Fräulein oder Frau?

Kapitel 7

Die Abendgesellschaft



„Liebste Natalie,

Da die Bestie – verzeihe das Wort, aber ich finde für den Menschen kein zahmeres – darauf besteht, bei mir eingeladen zu werden, so schicke ich Dir hiermit eine Karte für sie. Sei aber unbesorgt, mein Kind, Du und Launce, ihr kommt zu Tische und ich will schon dafür sorgen und das ganze Arsenal meines Scharfsinnes erschöpfen, um Euch Gelegenheit zu verschaffen, ein Wort unter vier Augen zu sprechen, denn ich fühle Dir wohl nach, wie schrecklich das ewige Bewachtsein für Dich ist. Der Zustand, in dem Du lebst, ist fürchterlich – ich gebe es gern zu, Du bist verheiratet und hast doch keinen Gatten, kannst ihn nur in seltenen, glücklich erhaschten Augenblicken sehen, und ein unausstehlicher Geldsack quält Dich mit widerwärtigen Anträgen, ihm die Hand zu reichen, welche doch schon in aller gesetzlichen Form vergeben ist. Du mußt mit Deinen Eltern, gegen die Du eines geheimen Fehlers Dir bewußt bist, die Dich aber nicht verstehen, noch unter einem Dache leben, kannst Deinem geliebten Launce noch nicht folgen – aber vergiß nur nicht, daß all das ein Ende haben wird, sobald das schnell rollende Rad der Zeit Dir den Gefallen getan haben wird, Deinen sechzehnten Geburtstage erscheinen zu lassen. Also fasse Mut und halte Dir ‚die Bestie‘, die man Dir aufdrängen will, nur energisch vom Leibe. Das wird zwar die Leidenschaftlichkeit dieses Menschen nur erhöhen, allein zuletzt – wenn der Schleier fällt – wird er doch den Schaden besehen!

In aller Liebe

Deine Louise.“

Diesem Brief lag eine Einladungskarte bei des Inhalts:

„Lady Winwood ersucht Herrn Turlington, ihr die Ehre zu erzeigen, am Mittwoch den 15. Dezember den Abend bei ihr zuzubringen.“

Jener Brief enthielt die geheime Geschichte der Tage, die seit der Heirat des jungen Paares verflossen waren. Gewisse Vorfälle in Lady Winwoods Gesellschaft fügten dieser Geschichte eine durch ihre Folgen wichtige Ergänzung hinzu.

In Gemäßheit der mit Natalie getroffenen Verabredung erschien die Familie Graybrooke, die zu Tische eingeladen war, schon zeitig. Lady Winwood überließ es ihrem Gatten und ihren Stieftöchtern, Sir Joseph und Fräulein Lavinia zu unterhalten und führte Natalie in ihr Boudoir, das nur durch eine Portière vom Salon getrennt war.

„Liebes Kind, du siehst ja heute abend ganz verstört aus! Ist etwas vorgefallen?“

„Ich halte es nicht mehr aus, Louise. Das Leben, das ich jetzt führe, ist mir so unerträglich, daß cih glaube, ich würde, wenn Launce in mich drängte, mich entschließen, mit ihm noch heute abend, sobald wir hier fortgehen, davon zu laufen.“

„Das wirst du gefälligst bleiben lassen. Du mußt einmal um jeden Preis warten, bis du sechzehn Jahre alt bist. Ich schwärme für aufregende Situationen, aber die Situation, mit dir vor den Schranken des Strafgerichts erscheinen zu müssen, würde mir doch über den Spaß gehen. Kommt die ‚Bestie‘ also heute abend?“

„Natürlich. Er folgt mir ja beharrlich wie mein Schatten. Er hat heute in Muswell Hill gefrühstückt und mir wieder Vorwürfe über meine unbegreifliche Kälte gegen ihn gemacht. Papa hat wieder gescholten und Launce hat mir wieder einen wütenden Brief geschrieben. Er tut mir zu wissen, daß, wenn ich Richard wieder in seiner Gegenwart meine Hand küssen lasse, er ihn niederschlagen werde. O, was führe ich jetzt für ein elendes, schuldvolles Leben! Louise, ich befinde mich in der denkbar traurigsten Lage und du hast mich dazu ermuntert, mich da hinein zu begeben! Ich fürchte, Richard Turlington hat schon Verdacht gegen uns geschöpft. Die beiden letzten Male, als Launce und ich es versuchten, bei meiner Tante eine Minute lang allein zu sein, wußte Turlington und daran zu verhindern. Da stand er mit seinem sauren Gesichte und sah aus, als wolle er Launce umbringen. Kannst du heute abend irgendetwas für uns tun? Nicht meinetwegen, aber Launce ist so ungeduldig. Er erklärt, daß, wenn er mir nicht heute abend zwei Worte allein sagen könne, er morgen nach Muswell Hill kommen und mich im Garten abfassen wolle.“

„Beruhige dich, liebes Kind, er soll dir heute abend seine zwei Worte sagen.“

„Wie das?“

Lady Winwood wies mit dem Finger durch die Portière des Boudoirs hindurch anch der Tür des Salons hin. Jenseits der Türe war ein Vorplatz, der zu einem zweiten kleineren Salon führte.

„Zu Tisch“, fuhr sie fort, „kommen nur drei oder vier Leute, und abends kommen noch einige dazu. Da wir also nur eine kleine Gesellschaft sind, wird der kleine Salon genügen. Der Salon hier nebenan wird gar nicht erleuchtet sein und hier im Boudoir wird nur meine Arbeitslampe brennen. Ich werde das Zeichen zum Verlassen des Eßzimmers früher als gewöhnlich geben. Launce kommt, noch ehe die Abendgesellschaft anfängt, zu uns herauf. Schicke ihn im Augenblick seines Erscheinens nur ohne Weiteres hier hinein, vor seiner Tante und vor uns allen.“

„Welchen Grund soll ich denn dafür angeben?“

„Schicke ihn, dir deinen Fächer zu holen, den du hier, bevor wir zu Tisch gehen, unter dem Sofakissten liegen lassen mußt. Du sitzest bei Tische neben Launce und kannst ihm also vorher seine geheime Instruktion geben, daß er den Fächer nicht finden soll. Dann mußt du ungeduldig werden, selbst nachsehen wollen und ins Boudoir gehen – und dann seid ihr allein.“

Die junge Frau Linzie starrte gedankenvoll zu Boden, als wolle ihr dieser Vorschlag nicht so ganz einleuchten, aber ihre viel willenskräftigere Freundin wußte ihn ihr zuletzt doch wieder plausibel zu machen. -

Die zu Tische geladenen Gäste fingen an zu erscheinen. Lady Winwood mußte ihre Pflichten als Frau vom Hause erfüllen. Es war ein angenehmes kleines Diner, das nur eine Schattenseite hatte: es fing zu spät an. Die Damen kamen erst zehn Minuten vor zehn Uhr in den kleinen Salon. Launce konnte ihnen erst folgen, als es zehn Uhr schlug.

„Zu spät!“ flüsterte ihm Natalie zu. „Er wird gleich hier sein.“

„Kein Mensch kommt präzis zu einer Abendgesellschaft“, erwiderte Launce. „Laß uns keinen Augenblick verlieren. Schick‘ mich nach deinem Fächer!“

Natalie wollte ihm eben den verabredeten Auftrag erteilen, aber noch bevor sie die Lippen öffnen konnte, meldete der Diener: „Herr Turlington.“

Turlington trat ein in einem weiten, glänzenden, schwarzen Anzuge, und mit steifen, hohen Vatermördern.

Er machte Lady Winwood eine verdrossene und plumpe Verbeugung und erging sich dann, wie er schon so oft zu tun Gelegenheit gehabt hatte, in eifersüchtigen Betrachtungen über den auffallenden Gegensatz, welchen Natalie, jetzt, nachdem sie sich eben mit Launce unterhalten hatte, und mit freundlichen Blicken und lebhaften Mienen dastehend, gegen die kalte und apatische junge Dame bildete, als welche er Natalien zu sehen gewohnt war, wenn sie mit ihm sprach.

Lord Winwoods Töchter genossen eines gewissen Rufes in der musikalischen Dilettantenwelt. Als Lady Winwood den Blick bemerkte, welchen Turlington dem jungen Launce zuwarf, flüsterte sie Fräulein Lavinia ein Wort ins Ohr, und diese bat sofort die jungen Damen, etwas zu singen.

Launce erbot sich, einem Blicke Nataliens folgend, die Noten zu holen. Wir brauchen wohl kaum zu sagen, daß er zuerst das falsche Buch herbeibrachte. Als er dasselbe dann wieder vom Klavier wegnahm, um es nach dem Notenständer zurückzubringen, fiel aus demselben ein gedrucktes Blatt heraus, welches aussah wie ein Circulär. Eine der jungen Damen nahm es vom Bodern auf und überflog es betroffen.

„Die geistlichen Konzerte!“ rief sie aus. Ihre beiden Schwestern, die neben ihr standen, sahen einander mit schuldbewußten Blicken an. „Was wird das Komitée zu uns sagen? Wir haben die Versammlung vorigen Monat ganz vergessen.“

„Ist diesen Monat auch eine Versammlung?“ Sie sahen den gedruckten Brief alle ängstlich an.

„Ja! Den dreiundzwanzigsten Dezember. Notiere es dir, Amelia!“

Amelia trug es auf der Stelle bei den Engagements für die letzte Woche des Monats in ihr Notizbuch ein; und der nicht anerkannte Gatte Nataliens sah diesem Vorgange mit heiteren Mienen zu. Er wußte nicht, daß soeben die erbarmungslose Ironie der Umstände Launce selbst unschuldigerweise den ersten Anlaß zu der Entdeckung seines Geheimnisses geben ließ. In Folge seines Eingreifens eines falschen Notenbuchs stand jetzt, zwei volle Tage, bevor die Entführung stattfinden konnte, eine Zusammenkunft zwischen den Töchtern des Lords und der Frau des Oberpfarrers in Aussicht...

Die Abendgäste fingen an, zu zweien und zu dreien zu erscheinen. Die Herren, die noch bei Tische saßen, verließen das Eßzimmer und kamen gleichfalls hinauf. Der kleine Salon war gut gefüllt, aber nicht übervoll. Sir Joseph Graybrooke ergriff Turlingtons Hand und führte ihn mit eifriger Beflissenheit zu ihrem Wirte. Das Gespräch im Eßzimmer hatte sich um finanzielle Angelegenheiten gedreht. Lord Winwood war mit einigen seiner auswärtigen Spekulationen nicht ganz zufrieden, und Sir Josephs „lieber Richard“ war ganz der Mann, um Lord Winwood guten Rat zu erteilen. Die drei Herren steckten in einer Ecke die Köpfe zusammen. Launce, der sie beobachtete, drückte verstohlen Nataliens Hand. Inzwischen war ein berühmter Virtuose angelangt, der auf dem Klavier trommelte und die Aufmerksamkeit der meisten Gäste durch seinen Vortrag in Anspruch nahm. Eine bessere Gelegenheit, Launce nach dem Fächer abzuschicken, hätte sich nicht bieten können. Während die finanzielle Diskussion noch ihren Fortgang nahm, waren die verheirateten Liebenden allein im Boudoir versteckt.

Lady Winwood, welche die Entfernung des Paares wohl bemerkt hatte, behielt die Ecke, in welcher Richard Turlington stand, fest im Auge. Er war eben in einer ernsten Auseinandersetzung seiner Ansichten begriffen, und kehrte der Gesellschaft den Rücken zu, ohne sich auch nur ein einziges Mal umzusehen. Jetzt kam die Reihe an Lord Winwood zu reden und Turlington veränderte auch als Zuhörer seine bisherige Stellung nicht. Demnächst ergriff Sir Joseph das Wort. Jetzt ließ sich Turlingtons Aufmerksamkeit nicht mehr duch diese Unterhaltung fesseln. Er wußte im Voraus, was Sir Joseph zu sagen haben würde. Seine Blicke richteten sich mit ängstlicher Besorgnis nach der Stelle, an der er Natalie verlassen hatte. Bei einer abermaligen Bemerkung Lady Winwoods drehte er sich nochmals um. Als aber dann Sir Joseph wieder einen Einwand erhob, blickte er zum zweiten Mal über seine Schultern hinweg und zwar dieses Mal nach der Stelle, wo Launce gestanden hatte. Im nächsten Augenblick nahm Lord Winwood seine Aufmerksamkeit wieder in Anspruch und machte es ihm unmöglich, seine Blicke forschend im Zimmer umherschweifen zu lassen.

Um dieselbe Zeit traten zwei Gäste, welche noch ein anderes Engagement für den Abend hatten, auf die Frau vom Hause zu, um sich von derselben zu verabschieden. Lady Winwood mußte sich erheben, und sich mit diesen beschäftigen. Sie hatten ihr beim Abschied etwas zu sagen und taten das mit einer Weitläufigkeit, welche für Lady Winwood um so schrecklicher war, als sie ihr dabei den Blick auf die Bewegungen des Feindes versperrten. Als sie die Gäste endlich los geworden war, blickte sie sofort wieder nach der Ecke, und siehe da – nur Lord Winwood und Sir Joseph standen noch da. Turlington war verschwunden!

Nachdem Lady Winwood einen Augenblick dazu benutzt hatte, den Virtuosen zu einem abermaligen Getrommel zu veranlassen, schlüpfte sie zum Zimmer hinaus und ging über den Vorplatz. Bei ihrem Eintritt in den leeren Salon vernahm sie Turlingtons Stimme leise und drohend im Boudoir. Die Eifersucht erfreut sich der Gabe eines ganz besonderen „zweiten Gesichts“. Turlington war sofort auf die richtige Stelle losgesteuert, und, wehe! Er hatte das Paar überrascht.

Lady Winwood besaß eine unbestreitbar seltene Geistesgegenwart, aber sie erbleichte, als sie sich dem Eingang zum Boudoir näherte. Da stand Natalie zornig und erschreckt zugleich zwischen dem Mann, mit dem sie angeblich verlobt, und dem Mann, mit dem sie wirklich verheiratet war. Auf Turlingtons finsterem Gesicht malten sich die Martern unterdrückter Wut. Launce reichte Natalien ihren Fächer, mit dem kalten überlegenen Lächeln eines Menschen, der sich seines errungenen Vorteils bewußt ist und in diesem Bewußtsein triumphiert.

„Ich verbiete dir, deinen Fächer aus den Händen dieses Mannes anzunehmen“, sagte Turlington zu Natalien, indem er auf Launce deutete.

„Ist es nicht noch ein wenig zu früh zum Verbieten?“ fragte Lady Winwood freundlich.

„Das sage ich auch!“ rief Launce. „Man muß Herrn Turlington, wie es scheint, daran erinnern, daß Natalie noch nicht seine Frau ist.“

Er sprach diese letzten Worte in einem Tone, der beide Frauen für die Folgen zittern ließ. Lady Winwood nahm Launce mit der einen Hand den Fächer ab, während sie mit der anderen Nataliens Arm ergriff.

„Da hast du deinen Fächer, liebes Kind!“ sagte sie in ihrer leichten ungezwungenen Weise. „Warum läßt du dich von diesen beiden musenfeindlichen Männern hier zurückhalten, während der große Buttmann drinnen die Alpdrucksonate spielt? - Launce und Herr Turlington! Kommen Sie mit und lassen Sie sich auf der Stelle zur Liebe für die Musik bekehren! Wenn Sie die Augen schließen, werden Sie darauf schwören, statt eines, vier moderne deutsche Komponisten spielen zu hören, ohne daß darum auch nur eine Spur von Melodie in dem Stücke wäre.“

Sie ging mit Natalien voran und flüsterte ihr zu: „Ihr habt euch doch nicht verraten?“ Natalie antwortete flüsternd: „Ich hörte ihn kommen, er traf uns dabei, wie wir nach dem Fächer suchten.“ Die beiden Männer blieben im Boudoir zurück, um ein Wort unter vier Augen miteinander zu reden.

„Die Sache ist noch nicht zu Ende, Herr Linzie.“

Um Launces Lippen spielte ein ironisches Lächeln.

„Dieses Mal bin ich mit Ihnen einverstanden“, erwiderte er, „die Sache ist noch nicht zu Ende, wie Sie richtig bemerken.“

Lady Winwood blieb an der Tür des Salons stehen, sah sich nach ihnen um und machte ihnen dadurch begreiflich, daß sie auf sich warten ließen. So blieb ihnen nichts übrig, als der Frau vom Hause zu folgen.

Wieder im kleinen Salon angelangt, hatten beide, Turlington und Launce, denselben Zweck im Auge und nahmen einstweilen ihren Platz unter den Gästen wieder ein. Jeder von ihnen hatte, in Veranlassung der Szene im Boudoir, Sir Joseph seine besonderen Vorstellungen zu machen.

Selbst hier kam Launce seinem Nebenbuhler zuvor; er bemächtigte sich zuerst des Ohrs Sir Josephs.

Seine Beschwerde nahm die Gestalt eines Protestes gegen Turlingtons Eifersucht und einer Appellation gegen das Urteil an, welches ihm den Zutritt zu Muswell Hill verschloß. Turlington, der sie von ferne beobachtete, entdeckte mit seinen argwöhnischen Blicken etwas bedenklich Vertrauliches in der Unterhaltung der beiden Männer. Durch die dichtgedrängten Reihen der Gäste gedeckt, stahl er sich hinter sie und horchte.

Der große Buttmann war eben bei der Stelle der Alpdrucksonate angelangt, wo die hauptsächlich von der linken Hand ausgeführte Musik mit einer jedes Mißverständnis ausschließenden Deutlichkeit, den Aufgang des Mondes auf einem Dorfkirchhof und den Tanz von Vampiren auf dem Grabe einer Jungfrau darstellt.

Sir Joseph, der mit seinem Geflüster nicht gegen die Vampire aufkommen konnte, war genötigt, die Stimme zu erheben, um Launce seine tröstliche Antwort verständlich zu machen. Turlington hörte ihn sagen: „Deine Lage erregt meine aufrichtige Teilnahme, und Natalie fühlt darin ebenso wie ich, aber Richard ist uns im Wege. Wir müssen bedenken, mein lieber Junge, was daraus entstehen könnte, wenn Richard dahinter käme.“ Dabei nickte er seinem Neffen freundlich zu, und begab sich, indem er so ein weiteres Eingehen auf den Gegenstand ablehnte, nach einem anderen Teile des Zimmers.

Turlingtons eifersüchtiges Mißtrauen, welches schon seit Wochen den höchsten Grad von Reizbarkeit erreicht hatte, brachte sofort die eben gehörten Worte mit den Worten in Verbindung, mit welchen ihn Launce im Boudoir daran erinnert hatte, daß er noch nicht mit Natalien verheiratet sei. Wurde hier Verrat gesponnen? Und war der Zweck des Komplotts, den schwachen Sir Joseph dahin zu bringen, die beabsichtigte Heirat seiner Tochter in einem für Launce günstigen Sinne in Überlegung zu ziehen? - Turlingtons blinder Argwohn ließ ihn die in die Augen springende Unwahrscheinlichkeit einer solchen Annahme übersehen. Nach einer kurzen Überlegung beschloß er, Sir Josephs Zuverlässigkeit sofort auf eine Probe zu stellen, die um so sicherer sein würde, als sie Nataliens Vater völlig überraschend käme.

„Graybrooke!“

Sir Joseph fuhr bei dem Anblick des Gesichts seines künftigen Schwiegersohnes zusammen.

„Lieber Richard, wie sonderbar siehst du aus? Ist dir die Hitze hier im Zimmer zu lästig?“

„Ach, was kümmert mich die Hitze! Was ich heute abend gesehen habe, rechtfertigt es vollkommen, wenn ich darauf bestehe, daß deine Tochter und Launcelot Linzie von heute an bis zu meinem Hochzeitstage nicht mehr zusammenkommen.“

Sir Joseph wollte versuchen zu reden, aber Turlington machte es ihm unmöglich. „Ja, ja! Ich weiß, du hast eine andere Ansicht von Linzie, als ich, ich habe euch ja noch eben wie die intimsten Freunde zusammen stehen sehen.“

Sir Joseph machte einen zweiten Versuch, etwas zu sagen. Turlingtons ewiger Klagen über seine Tochter und seinen Neffen überdrüssig, war er nachgerade so gereizt, daß er Turlington berichtet haben würde, was Launce eben zu ihm gesagt hatte, wenn er nur zu Wort hätte kommen können. Aber Turlington ließ sich nicht unterbrechen. „Ich kann“, sagte er, „Linzie den Zutritt zu diesem und dem Hause deiner Schwester nicht verwehren, aber ich kann ihm mein Haus auf dem Lande verschließen und daher laß uns aufs Land gehen. Ich schlage eine Radikalkur vor. Hast du dich versagt für die Weihnachtsfeiertage?“ Er hielt inne und richtete seine Blicke forschend auf Sir Josephs Gesicht.

Sir Joseph sah etwas überrascht aus und verneinte kurz.

„In diesem Fall“, nahm Turlington wieder auf, „lade ich euch alle nach Somersetshire ein, und ich proponiere, die Hochzeit in meinem und nicht in deinem Hause stattfinden zu lassen.“

„Das ist gegen den bei solchen Gelegenheiten üblichen Gebrauch, Richard“, fing Sir Joseph an.

„Lehnst du es ab?“ fragte Turlington in scharfem Tone. „Ich sage dir gerade heraus, ich werde mir deine Motive auf meine Weise erklären, wenn du das tust.“

„Nein, Richard“, erwiderte Sir Joseph ruhig, „ich nehme es an.“

Turlington trat schweigend einen Schritt zurück.

Jetzt hatte Sir Joseph ihn überrascht.

„Das wird verschiedene Pläne über den Haufen werfen und den Damen einige Unbequemlichkeiten verursachen“, fuhr der alte Herr fort. „Aber wenn du durchaus darauf bestehst, so sage ich ‚ja‘. Ich werde morgen bei unserer Zusammenkunft in Muswell Hill Veranlassung haben, deine Nachsicht in einer Weise in Anspruch zu nehmen, die dich sehr in Erstaunen setzen wird. Inzwischen ist es das Wenigste, was ich tun kann, dir meinerseits mit einem guten Beispiel der Nachsicht und freundschaftlicher Sympathie voranzugehen. Nichts weiter jetzt, Richard. Still! Es wird wieder musiziert.“

Es war unmöglich, ihn am heutigen Abend zu einer weiteren Erklärung zu bringen. Turlington blieb es überlassen, sich über die mysteriöse Mitteilung Sir Josephs den Kopf zu zerbrechen. Die auf den nächsten Tag festgesetzte Zusammenkunft auf Muswell Hill hatte, wie Turlington bereits wußte, den Zweck, den Ehekontrakt zu entwerfen. Handelte es sich bei dem angekündigten Appell an seine Nachsicht um Geld? -

Er dachte an seine kommerzielle Lage. Die Flauheit des Handels mit der Levante dauerte fort. Noch in keiner Zeit hatte sein Geschäft einen so anhaltend sorgfältigen Betrieb verlangt und hatte es diese Sorgfalt mit so geringem Gewinn belohnt. Die bewußten Cannossemente waren von der Firma bereits im gewöhnlichen Lauf der Geschäfte dazu benutzt, sich in den Besitz der Waren zu setzen. Die in den Händen von Bulpil Brothers befindlichen Duplikate wareb buchstäblich nichts mehr, als Stücke Papier. In weniger als einem Monate mußten das Darlehen von vierzigtausend Pfund Sterling mit Zinsen zurückbezahlt werden. Das war Turlingtons kommerzielle Lage. Sollte Sir Joseph, der das Geld so überaus liebte, irgend eine Modifikation in Betreff der Mitgift seiner Tochter beabsichtigen? Der bloße Gedanke, daß dem so sein könne, erfüllte Turlington mit Schauder. Er ging so besorgt fort, daß er nicht einmal daran dachte, Natalien gute Nacht zu wünschen.

Inzwischen hatte Launce die Gesellschaft schon vor Turlington verlassen, und auch er hatte allen Grund, an jenem Abende, bevor er einschlief, mit sich zu Rate zu gehen.

Zu Hause angekommen, fand er nämlich einen mit der Bemerkung „vertraulich“ versehenen Brief seines Bruders. Hatten die, nun schon mehrere Wochen lang fortgesetzten Nachforschungen in Betreff des früheren Lebens Turlingtons endlich zu positiven Resultaten geführt? - Launce öffnete hastig den Brief. Derselbe enthielt einen Bericht und ein Resumée. Er wandte seine Aufmerksamkeit sofort diesem letzteren zu und las, was folgt:

„Wenn Du nur moralischer Beweise bedarfst, um überzeugt zu sein, so ist Dein Zweck erreicht. Moralisch steht es unzweifelhaft fest, daß Turlington und der Kapitän, welcher den fremden Matrosen über Bord warf, ein und dieselbe Person sind. Juristisch hat die Sache ihre Schwierigkeiten, da Turlington jede Spur des Zusammenhangs seiner jetzigen Person mit seiner Vergangenheit getilgt hat. Es gibt nur eine Möglichkeit für uns. Ein Matrose, der sich damals auf dem Schiffe befand und der Vertraute des Kapitäns war, soll, wie es heißt, noch am Leben sein und sich der Protektion seines Herrn erfreuen. Dieser Mensch kennt alle früher von Turlington begangenen Verbrechen. Er kann, wenn wir im Stande sind, ihn aufzufinden und ihn zum Reden zu bringen, die Tatsachen beweisen. Unter welchem angenommenen Namen er sich verbirgt, wissen wir nicht. Sein rechter Name ist Thomas Wild. Wenn wir den Versuch machen wollen, ihn aufzufinden, dürfen wir keinen Augenblick verlieren. Die Sache kann bedeutende Kosten verursachen. Laß mich baldmöglichst wissen, ob wir die Sache weiter verfolgen sollen, oder ob das vorliegende Ergebnis für Deinen Zweck ausreicht.“

Das vorliegende Ergebnis reichte allerdings hin, nicht nur um Launce zu überzeugen, sondern auch, um die erwünschte Wirkung auf Sir Joseph zu üben, falls er sich, wenn das Geheimnis der Heirat an den Tag kommen würde, verstockt zeigen sollte. Launce schrieb einige Zeilen an seinen Bruder, um ihn anzuweisen, es bei dem bisher Geschehenen bewenden zu lassen.

„Das ist ein triftiger Grund gegen ihre Verheiratung mit Turlington“, dachte er bei sich, als er die Papiere verschloß. „Und wenn sie für Turlington verloren ist“, fügte er mit der Logik eines Verliebten hinzu, „warum sollte sie nicht für mich bestimmt sein?“ -


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