Die Frau in Weiß

Fortsetzung der Aussage Walter Hartrights

XIII.

Es war zwischen neun und zehn Uhr, ehe ich in Fulham anlangte und den Weg nach Gower’s Walk fand.

Marianne und Laura kamen Beide an die Thür, um mich einzulassen. Ich glaube, wir hatten Alle nicht gewußt, welch’ enges Band uns aneinander knüpfte, bis zu dem Abende, der uns wieder vereinte. Wir begrüßten einander, als ob wir statt weniger Tage Monate lang getrennt gewesen. Mariannens armes Gesicht sah sehr besorgt und elend aus. Ich sah auf den ersten Blick, wer in meiner Abwesenheit alle Gefahr gewußt und alle Besorgnisse gefühlt hatte. Laura’s frohere Blicke und blühenderes Aussehen sagten mir, wie sorgfältig ihr alle Kenntniß des furchtbaren Todes und der wahre Grund ihrer Wohnungsveränderung vorenthalten worden.

Die Aufregung des Wegzuges schien sie aufgeheitert und interessirt zu haben. Sie sprach von demselben nur wie von einem glücklichen Gedanken Mariannens; um mich bei meiner Heimkehr durch die Veränderung von der engen, geräuschvollen Straße nach der angenehmen Umgebung von Bäumen, Feldern und dem Fluße zu überraschen. Sie war voller Pläne für die Zukunft – voll von den Zeichnungen, die sie vollendet; von den Käufern, die ich in der Provinz für dieselben gefunden, und von den Schillingen und Sixpencen, die sie gespart hatte und die ihre Börse so schwer machten, daß sie mir dieselbe ganz stolz zum Wägen hingab. Die günstige Veränderung, die während der wenigen Tage meiner Abwesenheit mit ihr vorgegangen, war eine Ueberraschung für mich, auf die ich ganz unvorbereitet war – und das unaussprechliche Glück, dieselbe zu sehen, hatte ich Mariannens Muthe und Mariannen’s Liebe zu danken.

Als Laura uns verlassen und Marianne und ich ohne Rückhalt sprechen konnten, versuchte ich, der Dankbarkeit und Bewunderung, die mein Herz füllten, Ausdruck zu geben. Aber das großherzige Weib wollte mich nicht ausreden lassen. Jenes erhabene Selbstvergessen der Frauen, das so viel giebt und so wenig fordert, wandte alle ihre Gedanken von sich selbst ab mir zu.

»Es blieb mir nur ein Augenblick vor Abgang der Post,« sagte sie, »sonst hätte ich weniger hastig geschrieben. Du siehst angegriffen und elend aus, Walter – ich fürchte, mein Brief hat Dich ernstlich beunruhigt?«

»Nur im ersten Augenblicke,« erwiderte ich. »Mein Gemüth beruhigte sich durch mein Vertrauen auf Dich, Marianne. Muthmaßte ich recht, indem ich diese plötzliche Wohnungsveränderung einer drohenden Belästigung von Seiten Graf Fosco’s zuschrieb?«

»Vollkommen,« entgegnete sie; »ich habe ihn gestern gesehen und, was noch schlimmer ist, ich habe mit ihm gesprochen.«

»Hast mit ihm gesprochen? Wußte er, wo wir wohnten? Kam er ins-Haus?«

»Ja. Er kam ins Haus, aber nicht hinauf. Laura hat ihn nicht gesehen; sie argwöhnt Nichts. Ich will Dir erzählen, wie es kam; ich glaube und hoffe, daß die Gefahr jetzt vorüber ist. Gestern, als Laura in der Wohnstube unserer alten Wohnung am Tische saß und zeichnete und ich ordnend umherging, kam ich zufällig ans Fenster und sah im Vorbeigehen auf die Straße hinab. Da, auf der gegenüberliegenden Seite der Straße sah ich den Grafen und einen Mann, mit dem er sprach –«

»Bemerkte er Dich am Fenster?«

»Nein – wenigstens glaubte ich es nicht. Ich war zu heftig erschrocken, um es genau zu sehen.«

»Wer war der andere Mann? Ein Fremder?«

»Nein, Walter, kein Fremder. Sowie ich nur wieder athmen konnte, erkannte ich ihn. Er war der Besitzer der Irrenanstalt.«

»Zeigte der Graf ihm das Haus?«

»Nein; sie unterhielten sich, wie wenn sie einander soeben zufällig auf der Straße begegnet wären. Ich blieb am Fenster und schaute hinter der Gardine herum zu ihnen hinunter. Hätte ich mich umgewandt und Laura in diesem Augenblicke mein Gesicht sehen lassen – aber ich danke Gott, daß sie in ihre Zeichnung vertieft war! Sie gingen bald auseinander. Der Mann aus der Irrenanstalt ging nach der einen Seite hin fort und der Graf nach der anderen. Ich fing an zu hoffen, daß sie durch Zufall in die Straße gekommen, als ich den Grafen zurückkommen, uns gegenüber abermals stille stehen, sein Taschenbuch herausnehmen, Etwas auf eine Karte schreiben und dann hinüberkommen und in den Laden unter uns gehen sah. Ich lief an Laura vorbei, ehe sie mich sehen konnte und sagte, ich habe Etwas oben vergessen. Sobald ich aus dem Zimmer war, lief ich auf den Corridor hinunter und wartete – ich war entschlossen, ihn zurückzuhalten, falls er versuchen würde, hinauszukommen. Doch machte er den Versuch nicht. Das Mädchen aus dem Laden kam durch die Verbindungsthür in den Gang hinaus und brachte mir seine Karte – eine große vergoldete Karte mit seinem Namen und einer Krone darüber, und darunter diese Zeilen: ›Theure Dame‹ (ja! der Schurke unterstand sich noch jetzt, mich so anzureden) – ›theure Dame, ich bitte Sie dringend, mir zu gestatten, ein Wort mit Ihnen zu sprechen, das uns Beide sehr ernstlich betrifft.‹ Wenn man in großen Schwierigkeiten überhaupt zu denken im Stande ist, so denkt man schnell. Ich fühlte sogleich, daß es ein unheilvolles Versehen sein könnte, falls ich im Dunkeln bliebe und Dich im Dunkeln ließe, wo ein Mann wie der Graf im Spiele war. Ich fühlte, daß die Ungewißheit über das, was er in Deiner Abwesenheit thun konnte, weit schlimmer zu ertragen wäre – falls ich mich weigerte, ihn zu sehen, als das Zusammentreffen, falls ich in dasselbe willigte. ›Ersuchen Sie den Herrn, im Laden zu warten,‹ sagte ich, ›ich werde sogleich zu ihm kommen.‹ Ich lief hinaus, um meinen Hut zu holen, da ich entschlossen war, ihn nicht im Hause zu mir sprechen zu lassen. Ich kannte seine tiefe, durchdringende Stimme zu gut, und fürchtete, daß Laura dieselbe selbst vom Laden her hören würde. In weniger als einer Minute war ich wieder unten und hatte die Hausthür geöffnet. Er kam aus dem Laden mir entgegen. Da stand er – in tiefer Trauer, mit seiner glatten Stirn und seinem tödtlichen Lächeln; und um ihn her hatten sich ein paar müßige Knaben und Weiber versammelt, die seinen großen Umfang, seine schönen schwarzen Trauerkleider und seinen Spazierstock mit dem Goldknopfe anstierten. Die ganze entsetzliche Zeit in Blackwater kam mir ins Gedächtniß zurück, als ich ihn erblickte. Der ganze alte Widerwille überschlich mich, als er mit einer schwenkenden Bewegung seinen Hut abnahm und mich anredete, wie wenn wir erst gestern auf dem freundschaftlichsten Fuße auseinandergegangen wären.«

»Du erinnerst Dich, was er sagte?«

»Ich kann’s nicht wiederholen, Walter. Du sollst sogleich hören, was er über Dich sagte, aber wie er zu mir sprach, kann ich nicht wiederholen. Es war noch schlimmer, als die höfliche Impertinenz seines Briefes. Mir juckten die Hände, ihn zu schlagen, wie wenn ich ein Mann gewesen wäre! Ich konnte sie nur davon abhalten, indem ich unter meinem Tuche seine Karte in Stücke zerriß. Ohne meinerseits ein Wort zu sagen, ging ich vom Hause fort (aus Furcht, daß Laura uns erblicken könne); und er folgte mir, indem er mir fortwährend sanfte Vorstellungen machte. In der ersten Nebenstraße stand ich still und frug ihn, was er von mir verlange. Er verlangte zweierlei. Erstens, falls ich Nichts dagegen hätte, seine Gefühle auszusprechen. Ich schlug es aus, sie anzuhören. Zweitens, die Warnung in seinem Briefe zu wiederholen. Ich frug, weshalb es nöthig sei, sie zu wiederholen. Er verbeugte sich und  lächelte und sagte, er wolle es mir erklären. Diese Erklärung bestätigte vollkommen die Befürchtungen, die ich aussprach, ehe Du uns verließest. Ich sagte Dir, wie Du Dich entsinnen wirst, daß Sir Percival zu eigensinnig sein werde, um den Rath seines Freundes anzunehmen, wo Du im Spiele seiest; und daß vom Grafen keine Gefahr zu fürchten, bis seine eigenen Interessen bedroht und er selbst zum Handeln aufgereizt würde?«

»Ich entsinne mich, Marianne.«

»Nun, so ist es auch richtig gekommen. Der Graf bot ihm seinen Rath an; aber derselbe wurde zurückgewiesen. Sir Percival wollte nur seiner eigenen Heftigkeit, seiner Halsstarrigkeit und seinem Hasse gegen Dich folgen. Der Graf ließ ihm seinen Willen, nachdem er zuvor (für den Fall, daß zunächst seine Interessen bedroht würden) heimlich ausgekundschaftet hatte, wo wir wohnten. Man folgte Dir, Walter, an dem Abende, wo Du von Deiner ersten Reise nach Hampshire zurückkehrtest – eine Strecke von der Station ab waren es die Spione des Advocaten, von da an bis zu unserem Hause aber der Graf selbst. Wie es ihm gelungen, nicht von Dir gesehen zu werden, hat er mir nicht gesagt; aber es war bei jener Gelegenheit und auf diese Weise, daß er uns fand. Nachdem er diese Entdeckung gemacht, ließ er sie unbenutzt, bis er die Nachricht von Sir Percival’s Tode erhielt – und dann begann er, wie ich Dir vorhergesagt hatte, für sich zu handeln, weil er glaubte, daß Du nun zunächst den Mann angreifen würdest, der an dem Complotte des Todten Theil genommen. Er traf sofort seine Vorbereitungen, um mit dem Besitzer der Irrenanstalt in London zusammenzutreffen und ihn an den Ort zu führen, wo sich seine weggelaufene Patientin befinde; in dem Glauben, daß die Folge hiervon, wie sie auch immer enden möge, die sein würde, Dich in endlose gerichtliche Streitigkeiten und Schwierigkeiten zu verwickeln, und es Dir so unmöglich zu machen, Deine Angriffe gegen ihn zu richten. Dies war sein Zweck, wie er mir selbst bekannte. Das Einzige, was ihn im letzten Augenblicke zögern ließ –«

»Nun?«

»Es ist hart, es eingestehen zu müssen, Walter – und doch muß es sein! Ich war der Gegenstand seiner Rücksicht. Ich habe keine Worte, Dir zu sagen, wie tief dieser Gedanke mich demüthigt – aber die eine Schwäche in jenes Mannes eisernem Charakter ist die wirkliche Bewunderung, welche er für mich fühlt. Ich habe, um meiner Selbstachtung willen, mich so lange wie möglich bemüht, Dies nicht zu glauben; aber seine Blicke und Handlungen zwingen mich zu der beschämenden Ueberzeugung, daß es Wahrheit ist. Die Augen jenes Ungeheuers von Schlechtigkeit wurden feucht, während er zu mir sprach – ja, Walter! Er erklärte, daß in dem Augenblicke, wo er dem Irrenarzte das Haus zeigte, er meines Jammers gedachte, wenn ich von Laura getrennt würde, und der Verlegenheit, falls man mich dafür zur Rechenschaft zöge, daß ich ihre Flucht bewerkstelligt hatte – und daß er um meinetwillen das Schlimmste riskirte, das Du ihm thun könntest. Das Einzige, worum er bat, war, daß ich mich des Opfers erinnern und Deiner Unbesonnenheit Einhalt thun möge – aus Rücksicht für mich selbst, eine Rücksicht, die er vielleicht nicht zum zweiten Male zu nehmen im Stande würde. Ich traf keine solche Uebereinkunft mit ihm, ich wäre lieber gestorben. Aber glaube ihm oder nicht – ob es nämlich wahr oder unwahr sei, daß er den Doctor unter einem Vorwande fortgeschickt – jedenfalls ist es gewiß, daß ich den Mann ihn verlassen sah, ohne ein einziges Mal nach unseren Fenstern oder auch nur nach unserer Straßenseite hinüberzublicken.«

»Ich glaube es wohl, Marianne. Die besten Menschen sind im Guten nicht consequent, – wie sollten es da die Schlimmsten im Bösen sein? Zu gleicher Zeit aber habe ich ihn im Verdacht, Dich blos mit Etwas erschreckt zu haben, was er in Wirklichkeit gar nicht ausführen kann. Ich bezweifle, daß er im Stande ist, uns jetzt, da Sir Percival todt und Mrs. Catherick frei von allem Zwange ist, durch den Besitzer der Irrenanstalt Schwierigkeiten oder Unannehmlichkeiten zu bereiten. Doch laß mich weiter hören. Was sagte der Graf von mir?«

»Er sprach von Dir zuletzt. Seine Augen wurden klarer und härter, und sein Wesen, wie es mir früher oft erschienen war – es veränderte sich in jene Mischung erbarmungsloser Entschlossenheit und theatralischen Hohnes, durch den er so unergründlich wird. ›Warnen Sie Mr. Hartright,‹ sagte er mit seiner hochtrabendsten Miene. ›Er hat es mit einem Manne von Klugheit zu thun, einem Manne, der den Gesetzen und Gebräuchen der Gesellschaft mit seinen großen dicken Fingern ein Schnippchen schlägt, falls er sich mit mir messen will. Hätte mein armer verstorbener Freund meinen Rath angehört, so wäre die Leichenschau mit Mr. Hartright’s Körper vorgenommen – Aber mein armer verstorbener Freund war halsstarrig. Sehen Sie! Ich betraure seinen Verlust – im Innern meiner Seele und auswendig auf meinem Hute. Dieser unbedeutende Flor drückt Gefühle aus, die ich Mr. Hartright zu achten auffordere. Dieselben können sich in unermeßliche Feindseligkeit verändern, falls er sie zu stören wagt. Sei er zufrieden mit Dem, was er erlangt hat – mit Dem, was ich ihm und Ihnen um Ihretwillen ungestört lassen will. Sagen Sie ihm (mit meiner Empfehlung), daß, falls er mich anrührt, er es mit Fosco zu thun haben wird. Nach volksthümlicher Redeweise benachrichtige ich ihn, daß Fosco vor gar Nichts zurückscheut! Theure Dame, guten Morgen.‹ Seine kalten, grauen Augen hefteten sich auf mein Gesicht – er nahm feierlich seinen Hut ab – verbeugte sich entblößten Hauptes – und ging.«

»Ohne umzukehren? Ohne sonst noch Etwas hinzuzufügen?«

»An der Ecke der Straße wandte er sich um, machte eine Bewegung mit der Hand und legte sie dann theatralisch auf seine Brust. Darnach verlor ich ihn aus dem Gesichte. Er verschwand in der entgegengesetzten Richtung unseres Hauses, und ich eilte zu Laura zurück. Ehe ich noch wieder im Hause anlangte, war ich schon zu dem Entschlusse gekommen, daß wir fort müßten. Das Haus war (namentlich in Deiner Abwesenheit) jetzt, da der Graf es entdeckt hatte, anstatt ein Zufluchtsort zu sein, ein Ort der Gefahr für uns. Wäre ich Deiner Rückkehr gewiß gewesen, so würde ich es bis zu derselben verschoben haben. Aber ich wußte Nichts mit Gewißheit und handelte daher sofort nach meinem Impulse. Du hattest, ehe Du uns verließest, davon gesprochen, daß Du um Laura’s Gesundheit willen eine ruhigere Nachbarschaft und reinere Luft suchen möchtest. Ich brauchte sie blos hieran zu erinnern und vorzuschlagen, daß wir Dich überraschten und Dir Mühe ersparten, indem wir den Umzug während Deiner Abwesenheit hielten, um sie mit dem größten Eifer darauf eingehen zu sehen. Sie half mir, Deine Sachen einpacken – und sie hat sie alle hier in Deiner neuen Arbeitsstube wieder hergeordnet.«

»Wie kamst Du auf den Gedanken, hierher zu ziehen?«

»Durch meine Unkenntniß anderer Theile von London. Ich fühlte die Nothwendigkeit, möglichst weit von unserer alten Wohnung fortzugehen; und ich kannte Fulham etwas, weil ich hier früher einmal in Pension war. Ich schickte in der Hoffnung, daß diese Pension noch existirte, einen Boten an die Besitzerin derselben ab. Die Schule existirte, jedoch unter der Leitung der Töchter meiner alten Lehrerin, welche indessen, nach dem in meinem Briefe ausgesprochenen Wunsche, dieses Logis für mich mietheten. Es war gerade vor Abgang der Post, als der Bote mit der Adresse des Hauses zurückkam. Wir zogen nach dem Dunkelwerden fort – und langten ganz unbemerkt hier an. Habe ich recht gethan, Walter? Habe ich Dein Vertrauen auf mich gerechtfertigt?«

Ich antwortete ihr mit der Wärme und Dankbarkeit, die ich in Wirklichkeit fühlte. Aber der sorgenvolle Ausdruck verließ ihr Gesicht noch immer nicht, während ich sprach, und ihre erste Frage, nachdem ich geendet, bezog sich auf Graf Fosco.

Ich sah, daß sie jetzt in veränderter Weise an ihn dachte. Es entschlüpfte ihr kein neuer Ausbruch des Zornes gegen ihn, keine neuen Bitten an mich, den Tag der Vergeltung an ihm zu beschleunigen. Ihre Ueberzeugung, daß jenes Mannes hassenswerthe Bewunderung für sie wirklich aufrichtig war, schien um das Hundertfache ihren Argwohn seiner unergründlichen Hinterlist und ihre tiefgewurzelte Furcht vor der boshaften Energie und Wachsamkeit all seiner Fähigkeiten vermehrt zu haben. Ihre Stimme wurde leiser, ihr Wesen zögernd, und ihre Augen lasen mit einer eifrigen Angst in den meinigen, als sie mich frug, was ich über seinen Auftrag an mich denke, und was ich demnächst zu thun beabsichtige.

»Es sind seit meiner Unterredung mit Mr. Kyrle erst wenige Wochen vergangen, Marianne,« sagte ich. »Als er und ich von einander schieden, waren meine letzten Worte über Laura zu ihm folgende: ›Ihres Onkels Haus soll sich in Gegenwart Aller, die dem falschen Begräbnisse folgten, öffnen, um sie aufzunehmen; die Lüge, welche ihren Tod angiebt, soll öffentlich und auf Befehl des Hauptes der Familie von dem Grabsteine wieder vertilgt werden; und die beiden Männer, welche ihr so bitteres Unrecht angethan, sollen mir für ihr Verbrechen Rede stehen, wenngleich die Gerechtigkeit, die zu Gerichte sitzt, machtlos ist, sie zu verfolgen.‹ Der eine dieser Männer ist außer meinem Bereiche. Der Andere lebt, und mein Entschluß lebt.«

Ihre Augen leuchteten, und die Farbe stieg in ihre Wangen. Sie sagte Nichts. Doch sah ich in ihrem Gesichte, wie ihre ganze Sympathie sich an die meinige schloß.

»Ich verhehle weder Dir noch mir,« fuhr ich fort; »daß unsere Aussichten im höchsten Grade zweifelhaft sind. Die Gefahren, denen wir bisher bereits ausgesetzt gewesen, waren vielleicht Kleinigkeiten im Vergleich mit denen, die uns noch in Zukunft drohen – aber dennoch soll der Versuch gewagt werden, Marianne. Ich bin nicht so unbesonnen, mich mit einem Manne wie Graf Fosco messen zu wollen, ehe ich nicht wohl auf ihn vorbereitet bin. Ich habe Geduld gelernt; ich kann warten. Wir wollen ihn glauben lassen, daß seine Botschaft an mich ihre Wirkung gehabt; wollen ihn Nichts von uns hören oder erfahren lassen; wir wollen ihm volle Zeit geben, sich sicher zu fühlen – und sein eigener prahlerischer Charakter wird, wenn ich mich nicht sehr in ihm getäuscht habe, den Erfolg beschleunigen. Dies ist ein Grund, um zu warten; aber ich habe noch einen wichtigeren. Meine Stellung, Marianne, Dir und Laura gegenüber, muß noch fester sein als sie jetzt ist, ehe ich unsere letzte Chance versuche.«

Sie beugte sich mit einem Blicke der Ueberraschung zu mir herüber.

»Wie kann sie fester werden?« frug sie.

»Das will ich Dir sagen, wenn die Zeit kommt,« entgegnete ich. »Bis jetzt ist sie noch nicht gekommen, und vielleicht kommt sie niemals. Ich mag vielleicht zu Laura auf immer darüber schweigen, und selbst zu Dir muß ich jetzt noch schweigen, bis ich sehe, daß ich rechtschaffener- und redlicherweise sprechen kann. Doch wollen wir den Gegenstand fallen lassen. Ein Anderer hat noch dringenderes Recht an unsere Beachtung. Du hast Laura – hast sie mitleidsvoll über ihres Mannes Tod in Unwissenheit gelassen –?«

»O Walter, muß sie es nicht noch lange bleiben?«

»Nein, Marianne. Es wird besser sein, daß Du es ihr jetzt sagst, als daß der Zufall, gegen den es uns unmöglich ist, uns zu verwahren, es ihr später verriethe. Verschone sie mit den Einzelheiten – bereite sie sehr sorgfältig darauf vor – aber sage ihr, daß er todt ist.«

»Du hast noch außer dem Grunde, den Du angiebst, einen, der Dich wünschen läßt, sie von dem Tode ihres Mannes zu unterrichten, Walter?«

»Ja.«

»Einen Grund, der mit dem Gegenstande in Verbindung steht, dessen wir noch nicht weiter erwähnen wollen? – dessen vielleicht zu Laura niemals erwähnt werden soll?«

Sie sagte diese letzten Worte mit bedeutungsvollem Ausdrucke, und mit einem ebensolchen gab ich ihr die bejahende Antwort.

Sie erbleichte – und schaute mich eine Weile mit einer traurigen, zögernden Theilnahme an. Eine ungewohnte Zärtlichkeit zitterte in ihren dunklen Augen und verlieh ihren festen Lippen einen weicheren Ausdruck, als sie zur Seite auf den leeren Sessel blickte, in welchem die geliebte Gefährtin all unserer Freuden und Schmerzen gesessen hatte.

»Ich glaube, ich verstehe Dich,« sagte sie. »Ich glaube, ich bin es Dir und ihr schuldig, ihr den Tod ihres Mannes mitzutheilen, Walter?«

Sie seufzte und hielt einen Augenblick meine Hand fest in der ihrigen – dann ließ sie dieselbe plötzlich sinken und verließ das Zimmer. Am folgenden Tage wußte Laura, daß sein Tod sie freigegeben, und daß der Irrthum und das Unglück ihres Lebens mit ihm begraben seien.

Sein Name wurde unter uns nicht mehr erwähnt. Wir vermieden fortan die geringste Annäherung an den Umstand seines Todes; und ebenso gewissenhaft enthielten Marianne und ich uns jeder Erwähnung jenes anderen Gegenstandes, dessen wir für’s Erste nicht wieder zu gedenken übereingekommen waren. Derselbe war deshalb uns nicht weniger gegenwärtig – er wurde im Gegentheil durch die Zurückhaltung, die wir uns auferlegt, noch lebendiger erhalten. Wir beobachteten Beide Laura aufmerksamer denn je; einmal wartend und hoffend, dann wieder wartend und fürchtend – bis die Zeit käme.

Allmälich kehrten wir wieder zu unserer gewohnten Lebensweise zurück. Ich nahm die tägliche Arbeit wieder auf, welche ich durch meine Abwesenheit in Hampshire unterbrochen hatte. Unsere neue Wohnung kostete mehr als die kleinere und weniger bequeme, welche wir verlassen hatten; und die Nothwendigkeit verdoppelter Anstrengungen wurde noch durch das Zweifelhafte unserer ferneren Aussichten vermehrt. Es konnten sich dringende Fälle ereignen, die unser kleines Vermögen beim Banquier erschöpfen würde, und die Arbeit meiner Hände mochte am Ende das Einzige sein, worauf wir für unseren Unterhalt rechnen durften. Es war für unsere Stellung nothwendig, daß ich mich nach einer festeren und einträglicheren Beschäftigung umsah, als mir bisher zu Theil geworden – eine Nothwendigkeit, welcher nachzukommen ich mich jetzt nach Kräften bemühte.

Man denke nicht, daß ich in dem Zwischenraume von Ruhe und Zurückgezogenheit, von welchem ich jetzt schreibe, ganz und gar die Verfolgung des einen Zweckes aufgab, mit dem alle meine Gedanken und Absichten in diesen Blättern verknüpft sind. Dieser Zweck ließ während vieler Monate nicht nach in seinen Forderungen an mich. Das langsame Reisen desselben ließ mir noch immer Zeit, eine Vorsichtsmaßregel zu treffen, eine Pflicht der Dankbarkeit zu erfüllen und eine zweifelhafte Frage zu lösen.

Die Vorsichtsmaßregel bezog sich natürlich auf den Grafen Fosco. Es war von der höchsten Wichtigkeit, wo möglich zu erfahren, ob seine Pläne ihn nöthigten, in England – oder mit andern Worten innerhalb meines Bereiches – zu bleiben. Es gelang mir durch sehr einfache Mittel, diesen Zweifel zu lösen. Da mir seine Adresse in St. John’s Wood bekannt war, stellte ich in der Nachbarschaft meine Nachfragen an; und als ich ausfindig gemacht, welcher Hausagent über das möblirte Haus zu verfügen hatte, in dem der Graf wohnte, frug ich denselben, ob Numero 5, Forest Road, bald zu vermiethen sein werde. Die Antwort war eine verneinende. Man unterrichtete mich, daß der fremde Herr, welcher es bewohne, seinen Contract auf sechs Monate erneuert habe und bis Ende Juni nächsten Jahres dort wohnen bleiben werde. Wir waren jetzt erst im Anfange des Monat December. Ich verließ den Agenten mit beruhigtem Gemüthe, daß mir der Graf wenigstens für’s Erste nicht entwischen werde.

Die Pflicht der Dankbarkeit, die ich zu erfüllen hatte, führte mich nochmals zu Mrs. Clements. Ich hatte ihr versprochen, wiederzukommen und ihr jene Einzelheiten in Bezug auf Anna Catherick’s Tod und Begräbniß mitzutheilen, welche ich ihr in unserer ersten Unterredung zu verschweigen genöthigt war. Unter den jetzigen veränderten Umständen lag kein Hinderniß im Wege, daß ich der guten Frau so viel von der Geschichte des Anschlages anvertraute, wie zum Verständnisse der Sache nothwendig war.

Sowohl meine Theilnahme als meine freundschaftlichen Gefühle für die arme Frau drängten mich zur schnellen Erfüllung dieser Pflicht – und ich erfüllte sie sorgfältig und gewissenhaft Es ist unnöthig, diese Blätter noch mit Dem zu beladen, was sich bei dieser Unterredung zutrug. Es wird mehr zur Sache gehörig sein, wenn ich sage, daß dieselbe mich nothwendigerweise an die eine schwebende Frage erinnerte, die noch ungelöst geblieben – die Frage nämlich, wer Anna Catherick’s Vater gewesen.

Eine Menge kleiner Betrachtungen in Verbindung mit diesem Gegenstande – die an sich unbedeutend genug, zusammengenommen aber von auffallender Bedeutung waren – hatten mich neuerdings zu einer Muthmaßung geführt, die ich zu bestätigen beschloß. Ich erhielt Erlaubniß von Mariannen, an Major Donthorne auf Varneck Hall zu schreiben (in dessen Hause Mrs. Catherick einige Jahre vor ihrer Verheirathung gedient hatte), um gewisse Fragen an ihn zu thun. Ich that Dies in Mariannen’s Namen und entschuldigte mein Ersuchen dadurch, daß die Sache für gewisse persönliche Interessen der Familie von Wichtigkeit sei. Ich wußte nicht, als ich den Brief schrieb, ob Major Donthorne noch am Leben sei; ich schickte ihn auf gut Glück ab, daß er lebe und sowohl im Stande als geneigt sein werde, mir zu antworten.

Nach Verlauf von zwei Tagen kam der Beweis in der Gestalt eines Briefes, daß der Major lebte und bereit war uns zu helfen.

Der Gedanke, welcher meinen Brief an ihn dictirt, und die Beschaffenheit meiner Fragen wird leicht aus seiner Antwort entnommen werden können. Dieselbe enthielt folgende wichtige Thatsachen:

Erstens war »der verstorbene Sir Percival Glyde von Blackwater Park« in seinem Leben mit keinem Fuße in Varneck Hall gewesen. Derselbe war dem Major Donthorne und seiner ganzen Familie persönlich vollkommen unbekannt gewesen.

Zweitens war »der verstorbene Mr. Philipp Fairlie von Limmeridge House« in seinen jüngeren Tagen Major Donthorne’s vertrauter Freund und häufiger Gast gewesen. Nachdem er sein Gedächtniß dadurch aufgefrischt, daß er in alten Briefen und Papieren nachgesehen, konnte Major Donthorne mit Gewißheit sagen, daß Mr. Philipp Fairlie ihn im Monat August 1826 in Varneck Hall besucht hatte und während der Monate September und October dort zur Jagd geblieben war. Er reiste dann von dort, soviel der Major sich erinnerte, nach Schottland und kehrte erst nach geraumer Zeit einmal wieder, und zwar in der veränderten Eigenschaft eines Neuvermählten, nach Varneck Hall zurück.

An sich selbst war diese Mittheilung vielleicht von geringem positiven Werthe – aber in Verbindung mit gewissen Thatsachen, die sowohl Mariannen wie mir als vollkommen richtig bekannt waren – führte sie zu einem Schlusse, der für uns augenfällig war.

Nachdem uns jetzt bekannt geworden, daß Mr. Philipp Fairlie im Herbste des Jahres 1826 sich als Gast in Varneck Hall aufgehalten, wo zur selben Zeit Mrs. Catherick im Dienste gewesen, wußten wir außerdem: – erstens, daß Anna Catherick im Juni 1827 geboren war; zweitens, daß sie stets eine ganz auffallende persönliche Aehnlichkeit mit Laura gehabt; und drittens, daß Laura ein genaues Ebenbild ihres Vaters gewesen. Mr. Philipp Fairlie war einer der für ihre Schönheit berühmten Männer seiner Zeit gewesen. Indem er seinen Gemüthsanlagen nach seinem Bruder Frederick vollkommen unähnlich, war er der verzogene Liebling der Gesellschaft, besonders aber der Frauen – ein gefälliger, warmherziger, liebenswürdiger Mann; großmüthig bis zum Fehler, ohne besonders feste Grundsätze und bekannt als durchaus rücksichtslos in Bezug auf moralische Verbindlichkeiten gegen Frauen. Dies waren die uns bekannten Facta und dies der Charakter des Mannes. Gewiß bedarf doch der hieraus sich ergebende klare Schluß keiner näheren Erklärung?

In dem neuen Lichte, welches mir jetzt aufgegangen, trug Mrs. Catherick’s Brief wider ihren Willen ein Schärflein dazu bei, mich in dieser meiner Ueberzeugung zu bestärken. Sie hatte Mrs. Fairlie (in ihrem Briefe an mich) als »häßlich« beschrieben und hinzugefügt, daß sie »dem schönsten Manne in England so lange Fallen gelegt, bis er sie geheirathet habe.« Beide Behauptungen waren unaufgefordert von ihr gemacht worden, und beide waren falsch. Eifersüchtiger Haß (der in einer Frau wie Mrs. Catherick sich lieber in kleinlicher Bosheit Luft machte, als daß sie ihn gar nicht ausgesprochen hätte) schien mir die einzige begreifliche Ursache für die besondere Impertinenz ihrer Erwähnung von Mrs. Fairlie, unter Umständen, die eine solche Erwähnung in keiner Weise nöthig machten.

Die Erwähnung von Mrs. Fairlie’s Namen hier bringt noch eine andere Frage in Anregung. Ahnte sie je, wessen Kind das kleine Mädchen sein mochte, das man nach Limmeridge brachte?

Mariannen’s Zeugniß über diesen Punkt war entscheidend. Mrs. Fairlie’s Brief an ihren Gemahl, der mir früher einmal vorgelesen worden – der Brief, welcher Anna’s Aehnlichkeit mit Laura beschrieb und ihrer eigenen Zuneigung zu der kleinen Fremden erwähnte – war ohne allen Zweifel in vollkommener Herzensunschuld geschrieben. Es scheint sogar fraglich, ob Mr. Philipp Fairlie selbst einem Verdachte der Wahrheit näher gewesen als seine Frau. Der abscheuliche Betrug, unter welchem Mrs. Catherick geheirathet und die Ursache, welche sie dazu bewogen hatte, ließ sie Vorsicht halber oder auch vielleicht Stolzes halber schweigen – selbst wenn man annehmen wollte, daß sie im Stande gewesen, mit dem Vater ihres ungeborenen Kindes während seiner Abwesenheit zu correspondiren.

Als diese Vermuthung sich mir aufdrängte, gedachte ich jener Worte der heiligen Schrift, die uns Allen oft vor die Seele getreten sind und uns mit Schrecken und mit Ehrfurcht erfüllt haben: »Die Sünden der Väter sollen an ihren Kindern heimgesucht werden.« Wäre nicht die unheilvolle Aehnlichkeit zwischen den beiden Töchtern eines Vaters gewesen, so hätte der Anschlag, dessen unschuldiges Werkzeug Anna und dessen unschuldiges Opfer Laura gewesen, nie erdacht werden können. Mit wie unfehlbarer, sicherer Geradheit führte nicht die lange Kette von Ereignissen von des Vaters rücksichtslosem Unrecht zu des Kindes herzbrechendem Leiden hinab! Diese Gedanken und andere in ihrer Begleitung führten meinen Geist fort nach dem kleinen Friedhofe in Cumberland, wo Anna Catherick begraben lag. Ich dachte an jene vergangene Zeit, wo ich sie an Mrs. Fairlie’s Grabe gefunden, und zum letzten Male mit ihr zusammengekommen war; an ihre armen hülflosen Hände, wie sie sich auf den Grabstein legten, und an ihre müden, sehnsüchtigen Worte, die sie ihrer todten Beschützerin und Freundin zumurmelte. »O, wenn ich doch sterben könnte und bei Ihnen ruhen!« Wenig mehr als ein Jahr war vergangen, seit sie jenen Wunsch geflüstert; und auf wie unerforschliche, furchtbare Weise war er bereits erfüllt! Die Worte, die sie am Ufer des Sees zu Laura gesprochen, sie waren wahr geworden. »O, wenn ich doch nur bei Ihrer Mutter liegen könnte! Wenn ich doch an ihrer Seite erwachen dürfte, wenn des Engels Posaune schmettert und die Gräber ihre Todten wieder herausgeben.« Durch welche tödtliche Verbrechen und Schrecken, durch welche dunkle Wendungen des Weges zum Tode war das verlassene Wesen unter Gottes Leitung in jene letzte Heimath eingegangen, welche sie lebend nie zu erreichen gehofft hatte! In dieser heiligen Ruhe lasse ich sie liegen – sie bleibe ungestört bei ihrer todten Freundin! – –

Und so sinkt die gespenstische Gestalt, welche durch diese Blätter geschlichen und mein Leben unheimlich gemacht hat, hinab in die undurchdringliche Finsterniß. Wie ein Schatten kam sie zuerst zu mir in der Stille der Nacht. Wie ein Schatten schwindet sie dahin in der Einsamkeit des Todes.


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