizei-Beamten in Civil aus den innern Räumen der Bank.

»Beobachten Sie ihn scharf!« flüsterte Herr Bruff, »wenn er irgend Jemandem den Diamanten übergiebt, so wird er es hier thun.«

Ohne uns zu bemerken, bahnte sich Herr Luker langsam durch die Menge seinen Weg nach der Thür. Ich sah genau, wie seine Hand sich bewegte, als er an einem kleinen, dicken, vollständig in Grau gekleideten Manne vorüberging. Der Mann stutzte ein wenig und sah ihm nach. Herr Luker ging seines Weges weiter durch die dichtgedrängte Menge. An der Thür stellten sich seine Wächter an seine beiden Seiten. Allen Dreien folgte einer von Herrn Bruff’s Leuten und ich sah Nichts mehr von ihnen.

Ich sah Herrn Bruff an und warf dann einen bedeutungsvollen Blick nach dem in Grau gekleideten Mann hinüber.

»Ja!« flüsterte mir Herr Bruff zu, »ich habe es auch gesehen!« Dann drehte er sich um, nach dem zweiten seiner Leute zu sehen, aber dieser war nirgends zu finden. Jetzt suchte er mit den Augen seinen dienstbaren Kobold. Aber auch »Stachelbeete« war verschwunden.

»Was zum Teufel soll das heißen!« sagte Herr Bruff ärgerlich. »Die Beiden haben uns gerade in dem Augen blicke verlassen, wo wir ihrer am meisten bedürfen.«

Jetzt kam die Reihe an den grau gekleideten Mann, sein Geschäft am Zahltisch abzumachen. Er leistete eine Zahlung in einer Anweisung, erhielt einen Empfangschein dafür und schickte sich an, fortzugehen.

»Was ist nun zu thun?« fragte Herr Bruff »Wir können ihm doch nicht nachgehen.«

»Ich kann es!"« sagte ich. »Nicht für 10,000 Pfund möchte ich den Mann aus den Augen lassen.«

»Dann,« erwiderte Herr Bruff, »möchte ich Sie nicht für 20,000 Pfund aus den Augen lassen! Eine passende Beschäftigung für einen Mann in meiner Stellung,« murmelte er vor sich hin, als wir dem Fremden auf seinem Wege aus der Bank folgten. »Um? Himmelswillen, erzählen Sie es nicht! Ich wäre ein ruinirter Mann, wenn es bekannt würde.«

Der Mann im grauen Anzug setzte sich in einen Omnibus, der nach dem Westende zufuhr. Wir setzten uns auch hinein.

In Herrn Bruff schlummerten noch Reste von Jugendlichkeit. Ich sah ganz deutlich, daß er, als wir uns in den Omnibus setzten, erröthete!

Der Mann im grauen Anzug ließ den Omnibus in Oxford-street halten und stieg aus. Auch wir stiegen wieder aus, Er trat in einen Apothekerladen.

Herr Bruff stutzte »Mein Apotheker!« rief er aus; »ich fürchte, wir haben uns geirrt.«

Wir traten in den Laden. Herr Bruff und der Eigenthümer wechselten leise ein paar Worte mit einander. Dann kam Herr Bruff wieder zu mir mit einer sehr niedergeschlagenen Miene.

»Die Sache gereicht uns sehr zur Ehre,« sagte er, indem er meinen Arm ergriff und mit mir hinausging —— »das ist ein Trost!«

»Was gereicht uns zur Ehre?« fragte ich.

»Herr Blake! Wir beiden, Sie und ich, sind die beiden schlechtesten Dilettanten im Fach der geheimen Polizei, die sich jemals mit dieser Kunst befaßt haben. Der Mann im grauen Anzug ist seit 30 Jahren im Geschäft des Apothekers. Er war nach der Bank geschickt worden, um für Rechnung seines Principals eine Zahlung zu leisten und er weiß nicht mehr von dem Mondstein als ein neugeborenes Kind.«

Ich fragte, was nun zu thun sei.

»Kommen Sie mit mir auf mein Bureau,« sagte Herr Bruff, »Stachelbeere und der zweite Mann von meiner Wache sind offenbar einer andern Person gefolgt. Lassen Sie uns hoffen, daß die wenigstens sich ordentlich werden umgesehen haben!«

Als wir Gray’s Inn Square erreichten, war der zweite Mann dort schon vor uns eingetroffen. Er hatte seit länger als einer Viertelstunde gewartet.

»Nun,« fragte Herr Bruff, »was bringen Sie Neues?«

»Ich habe leider zu melden,« sagte der Mann, »daß ich mich versehen habe. Ich hätte schwören können, daß ich gesehen habe, wie Herr Luker einem ältlichen Herrn in einem hellen Paletot etwas übergab. Der ältliche Herr aber ist, wie ich mich überzeugt habe, ein höchst respectabler Eisenhändler in Eastcheap.«

»Wo ist Stachelbeere?« fragte Herr Bruff resignirt.

Der Mann erschrak.

»Ich weiß es nicht, Herr. Ich habe nichts von ihm gesehen, seit ich die Bank verließ«

Herr Bruff entließ den Mann.

»Da giebt es nur zwei Möglichkeiten,« sagte er zu mir, »entweder Stachelbeere ist weggelaufen oder er macht Jagd auf seine eigene Hand. Was meinen Sie dazu, wenn Sie hier mit mir äßen? Vielleicht kommt der Junge in ein oder zwei Stunden zurück. Ich habe ein Paar Flaschen Wein im Keller und wir können uns eine Cotelette vom Restaurant holen lassen.«

Wir speisten in Herrn Bruff’s Privat-Bureau. Ehe noch das Tischtuch abgenommen war, wurde Jemand gemeldet, der den Advokaten zu sprechen wünsche. Sollte es »Stachelbeere« sein? Nein, nur der Mann, der Herrn Luker beim hinausgehen aus der Bank gefolgt war.

Auch der Bericht dieses Mannes erwies sich als ganz uninteressant. Herr Luker war nach seinem Hause zurückgegangen und hatte dort die Polizeibeamten entlassen. Später war er nicht wieder ausgegangen. Bei einbrechender Dämmerung waren die Laden geschlossen und die Thüren verriegelt worden. Der Mann hatte die Straße und den Gang hinter dem Hause genau beobachtet. Keine Spur von den Indiern war sichtbar geworden. Kein Mensch hatte das Haus umschlichen. Nachdem der Mann diese Thatsachen berichtet hatte, wartete er auf weitere Ordres Herr Bruff entließ ihn bis zum nächsten Tage.

»Glauben Sie, daß Herr Luker den Mondstein mit sich nach Hause genommen hat?« fragte ich.

»Nein!« sagte Herr Bruff. »Er würde nimmermehr die beiden Polizeibeamten entlassen haben, wenn er sich der Gefahr ausgesetzt hätte, den Diamanten noch einmal in seinem Hause aufzubewahren.«

Wir warteten noch eine halbe Stunde auf den Jungen, aber vergebens. Es wurde Zeit für Herrn Bruff, nach Hampstead zu gehen und für mich, zu Rachel nach Portlandplace zurückzukehren. Ich hinterließ bei dem Portier des Bureaus meine Karte mit einer Zeile, die besagte, daß ich um halb elf Uhr wieder in meiner Wohnung sein werde. Die Karte sollte dem Jungen eingehändigt werden, falls er zurückkäme.

Einige Menschen haben ein besonderes Geschick im Einhalten, andere ein eben so großes im Verfehlen von Verabredungen. Ich gehöre zu diesen letzteren. Dazu nehme man, daß ich den Abend in Portlandplace, auf demselben Sopha mit Rachel, in einem 40 Fuß langen Zimmer zubrachte, an dessen äußerstem Ende Mrs. Merridew saß. Kann sich da Jemand wundern, daß ich um halb ein Uhr, statt um halb elf Uhr nach Hause kam? Das müßte ein höchst hartherziger Mensch sein, dessen Bekanntschaft ich niemals zu machen wünsche!

Mein Diener überreichte mir, als ich nach Hause kam, ein Stück Papier.

Auf demselben standen in einer seinen Advokaten-Handschrift folgende Worte: —— »Entschuldigen Sie, Herr, ich werde müde. Ich will morgen früh zwischen neun und zehn Uhr wiederkommen.« Auf nähere Nachfrage erfuhr ich, daß ein Junge mit sehr sonderbaren Augen nach mir gefragt, meine Karte mit meiner Bestellung vorgezeigt, eine Stunde gewartet, während derselben in Absätzen geschlafen, dann eine Zeile für mich aufgeschrieben habe und nach Hause gegangen sei, nachdem er dem Diener feierlich mitgetheilt, daß er ohne seine Nachtruhe zu nichts nütze sei.

Um neun Uhr am nächsten Morgen war ich zum Empfang des mir gemeldeten Besuchs bereit. Um halb zehn! Uhr hörte ich Schritte vor der Thür »Komm’ herein, Stachelbeere!« rief ich hinaus. »Danke, Herr!« antwortete eine feierliche und melancholische Stimme. Die Thür öffnete sich. Ich sprang auf und stand —— Sergeant Cuff gegenüber!

»Ich dachte, ich wolle einmal nachsehen, ob Sie vielleicht in der Stadt seien, bevor ich nach Yorkshire schreibe,« sagte der Sergeant.

Er war so traurig und so mager wie je. Seine Augen hatten noch immer ihren alten, von Betteredge so fein beobachteten Ausdruck, als ob sie mehr hinter einem suchten, als dessen man sieh selbst bewußt war. Aber so weit die Kleidung das Aussehen eines Menschen ändern kann, war der große Cuff zum Nichtwiedererkennen verwandelt. Er trug einen breiträndigen weißen Hut, einen hellen Jagdrock, weiße Beinkleider und graue Tuchgamaschen. In der Hand hatte er einen dicken Eichenstock. Sein ganzes Streben schien darauf gerichtet, auszusehen, als ob er sein ganzes Leben auf dem Lande zugebracht hätte. Als ich ihm über seine Methamorphose mein Compliment machte, that er, als ob er den Scherz nicht verstehe. Er beklagte sich ganz ernsthaft über den Lärm und die übeln Ausdünstungen in London. Ich möchte nicht dafür einstehen, daß er nicht mit einem Anflug von ländlichem Accent sprach! Ich forderte ihn auf, mit mir zu frühstücken. Der unschuldige Landbewohner schien ganz erstaunt. Seine Frühstückstunde sei um halb sieben Uhr und er gehe mit den Hühnern zu Bett!

»Ich bin erst gestern Abend von Irland zurückgekommen,« sagte der Sergeant, indem er so in der ihm eigenthümlichen undurchdringlichen Art und Weise auf den eigentlichen Zweck seines Besuches kam. »Bevor ich zu Bett ging, las ich Ihren Brief, in welchem Sie mir mittheilen, was sich seit der vorjährigen Sistirung meiner Untersuchung in Betreff des Diamanten ereignet hat. Ich meinerseits habe über diese Angelegenheit nur eine Bemerkung zu machen. Ich habe mich vollständig geirrt. Ich glaube aber nicht, daß irgend ein Mensch in der Situation, in welcher ich mich damals befand, die wahre Sachlage erkannt haben würde. Aber das ändert nichts an den Thatsachen. Ich gestehe, daß ich dieselben falsch aufgefaßt habe. Nicht zum ersten Mal in meinem Berufsleben, Herr Blake! Nur in Büchern sind die Beamten der geheimen Polizei über jedes Versehen erhaben.«

»Sie kommen gerade zu rechter Zeit,« sagte ich, »um Ihren Ruf wieder herzustellen.«

»Ich bitte um Vergebung, Herr Blake,« erwiderte der Sergeant. »Jetzt, wo ich mich von Geschäften zurückgezogen habe, ist mir nichts mehr an meinem Ruf gelegen. Ich bin, Gott sei Dank! mit meinem Ruf fertig. Nur die dankbare Erinnerung an die Liberalität der verstorbenen Lady Verinder gegen mich hat mich hierher geführt. Aus diesem Grunde und aus keinem andern will ich zu meiner alten Beschäftigung zurückkehren, wenn Sie meiner bedürfen und wenn Sie mir Ihr Vertrauen schenken wollen. Aber jede Bezahlung muß ich mir im Voraus verbitten Was ich thue, thue ich um der Ehre willen. Nun erzählen Sie mir, Herr Blake, wie die Dinge sich, seit Sie mir geschrieben, gestaltet haben.«

Ich erzählte ihm das Experiment und unsere späteren Erlebnisse in der Bank in der Lombardstreet Das Experiment machte aus ihn großen Eindruck —— das war sür ihn etwas ganz Neues. Und Ezra Jennings Annahme in Betreff dessen, was ich, nachdem ich Rachels Wohnzimmer verlassen, mit dem Diamanten gethan hatte, erregte sein ganz besonderes Interesse.

»Ich theile nicht die Ansicht des Herrn Jennings, daß Sie den Diamanten versteckt haben,« sagte Sergeant Cuff, »aber ich stimme ganz mit ihm überein, daß Sie ohne Zweifel den Diamanten wieder mit auf Ihr Zimmer werden genommen haben.«

»Nun?« fragte ich. »Was geschah weiter?«

»Haben Sie selbst gar keinen Verdacht in Betreff dessen, was weiter geschah?«

»Durchaus keinen.«

»Hat Herr Bruff keinen Verdacht?«

»So wenig wie ich.«

Sergeant Cuff stand auf und ging an meinen Schreibtisch. Von dort kehrte er mit einem versiegelten Couvert zurück. Auf demselben stand das Wort »Vertraulich«. Es trug meine Adresse und in einer Ecke die Unterschrift des Sergeanten.

»Ich hatte voriges Jahr eine falsche Person in Verdacht,« sagte er, »und es kann sein, daß ich jetzt wieder eine falsche Person in Verdacht habe. Warten Sie daher mit dem Eröffnen des Couverts, bis Sie die Wahrheit herausgefunden haben und dann vergleichen Sie den Namen der schuldigen Person mit dem Namen, den ich in dieses versiegelte Couvert geschrieben habe.«

Ich steckte den Brief in die Tasche und befragte dann den Sergeanten um seine Ansicht in Betreff der Maßregeln, welche wir bei der Bank ergriffen hatten.

»Ganz richtig angelegt und ausgeführt,« antwortete er. »Aber es hätte noch eine andere Person außer Herrn Luker beobachtet werden müssen.«

»Die Person, deren Namen Sie in dieses Couvert geschrieben haben?«

»Ja wohl, Herr Blake, eben diese Person. Die Sache ist jetzt nicht wieder gut zu machen. Ich werde Ihnen und Herrn Bruff seiner Zeit etwas vorzuschlagen haben. Aber lassen Sie uns erst warten und sehen, ob der Junge uns etwas mitzutheilen hat, was der Mühe Werth ist.«

»Es war beinahe zehn Uhr geworden und der Junge war noch nicht da. Sergeant Cuff sprach über andere Dinge. Er erkundigte sich nach seinem alten Freund Betteredge und nach seinem alten Feind, dem Gärtner. Einen Augenblick später wäre er ohne Zweifel aus seinen Lieblingsgegenstand, die Rosenzucht, gekommen, wenn uns nicht mein Diener unterbrochen und gemeldet hätte, daß der Junge unten sei.

Stachelbeere blieb an der Schwelle stehen und blickte mißtrauisch auf den Fremden, der neben mir saß. Ich rief dem Jungen zu, näher zu kommen und sagte zu ihm:

»Du kannst vor diesem Herrn Alles sagen. Er ist hier zu meinem Beistand und weiß Alles, was geschehen ist; Sergeant Cuff,« fügte ich hinzu, »das ist der Junge von Herrn Bruff’s Bureau.«

In unserer modernen civilisirten Welt ist Berühmtheit, gleichviel welcher Art, der Hebel, welcher Alles in Bewegung setzt. Der Ruf des großen Cuff war selbst bis zu der kleinen Stachelbeere gedrungen. Die losen Augen des Jungen geriethen, als ich den berühmten Namen nannte, in eine dermaßen rollende Bewegung, daß mir wirklich bange wurde, sie möchten auf den Teppich fallen.

»Komm’ her, mein Junge,« sagte der Sergeant, »und laß uns hören, was Du uns zu sagen hast.«

Der Anblick des großen Mannes, des Helden vieler berühmten Geschichten, die auf jedem Advokaten-Bureau in London cursirten, schien wie ein Zauber auf den Jungen zu wirken. Er stellte sich Sergeant Cuff gegenüber und legte die Hände aus den Rücken, als solle er im Katechismus examinirt werden.

»Wie heißt Du?« fragte der Sergeant.

»Octavius Guy.« antwortete der Junge. »Auf dem Bureau nennen sie mich »Stachelbeere« wegen meiner Augen.«

»Octavius Guy, alias Stachelbeere,« wiederholte der Sergeant höchst ernsthaft; »Du warst gestern aus der Bank verschwunden. Wo warst Du hingegangen?«

»Mit Verlaub, Herr, ich ging einem Mann nach.«

»Wer war das?«

»Ein langer Mann, Herr, mit einem großen schwarzen Bart, der wie ein Matrose gekleidet war.«

»Ich erinnere mich des Mannes« fiel ich ein. »Herr Bruff und ich hielten ihn für einen Spion im Dienste der Indier.«

Herrn Bruff’s und meine Ansicht schien auf Sergeant Cuff keinen großen Eindruck zu machen. Er fuhr fort, Stachelbeere zu vernehmen.

»Nun?« sagte er, »und warum gingst Du dem Matrosen nach?«

»Um Vergebung, Herr; Herr Bruff wollte wissen, ob Herr Luker beim Hinausgehen aus der Bank irgend Jemandem Etwas einhändige. Ich sah, daß Herr Luker dem Matrosen mit dem schwarzen Bart etwas gab.«

»Warum sagtest Du Herrn Bruff nicht, was Du sahst?«

»Ich hatte keine Zeit, irgend Jemandem etwas zu sagen, Herr, so rasch ging der Matrose fort.«

»Und Du liefst ihm nach —— wie?«

»Ja, Herr«

»Stachelbeere,« sagte der Sergeant, ihm die Hand auf den Kopf legend, »Du hast da etwas in Deinem kleinen Schädel, was kein Stroh ist. Du gefällst mir sehr gut bis jetzt.«

Der Junge erröthete vor Freude. Sergeant Cuff fuhr fort:

»Nun? und was that der Matrose, als er auf die Straße kam?«

»Er rief eine Droschke an, Herr.«

»Und was thatest Du?«

»Hielt mich hinten fest und lief mit.«

Noch ehe Sergeant Cuff seine erste Frage thun konnte, wurde wieder Jemand gemeldet —— dieses Mal der erste Schreiber von Herrn Bruff’s Bureau.

Da ich es für sehr wichtig hielt, den Sergeanten bei seiner Vernehmung des Jungen nicht zu unterbrechen, empfing ich den Schreiber in einem andern Zimmer. Er brachte schlimme Nachrichten von seinem Principal. Die Aufregung der letzten Tage war für Herrn Bruff zu viel gewesen. Er war diesen Morgen mit einem Gichtanfall aufgewacht; er mußte sein Zimmer in Hampstead hüten und war sehr verdrießlich darüber, daß er mich in der kritischen Lage unserer Angelegenheiten ohne den Rath und Beistand einer erfahrenen Person lassen müsse. Der erste Schreiber war von seinem Principal angewiesen, sich mir zur Verfügung zu stellen und war bereit, sein Bestes zu thun, Herrn Bruff zu ersetzen.

Ich schrieb auf der Stelle an den alten Herrn, um ihn durch die Mittheilung von Sergeant Cuff’s Besuch zu beruhigen, fügte hinzu, daß »Stachelbeere« gerade vernommen werde und versprach, Herrn Bruff persönlich oder schriftlich von dem in Kenntniß zu setzen, was sich etwa im Laufe des Tages ereignen möchte. Nachdem ich den Schreiber mit meiner Botschaft entlassen hatte, kehrte ich in das eben verlassene Zimmer zurück und fand Sergeant Cuff vor dem Kamin, im Begriff, die Glocke zu ziehen.

»Um Vergebung, Herr Blake,« sagte der Sergeant »Ich war eben im Begriff, Ihnen durch Ihren Diener sagen zu lassen, daß ich Sie zu sprechen wünsche. Ich habe nicht den geringsten Zweifel, daß dieser Junge, dieser höchst verdienstvolle Junge.« fügte der Sergeant hinzu; indem er »Stachelbeere« die Hand auf den Kopf legte, »dem richtigen Manne nachgegangen ist. Eine kostbare Zeit ist dadurch verloren gegangen, Herr Blake, daß Sie unglücklicher Weise gestern Abend halb elf Uhr nicht zu Hause waren. Das Einzige, was jetzt geschehen kann ist, auf der Stelle nach einer Droschke zu schicken.«

Fünf Minuten später saßen Sergeant Cuff und ich in einer Droschke und »Stachelbeere« auf dem Bock neben dem Kutscher, um diesen zu dirigiren, und fuhren in östlicher Richtung nach der City zu.

»Der Junge da wird noch einmal Großes in meinem früheren Fach leisten,« sagte der Sergeant auf Stachelbeere deutend; »er ist der gescheiteste und aufgeweckteste kleine Bengel, der mir seit Jahren vorgekommen ist. Ich will Ihnen in Kurzem erzählen, Herr Blake, was er mir, nachdem Sie das Zimmer verlassen mitgetheilt hat. Sie haben, glaube ich, noch gehört, daß er sich hinten an den Wagen hing und demselben nachlief?«

»Ja.«

»Nun gut. Der Wagen fuhr von Lombardstreet nach der Tower-Werfte. Der Matrose mit dem schwarzen Bart stieg aus und sprach mit dem Steward des nach Rotterdam fahrenden Dampfboots, welches am nächsten Morgen abgehen sollte. »Er fragte, ob er gleich an Bord gehen und die Nacht in seiner Cabine zubringen könne. Der Steward erklärte, das gehe nicht an. Die Cabinen und Betten müßten noch diesen Abend gründlich gereinigt werden und kein Passagier dürfe vor dem nächsten Morgen an Bord kommen. Der Matrose ging darauf wieder fort. Als er wieder auf der Straße war, bemerkte der Junge zum ersten Male, daß ein Mann in der Kleidung eines respectabeln Handwerkers an der andern Seite der Straße ging und augenscheinlich den Matrosen beobachtete. Der Matrose hielt vor einem Speisehause in der Nachbarschaft und trat in dasselbe ein. Der Junge, der im Augenblick nicht wußte, was er thun solle, trieb sich mit andern Jungen vor dem Hause umher und betrachtete sich die guten Sachen an dem Schaufenster des Speisehauses. Er bemerkte, daß der Handwerker gleich ihm warte, aber noch immer auf der andern Seite der Straße. Einen Augenblick später kam eine Droschke langsam heran und hielt vor dem Handwerker still. Der Junge konnte nur eine Person in dem Wagen deutlich erkennen, die sich vorüberbeugte, um aus dem Fenster mit dem Handwerker zu reden. Er beschrieb diese Person, ohne daß ich ihn irgend durch Fragen darauf gebracht hätte, als einen Mann von dunkler Gesichtsfarbe wie ein Indier.«

Es war wieder klar, daß Herr Bruff und ich uns auch in einem andern Punkt geirrt hatten. Der Matrose mit dem schwarzen Bart war offenbar kein Spion im Dienste der indischen Verschwörung. Konnte er möglicher Weise der Mann sein, der den Diamanten hatte?

»Etwas später,« fuhr der Sergeant fort, »fuhr der Wagen langsam die Straße hinab. Der Handwerker kam jetzt über den Weg und ging gleichfalls in das Speisehaus. Der Junge wartete draußen, bis er hungrig und müde wurde, und ging dann auch in das Speisehaus. Er hatte einen Schilling in der Tasche und soupirte dafür, wie er sagt, ganz köstlich; Blutwurst, Aalpye und eine Flasche Bier. Was kann ein Junge nicht Alles verdauen!«

»Und was sah er in dem Speisehaus? fragte ich.

»Nun, Herr Blake, er sah den Matrosen an einem Tisch und den Handwerker an einem andern die Zeitung lesen. Es war Dämmerung geworden, als der Matrose aufstand und fortging. Als er aus die Straße hinaustrat, blickte er argwöhnisch umher, den Jungen aber ließ er, eben weil es ein Junge war, unbeachtet. Der Handwerker war noch nicht herausgekommen. Der Matrose ging, fortwährend um sich blickend, weiter und schien nicht recht zu wissen, wohin er seine Schritte wenden solle. Der Handwerker ließ sich dann wieder auf der andern Seite der Straße blicken. Der Matrose ging weiter, bis er nach Shore Lane kam, da wo diese Straße nach der untern Themsestraße führt. Hier blieb er vor einem »das Glücksrad« benannten Wirthshause stehen und trat, nachdem er sich das Haus von Außen angesehen hatte, hinein. Stachelbeere folgte ihm. Da stand eine große Menge von meistens anständig gekleideten Leuten am Schenktisch. Das »Glücksrad« ist ein sehr respectables Haus, Herr Blake, berühmt für seinen Porter und seine Schweinfleisch-Pasteten.«

Die Abschweifungen des Sergeanten machten mich ungeduldig. Er bemerkte es und hielt sich von nun an strenger an Stachelbeeres Aussage.

»Der Matrose,« fuhr er fort, »fragte, ob er ein Zimmer bekommen könne. Der Wirth erklärte ihm, daß das Haus voll sei, aber das Schenkmädchen widersprach ihm und bemerkte, Nr. 10 sei frei. Es wurde ein Kellner gerufen, um den Matrosen auf Nr. 10 zu führen. Gerade in diesem Augenblick hatte Stachelbeere auch den Handwerker wieder unter den Leuten am Schenktisch bemerkt, noch ehe aber der Kellner erschien, war der Handwerker schon wieder verschwunden. Der Matrose wurde aus sein Zimmer geführt. Stachelbeere, der nicht recht wußte, was er thun solle, war weise genug, abzuwarten, ob sich etwas ereignen werde. Und in der That ereignete sich bald Etwas. Es wurde nach dem Wirth gerufen, laute Stimmen wurden von oben her vernehmbar. Plötzlich erschien der Handwerker wieder, vom Wirth am Kragen gepackt und zu Stachelbeeres Erstaunen mit allen Anzeichen der Betrunkenheit. Der Wirth warf ihn zum Hause hinaus und drohte ihm mit der Polizei, wenn er sich wieder blicken lassen sollte. Aus den zwischen dem Wirth und dem Handwerker gewechselten Worten ergab sich, daß der Mann auf Nr. 10 gefunden worden war und mit dem Eigensinn eines Betrunkenen erklärt hatte, es sei sein Zimmer. Stachelbeere war über diese plötzliche Betrunkenheit eines Menschen, den er kurz vorher noch nüchtern gesehen hatte, so betroffen, daß er der Versuchung nicht widerstehen konnte, dem Handwerker auf die Straße zu folgen und nachzulaufen. So lange er in der Nähe des Wirthshauses war, taumelte der Mann wie ein völlig Betrunkener hin und her; in dem Augenblick aber, wo er um die nächste Ecke bog» fand er aus der Stelle sein Gleichgewicht wieder und wurde wieder ein so nüchternes Mitglied der menschlichen Gesellschaft, wie es nur eines geben konnte. Stachelbeere ging in sehr aufgeregter Stimmung nach dem »Glücksrad« zurück. Er wartete wieder, ob sich noch Etwas ereignen werde. Diesmal vergebens. Es passirte Nichts, und von dem Matrosen war nichts mehr zu sehen und zu hören. Stachelbeere entschloß sich, nach dem Bureau zurückzukehren. Gerade als er diesen Entschluß gefaßt hatte, erschien wieder an der andern Seite der Straße —— wer anders als der Handwerker. Er blickte nach einem bestimmten Fenster in dem höchsten Stockwerk des Wirthshauses hinauf, dem einzigen, welches erleuchtet war. Der Anblick des Lichts schien ihn zu erfreuen, er ging auf der Stelle wieder fort. Der Junge ging nach Gray’s Inn zurück, fand Ihre Karte mit der darauf befindlichen Bestellung, sprach bei Ihnen vor und verfehlte Sie. Da haben Sie einen Bericht über den Fall, Herr Blake, wie er augenblicklich liegt.«

»Und was denken Sie davon, Sergeant?«

»Ich halte die Sache für ernst. Nach dem zu urtheilen, was der Junge gesehen hat, sind für’s Erste ein mal die Indier im Spiel.«

»Ja wohl, und der Matrose ist offenbar der Mann, welchem Herr Luker den Diamanten übergeben hat. Es ist sonderbar, aber Herr Bruff und ich und der von Herrn Bruff angestellte Mann scheinen uns alle Drei in der betreffenden Person geirrt zu haben.«

»Durchaus nicht sonderbar, Herr Blake Es ist nur zu wahrscheinlich, daß Herr Luker, in Betracht der Gefahr, welcher diese Person sich aussetzt, Sie Alle nach einer vorher mit der Person getroffenen Verabredung absichtlich irre geleitet hat.«

»Verstehen Sie denn die Vorgänge in dem Wirthshaus?« fragte ich. »Der wie ein Handwerker gekleidete Mann handelte natürlich im Dienst der Indier, aber warum er sich plötzlich betrunken stellte, vermag ich mir sowenig zu erklären, wie Stachelbeere.«

»Ich glaube, ich kann Ihnen darüber einen aufklärenden Wink geben,« sagte der Sergeant. »Wenn Sie sich die Sache überlegen, so werden Sie finden, daß der Mann ziemlich genaue Instructionen von den Indiern gehabt haben muß. Sie selbst sind von viel zu auffallender Erscheinung, als daß sie es hätten riskiren können, sich in der Bank oder in dem Wirthshause blicken zu lassen. Sie mußten sich ganz auf ihren Bevollmächtigten verlassen. Nun wohl. Der Bevollmächtigte hörte im Wirthshause eine gewisse Nummer als die Nummer des Zimmers nennen, in welchem der Matrose und folgeweise auch, wenn Sie nicht ganz auf dem Irrwege sind, der Diamant übernachten sollte. Unter diesen Umständen würden die Indier, darauf können Sie sich verlassen, eine genaue Beschreibung des Zimmers, seiner Lage im Hause, der Möglichkeit, von außen in dasselbe zu gelangen u. s. w. verlangt haben. Was konnte der Mann mit solchen Instructionen anders thun, als eben das, was er gethan hat? Er lief hinauf, sich das Zimmer anzusehen, bevor der Matrose hinaufgeführt worden war. Dort wurde er bei seinem Auskundschaften ertappt und nahm seine Zuflucht zu einer simulirten Betrunkenheit, als dem besten Mittel, sich aus der Affaire zu ziehen. So löse ich mir das Räthsel. Aus dem Hause geworfen, überbrachte er vermuthlich seinen Bericht dahin, wo seine Vollmachtgeber auf ihn warteten, und diese schickten ihn ohne Zweifel wieder nach dem Wirthshause zurück, um sich zu vergewissern, daß der Matrose daselbst bis zum nächsten Morgen definitiv sein Quartier aufgeschlagen habe. Was sich in dem »Glücksrad« weiter begeben hat, nachdem der Junge fortgegangen war, das hätten wir gestern Abend zu erfahren suchen müssen. Es ist jetzt eilf Uhr. Wir müssen sehen, was wir noch thun können, und das Beste hoffen.«

Eine Viertelstunde später hielt unser Wagen in Shore Lane und öffnete Stachelbeere den Wagenschlag für uns.

»Sind wir da?« fragte der Sergeant.

»Ja wohl, Herr!« antwortete der Junge.

In dem Moment, wo wir die Schwelle des »Glücksrades« betraten, war es selbst für meine unerfahrenen Augen klar, daß hier im Hause Etwas nicht in Ordnung sei.

Die einzige hinter dem Schenktische stehende Person war ein des Geschäfts völlig unkundiges, confuses Dienstmädchen. Einige wenige Habitués, die auf ihren Morgentrunk warteten, klopften ungeduldig mit ihrem Gelde auf den Schenktisch. Das Schenkmädchen trat aufgeregt und preoccupirt aus den inneren Räumen des Hauses herein. Auf Sergeant Cuff’s Frage nach dem Wirth erklärte sie patzig, ihr Herr sei oben und wolle von Niemandem incommodirt sein.

»Folgen Sie mir,« sagte Sergeant Cuff, indem er ganz ruhig uns voran die Treppen hinaufging und dem Jungen winkte, mitzukommen.

Das Schenkmädchen rief ihrem Herrn hinauf, daß Fremde in das Haus dringen wollten.

Auf dem Vorplatze des ersten Stocks begegnete uns der Wirth, der in einem höchst aufgeregten Zustande heruntergelaufen kam, zu sehen, was es gebe.

»Wer zum Teufel sind Sie, und was wollen Sie hier?« fragte er.

»Ruhig Blut!« sagte der Sergeant kühl. »Ich will Ihnen zuerst sagen, wer ich bin; ich bin Sergeant Cuff.«

Der berühmte Name that auf der Stelle seine Wirkung. Der zornige Wirth riß die Thür eines Wohnzimmers auf und bat den Sergeanten um Verzeihung.

»Ich bin höchst verdrießlich und ungehalten, das ist wahr, Herr,« sagte er. »Es ist etwas sehr Unangenehmes diesen Morgen hier im Hause vorgefallen. Unsereins hat es schwer, guter Laune zu bleiben, Sergeant Cuff.«

»Ganz gewiß,« antwortete der Sergeant. »Ich will Ihnen, mit Ihrer Erlaubniß, ohne Weiteres sagen, was uns herführt. Dieser Herr und ich möchten Sie mit einigen Fragen über eine uns Beide interessirende Angelegenheit behelligen.«

»Was für eine Angelegenheit, Herr?« fragte der Wirth.

»Sie steht in Verbindung mit einem dunkelfarbigen Manne in Matrosenkleidung der hier übernachtet hat.«

»Guter Gott! Gerade dieser Mann versetzt unser Haus in diesem Augenblick in die höchste Verwirrung!« rief der Wirth aus. »Wissen Sie oder weiß dieser Herr irgend etwas über ihn?«

»Darauf werden wir Ihnen erst bestimmt antworten können, wenn wir ihn sehen,« antwortete der Sergeant.

»Gesehen?« wiederholte der Wirth. »Das ist seit heute Morgen um sieben Uhr gerade nicht möglich. Um diese Zeit wollte er heute Morgen geweckt werden. Man wollte ihn wecken, er gab aber trotz allen Klopfens an seine Thür keine Antwort und war auch nicht zu bewegen, dieselbe zu öffnen. Vergebens haben wir es um acht Uhr und um neun Uhr wieder versucht. Die Thür war fest verschlossen und kein Laut im Zimmer zu hören. Ich mußte diesen Morgen ausgehen und bin erst vor einer Viertelstunde wieder nach Hause gekommen. Da habe ich selbst vor seiner Thür Lärm gemacht, aber Alles vergebens. Jetzt habe ich den Kellner nach dem Schlosser geschickt. Wenn Sie einige Minuten verweilen können, meine Herren, so wollen wir die Thür öffnen lassen und sehen, was die Sache zu bedeuten hat.«

»War der Mann gestern Abend betrunken?« fragte Sergeant Cuff.

»Vollkommen nüchtern, Herr, sonst hätte ich ihn gar nicht in meinem Hause schlafen lassen.«

»Hat er sein Zimmer im Voraus bezahlt?«

»Nein.«

»Ist es möglich, daß er sein Zimmer auf einem anderen Wege als durch die Thür verlassen hat?«

»Das Zimmer ist eine Bodenkammer,« sagte der Wirth. »Aber in der Decke desselben befindet sich eine Fallthür, die nach dem Dache hinausführt, und in einer kleinen Entfernung von meinem Hause steht ein etwas niedrigeres Haus, in dem eben gebaut wird. Meinen Sie, Sergeant, der Lump könnte sich so, ohne zu bezahlen, davon gemacht haben?«

»Das würde einem Matrosen nicht unähnlich sehen,« sagte Sergeant Cuff, »so in der Frühe des Morgens, wo noch kein Mensch aus den Straßen ist. So ein Kerl ist das Klettern gewohnt und ihn würden auch Dächer nicht schwindlig machen.«

In diesem Augenblick wurde die Ankunft des Schlossers gemeldet. Wir gingen sofort Alle nach dem höchsten Stock hinauf. An dem Sergeanten fiel mir ein selbst für ihn ungewöhnlich feierlicher Ernst auf. Auch frappirte es mich, daß er den Jungen, den er bis dahin immer aufgefordert hatte, uns zu folgen, unten im Zimmer warten hieß, bis wir wieder hinunter kommen würden. Der Schlosser hatte die Thür bald genug geöffnet; dieselbe schien aber von innen durch ein Möbel verrammelt zu sein. Durch das Aufstoßen der Thür schoben wir jedoch dieses Möbel bei Seite und gelangten so in das Zimmer. Der Erste, welcher eintrat, war der Wirth, der Zweite der Sergeant und ich der Dritte, die andern anwesenden Personen folgten uns.

Wir sahen Alle zuerst nach dem Bett und fuhren Alle zusammen.

Der Mann hatte das Zimmer nicht verlassen. Er lag angekleidet auf dem Bett, das Gesicht völlig mit einem weißen Kissen bedeckt.

»Was ist daß?« sagte der Wirth, aus das Kissen deutend.

Sergeant Cuff trat, ohne zu antworten, an das Bett und hob das Kissen auf.

Das dunkle Gesicht des Mannes sah ruhig und unentstellt aus, sein schwarzes Haar und sein Bart waren ein wenig, aber sehr wenig in Unordnung. Seine Augen starrten weit geöffnet, gläsern und leer, nach der Decke. Der starre, verschleierte Blick dieser Augen entsetzte mich. Ich wandte mich ab und trat an’s offene Fenster. Die Andern traten zu Sergeant Cuff an’s Bett.

»Er ist ohnmächtig!« hörte ich den Wirth sagen.

»Er ist todt!« antwortete der Sergeant. »Schicken Sie nach dem nächsten Arzt und nach der Polizei.«

Der Kellner wurde sofort abgeschickt Sergeant Cuff blieb, wie von einem seltsamen Zauber gebannt, vor dem Bett stehen. Die Andern schienen in gespannter Erwartung dessen, was der Sergeant nun thun werde, dazustehen.

Ich stand noch immer am Fenster. Einen Augenblick später fühlte ich, wie leise an meinen Rockschoß gezupft wurde und hörte eine Knabenstimme flüstern: »Sehen Sie einmal her Herr!«

Stachelbeere war doch hinaufgekommen. Seine losen Augen rollten fürchterlich, nicht vor Schreck, sondern vor Aufregung. Er hatte auf seine eigene Hand als geheimer Polizei-Agent fungirt und eine Entdeckung gemacht: »Sehen Sie einmal her Herr,« wiederholte er und führte mich an einen in der Ecke des Zimmers stehenden Tisch.

Auf dem Tisch stand offen und leer ein kleiner hölzerner Kasten. Neben demselben lag auf der einen Seite etwas Watte, aus der andern ein zerrissenes Blatt weißes Papier, mit einem zerbrochenen Siegel und einer noch vollkommen leserlichen Aufschrift. Dieselbe lautete wie folgt:

»Deponirt bei H.H. Bushe, Lysaught & Bushe von Herrn Septimus Luker, Middleser Place, Lambeth, ein kleiner hölzerner in diesen Umschlag eingesiegelter Kasten, enthaltend einen sehr kostbaren Werthgegenstand. Der Kasten ist von den Herren Bushe & Co. nur auf Anhalten des Herrn Luker und nur demselben persönlich wieder einzuhändigen.«

Diese Zeilen beseitigen jeden weiteren Zweifel wenigstens in einer Beziehung: Der Matrose hatte Tags zuvor, als er die Bank verließ, den Diamanten bei sich gehabt.

Ich fühlte ein abermaliges Zupfen an meinem Rockschoß. Stachelbeere war noch nicht mit mir fertig.

»Gestohlen«, flüsterte der Junge, höchst vergnügt auf den leeren Kasten deutend.

»Du solltest ja unten warten,« sagte ich, »geh’ Deiner Wege.«

»Und ermordet,« fügte Stachelbeere noch vergnügter auf den Mann im Bett deutend hinzu.

Die Freude des Jungen über die greuliche Seene war mir so widerwärtig, daß ich ihn beim Arm nahm und hinaussetzte.

In dem Moment, wo ich die Thürschwelle über schritt, hörte ich Sergeant Cuff’s Stimme nach mir fragen. Er kam» mir entgegen, als ich wieder hineintrat und zog mich mit sich an’s Bett.

»Herr Blake,« sagte er, »sehen Sie sich das Gesicht des Mannes genau an. Es ist verstellt und hier ist der Beweis dafür.« Er wies mit den Finger auf einen schmalen Streifen von fahlem Weiß, der sich zwischen der dunklen Hautfarbe und dem etwas in Unordnung gerathenen Kopfhaar an der Stirn hinzog. »Wir wollen doch einmal sehen, was darunter steckt,« sagte der Sergeant, indem er plötzlich mit fester Hand in das schwarze Haar griff.

Meine Nerven waren nicht stark genug den Anblick zu ertragen. Ich wandte mich wieder von dem Bett weg.

Das Erste was ich ansah, als ich mich umdrehte, war der unausrottbare Stachelbeere, der auf einen Stuhl stehend, über die Schultern der Erwachsenen weg in athemloser Spannung mit ansah, was der Sergeant vornahm.

»Er reißt ihm die Perrücke ab,« flüsterte Stachelbeere mir als der einzigen Person im Zimmer, die nichts sehen konnte, mitleidig zu.

Nach einer athemlosen Pause ertönte ein Aufschrei des Erstaunens unter den um das Bett versammelten Leuten.

»Er hat ihm den Bart abgerissen,« rief Stachelbeere.

Wieder entstand eine Pause. Sergeant Cuff verlangte etwas. Der Wirth ging nach dem Waschtisch und kehrte mit einem mit Wasser gefüllten Becken und einem Handtuch nach dem Bett zurück.

Stachelbeere sprang vor Aufregung auf dem Stuhl herum. »Kommen Sie doch hierher, Herr. Er wäscht ihm jetzt die Farbe vom Gesicht.«

Plötzlich bahnte sich der Sergeant einen Weg durch die ihn umstehenden Leute und trat mit einem Ausdruck des Entsetzens im Gesicht gerade auf mich zu.

»Kommen Sie wieder mit uns an’s Bett,« fing er an. Dann sah er mich schärfer an und hielt inne. »Nein,« verbesserte er sich, öffnen Sie erst das versiegelte Couvert das ich Ihnen diesen Morgen gegeben habe.«

Ich that das.

»Lesen Sie den. Namen, den ich da hineingeschrieben habe. Herr Blake.«

Ich las: »Godfrey Ablewhite.«

»Nun,« sagte der Sergeant, »kommen Sie und sehen Sie den Mann auf dem Bett an.«

Ich trat mit ihm hinan. Da lag Godfrey Ablewhite.



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