Die Frau in Weiß

Fortsetzung der Aussage Walter Hartrights

VII.

Bis hierher war die Auskunft, welche ich von Mrs. Clements erhielt– obgleich sie Facta feststellte, die mir bisher unbekannt geblieben –– von blos einleitender Art.

Es war klar, daß die Reihe von Betrügereien, welche Anna Catherick nach London geführt und dort von Mrs. Clements getrennt hatten, einzig und allein vom Grafen und der Gräfin Fosco ausgeübt worden, und die Frage, ob das Betragen dieser Beiden in irgend einem Punkte der Art gewesen, um sie innerhalb des Bereiches der Gesetze zu bringen, verdient wohl unsere künftige Beachtung. Das Ziel jedoch, das ich zuvörderst im Auge hatte, führte mich in eine andere Richtung. Der unmittelbare Zweck meines Besuches bei Mrs. Clements war, wenigstens den Versuch zu machen, Sir Percival’s Geheimnisse auf die Spur zu kommen, und sie hatte bisher noch Nichts gesagt, das mich auf meinem Pfade diesem Ende zu nur um einen Schritt weiter gebracht hätte. Ich fühlte die Nothwendigkeit, zu versuchen, ob ich nicht ihre Erinnerungen an andere Zeiten, Personen und Ereignisse, als die, bei denen ihre Gedanken bisher verweilt, erwecken könne, und meine nächsten Worte zielten indirect hierauf hin.

»Ich wollte, ich könnte Ihnen in dieser Trübsal irgendwie von Nutzen sein,« sagte ich; »doch kann ich Nichts weiter für Sie thun, als herzlichen Antheil an Ihrem Kummer nehmen. Wäre Anna Ihr eignes Kind gewesen, Mrs. Clements, so hätten Sie ihr kaum bereitwilligere Opfer bringen können.«

»Darin ist kein großes Verdienst für mich, Sir,« sagte Mrs. Clements einfach. »Das arme Mädchen war so gut wie mein eigen Kind für mich. Ich nährte es fast von ihrer Geburt an, Sir, und es war schwer genug, es aufzubringen. Ihr Verlust würde mir vielleicht nicht so zu Herzen gehen, hätte ich nicht ihre ersten kurzen Kleidchen für sie gemacht und sie laufen gelehrt. Ich pflegte immer zu sagen, daß der liebe Herrgott sie mir geschickt, weil ich selbst nie ein Kleines hatte. Und jetzt, da ich sie verloren habe, kehren die alten Zeiten meinem Gedächtnisse zurück, und selbst in meinem Alter kann ich mich nicht enthalten, um sie zu weinen, Sir – gewiß, ich kann nicht anders!«

Ich wartete ein wenig, um Mrs. Clements Zeit zu gönnen, sich wieder zu beruhigen. Schimmerte vielleicht das Licht, nach dem ich so lange gesucht, aus dämmernder Ferne her jetzt in der guten alten Frau Erinnerungen von Anna’s Kindheit?

»Kannten Sie Mrs. Catherick, ehe Anna geboren war?« frug ich.

»Nicht sehr lange, Sir – nicht über vier Monate. Wir kamen zu der Zeit sehr viel zusammen, aber wir waren nie sehr vertraut mit einander.«

Ihre Stimme wurde wieder fester, als sie diese Antwort machte. So schmerzlich auch manche ihrer Erinnerungen sein mochten, so bemerkte ich doch, daß es ihr eine Erleichterung war, von dem lebendigen Kummer der Gegenwart zu den halbvergessenen Trübsalen der Vergangenheit überzugehen

»Waren Sie und Mrs. Catherick Nachbarinnen?« frug ich, indem ich ihr Gedächtniß zu ermuntern suchte.

»Ja, Sir, wir waren Nachbarinnen in Alt-Welmingham.«

»Alt-Welmingham? Dann giebt es also in Hampshire zwei Orte dieses Namens?«

»Nun ja, Sir, damals – vor mehr als dreiundzwanzig Jahren. Sie bauten ungefähr zwei Meilen davon eine neue Stadt dicht am Flusse – und Alt-Welmingham, das nie viel mehr als ein Dorf war, wurde allmälich verlassen. Die neue Stadt ist der Ort, den sie jetzt Welmingham nennen, aber die alte Pfarrkirche ist noch jetzt die Pfarrkirche. Sie steht allein, indem die Häuser um sie her alle entweder niedergerissen oder von selbst verfallen sind. Ich habe in meinem Leben traurige Veränderungen gesehen. Es war zu meiner Zeit ein freundlicher, hübscher Ort.«

»Wohnten Sie dort vor Ihrer Heirath, Mrs. Clements?«

»Nein, Sir, ich bin aus Norfolk, und mein Mann gehörte auch nicht zu dem Orte. Er war aus Grimsby, wie ich Ihnen schon sagte, und brachte dort seine Lehrjahre zu. Da er aber im Süden Bekannte hatte und durch sie von einer Vacanz hörte, etablirte er sich in Southampton. Es war nur ein kleines Geschäft; aber er machte doch genug dabei, um sich mit bescheidenen Ansprüchen zurückzuziehen, und ließ sich dann in Alt Welmingham nieder. Ich ging mit ihm dorthin, als er mich heirathete. Wir waren Beide nicht mehr jung; aber wir lebten sehr glücklich miteinander – glücklicher, als unser Nachbar, Mr. Catherick, mit seiner Frau lebte, als sie ungefähr anderthalb Jahre später nach Welmingham kamen.«

»War Ihr Mann schon vorher mit Diesen bekannt gewesen?«

»Mit Catherick, ja, Sir – aber nicht mit seiner Frau. Sie war uns Beiden fremd. Ein Herr hatte sich für Catherick verwendet, so daß er die Stelle als Küster an der Pfarrkirche zu Welmingham erhielt, und das war der Grund, weshalb er sich in unserer Nachbarschaft eine Wohnung nahm. Er brachte seine junge Frau mit, und wir hörten später, sie sei Kammerjungfer gewesen in einer Familie, die zu Varneck Hall bei Southampton wohnte. Es hatte Catherick Künste genug gekostet, ehe er sie überreden konnte, ihn zu heirathen – weil sie sich so außerordentlich vornehm hielt. Er hatte zu wiederholten Malen immer wieder und wieder um sie angehalten und endlich, da er sah, daß sie so widerspenstig war, die Sache aufgegeben. Da aber drehte sie sich mit einem Male nach der andern Seite und kam, anscheinend ohne Grund oder Ursache, ganz von selbst. Mein lieber Mann pflegte zu sagen, daß es jetzt an der Zeit gewesen wäre, ihr eine Lehre zu geben. Aber Catherick war zu sehr vernarrt in sie, um so Etwas zu thun; er trat ihr nie in irgend Etwas entgegen, weder vor der Heirath noch nachher. Er war ein leidenschaftlicher Mann und ließ sich oft von seinen Gefühlen fortreißen – bald auf die eine und bald auf die andere Art; er hätte eine bessere Frau verdorben, als Mrs. Catherick, falls eine bessere ihn geheirathet hätte. Ich spreche nicht gern Böses von anderen Leuten, Sir; aber sie war ein herzloses Weib mit einem furchtbaren Eigenwillen; sie liebte flatterhafte Bewunderung und Putz und bemühte sich nicht, ihrem Manne, der sie immer so gütig behandelte, auch nur äußerlichen Respekt zu bezeigen. Mein Mann sagte gleich, als sie zuerst in unsere Nachbarschaft kamen, daß die Sache ein schlechtes Ende nehmen werde, und seine Worte wurden wahr. Ehe sie sich noch vier Monate am Orte aufgehalten, gab es einen schrecklichen Skandal und ein unglückliches Auseinandergehen. Es hatten Beide Schuld – ich fürchte, es hatten Beide Schuld.«

»Sie meinen, der Mann sowohl wie die Frau hatte Schuld?«

»O nein, Sir! Catherick meine ich. nicht – ihn konnte man nur bemitleiden – ich meine seine Frau und den –«

»Und Den, welcher den Skandal verursachte?«

»Ja, Sir. Er war von Geburt und Erziehung ein Gentleman und hätte ein besseres Beispiel geben sollen. Sie kennen ihn, Sir – und meine arme, liebe Anna kannte ihn nur zu wohl.«

»Sir Percival Glyde?««

»Ja, Sir Percival Glyde.«

Mein Herz pochte heftig – ich glaubte, meine Hand halte den Schlüssel. Wie wenig ahnte ich damals von den labyrinthischen Krümmungen, welche mich noch irre leiten sollten!

»Wohnte Sir Percival damals in Ihrer Nachbarschaft?« frug ich sie.

»Nein, Sir. Er kam als Fremder zu uns. Sein Vater war nicht lange vorher im Auslande gestorben. Ich erinnere mich, daß er in Trauer war. Er quartirte sich in dem kleinen Wirthshause am Flusse ein (es ist seit der Zeit niedergerissen worden), wo die Herren zum Angeln zu kommen pflegten. Es wurde nicht besonders bemerkt, als er zuerst hinkam: es war etwas ganz Gewöhnliches, daß die Herren aus allen Theilen von England hinkamen, um in unserem Flusse zu angeln.«

»Kam er vor Anna’s Geburt in’s Dorf?«

»Ja, Sir. Anna wurde im Monat Juni Achtzehnhundertsiebenundzwanzig geboren, und er kam, glaube ich, zu Ende April oder Anfangs Mai.«

»Als Fremder für Alle? Für Mrs. Catherick sowohl, als für die übrigen Nachbarn?«

»Das glaubte man zu Anfang, Sir. Als aber der Skandal ausbrach, glaubte kein Mensch mehr, daß sie einander fremd gewesen. Ich erinnere mich wohl, wie es Alles kam, als ob es erst gestern gewesen wäre. Catherick kam einmal spät in der Nacht in unsern Garten und weckte uns, indem er eine Handvoll Kies an unsere Fenster warf. Ich hörte ihn meinen Mann ›um Gotteswillen‹ bitten, herunter zu kommen, er habe mit ihm zu sprechen. Sie unterhielten sich dann eine lange Weile unten im Vorhäuschen. Als mein Mann wieder heraufkam, zitterte er am ganzen Leibe. Er setzte sich auf den Rand des Bettes und sagte: ›Lizzie, ich habe Dir’s immer gesagt, daß das Weib ein schlimmes Weib ist, und daß sie einmal ein schlechtes Ende nehmen würde – und ich fürchte, das Ende ist bereits gekommen. Catherick hat ’ne Menge Spitzentaschentücher, zwei kostbare Ringe und eine neue goldene Uhr mit Kette in der Schublade seiner Frau versteckt gefunden – Sachen, die nur eine ganz vornehme Dame tragen kann – und seine Frau will ihm nicht sagen, wie sie dazu gekommen ist.‹ ›Glaubt er, daß sie sie gestohlen hat?‹ fragte ich. ›Nein,‹ sagte er, ›das wäre schon schlimm genug. Aber die Sache ist noch schlimmer – sie hat keine Gelegenheit gehabt, um solche Sachen zu stehlen, und wenn sie sie gehabt hätte, so ist sie doch nicht die Frau danach. Es sind Geschenke, Lizzie – ihre eigenen Anfangsbuchstaben sind inwendig in die Uhr eingravirt – und Catherick hat sie mit jenem Herrn in Trauer, Sir Percival Glyde, sprechen und umgehen sehen, wie sich’s für keine verheirathete Frau paßt. Sage Du Nichts davon; ich habe Catherick für heute Abend beruhigt. Ich habe ihm gerathen, die Sache für sich und seine Augen und Ohren auf ein paar Tage offen zu halten, bis er sich fest überzeugt hat.‹ ›Ich glaube, Ihr seid alle Beide im Irrthume,‹ sagte ich; ›es ist nicht anzunehmen, daß Mrs. Catherick, die hier eine angenehme und geachtete Stellung einnimmt, sich mit einem hergelaufenen Fremden wie Sir Percival Glyde einlassen sollte.‹ ›Ja wohl, aber ist er auch ein Fremder für sie?‹ sagte mein Mann. ›Du vergißt, wie Mrs. Catherick sich endlich dazu herabließ, ihn zu heirathen. Sie kam von selbst zu ihm, nachdem sie ihm ein Mal über das andere Nein gesagt hatte, da er sich um sie beworben. Es hat schon vor ihr schlechte Weiber gegeben, Lizzie, die redliche Männer, welche sie liebten, dazu gebraucht haben, ihren Ruf zu retten … und ich fürchte sehr, diese Mrs. Catherick ist so schlimm, wie die schlechteste unter ihnen. Wir werden sehen,‹ sagte mein Mann, ›wir werden es bald sehen.‹ Und kaum zwei Tage später sahen wir es allerdings.«

Mrs. Clements wartete einen Augenblick, ehe sie fortfuhr. Selbst in diesem Augenblicke begann ich zu zweifeln, ob der Schlüssel, den ich schon gefunden zu haben geglaubt, mich auch wirklich dem Geheimnisse näher brachte, das im Mittelpunkte des ganzen Labyrinthes lag. War diese gewöhnliche, zu gewöhnliche Geschichte von der Treulosigkeit eines Mannes und der Schwäche eines Weibes der Schlüssel zu einem Geheimnisse, welches der lebenslange Schrecken von Sir Percival Glyde gewesen?

»Nun, Sir, Catherick befolgte meines Mannes Rath und wartete,« fuhr Mrs. Clements fort. »Und wie gesagt er hatte nicht lange zu warten. Am zweiten Tage fand er seine Frau und Sir Percival dicht unter der Sacristei der Kirche, wo sie ganz vertraulich zusammen flüsterten. Vermuthlich dachten sie, daß die Nachbarschaft von der Kirche die allerletzte Stelle in der Welt sei, wo man sie suchen würde – wie dem aber auch sei, jedenfalls waren sie dort. Sir Percival vertheidigte sich in seiner Ueberraschung und Verwirrung auf eine so schuldbewußte Weise, daß der arme Catherick (von dessen heftigem Temperament ich Ihnen bereits gesagt habe) über seine Schande in eine wahre Raserei gerieth und Sir Percival schlug. Doch war er dem Manne, der sich so schwer an ihm vergangen, leider nicht gewachsen, und er wurde auf das Grausamste von ihm zerschlagen, ehe die Nachbarn, welche der Lärm herbeigerufen, sie trennen konnten. Alles Dies trug sich gegen Abend zu, und noch vor Einbruche der Nacht, als mein Mann nach seinem Hause ging, war er auf und davon gegangen, und kein Mensch wußte wohin. Keine lebende Seele im ganzen Dorfe hat ihn jemals wieder gesehen. Catherick wußte jetzt nur zu gut, aus welcher abscheulichen Ursache seine Frau ihn geheirathet, und fühlte, namentlich nach Dem, was sich zwischen ihm und Sir Percival zugetragen, seine Schande und sein Elend zu tief. Der Pfarrer des Ortes ließ eine Anzeige in die Zeitung setzen, worin er ihn bat zurückzukehren und ihm versprach, daß er weder seine Stelle, noch seine Beschützer verlieren solle. Aber Catherick hatte zu viel Stolz, wie einige Leute sagten – mir aber scheint, er hatte zu viel Gefühl, Sir – um sich wieder vor seinen Nachbarn sehen zu lassen und zu versuchen, durch seine eigene Lebensweise seine Schande vergessen zu machen. Er schrieb an meinen Mann, ehe er England verließ, und dann noch einmal, als er sich in Amerika niedergelassen hatte, wo es ihm recht gut ging. Und dort lebt er noch jetzt, so viel ich weiß; und es ist nicht wahrscheinlich, daß irgend Jemand von uns hier im alten Lande – am allerwenigsten aber sein böses Weib – ihn jemals mit Augen wiedersehen wird.«

»Was wurde aus Sir Percival?« frug ich. »Blieb er in der Umgegend?«

»O nein, Sir. Der Ort war ihm zu heiß geworden. Man hörte ihn an demselben Abende, wo der Skandal ausbrach, im lauten Wortstreite mit Mrs. Catherick, und am nächsten Morgen verließ er den Ort.«

»Und Mrs. Catherick? Sie blieb doch nimmer in dem Dorfe und unter den Leuten, denen ihre Schande bekannt war?«

»Doch, Sir, sie blieb. Sie war hart und fühllos genug, um der Meinung all ihrer Nachbarn zu trotzen. Sie hatte Jedem vom Pfarrer an erklärt, sie sei das Opfer eines furchtbaren Irrthums, und daß alle Klatschschwestern des Dorfes nicht im Stande sein sollten, sie aus demselben zu vertreiben, wie wenn sie ein schuldiges Weib wäre, Während der ganzen Zeit, daß ich in Alt Welmingham wohnte, blieb sie dort, und, als man anfing, die neue Stadt zu bauen und die meisten Leute dorthin zogen, zog sie ebenfalls dorthin, als ob sie entschlossen sei, bis zum Ende unter ihnen und ihnen ein Aergerniß zu bleiben. Dort lebt sie noch jetzt, und dort wird sie den Besten zum Trotze bis zu ihrem Sterbetage bleiben.«

»Aber wovon hat sie sich während all dieser Jahre erhalten?« frug ich. »War ihr Mann im Stande und bereit, sie zu ernähren?«

»Beides, sowohl im Stande als bereit, Sir,« sagte Mrs. Clements. »In seinem zweiten Briefe an meinen lieben Mann sagte er, sie habe seinen Namen getragen und unter seinem Dache gelebt, und so schlecht sie auch sei, solle sie doch nicht wie eine Bettlerin auf der Straße verhungern. Er sei in der Lage, ihr eine kleine Pension auszusetzen, und sie möge dieselbe vierteljährlich von einem Banquierhause in London beziehen.«

»Nahm sie die Pension an?«

»Keinen Heller, Sir. Sie sagte, sie wolle Catherick nie für einen Bissen oder Tropfen verpflichtet sein, und wenn sie hundert Jahre alt werden sollte. Und sie hat bisher Wort gehalten Als mein armer, guter Mann starb und mir Alles hinterließ, kam Catherick’s Brief mit dem Uebrigen in meine Hände, und ich sagte ihr, sie solle mich’s wissen lassen, falls sie jemals Mangel litte. ›Wenn ich Mangel leide, so soll ganz England es eher erfahren, ehe ich Catherick oder seinen Freunden ein Wort davon sage. Nehmen Sie Das zur Antwort, und geben Sie’s ihm zur Antwort, falls er Ihnen jemals wieder schreibt.‹«

»Glauben Sie, daß sie eignes Vermögen hatte?«

»Sehr wenig, Sir, wenn überhaupt. Man sagte, und ich fürchte mit Recht, daß sie die Mittel zu ihrem Lebensunterhalte heimlich von Sir Percival Glyde erhielt.«

Nach dieser letzten Antwort dachte ich eine kleine Weile über Das nach, was ich gehört hatte. Falls ich die Geschichte so weit ohne Rückhalt als wahr annahm, so war es jetzt klar, daß ich weder direct noch indirect im Geringsten dem Geheimnisse näher auf die Spur gekommen, und daß meine Versuche in dieser Richtung hin abermals auf das Fühlbarste und Entmuthigendste fehlgeschlagen waren.

Aber es war ein Punkt in der Erzählung, der mich an der Angemessenheit, dieselbe ohne Rückhalt anzunehmen, zweifeln ließ, und die Idee in mir erweckte, daß unter der Oberfläche noch Etwas verborgen liege.

Ich konnte mir den Umstand nicht erklären, daß des Küsters schuldiges Weib freiwillig an dem Orte ihrer Schande weiter lebte. Was man mir über die eigene Angabe der Frau: sie habe dies Verfahren als praktische Darthuung ihrer Unschuld angenommen – mittheilte, befriedigte mich nicht. Es schien mir natürlicher und wahrscheinlicher, anzunehmen, daß sie in dieser Sache nicht so ganz freie Wahl gehabt, wie sie behauptet hatte. Wer aber war in diesem Falle die Person, von der man mit der größten Wahrscheinlichkeit annehmen durfte, daß sie die Macht besaß, sie zum fortgesetzten Aufenthalte in Welmingham zu zwingen? – Ohne Frage diejenige, von der sie die Mittel zum Lebensunterhalte erhielt. Sie hatte die Unterstützung von ihrem Manne zurückgewiesen, hatte kein eignes, unabhängiges Vermögen und war ein freundloses, entehrtes Weib – aus welcher Quelle konnte sie also noch Hülfe beziehen, außer aus derjenigen, welche das Gerücht bezeichnete: Sir Percival Glyde?

Indem ich nach diesen Voraussetzungen schlußfolgerte und fortwährend das eine gewisse Factum im Auge behielt, daß Mrs. Catherick im Besitze des Geheimnisses war, begriff ich leicht, daß es Sir Percival’s Interesse erforderte, daß sie in Welmingham bliebe, weil dort ihr Ruf sie von allem Verkehr mit ihren Nachbarinnen ausschloß und so sie der Gelegenheit beraubte, in Augenblicken ungenirter Unterhaltungen mit Busenfreundinnen unvorsichtige Reden zu führen. Worin aber bestand dieses Geheimniß? Nicht der schmachvolle Antheil, den Sir Percival an Mrs. Catherick’s Schande hatte – denn dies war der ganzen Nachbarschaft bekannt. Nicht der Verdacht, daß er Anna’s Vater sei – denn Welmingham war der Ort, an dem dieser Verdacht unvermeidlicherweise bestehen mußte. Falls ich den schuldigen Anschein, der mir beschrieben worden, so rückhaltlos annahm, wie Andere; falls ich daraus denselben oberflächlichen Schluß zog, den Mr. Catherick und seine Nachbarn daraus gezogen – wo blieb da nach Allem, was ich gehört, die Vermuthung, daß zwischen Mrs. Catherick und Sir Percival ein gefährliches Geheimniß bestand, das von dieser Zeit an bis jetzt verborgen geblieben?

Und doch lag in jenen geheimen Zusammenkünften und in jenem vertraulichen Flüstern zwischen des Küsters Frau und »dem Herrn in Trauer« ohne allen Zweifel die Lösung dieses Geheimnisses.

War es möglich in diesem Falle, daß der Schein nach einer Richtung hingedeutet, während die Wahrheit unvermuthet in einer ganz anderen lag? Konnte Mrs. Catherick’s Behauptung: sie sei das Opfer eines furchtbaren Irrthumes, möglicherweise wahr sein? Oder, gesetzt dieselbe war falsch, konnte die Schlußfolgerung, nach welcher Sir Percival mit ihrer Schuld in Beziehung stand, auf irgend einen unbegreiflichen Irrthum gegründet sein? Hatte etwa Sir Percival den falschen Verdacht begünstigt, um den richtigen Verdacht von sich abzulenken? Hier lag – falls es mir gelang, ihn zu finden – der Schlüssel zu dem Geheimnisse, tief unter der Oberfläche der anscheinend hoffnungslosen Erzählung verborgen, welche ich soeben angehört hatte.

Meine nächsten Fragen waren jetzt auf diesen einen Punkt gerichtet: ob nämlich Mr. Catherick sich vollkommen von der Schuld seiner Frau überzeugt hatte oder nicht. Mrs. Clements Antworten hierauf ließen mir nicht die geringsten Zweifel übrig. Mrs. Catherick hatte den klarsten Beweisen nach als unverheirathetes Mädchen – mit wem, war unbekannt geblieben – ihren Ruf compromittirt und, um denselben wo möglich noch zu retten, sich eiligst verheirathet. Man war durch Ort- und Zeitbestimmungen, in die ich hier nicht näher einzugehen brauche, entschieden zu der Ueberzeugung gekommen, daß die Tochter, welche ihres Mannes Namen trug, nicht ihres Mannes Kind war.

Der nächste fragliche Punkt, ob es nämlich ebenso gewiß, daß Sir Percival Anna’s Vater sei, war mit weit größerer Schwierigkeit zu entscheiden. Ich konnte die Wahrscheinlichkeiten dafür und dawider durch keinen andern Beweis bestimmen, als den der persönlichen Aehnlichkeit.

»Vermuthlich haben Sie Sir Percival oft gesehen, während er sich in Ihrem Dorfe aushielt?« sagte ich.

»Ja, sehr oft,« sagte Mrs. Clements.

»Haben Sie je die Bemerkung gemacht, daß Anna ihm ähnlich war?«

»Sie sah ihm nicht im Geringsten ähnlich, Sir.«

»Sah sie ihrer Mutter ähnlich?«

»Nein, auch nicht ihrer Mutter, Sir. Mrs. Catherick hatte ein dunkles, volles Gesicht.«

Weder ihrer Mutter noch ihrem (muthmaßlichen) Vater ähnlich! Ich wußte wohl, daß dem Beweise persönlicher Aehnlichkeit nicht entschieden zu trauen sei, – auf der andern Seite aber war er auch nicht entschieden zu verwerfen. War es vielleicht möglich, meine Beweise vollgültiger zu machen, indem ich mir entscheidende Thatsachen über Mrs. Cathericks und Sir Percival’s Leben, ehe sie Beide in Welmingham erschienen, verschaffte? Meine nächsten Fragen waren auf diesen Punkt gerichtet.

»Hörten Sie, als Sir Percival zuerst in Welmingham gesehen wurde, woher er eben kam?« frug ich.

»Nein, Sir. Einige sagten, er komme von Blackwater Park, und Andere wieder, er komme aus Schottland, aber Keiner wußte etwas Bestimmtes darüber.«

»War Mrs. Catherick unmittelbar vor ihrer Verheirathung zu Varneck Hall im Dienste?«

»Ja wohl, Sir.«

»Und hatte sie die Stelle lange gehabt?«

»Drei oder vier Jahre, Sir; ich weiß es nicht ganz genau.«

»Haben Sie je den Namen des Herrn gehört, dem Varneck Hall damals zugehörte?«

»Ja wohl, Sir. Er hieß Major Donthorne.«

»Wußte Catherick oder sonst irgend Jemand Ihrer Bekanntschaft, ob Sir Percival mit Major Donthorne befreundet war, oder ob er je in der Umgegend von Varneck Hall gesehen worden?«

»Davon wußte Catherick Nichts, Sir, soviel ich mich entsinnen kann – noch sonst irgend Jemand meiner Bekanntschaft.«

Ich schrieb mir Major Donthorne’s Namen und Adresse auf, für den Fall, daß er noch am Leben und es mir für die Zukunft von Nutzen sein könne, mich um Auskunft an ihn zu wenden. Inzwischen war ich entschieden von der Ansicht, daß Sir Percival Anna’s Vater sei, zurück und zu dem Schlusse gekommen, daß das Geheimniß seiner verstohlenen Zusammenkünfte mit Mrs. Catherick auf keine Weise mit der Schande zu thun habe, welche die Frau dem Namen ihres Mannes angethan hatte. Es fielen mir keine Fragen ein, die ich hätte thun können, um diesen Eindruck zu bestärken – ich konnte Mrs. Clements nur ermuntern, von Anna’s Kindheit zu sprechen und dabei mit Aufmerksamkeit auf jede zufällige Bemerkung achten.

»Ich habe noch nicht erfahren, Mrs. Clements,« sagte ich, »wie es kam, daß dies arme Kind, das unter so viel Elend und Schande geboren wurde, Ihrer Sorgfalt anvertraut ward?«

»Es war Niemand Anderes da, Sir, um sich des armen kleinen Wesens anzunehmen,« entgegnete Mrs. Clements. »Die abscheuliche Mutter schien es von dem Tage seiner Geburt an zu hassen – als ob das arme kleine Kind zu tadeln gewesen wäre! Mein Herz blutete für das Kindchen, und ich erbot mich, es so zärtlich, als ob es mein eigen wäre«, aufzuziehen.«

»Blieb Anna von der Zeit an gänzlich unter Ihrer Obhut?«

»Nicht ganz und gar, Sir. Mrs. Catherick hatte darüber zuweilen ihre Launen und Grillen, und pflegte von Zeit zu Zeit das Kind zurückzufordern, wie wenn sie mich dafür ärgern möchte, daß ich es aufzog. Aber diese Anfälle waren niemals von langer Dauer. Die arme kleine Anna wurde mir immer wieder zurückgebracht und war stets froh, wieder bei mir zu sein, obgleich sie kein sehr frohes Leben bei mir führte, denn es waren keine lustigen kleinen Spielgefährten für sie im Hause. Unsere längste Trennung fand statt, als ihre Mutter sie mit nach Limmeridge nahm. Zu der Zeit gerade verlor ich meinen guten Mann und fühlte, daß es ebenso gut sei, daß Anna in einer so traurigen Zeit nicht im Hause war. Sie war damals in ihrem elften Jahre; sie war nur langsam im Lernen, das arme kleine Wesen, und nicht so munter wie andere Kinder – aber ein so hübsches kleines Mädchen, wie man sich nur zu sehen wünschen konnte. Ich wartete in Welmingham, bis ihre Mutter sie zurückbrachte, und erbot mich dann, sie mit mir nach London zu nehmen – um Ihnen die Wahrheit zu gestehen, mir war der Ort nach meines Mannes Tode zu sehr verändert und zu traurig, um dort wohnen zu bleiben.«

»Und willigte Mrs. Catherick in Ihren Vorschlag?«

»Nein, Sir. Sie war erbitterter und härter denn je, als sie aus dem Norden zurückkam. Die Leute sagten, daß sie sich erstens Sir Percival’s Erlaubniß zu der Reise hatte erbitten müssen und dann hinreiste, um ihre sterbende Schwester in Limmeridge zu pflegen, von der es hieß, daß sie etwas Geld zusammengespart habe – wogegen sie in Wahrheit kaum genug hinterließ, um die Kosten für ihre Beerdigung zu bestreiten. Es ist leicht anzunehmen, daß diese Dinge Mrs. Catherick noch mehr erbitterten, jedenfalls aber wollte sie Nichts davon hören, daß ich das Kind mit mir nähme. Es schien ihr Freude zu machen, uns Beiden durch die Trennung Schmerz zu verursachen. Das Einzige, was ich thun konnte, war, Anna meine Adresse zu geben und ihr heimlich zu sagen, falls sie je in Noth sei, zu mir zu kommen. Aber es vergingen Jahre, ehe sie frei war, um zu mir zu kommen. Ich sah sie nicht eher wieder, die arme Seele, als in jener Nacht, in der sie aus der Anstalt entwichen war.«

»Wissen Sie, Mrs. Clements, weshalb Sir Percival sie dort in Gewahrsam nehmen.ließ?«

»Ich weiß blos, Sir, was Anna selbst mir darüber erzählt hat. Das arme Mädchen pflegte darüber schrecklich verwirrt hin und her zu reden. Sie sagte, ihre Mutter sei im Besitze eines Geheimnisses, das Sir Percival betreffe, und habe es ihr, lange nachdem ich Hampshire verlassen, eines Tages verrathen, und als Sir Percival dies gewahr geworden, habe er sie in die Irrenanstalt bringen lassen. Aber sie war nie im Stande, mir das Geheimniß zu sagen, wenn ich sie darum befragte. Alles, was sie mir sagen konnte, war, daß ihre Mutter Sir Percival’s Unglück und Verderben sein könne, falls es ihr beliebte. Es ist möglich, daß Mrs. Catherick sich gerade soviel und weiter Nichts hat entschlüpfen lassen. Ich bin beinah überzeugt, daß ich die ganze Wahrheit von Anna zu hören bekommen, falls sie dieselbe wirklich gewußt hätte, wie sie Dies behauptete – und wie die arme Seele es sich wahrscheinlich selbst einbildete.«

Dieser Gedanke hatte sich auch mir zu wiederholten Malen aufgedrungen. Ich hatte bereits zu Mariannen gesagt, ich zweifle daran, ob Laura wirklich im Begriffe gewesen, eine wichtige Entdeckung zu machen, als sie und Anna so plötzlich durch Graf Fosco im Boothause gestört worden waren. Es stimmte vollkommen mit Anna’s gestörten Geisteskräften überein, daß sie sich auf einen bloßen unbestimmten Verdacht hin, den undeutliche Winke ihrer Mutter, welche diese unvorsichtigerweise in ihrer Gegenwart hatte fallen lassen, in ihr erweckt hatte, im Besitze der Kenntniß des Geheimnisses wähnte. Sir Percival’s schuldbewußtes Mißtrauen mußte ihm in diesem Falle unfehlbar die falsche Idee eingeben, daß Anna Alles von ihrer Mutter erfahren, gerade wie dasselbe ihn später mit dem ebenso falschen Gedanken verfolgt hatte, daß seine Frau Alles von Anna erfahren habe.

Die Zeit verging; der Morgen war beinahe zu Ende. Es war zweifelhaft, ob ich, falls ich noch länger bliebe, noch irgend Etwas von Mrs. Clements erfahren würde, das meinem Zwecke förderlich sein konnte. Ich hatte jene Einzelheiten in Bezug auf Mrs. Catherick’s Familien- und Ortsangelegenheiten, nach welchen ich forschte, bereits erfahren, und daraus gewisse Schlüsse gezogen, die mir völlig neu waren und mir in der Richtung meiner künftigen Schritte von bedeutendem Nutzen sein konnten. Ich stand auf, um mich zu verabschieden und Mrs. Clements für die freundliche Bereitwilligkeit zu danken, mit der sie meinen Nachfragen entgegengekommen war.

»Ich fürchte, Sie müssen mich für sehr neugierig halten,« sagte ich; »ich habe Sie mit mehr Fragen belästigt, als mir andere Leute gern beantwortet haben würden.«

»Ich gebe Ihnen mit Freuden alle Auskunft, Sir, die ich zu geben vermag,« entgegnete Mrs. Clements. Sie schwieg und sah mich bedeutungsvoll an. »Aber ich wollte,« fuhr die arme Frau fort, »Sie hätten mir Etwas mehr über Anna mittheilen können, Sir. Mir schien, ich sah Etwas in Ihrem Gesichte, als Sie hereinkamen, als ob Sie es könnten. Sie können sich nicht denken, wie hart es ist, nicht einmal zu wissen, ob sie todt ist oder am Leben. Ich würde es besser ertragen, wenn ich nur eine Gewißheit hätte. Sie sagten, Sie erwarteten nicht, daß wir sie je lebendig wiedersehen würden. Wissen Sie, Sir – wissen Sie es gewiß, daß es Gott gefallen hat·, sie zu sich zu nehmen?«

Ich war nicht im Stande, dieser flehenden Frage zu widerstehen, und es wäre unaussprechlich undankbar und grausam von mir gewesen, falls ich es gekonnt hätte.

»Ich fürchte,« sagte ich mit Theilnahme, »daß die Sache keinem Zweifel mehr unterliegt; »ich bin persönlich überzeugt, daß ihre Leiden in dieser Welt zu Ende sind.«

Die arme Frau sank auf ihren Stuhl zurück und barg ihr Gesicht in ihren Händen. »O, Sir,« sagte sie, »woher wissen Sie Dies? Wer kann es Ihnen gesagt haben?«

»Niemand hat es mir gesagt, Mrs. Clements. Aber ich habe Gründe, davon überzeugt zu sein – Gründe, die ich Ihnen mitzutheilen verspreche, sobald ich sie Ihnen ohne Gefahr werde auseinandersetzen können. Ich bin gewiß, daß sie in ihren letzten Stunden nicht vernachlässigt war, und fest überzeugt, daß die Herzkrankheit, von der sie so sehr zu leiden hatte, die wahre Ursache ihres Todes war. Sie sollen hiervon bald ebenso fest überzeugt sein, wie ich es bin, und sollen in Kurzem erfahren, daß sie auf einem stillen Dorfkirchhofe begraben liegt, an einer so hübschen, friedlichen Stelle, wie Sie selbst sie nur hätten für sie aussuchen können.«

»Todt!« sagte Mrs. Clements; »todt – so jung noch – und ich am Leben, um es zu hören! Ich machte ihre ersten kurzen Kleidchen, – ich lehrte sie gehen. Das erste Mal, daß sie das Wort Mutter aussprach, sagte sie es zu mir – und jetzt bin ich hier und Anna ist gestorben! Sagten Sie, Sir,« fuhr die arme Frau fort, indem sie das Tuch von ihrem Gesichte nahm und zu mir aufblickte – »sagten Sie, daß sie anständig begraben worden? War die Beerdigung der Art, wie sie wohl gewesen, falls Anna wirklich mein eigen Kind gewesen wäre?«

Ich betheuerte ihr, daß dies der Fall sei. Meine Antwort schien ihr eine unaussprechliche Genugthuung zu gewähren – und sie schien einen Trost darin zu finden, den keine höhere Rücksicht ihr hätte bieten können.

»Es hätte mir das Herz gebrochen,« sagte sie einfach, »falls Anna kein anständiges Begräbniß gehabt hätte – aber woher wissen Sie es, Sir? Wer hat es Ihnen gesagt?«

Ich bat sie nochmals, zu warten, bis ich ohne Rückhalt zu ihr würde sprechen können.

»Sie sollen mich ganz gewiß wiedersehen,« sagte ich; »denn sobald Sie sich wieder etwas gefaßt haben werden – vielleicht in ein paar Tagen – habe ich Sie um eine Gefälligkeit zu bitten.«

»Warten Sie meinetwegen nicht damit, Sir,« sagte Mrs. Clements. »Kümmern Sie sich nicht um meine Thränen, falls ich Ihnen dienen kann. Wenn Sie irgend Etwas auf dem Herzen haben, das Sie mir zu sagen wünschen, Sir, bitte, so sagen Sie es jetzt.«

»Ich wünschte Ihnen nur noch eine letzte Frage vorzulegen,« sagte ich; »ich möchte gern Mrs. Catherick’s Adresse in Welmingham wissen?«

Meine Frage erschütterte Mrs. Clements in dem Maße, daß sie darüber sogar die Nachricht von Anna’s Tode vergaß. Sie hörte plötzlich zu weinen auf und blickte mich mit dem unbeschreiblichsten Erstaunen an.

»Ich bitte Sie um’s Himmels willen, Sir!« sagte sie, »was haben Sie mit Mrs. Catherick zu thun?«

»Folgendes, Mrs. Clements,« entgegnete ich: »ich muß das Geheimniß ihrer Zusammenkünfte mit Sir Percival Glyde erfahren. Es liegt in Dem, was Sie mir von dem früheren Betragen jener Frau und von jenes Mannes früherem Verhältnisse zu ihr erzählt haben, mehr, als Sie oder Ihre Nachbarn je geargwöhnt haben. Es besteht zwischen jenen Beiden ein Geheimniß, das Niemand von uns erräth – und ich gehe zu Mrs. Catherick mit dem festen Entschlusse, dasselbe zu erfahren.«

»Ueberlegen Sie sich das zuvor wohl, Sir!« sagte Mrs. Clements, indem sie in ihrer Bewegung aufstand und ihre Hand auf meinen Arm legte. »Sie ist ein furchtbares Weib – Sie kennen sie nicht, wie ich sie kenne. Ueberlegen Sie sich es wohl.«

»Ich bin überzeugt, daß Ihre Warnung eine wohlgemeinte ist, Mrs. Clements Aber ich bin entschlossen, die Frau zu sehen – komme, was da wolle.«

Mrs. Clements blickte mir besorgt ins Gesicht.

»Ich sehe, Sie sind entschlossen, Sir,« sagte sie. »Ich will Ihnen die Adresse gehen.«

Ich schrieb dieselbe in mein Taschenbuch ein und nahm ihre Hand, um ihr Lebewohl zu sagen.

»Sie sollen bald von mir hören,« sagte ich; »Sie sollen Alles erfahren, was ich Ihnen mitzutheilen versprochen habe.«

Mrs. Clements seufzte und schüttelte zweifelnd mit dem Kopfe.

»Der Rath einer alten Frau verdient zuweilen gehört zu werden, Sir,« sagte sie. »Bedenken Sie sich es wohl, ehe Sie nach Welmingham gehen –.«


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