Zwei Schicksalswege

Einundzwanzigstes Kapitel

Sie tritt zwischen uns

Welche Bewegung hatte ich unbewusst in Miss Dunroß hervorgerufen, hatte ich sie betrübt oder beleidigt? Hatte ich, ohne es zu wollen, in ihrer Seele ein tief verborgenes Gefühl wach gerufen, das sie bis jetzt standhaft unterdrückt hatte?

Ich gedachte der Tage, die ich hier im Hause verlebt hatte und prüfte meine eigenen Gefühle und Eindrücke, um dadurch vielleicht zur Lösung des Rätsels zu gelangen, weshalb sie aus dem Zimmer geflohen war.

Welchen Eindruck hatte sie auf mich gemacht?

Um die Wahrheit zu gestehen, hatte sie einfach allen Raum in meinem Innern eingenommen und alles Andere daraus verdrängt. Sie hatte in zehn Tagen meine Teilnahme in einem so hohen Grade erregt, wie es einer anderen Frau kaum in zehn Jahren gelungen wäre. Mit Schamgefühl gestand ich mir ein, dass ich meiner Mutter sehr selten gedacht hatte, selbst das Bild von Frau van Brandt war, außer, wenn wir von ihr sprachen, in meinem Gedächtnis sehr verblichen.

Meine Freunde in Lerwick hatten mich alle der Reihe nach, Sir James an der Spitze, besucht und undankbarerweise hatte ich stets eine heimliche Freude empfunden, wenn sie sich wieder empfahlen und meiner Pflegerin das Feld räumten.

In zwei Tagen sollte das Regierungsschiff sich auf die Rückreise begeben. Obgleich meine Hand mich beim Gebrauch noch empfindlich schmerzte, war ich doch hinreichend hergestellt, um die Reise nach Lerwick zu ertragen, da die viel bedenklichere Verletzung an der wiedergeöffneten Wunde durchaus weder für mich noch irgend jemand Anderes mehr ein Gegenstand der Sorge war und ich zudem auf dem Wege zwischen Lerwick und Dunroß's Hause noch in einem Gehöft übernachten konnte.

Trotzdem ich das Alles wusste, hatte ich die Frage, ob ich zu dem Schiffe zurückkehren würde, bis zum letzten Augenblick offen gelassen und meinen Freunden als Grund dafür den Zweifel an der Zulänglichkeit meiner Kräfte angegeben. Der Grund, den ich mir jetzt selbst gestand, war, dass ich zögerte Miss Dunroß zu verlassen.

Welche geheime Macht hatte sie über mich ausgeübt, welches Gefühl, welche Leidenschaft hatte sie in mir erweckt? War es Liebe?

Nein, Liebe war es nicht. An der Stelle, die Mary einst eingenommen, die später Frau van Brandt ausgefüllt, stand Miss Dunroß nicht. Wie konnte ich im gewöhnlichen Sinn des Wortes eine Frau lieben, deren Antlitz ich nie gesehen hatte, deren Schönheit verwelkt war, um nie wieder zu erblühen? Deren verödetes Leben an einem Faden hing, der jeden Augenblick zerreißen konnte. An jeder Neigung zwischen den verschiedenen Geschlechtern, wenn man sie anders Liebe nennen soll, haben die Sinne ihren Anteil, an meinem Gefühl für Miss Dunroß hatten sie keinen. Welch ein Gefühl war es denn? Diese Frage konnte ich nur auf eine Weise beantworten, da das Gefühl zu tief in mir verborgen war, um es ergründen zu können.

Welchen Eindruck hatte ich ihr gemacht? Welche Saite ihres Gefühls hatte ich, ohne es zu wissen, berührt, als meine Lippen ihre Hand berührten?

Ich zagte diese Frage weiter zu verfolgen, die ich mir selbst vorgelegt. Ich gedachte ihrer zerrütteten Gesundheit, ihres Daseins in Schatten und Einsamkeit, ich gedachte der reichen Schätze dieses Herzens und dieses Gemütes, die mit ihrem welkenden Leben auch hinwelken mussten und ich sagte mir: Ihr Geheimnis sei Dir heilig! Nie soll eines meiner Worte oder eine meiner Handlungen sie wieder in Unruhe und Schmerzen versetzen, mag ihr Herz vor mir verschleiert bleiben, wie ihr Antlitz.

In dieser Stimmung erwartete ich ihre Rückkehr.

Dass ich sie im Laufe des Tages noch wiedersehen würde, bezweifelte ich nicht, da die Post nach dem Süden am nächsten Tage abging und es daher im Hause allgemeine Sitte war, die Briefe am Abend vorher zu schreiben, weil sie der Bote am Morgen ganz früh abholte. Miss Dunroß hatte sich daran gewöhnt nach meinem Diktat die Briefe in meine Heimat zu schreiben, da ich meine Hand noch immer nicht gebrauchen konnte. Sie wusste, dass ich meiner Mutter einen Brief schuldete und auf ihre Hilfe angewiesen war. So war ihre Umkehr zu mir nur eine Zeitfrage, da jede Verpflichtung, wie gering sie auch immer sein mochte, in ihren Augen zur dringenden Pflicht wurde.

Stunde auf Stunde verging, der Tag neigte sich zu Ende und sie erschien noch immer nicht.

Ich verließ mein Zimmer, um noch die letzten Strahlen der Sonne in dem Garten hinter dem Hause aufzufangen, ließ aber Peter zurück, wo ich aufzufinden war, im Fall Miss Dunroß mich suchte. Nach meinen südländischen Begriffen war der Garten sehr wild, aber er zog sich weit an der Küste der Insel hin und bot manche hübsche Aussicht über den See und das Moorland hinaus. Während ich langsam dahin schlenderte, beschloss ich meine Gedanken nützlich zu beschäftigen, indem ich mir den Brief an meine Mutter, den Miß Dunroß für mich schreiben sollte, immer durchdachte.

Ich fand es aber zu meinem Erstaunen ganz unmöglich, meine Gedanken auf diesen Gegenstand zu richten. Wie oft ich es auch versuchte, immer schweiften meine Gedanken wieder von dem Briefe an die Mutter zu Miss Dunroß hinüber. Doch nein! Verweilten sie bei der Frage, ob ich mit dem Regierungsschiff nach Pertshire zurückkehren sollte oder nicht, oder wohin wendeten sie sich eigentlich? Wunderbarerweise waren alle meine Gedanken durch eine unerklärliche Abschweifung meines Gefühls plötzlich auf einen Gegenstand gerichtet, dem ich jetzt lange nicht mehr nachgedacht hatte, auf - Frau van Brandt. Unwillkürlich dachte ich, so sehr sich mein Wille auch dagegen sträubte, an unsere letzte Unterredung zurück. Ich sah sie, hörte sie wieder, empfand die augenblickliche Wonne unseres letzten Kusses und vergegenwärtigte mir die Qualen und Schmerzen, die ich empfand, als ich von ihr gegangen war und mich allein auf der Straße befand. Tränen, deren ich mich schämte, obgleich sie niemand sah, füllten meine Augen, als ich der Monate gedachte, die seit unserem letzten Beisammensein verflossen waren und wie viel Herzeleid konnten, mussten sie über sie gebracht haben!

Obgleich Hunderte von Meilen zwischen uns lagen, war sie mir diesen Augenblick so nah, als ginge sie im Garten neben mir.

Wie mein Geist, befand auch mein Körper sich in wunderbarem Zustande, ein geheimnisvolles Beben durchschauerte mich von Kopf bis zu den Füßen. Ohne den Boden unter mir zu fühlen, schritt ich vorwärts, meine Augen ruhten auf den Gegenständen umher, ohne dass ich mir ihrer bewusst war, meine Hände waren kalt, ohne dass ich es eigentlich fühlte, mein Kopf glühte, doch empfand ich keinen Schmerz, fühlte mich wie umgeben und eingehüllt in eine elektrische Atmosphäre, die alle meine Gefühle wunderbar verwandelte. In dem Glauben, dass ein Gewitter im Anzuge war, blickte ich zum Himmel auf, der war ruhig und klar. Ich stand still, um meinen Rock zuzuknöpfen und fragte mich, ob ich mich erkältet haben könnte oder ob ein Fieber im Anzuge war. Die Sonne versank hinter dem Horizonte des Moorlandes, das graue Zwielicht zitterte über den dunklen Wassern des Sees, ich kehrte zum Hause zurück und auch dahin begleitete mich die lebhafte Erinnerung an Frau van Brandt, als treue Gefährtin. Das Feuer in meinem Zimmer war während dessen niedergebrannt. Einer der geschlossenen Vorhänge war ein paar Zoll weit zurückgezogen, so dass ein Strahl des ersterbenden Lichts hindurchdringen konnte und an der Stelle, wo Licht und Finsternis sich schieden, sah ich Miss Dunroß im dunklen Teil des Zimmers sitzen. Sie hatte den Schleier herabgelassen und ihr Schreibzeug auf dem Schoß, so erwartete sie meine Rückkehr.

Ich entschuldigte mich und sagte ihr, dass ich aus Vorsorge dem Diener hinterlassen hätte, wo ich zu finden wäre; sie unterbrach mich aber sanft, so dass ich meinen Satz nicht vollenden konnte.

»Peter ist unschuldig«, sagte sie, »ich wünschte, dass er Sie nicht zu früh ins Hans zurückrufen möchte. Hat Ihr Spaziergang Ihnen gut getan?« Sie sprach sehr ruhig, die schwache, trübe Stimme war schwächer und trüber denn je. Während dieser Worte hielt sie ihren Kopf über das Schreibzeug gebeugt, statt wie sonst ihn mir während unseres Gesprächs zuzuwenden. Ich fühlte immer noch jenes geheimnisvolle Beben wie im Garten und zog meinen Stuhl nah an das Feuer, dessen Kohlen ich anzuschüren versuchte, um mich daran zu erwärmen. Dadurch war ein kleiner Zwischenraum zwischen unseren Plätzen im Zimmer. Ich konnte sie nur von der Seite sehen, wie sie in der schützenden Dunkelheit des vorgezogenen Vorhanges am Fenster saß.

»Ich fürchte, dass ich mich zu lange im Garten aufgehalten habe,« sagte ich, »mich durchrieselt die eisige Abendluft.«

»Soll mehr Holz auf das Feuer gelegt werden?« fragte sie. »Soll ich irgend etwas für Sie besorgen?«

» Nein, ich danke, ich bedarf nichts. Ich sehe, dass Sie die Güte haben wollen für mich zu schreiben.«

»Ja,« sagte sie, ,wenn Sie es wünschen; so wie Sie bereit sind, ist meine Feder es auch.«

Sie schien die ausgesprochene Rückhaltung, die zwischen uns entstanden war, seit wir uns zuletzt gesprochen hatten, ebenso schmerzlich zu empfinden als ich und hätten wir nur gewusst, wie es anzufangen war, so hätten wir sie gern durchbrochen. Jedenfalls musste das Briefschreiben uns beschäftigen. Wiederum versuchte ich meine Gedanken darauf zu richten und wiederum war der Versuch vergebens. Obgleich ich sehr gut wusste, was ich meiner Mutter zu sagen hatte, war es mir, so wie ich es aussprechen wollte, als fehlte mir die Fähigkeit dazu. Ich kauerte am Feuer und sie wartete mit ihrem Schreibzeuge auf dem Schoß.


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