Die Frau in Weiß

Die Aussage von Advocat Vincent Gilmore in Chancery-Lane, London

I.

Ich schreibe diese Zeilen auf das Ersuchen meines Freundes, des Mr. Walter Hartright. Dieselben sollen von gewissen Ereignissen Act nehmen, welche ernstlichen Einfluß auf Miß Fairlie’s Interessen übten und bald nach Mr. Hartright’s Abreise von Limmeridge House stattfanden.

Ich brauche hier nicht anzugeben, ob meine eigene Ansicht die Enthüllung einer merkwürdigen Familiengeschichte billigt, von der meine Darstellung einen wichtigen Bestandtheil ausmacht. Mr. Hartright hat diese Verantwortung auf sich genommen, und die in den folgenden Blättern mitgetheilten Umstände werden zeigen, daß er sich hiezu ein Recht erworben, falls es ihm beliebt, dasselbe auszuüben. Sein Plan, diese Erzählung Anderen auf die wahrhafteste und lebendigste Weise mitzutheilen, verlangt, daß der Gang der Ereignisse in seinen verschiedenen Stadien von Personen erzählt werde, welche zur Zeit derselben unmittelbar mit ihnen in Verbindung standen. Mein Auftreten hier als Erzähler ist die nothwendige Folge solcher Anordnung. Ich war während Sir Percival Glyde’s Aufenthalt in Cumberland dort anwesend und hatte persönlichen Antheil an einem wichtigen Ergebnisse seines kurzen Aufenthaltes unter Mr. Fairlie’s Dache. Es ist daher meine Pflicht, der Kette der Begebenheiten diese neuen Glieder anzufügen und die Kette selbst an dem Punkte wieder aufzunehmen, wo Mr. Hartright sie – nur für jetzt – hat fallen lassen.

Ich kam an einem Freitage entweder zu Ende des Monats October oder Anfangs November – der genaue Zeitpunkt ist für meinen augenblicklichen Zweck ohne Wichtigkeit – in Limmeridge House an.

Mein Zweck war, bis zu Sir Percival Glyde’s Ankunft in Mr. Fairlie’s Hause zu bleiben. Falls dieselbe die Anberaumung des Tages zur Verbindung Sir Percivals mit Miß Fairlie zur Folge hatte, sollte ich die nöthigen Instructionen mit mir nach London zurücknehmen und mich mit Abfassung des Heiratscontractes der Dame beschäftigen.

Am Freitag genoß ich nicht die Ehre einer Unterredung mit Mr. Fairlie. Er war seit Jahren ein Invalide gewesen – oder hatte sich doch dafür gehalten – und war nicht wohl genug, um mich zu sehen. Miß Halcombe war das erste Mitglied der Familie, das ich sah, sie kam mir an der Hausthür entgegen und stellte mich dem Mr. Hartright vor, der sich seit einiger Zeit in Limmeridge aufhielt.

Ich sah Miß Fairlie erst bei Tische. Sie sah nicht wohl aus und es betrübte mich, dies zu sehen. Sie ist ein sanftes, liebenswerthes Mädchen, so freundlich und aufmerksam gegen Alle, die sie umgeben, wie ihre vortreffliche Mutter zu sein pflegte, obgleich sie im Aeußern ihrem Vater gleicht. Mrs. Fairlie hatte dunkles Haar und dunkle Augen, und ihre älteste Tochter, Miß Halcombe, erinnert mich sehr an sie. Miß Fairlie spielte uns Abends vor, doch nicht so gut wie gewöhnlich, wie mich dünkte, wir machten einen Rubber Whist – eine wahre Profanation jenes edlen Spieles. Mr. Hartright hatte, als wir einander zuerst vorgestellt wurden, einen günstigen Eindruck auf mich gemacht; aber ich machte bald die Entdeckung, daß er von den gesellschaftlichen Fehlern seines Alters nicht frei war. Es gibt drei Eigenschaften, welche den jungen Leuten der jetzigen Generation abgehen. Sie können nicht beim Weine sitzen, nicht Whist spielen und verstehen nicht, einer Dame ein Compliment zu sagen. Mr. Hartright bildete keine Ausnahme in dieser allgemeinen Regel. Sonst fiel er mir selbst in jenen ersten Tagen und nach so kurzer Bekanntschaft als ein höchst bescheidener und wohlgebildeter junger Mann auf.

So verging der Freitag. Ich sage Nichts von den ernsteren Angelegenheiten, die an jenem Tage meine Aufmerksamkeit beschäftigten, dem anonymen Briefe an Miß Fairlie, den Maßregeln, die ich für zweckmäßig erachtete, bis man mir die Sache mitgetheilt hatte, und von meiner Ueberzeugung, daß Sir Percival Glyde uns jede Aufklärung über die Umstände geben werde, die wir nur verlangen konnten, da Alles dies, wie ich höre, schon in der Erzählung mitgetheilt ist, welche der meinigen voraufgeht.

Am Sonnabend war Mr. Hartright bereits abgereist, ehe ich zum Frühstück herunter kam. Miß Fairlie blieb den ganzen Tag auf ihrem Zimmer und Miß Halcombe schien mir niedergeschlagen. Das Haus war nicht mehr, was es zu Mr. und Mrs. Philipp Fairlie’s Zeiten zu sein pflegte. Ich machte am Vormittag ganz allein einen Spaziergang und besah mir einige von den Stellen, die ich gesehen, als ich zum erstenmale vor mehr als dreißig Jahren Familiengeschäfte halber in Limmeridge war. Auch sie waren nicht mehr, wie sie zu sein pflegten.

Um zwei Uhr ließ Mr. Fairlie mir sagen, er sei wohl genug, um mich zu sehen. Er hatte sich jedenfalls nicht verändert, seitdem ich zuerst seine Bekanntschaft gemacht. Seine Unterhaltung hatte denselben Gegenstand wie früher: sich selbst und seine Leiden, seine seltenen Münzen und seine unvergleichlichen Rembrandt’schen Skizzen. Sowie ich von dem Geschäfte anfing, das mich in sein Haus geführt, schloß er die Augen und sagte, ich erschüttere seine Nerven. Doch blieb ich dabei, seine Nerven zu erschüttern, indem ich wiederholt zu dem Gegenstande zurückkehrte. Alles, was ich aus ihm herausbringen konnte, war, daß er die Heirat seiner Nichte als eine abgemachte Sache betrachte, daß ihr Vater dieselbe bestätigt, daß es eine wünschenswerthe Heirat und daß er sich glücklich schätzen werde, sobald die ganze Plackerei damit vorbei sei. Was den Contract betreffe, so wolle er, falls ich mich mit seiner Nichte berathen, dann so sehr es mir gefalle, meine Kenntnisse des Familienrechtes an den Tag legen, Alles bereit halten und seinen eigenen Antheil an dem Geschäfte als Vormund darauf beschränken wolle, daß er im rechten Augenblicke Ja sage – und er werde meinen Wünschen und den Wünschen Aller mit unendlichem Vergnügen entgegenkommen. Unterdessen – da sehe ich ihn, einen hilflosen Leidenden, der an sein Zimmer gefesselt sei. Ob ich denke, er sehe aus, als ob er geärgert werden müsse? Nein. Also wozu ihn da ärgern?

Ich wäre vielleicht etwas erstaunt darüber gewesen, Mr. Fairlie so wenig Werth auf seine Rechte als Vormund legen zu sehen, hätte meine Kenntniß der Familienangelegenheiten mich nicht daran erinnert, daß Mr. Fairlie ein unverheirateter Mann sei und nur den Nießbrauch von Limmeridge und den dazu gehörenden Einkünften hatte. Ich war deshalb über den Erfolg meiner Unterredung mit ihm weder erstaunt noch enttäuscht. Mr. Fairlie hatte eben meine Erwartungen gerechtfertigt, und damit endete die Sache.

Sonntag war ein trüber Tag, draußen sowohl als im Hause. Ich erhielt einen Brief von Sir Percival Glyde’s Advocaten, worin derselbe mir den Empfang meiner Abschrift des anonymen Briefes und meine beigelegten Angaben über die Sache ankündigte. Nachmittags gesellte Miß Fairlie sich zu uns; sie war bleich und niedergeschlagen und sich selbst völlig unähnlich. Ich unterhielt mich mit ihr und wagte, eine leichte Anspielung auf Sir Percival Glyde zu machen. Sie hörte mich an und sagte Nichts. Auf jeden anderen Gegenstand ging sie bereitwillig ein, diesen aber ließ sie fallen. Es kam mir ein Zweifel, ob sie nicht etwa ihre Verlobung bereue – wie die jungen Damen es oft machen, wenn die Reue zu spät kommt.

Am Montag kam Sir Percival Glyde an. Er erschien mir, seinem Aeußern und seinen Manieren nach, als ein sehr einnehmender Mann. Er sah etwas älter aus, als ich erwartet hatte, er war ein wenig kahl über der Stirn, und sein Gesicht war ziemlich scharf markirt und abgezehrt. Aber seine Bewegungen waren so gewandt und seine Laune so heiter, wie die eines jungen Mannes. Sein Benehmen gegen Miß Halcombe war im höchsten Grade herzlich und natürlich, und mich empfing er, als ich ihm vorgestellt wurde, mit solcher Freundlichkeit und Unbefangenheit, daß wir uns bald wie alte Bekannte unterhielten. Miß Fairlie war nicht bei uns, als er ankam, doch trat sie etwa zehn Minuten später in’s Zimmer. Sir Percival stand auf und begrüßte sie mit Würde. Er sprach sein augenscheinliches Bedauern über das veränderte Aussehen der jungen Dame mit einer Mischung von Zärtlichkeit und Hochachtung, mit einer anspruchslosen Zartheit der Stimme und der Manier aus, die sowohl seiner feinen Bildung wie seinem Herzen Ehre machten. Ich war daher erstaunt zu sehen, daß Miß Fairlie in seiner Gegenwart befangen und gedrückt blieb und die erste Gelegenheit ergriff, das Zimmer wieder zu verlassen. Sir Percival beachtete weder den gezwungenen Empfang, den sie ihm zu Theil werden ließ, noch ihr plötzliches Verschwinden aus unserer Gesellschaft. Er hatte ihr seine Aufmerksamkeiten nicht aufgedrungen, während sie anwesend war, und verwirrte Miß Halcombe nicht durch Anspielungen auf ihr Fortgehen, nachdem sie uns verlassen. Er machte weder bei dieser noch irgend einer anderen Gelegenheit einen Verstoß gegen Takt oder Geschmack, solange ich in Limmeridge House in seiner Gesellschaft war.

Sobald Miß Fairlie das Zimmer verlassen, ersparte er uns alle Verlegenheit in Bezug auf den anonymen Brief, indem er von selbst den Gegenstand zur Sprache brachte. Er hatte sich auf seinem Wege von Hampshire in London aufgehalten, hatte seinen Advocaten gesprochen, die ihm von mir zugesandten Documente gelesen und dann seine Reise nach Cumberland fortgesetzt, um uns durch die schnellste, vollständigste Erklärung, welche Worte geben konnten, zu beruhigen. Da ich ihn so sprechen hörte, bot ich ihm das Original des Briefes an, welches ich für seine Durchsicht aufbewahrt hatte. Er dankte mir, schlug es jedoch aus, ihn zu lesen, indem er sagte, er habe die Abschrift gesehen und sei es wohl zufrieden, daß das Original in unseren Händen bleibe.

Er schritt dann sofort zur Erklärung der Sache, die so einfach und befriedigend war, wie ich es von vornherein erwartet hatte.

Mrs. Catherick, unterrichtete er uns, hatte ihm durch treue Dienste, die sie in früheren Jahren ihm und seiner Familie geleistet, einige Verpflichtungen auferlegt. Sie hatte ein zweifaches Unglück gehabt, indem sie einen Mann geheiratet, der sie bald verlassen, und eine einzige Tochter hatte, deren geistige Fähigkeiten schon von einem zarten Alter an gestört waren. Obgleich sie wegen ihrer Heirat nach einem Theile von Hampshire gezogen, der von Sir Percivals Gütern ziemlich entlegen war, so hatte er doch Sorge getragen, sie nicht aus dem Gesichte zu verlieren, denn das Wohlwollen, welches er in Rücksicht auf frühere Dienste für die arme Frau hegte, war noch vermehrt worden durch seine Bewunderung für die Geduld und Festigkeit, mit der sie ihre Leiden ertrug. Im Verlaufe der Zeit nahmen die Symptome geistiger Zerrüttung in ihrer unglücklichen Tochter in dem Grade zu, daß es nothwendig wurde, sie unter geeignete ärztliche Obhut zu stellen. Mrs. Catherick selbst erkannte diese Notwendigkeit an; doch war sie sich zu gleicher Zeit des Vorurtheils bewußt, das Leute ihres achtbaren Standes dagegen gefühlt haben würden, falls sie ihre Tochter als eine Hilfsbedürftige in eine öffentliche Irrenanstalt brächte. Sir Percival hatte dieses Vorurtheil geachtet, wie er überhaupt ehrenhafte Unabhängigkeit in jeder Gesellschaftsclasse achtete, und er hatte beschlossen, als dankbare Anerkennung für Mrs. Catherick’s Anhänglichkeit an die Interessen seines Hauses, die Kosten für die Aufnahme ihrer Tochter in einer zuverlässigen Privat-Irrenanstalt zu bestreiten. Zum Bedauern ihrer Mutter sowohl, als zu seinem eigenen, hatte das unglückliche Mädchen den Antheil entdeckt, den er an den Umständen gehabt, durch welche sie unter Zwang gebracht worden, und in Folge dessen einen tiefen Haß und Argwohn gegen ihn gefaßt. Diesem Hasse, der sich in der Anstalt auf verschiedene Weise kund gethan, war offenbar jener nach ihrem Entweichen geschriebene anonyme Brief zuzuschreiben. Falls Miß Halcombe’s oder Mr. Gilmore’s Kenntniß von dem Briefe diese Ansicht nicht bestätigten, oder falls sie noch ferner Einzelheiten über das Institut wünschten (dessen Adresse er erwähnte, ebenso wie die Namen und Adressen der beiden Aerzte, auf deren Certificat die Kranke in der Anstalt aufgenommen worden), so sei er bereit, jede Frage zu beantworten und sie in jeder Ungewißheit aufzuklären. Er habe an dem jungen Frauenzimmer seine Pflicht gethan, indem er seinem Geschäftsführer aufgetragen, keine Kosten zu scheuen, um sie wieder aufzufinden und der ärztlichen Sorgfalt zurückzugeben, und er wünsche jetzt nur noch, auf dieselbe einfache und offene Weise seine Pflicht auch an Miß Fairlie und ihrer Familie zu thun.

Ich war der Erste, der auf diese Aufforderung etwas erwiderte. Mein eigenes Verfahren war mir klar. Es ist das Vortreffliche an dem Gesetze, daß dasselbe jede menschliche Angabe bestreiten kann, unter welchen Umständen und in welcher Form sie auch gemacht sei. Hätte ich mich amtsmäßig berufen gefühlt, auf Sir Percival Glyde’s Erklärungen einen Rechtsfall gegen ihn zu bauen, so wäre mir dies ein Leichtes gewesen. Doch meine Pflicht lag nicht in dieser Richtung: sie war eine einfach richterliche. Ich sollte die Erklärung, die wir soeben gehört hatten, erwägen, dem guten Rufe des Herrn, der sie uns geliefert, volles Gewicht lassen und redlich entscheiden, ob die Wahrscheinlichkeit nach Sir Percivals Beweisen klar für ihn oder klar wider ihn spreche. Meine eigene Ueberzeugung war für Ersteres, und ich erklärte demgemäß, daß seine Erklärung meiner Ansicht nach eine befriedigende sei.

Miß Halcombe sagte ihrerseits, nachdem sie mich sehr ernst angesehen, ein paar Worte von derselben Bedeutung – doch mit einem gewissen Zögern, welches mir durch die Umstände nicht gerechtfertigt schien. Ich kann nicht bestimmt sagen, ob Sir Percival dies bemerkte oder nicht. Meiner Meinung nach bemerkte er es, denn er nahm den Gegenstand noch einmal auf, obgleich er ihn jetzt mit vollkommener Schicklichkeit hätte fallen lassen können.

»Wäre meine einfache Angabe der Thatsachen nur an Mr. Gilmore gerichtet gewesen,« sagte er, »so würde ich es für unnöthig erachten, noch ferner auf diesen unangenehmen Gegenstand zurückzukommen. Ich darf von Mr. Gilmore als einem Ehrenmanne wohl erwarten, daß er mir auf mein Wort glauben wird und sobald er mir diese Gerechtigkeit hat widerfahren lassen, so ist jede fernere Erörterung über die Sache zwischen uns zu Ende. Doch ist meine Lage einer Dame gegenüber nicht dieselbe. Ich schulde ihr, was ich keinem lebenden Manne einräumen würde – einen Beweis von der Wahrheit meiner Angaben. Sie können diesen Beweis fordern, Miß Halcombe, und ich bin es Ihnen, noch mehr aber Miß Fairlie schuldig, denselben anzubieten. Dürfte ich Sie bitten, sogleich an die Mutter jenes unglücklichen Mädchens, an Mrs. Catherick, zu schreiben und sie um ihr Zeugniß für die Erklärung zu bitten, die ich Ihnen soeben gegeben habe.«

Ich sah, wie Miß Halcombe die Farbe wechselte und ein wenig unruhig wurde. Sir Percivals Vorschlag, so höflich derselbe auch gemacht worden, schien ihr sowohl wie mir sehr zart auf die Zögerung hinzudeuten, die sich vor wenigen Augenblicken in ihrem Wesen verrathen hatte.

»Ich hoffe, Sir Percival,« sagte sie schnell, »daß Sie mir nicht die Ungerechtigkeit anthun, zu glauben, daß ich an der Wahrheit Ihrer Worte zweifle.«

»Ganz gewiß nicht, Miß Halcombe. Ich mache den Vorschlag rein als einen Act der Aufmerksamkeit gegen Sie. Wollen Sie meine Hartnäckigkeit entschuldigen, wenn ich noch einmal darauf zu dringen wage?«

Er ging an den Schreibtisch, während er sprach, rückte einen Stuhl heran und öffnete die Schreibmappe.

»Ich bitte Sie sehr, den Brief zu schreiben,« sagte er, »erzeigen Sie mir diese Gunst. Es braucht Sie nur wenige Minuten zu beschäftigen; Sie haben Mrs. Catherick nur zwei Fragen vorzulegen, einmal, ob ihre Tochter mit ihrer Kenntniß und Bewilligung in die Anstalt gebracht wurde, und zweitens, ob der Antheil, den ich an der Sache hatte, derart war, daß er den Ausdruck der Dankbarkeit von ihrer Seite verdient hätte. Mr. Gilmore ist über diese unangenehme Angelegenheit beruhigt; Sie sind beruhigt – bitte, beruhigen Sie nun auch mich, indem Sie den Brief schreiben.«

»Sie nöthigen mich, Ihrem Wunsche zu willfahren, Sir Percival, während ich Ihnen denselben doch weit lieber versagen möchte.« Mit diesen Worten verließ Miß Halcombe ihren Platz und ging an den Schreibtisch. Sir Percival dankte ihr, reichte ihr eine Feder und trat dann an den Kamin. Miß Fairlie’s kleines Windspiel lag auf dem Kaminteppich. Er hielt ihm die Hand hin und rief den Hund gutmüthig zu sich.

»Komm, Nina,« sagte er, »wir kennen einander, wie?«

Das kleine Thier, das, wie die meisten Schoßhunde, feige und mürrisch war, sah scharf zu ihm hinauf, zog sich vor seiner ausgestreckten Hand zurück, winselte, zitterte und kroch unter das Sopha. Es war kaum möglich, daß ihn eine solche Kleinigkeit hätte verdrießen sollen – aber ich bemerkte dennoch, daß er sich sehr plötzlich zum Fenster wandte.

Miß Halcombe brauchte nicht viel Zeit zu ihrem Briefe. Als sie ihn beendet, stand sie vom Schreibtische auf und reichte Sir Percival das offene Blatt Papier. Er verbeugte sich, nahm dasselbe, legte es zusammen, ohne den Inhalt anzusehen, versiegelte es, schrieb die Adresse und gab es ihr dann schweigend zurück. Das Ganze geschah mit einer Anmuth und Würde, wie ich sie in meinem Leben nicht einnehmender gesehen.

»Sie bestehen darauf, daß ich diesen Brief auf die Post gebe, Sir Percival?« sagte Miß Halcombe.

»Ich bitte darum,« entgegnete er. »Und jetzt, da er geschrieben und versiegelt ist, gestatten Sie mir ein paar letzte Fragen über das unglückliche Frauenzimmer, das er betrifft. Ich habe die Mittheilung gelesen, welche Mr. Gilmore die Güte hatte, meinem Advocaten zu machen und welche die Umstände beschrieben, unter welchen die Verfasserin des anonymen Briefes indentificirt wurde. Doch sind da gewisse Punkte, welche in der Mittheilung nicht berührt werden. Hat Anna Catherick Miß Fairlie gesehen?«

»Gewiß nicht,« entgegnete Miß Halcombe.

»Hat sie Sie gesehen?«

»Nein!«

»Dann also sah sie Niemanden aus dem Hause außer einem gewissen Mr. Hartright, der ihr zufällig auf dem Gottesacker begegnete?«

»Weiter Niemand.«

»Mr. Hartright war in Limmeridge als Zeichenlehrer beschäftigt, wie ich glaube? Ist er ein Mitglied eines der Aquarellistenvereine?«

»Ich glaube, ja,« entgegnete Miß Halcombe. Er hielt einen Augenblick inne, wie wenn er ihre letzte Antwort erwäge, und fügte dann hinzu:

»Erfuhren Sie, wo Anna Catherick während ihres Aufenthaltes in dieser Nachbarschaft wohnte?«

»Ja. Auf einem Gehöfte in der Haide, Todd’s Ecke genannt.«

»Wir sind es Alle diesem armen Geschöpfe schuldig, ihr nachzuforschen,« fuhr Sir Percival fort. »Sie hat vielleicht in Todd’s Ecke etwas gesagt, das uns helfen mag, sie wiederzufinden. Auf die Möglichkeit hin will ich hingehen und Nachfragen anstellen. Unterdessen, da ich es nicht über mich vermag, über diesen peinlichen Gegenstand mit Miß Fairlie zu sprechen, möchte ich Sie bitten, Miß Halcombe, ihr den nöthigen Aufschluß darüber zu geben, natürlich aber erst, wenn Sie Antwort auf jenen Brief erhalten haben werden.«

Miß Halcombe versprach ihm, seinen Wunsch zu erfüllen. Er dankte ihr, nickte uns freundlich zu und verließ uns, um von seinem Zimmer Besitz zu nehmen. Als er die Thür öffnete, steckte das mürrische Windspiel seine spitze Schnauze unter dem Sopha hervor und knurrte und bellte ihm nach.

»Eine gute Morgenarbeit, Miß Halcombe,« sagte ich, sobald wir allein waren. »Ein sorgenvoller Tag hat bereits gut geendet.«

»Ja,« erwiderte sie, »ohne Zweifel. Ich bin sehr froh, daß Sie befriedigt sind.«

»Ich! Nun, mit jenem Briefe in der Hand sind Sie es gewiß doch auch?«

»O, ja – wie könnte es anders sein? Ich weiß, es konnte nicht sein,« fuhr sie mehr zu sich selbst als zu mir sprechend fort; »aber ich wollte, Walter Hartright wäre lange genug hier geblieben, um bei der Erklärung gegenwärtig zu sein und den Vorschlag zu hören, auf den hin ich diesen Brief schrieb.«

Ich war ein wenig verdrossen, vielleicht gar gereizt über diese letzten Worte.

»Die Begebenheiten brachten allerdings Mr. Hartright auf sehr bemerkenswerthe Weise mit der Geschichte des Briefes in Verbindung,« sagte ich, »und ich gebe bereitwillig zu, daß, Alles wohl bedacht, er sich mit vielem Zartgefühl und großer Discretion benommen. Aber ich begreife durchaus nicht, inwiefern seine Gegenwart einen nützlichen Einfluß in Bezug auf den Eindruck ausgeübt hätte, den Sir Percivals Erklärung auf Sie und mich gemacht.«

»Es war nur eine Idee,« sagte sie zerstreut. »Es ist unnöthig, noch weiter darüber zu sprechen, Mr. Gilmore. Ihre Erfahrung ist der beste Führer, den ich mir wünschen könnte.

Es gefiel mir nicht besonders, daß sie so entschieden die ganze Verantwortung auf mich lud; die entschlossene, klarsehende Miß Halcombe war die letzte Person, von welcher ich erwartet hätte, daß sie den Ausdruck ihrer eigenen Meinung umgehen würde.

»Falls Sie noch irgendwie durch Zweifel beunruhigt sind,« sagte ich, »warum theilen Sie mir solche nicht sogleich mit? Sagen Sie nur aufrichtig, haben Sie irgend welche Gründe, Sir Percival zu mißtrauen?«

»Durchaus gar keine.«

»Sehen Sie irgend etwas Unwahrscheinliches oder Widersprechendes in seiner Erklärung?«

»Wie kann ich das nach dem Beweise, den er mir von der Wahrheit gegeben? Gibt es ein Zeugniß, das mehr zu seinen Gunsten sprechen könnte, als das Zeugniß der Mutter des Mädchens, Mr. Gilmore?«

»Es gibt kein besseres. Falls die Antwort auf ihre Nachfrage befriedigend ausfällt, so sehe ich meinestheils nicht, was ein Freund Sir Percivals noch ferner von ihm verlangen kann.«

»Dann wollen wir den Brief abschicken,« sagte sie, indem sie aufstand, um das Zimmer zu verlassen, »und die Sache ruhen lassen, bis die Antwort kommt.«

Sie verließ mich schnell. Ich hatte sie seit ihrer frühesten Kindheit gekannt, und als sie heranwuchs, hatte ich sie von mehr als einer schweren Familienkrisis geprüft gesehen, und meine lange Erfahrung ließ mich ihrer Zögerung unter den hier erzählten Umständen eine Wichtigkeit beilegen, welche ich sicherlich nicht gefühlt hätte, wäre sie irgend ein anderes Weib gewesen. In meiner Jugend hätte mich die Aufregung meines unklaren Gemütszustandes geärgert und ungeduldig gemacht. In meinem Alter war ich klüger und ging hinaus, um ihn mir durch einen Spaziergang zu vertreiben.


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