Herr Lismore und die Witwe
I.
Vor mehreren Jahren wurde im Spätherbste unter der Leitung des Lordmayors im Mansionhouse in London eine öffentliche Versammlung abgehalten.
Die Rednerliste war mit Rücksicht auf zwei Gegenstände ausgewählt worden. Berühmtheiten, welche die allgemeine Begeisterung zu erregen verstanden, wurden durch Redner unterstützt, die mit dem Handel in Verbindung standen und in praktischer Weise nützlich sein konnten, indem sie den Zweck der Berufung dieser Versammlung näher erläuterten. Die geeignete Aufwendung von Geldern für die öffentliche Bekanntmachung der Versammlung hatte den gewohnten Erfolg: jeder Stuhl war besetzt, ehe noch die Verhandlung begann.
Unter den zuletzt Angekommenen, welche nur die Wahl hatten, zu stehen, oder den Saal wieder zu verlassen, befanden sich auch zwei Damen. Eine von ihnen entschied sich sogleich, wieder wegzugehen.
»Ich werde mich zu dem Wagen begeben«, sagte sie, »und an der Tür auf Sie warten.«
»Und ich werde Sie nicht lange warten lassen«, entgegnete ihre Freundin. »Er soll nach der Ankündigung den zweiten Beschluss zur Annahme empfehlen; ich möchte ihn gern sehen, das ist alles!«
Ein ältlicher Herr, der am Ende einer Bank saß, erhob sich und bot seinen Platz der zurückbleibenden Dame an. Sie zögerte, von seiner Güte Gebrauch zu machen, bis er ihr verriet, dass er ihre Unterredung mit ihrer Freundin angehört hätte. Bevor der dritte Punkt der Tagesordnung zur Erörterung gestellt werde, würde sein Sitz wieder zu seiner eigenen Verfügung sein. Sie dankte ihm und nahm ohne weitere Umstände Platz. Er war mit einem Opernglas versehen, welches er ihr wiederholt anbot, wenn berühmte Redner auftraten; sie machte aber keinen Gebrauch davon, bis ein Sprecher, der in der Stadt als Schiffseigner bekannt war, zur Unterstützung des zweiten Punktes sich erhob.
Sein Name war in der öffentlichen Anzeige angekündigt: Ernst Lismore.
In dem Augenblick, in welchem er sich erhob, bat die Dame um das Opernglas. Sie hielt es so lange Zeit und mit einem so augenscheinlichen Interesse für Lismore auf ihn gerichtet, dass die Neugier ihrer Nachbarinnen erregt wurde. Hatte er etwas zu sagen, woran eine Dame (offenbar eine ihm fremde) persönlich interessiert war? In seiner Anrede war nichts, was an die Begeisterung von Frauen appellierte. Er war unzweifelhaft ein schöner Mann, der ganzen Erscheinung nach in der Blüte des Lebens, vielleicht in der Mitte der Dreißig. Aber warum einer Dame es einfiel, das Opernglas während seiner ganzen Rede auf ihn gerichtet zu halten, war eine Frage, die den allgemeinen Scharfsinn in Verlegenheit um eine Antwort fand.
Indem die Dame das Glas mit einer Entschuldigung zurückgab, wandte sie sich mit einer Frage an dessen Eigentümer.
»Machte es Ihnen, mein Herr, den Eindruck, als ob Herr Lismore niedergeschlagen sei?«
»Ich kann dies nicht sagen, gnädige Frau!«
»Vielleicht bemerkten Sie aber, dass er die Rednerbühne sofort nach Beendigung seiner Rede verließ?«
Dass sie so ihr Interesse an dem Redner verriet, entging der Aufmerksamkeit einer Dame nicht, welche vor ihr saß.
Ehe der alte Herr antworten konnte, versetzte sie rasch: »Ich fürchte, Herr Lismore ist durch eine geschäftliche Angelegenheit beunruhigt; mein Mann hörte gestern in der Stadt erzählen, dass er ernstlich in Verlegenheit gesetzt sei durch den Bankrott...«
Ein lauter Ausbruch des Beifalls machte das Ende des Satzes unhörbar. Ein berühmter Parlamentsredner hatte sich erhoben, um den dritten Punkt der Tagesordnung zu besprechen. Der höfliche alte Herr nahm seinen Sitz wieder ein, und die Dame verließ den Saal, um sich zu ihrer Freundin zu gesellen.
»Nun, Frau Callender, hat Herr Lismore Sie in Ihren Erwartungen getäuscht?«
»Weit entfernt! Aber ich habe von einem Gerücht über ihn gehört, das mich beunruhigt: er soll in Geldangelegenheiten ernstlich in Verlegenheit sein. Wie kann ich seine Adresse in der Stadt ausfindig machen?«
Wir können bei dem ersten Buchhänderladen anhalten und im Adressbuche nachsehen lassen. Wollen Sie Herrn Lismore einen Besuch abstatten?«
»Ich will mirs überlegen.«