Die Heirat im Omnibus
Erstes Kapitel.
Meine Erzählung tritt nun in ein neues Stadium. Bis zur Zeit meiner Vermählung handelte ich, wie ich in meinem Berichte über diese verschiedenen Ereignisse gezeigt, durch meine eigne Thätigkeit Von diesem Augenblicke aber. an, und einen oder zwei Fälle ausgenommen, änderte sich während des ganzen Jahres, welches meine Prüfung dauerte, meine Stellung eben so wie mein Leben und ward eine rein passive.
Während dieses Zwischenjahres erweckten gewisse Vorfälle meine Neugier, aber niemals meinen Argwohn. Mehrmals fühlte ich vorübergehende Befremdung, aber niemals erwachte in mir der geringste Verdacht.
Jetzt betrachte ich diese Thatsachen wie eben so viele verkannte Warnungen eines noch nicht absolut feindseligen Geschickes. Ich trotzte ohne Zweifel meinem Schicksale; aber konnte ich wohl, durch die Liebe schon verblendet, diese Vorbedeutungen richtig würdigen?
Während der ganzen Dauer dieser Periode ging ich beharrlich dem Rande des Abgrundes entgegen, aber niemals neigte ich mich dem Glauben an ein unheilvolles Resultat zu und vergebens kamen Andeutungen zum Vorscheine, welche mich zur Klugheit hätten ermahnen sollen.
Die Schilderung dieser Warnungen und der Thatsachen, durch welche sie herbeigeführt wurden, ist gleichzeitig die Erzählung der Geschichte dieses langen Jahres, während dessen ich nach dem Augenblicke schmachtete, wo ich sie, die jetzt bloß dem Namen nach mein Weib war, laut als solches begrüßen dürfte.
Diese Thatsachen bezeichnen meinen Weg während dieser Zeit und werden daher der ausschließliche Gegenstand der nächstfolgenden Kapitel sein. Kurz dargelegt, werden sie dazu dienen, diese Epoche meines Lebens in ihr wahres Licht zu sehen, eine Epoche, welche, mit den späteren Ereignissen verglichen, eine lange, aber trügerische Ruhe zu sein scheint, unter welcher sich die Elemente der Unruhe und der Gewaltthat verbergen und condensiren.
Vor allen Dingen ist es jedoch nothwendig, die Beziehungen genau zu bezeichnen, welche ich während dieser Prüfungszeit, die auf unsre Vermählung folgte, mit Margaretben unterhielt.
Mr. Sherwin schien daraus bedacht zu sein, meine Besuche in der Nordvilla so viel als möglich zu beschränken. Augenscheinlich fürchtete er die Folgen, welche allzuhäufige Besuche bei seiner Tochter haben könnten.
Von dieser Seite aber schöpfte ich aus dem wohlverstandenen Bewußtsein meiner Interessen so viel Entschlossenheit als nöthig war, um allen Widerstand Mr. Sherwins zu besiegen. Ich verlangte von ihm, mir das Recht zu gewähren, Margarethen alle Tage zu sehen, indem ich ihm die Bestimmung der Zeit vollständig anheimstellte. Nachdem er allerlei Einwände erhoben, ging er widerstrebend auf mein Verlangen ein.
Ich hatte mich in Bezug auf meine Besuche bei Margarethen durch kein Versprechen gebunden und zeigte mich entschlossen, meinerseits Mr. Sherwin eben so Bedingungen zu stellen, wie er mir die seinigen aufgezwungen.
Demzufolge kamen wir überein, daß Margarethe und ich uns alle Tage sehen sollten. Gewöhnlich kam ich Abends. Wenn die Stunde meines Besuchs eine andere war, so hatte dies seinen Grund in der von Allen begriffenen Notwendigkeit, die Begegnung mit einem von Mr. Sherwins Freunden so viel als möglich zu meiden.
Jene Stunden des Tages oder des Abends, welche ich Margarethen widmete, verflossen nur selten in der wonnigen Unthätigkeit der Liebe. Nicht zufrieden, mir bei unsrer ersten Unterredung alle Fähigkeiten und Fertigkeiten, welche seine Tochter besaß, aufgezählt zu haben, versäumte Mr. Sherwin auch später keine Gelegenheit, sich mit eitler Selbstgefälligkeit über diesen Gegenstand zu verbreiten, und er nöthigte sogar Margarethen, mir eine Probe von ihren Sprachkenntnissen zu geben, wobei er niemals verfehlte, uns daran zu erinnern, daß ihm dies Alles ein schönes Stück Geld gekostet habe.
Eine dieser Gelegenheiten war es, wo mir der Gedanke einkam, mir selbst neue Freuden in Margarethens Gesellschaft zu schaffen, indem ich sie die Literatur, deren Studium augenscheinlich bis jetzt für sie eine ihr aufgezwungene Aufgabe gewesen, richtig verstehen und Geschmack daran finden lehrte.
Meine Phantasie freute sich im Voraus bei dem Gedanken an die Zeit, die wir auf diese Weise verbringen würden. Es schien mir, als begännen wir noch ein Mal die Geschichte Abälard’s und Heloisens und würden für uns den romantischen und poetischen Zauber aufleben lassen, unter dessen Herrschaft die unsterblichen Studien dieser Liebenden begonnen hatten, ohne zu fürchten, daß dieselben Schatten des Verbrechens und des Unglücks das Ende verdunkeln und beschmutzen würden.
Eben so stellte ich mir auch ein ganz besonderes Ziel, indem ich die Leitung von Margarethens Studien in meine eigne Hand zu nehmen wünschte. Sobald das Geheimniß meiner Vermählung offenbart werden konnte, war mein Stolz nicht wenig dabei interessirt, daß die schönen Eigenschaften meiner Gattin die Umwege rechtfertigten, welche ich eingeschlagen, um in ihren Besitz zu gelangen. Ganz besonders meinem Vater gegenüber wollte ich, daß ihr kein andrer Vorwurf zu machen wäre als der ihrer Geburt ——- ein armseliges Argument des verletzten Stolzes, und daß durch die Ausbildung ihres Geistes eben so wie durch so viele andre kostbare Gaben der Natur, sie ihm würdig erschiene, einen der ersten Plätze unter den Frauen der Gesellschaft einzunehmen.
Dieser Gedanke ließ mich meinen Plan liebgewinnen. Ohne Verzug begann ich diese neuen freudenreichen Pflichten zu erfüllen und setzte sie mit einem Eifer fort, der niemals auch nur einen einzigen Augenblick lang erkaltete.
Giebt es wohl unter allen Genüssen, welche ein Mann in der Gesellschaft einer Dame, die er liebt, findet, einen höheren als den, gemeinschaftlich ein und dasselbe Buch zu lesen? In welchem andern Falle bestehen die süßen Vertraulichkeiten der reizendsten Intimität so lange, ohne eintönig zu werden? Wann treten sie freier zu Tage und wann tauschen sie sich natürliche, und rechtzeitiger aus?
Die Abende vergingen daher einer glücklicher als der andere mit dem, was Margarethe und ich unsre Lectionen nannten. Niemals hatten Lectionen in der Literatur so große Aehnlichkeit mit Lectionen in der Liebe. Am häufigsten lasen wir die leichte Poesie der Italiener. Wir studirten die in der Sprache der Liebe geschriebene Poesie der Liebe.
Was jedoch meinen Plan in Bezug auf praktischen Nutzen betraf, indem ich Margarethens Intelligenz zu bereichern und immer mehr auszubilden gedachte, so ward ich unmerklich gezwungen, darauf zu verzichten, denn trotz meines Willens sah ich ein, daß meine Mühe vergebens war.
Das Wenige, was ich in Bezug auf ernsten Unterricht versuchte, hatte nur sehr armselige Resultate. Vielleicht ward der Lehrer all zu sehr durch den Liebhaber in den Hintergrund gedrängt. Vielleicht hatte ich die Fähigkeiten, die ich auszubilden gedachte, zu hoch angeschlagen; aber ich untersuchte damals nicht genau, worin der Fehler eigentlich lag. Ich gab mich ohne Rückhalt dem Wonnegefühle hin, mit Margarethen ein und dasselbe Buch zu lesen, und bemerkte niemals und wünschte nicht zu bemerken, daß ich es war, der langsamer las, während ich Margarethen nur die Erklärung einer sehr kleinen Zahl leichter Stellen versuchen ließ.
Zum Glücke für meine Geduld war während dieser von Mr. Sherwin festgesetzten Prüfungszeit gewöhnlich seine Gattin beauftragt, in dem Zimmer zu bleiben, wo wir uns befanden. Niemand hätte diese undankbaren Pflichten der Ueberwachung auf tactvollere und zartfühlendere Weise zu erfüllen gewußt als sie. Sie hielt sich immer so weit von uns entfernt, daß sie nicht hören konnte, was wir einander zu murmelten. Selten überraschten wir sie dabei, daß sie uns auch nur angesehen hätte. Sie besaß das Geheimniß, ganze Stunden in einem und demselben Winkel des Zimmers sitzen bleiben zu können, ohne jemals ihre Position zu ändern, ohne sich mit irgend einer Arbeit zu beschäftigen, ohne ein Wort zu sprechen oder einen Seufzer hören zu lassen.
Bald entdeckte ich jedoch, daß sie in diesem Augenblicke nicht, wie ich anfangs gedacht, in ihre Betrachtungen, sondern in eine seltsame geistige und körperliche Lethargie versunken war, gleich jener Schlafsucht und allgemeinen Erschlaffung, welche die ersten Stunden der Genesung nach einer langen Krankheit zu begleiten pflegt.
Dabei blieb ihr Zustand immer derselbe und ward niemals besser oder schlimmer. Oft redete ich sie an und bemühte mich, ihr Theilnahme zu beweisen und ihr Vertrauen und ihre Freundschaft zu gewinnen. Die arme Frau war auch stets dankbar dafür und sprach stets freundlich, aber nur kurz mit mir. Niemals sagte sie mir, worin ihre Leiden oder ihre Kümmernisse bestanden.
Die Geschichte dieser einsamen Existenz, welche langsam dem Verlöschen entgegenging, war ein undurchdringliches Geheimniß für ihre eigne Familie, für ihren Gatten und für ihre Tochter eben so wie für mich. Es war ein Geheimniß zwischen ihr und Gott.
Man wird leicht begreifen, daß ich mit einer Wächterin, wie Mistreß Sherwin, keinem zu harten Zwange unterworfen war. Ihre Gegenwart als dritte Person, mit dem Auftrage uns nicht aus den Augen zu verlieren, vermochte nicht, die kleinen Liebkosungen zu hindern, die wir während der Abendlection einander bewiesen. Dennoch aber machte sie sich hinreichend bemerkbar, so daß diese Liebkosungen immer den Charakter verstohlener und gestohlener Freuden behielten und aus diesem Grunde nur um so kostbarer wurden. Mistreß Sherwin wußte niemals, und ich selbst erfuhr erst später, wie sehr meine Geduld während dieses Prüfungsjahres ihren Grund in ihrem Benehmen hatte, während sie mit Margarethen und mir in demselben Zimmer saß.
In der Einsamkeit, in welcher ich jetzt, wo ich dies schreibe, lebe, und im Schoße dieses neuen Lebens, welches aus das Leben todter Hoffnungen und Freuden gefolgt ist, versetze ich mich in Gedanken, oft in die Zeit jener Abende in der Nordvilla und dann schaudre ich.
In diesem Augenblicke sehe ich das Zimmer wieder wie in einem Traume, mit dem kleinen runden Tische, der Schirmlampe und den vor uns ausgeschlagenen Büchern. Matgarethe und ich sitzen dicht neben einander. Ihre Hand ruht in der meinen. Mein Herz pocht an dem ihrigen. Liebe, Jugend und Schönheit —- dieses so leicht verwelkende Kleeblatt, welches diese Welt anbetet —- sind hier in diesem von mildem Lampenschimmer erleuchteten Zimmer gegenwärtig, aber wir sind nicht allein.
Dort in dem ernsten und düstersten Theile des Zimmers sitzt eine einsame Gestalt in der unbeweglichen Haltung des Kummers. Es ist eine Frauengestalt, aber wie gebeugt und niedergedrückt! Ein Frauengesicht, aber starr und leichenhaft; Augen, welche in den leeren Raum hineinschauen, Lippen, in welchen keine Faser zuckt, Wangen, welche das Blut nicht röthet und die nie wieder von dem frischen Incarnate der Gesundheit und Freude beseelt werden sollen.
Doch, ich entferne mich von meiner Aufgabe.
Ich muß meine Erzählung wieder aufnehmen, obschon ich tastend meinen Weg im Finstern zu suchen beginne.
Der theilweise Zwang und eine gewisse Verlegenheit in Manieren und Sprache, die anfangs durch die Seltsamkeit des Fußes verursacht ward, auf welchem meine Gattin und ich lebten, traten in Folge meiner häufigen Besuche in der Nordvilla allmählich in den Hintergrund.
Es dauerte nicht lange, so sprachen wir gegenseitig mit jener ungezwungenen Freimüthigkeit, welche die Frucht des längern Umgangs ist.
Margarethe machte gewöhnlich von ihrem Talente für die Conversation bloß Gebrauch, um das meinige dadurch zu wecken. Niemals ward sie müde, mich auf das Kapitel meiner Familie zu bringen. Sie hörte mir aufmerksam zu und gab ihr Interesse auf die lebhafteste Weise zu erkennen, wenn ich von meinem Vater, meiner Schwester oder von meinem Bruder erzählte.
Jedes Mal aber, wo sie in Bezug auf eine dieser Personen das Wort an mich richtete, geschah es, um mich zu bewegen, von Dingen zu sprechen, die weniger ernsthaft waren als der Charakter. Ihre Fragen bezogen sich stets auf die äußere Erscheinung, auf die täglichen Gewohnheiten, auf die Toilette, auf Bekanntschaften, auf die Dinge, für welche Geld ausgegeben ward, und andere dergleichen Gegenstände mehr.
So hörte sie mir z. B. allemal sehr aufmerksam zu, wenn ich ihr von dem Charakter meines Vaters und von den Prinzipien und Vorurtheilen erzählte, welche sein Leben regelten. Sie zeigte sich vollkommen geneigt, die Lehren zu benutzen, die ich ihr im Voraus über die Zurückhaltung gab, die sie zeigen sollte, wenn er ihr vorgestellt werden würde.
Es war dies überhaupt ein Gegenstand, auf welchen ich sehr häufig zurückkam, denn zuweilen ertappte ich mich dabei, daß ich wirklich die Hoffnungen hegte, die ich in Bezug auf die Vorstellung meiner Gattin aussprach.
Bei diesen Gelegenheiten aber interessirte es sie mehr, zu erfahren, wie viel Diener mein Vater hielte, ob er oft an den Hof ginge, wie viel Lords und Ladies er kennte, wie er sich gegen seine Diener benahm, wenn diese ein Versehen begingen, ob er jemals unwillig auf seine Kinder sei, wenn sie Geld von ihm verlangten, und ob er meiner Schwester eine bestimmte Summe zu ihren Toiletteausgaben gewährt.
So oft ferner unsre Conversation sich um Clara drehte, wenn ich anfing von ihrer Güte, von ihrer Sanftmuth von ihren zarten Aufmerksamkeiten und den einfachen Manieren zu sprechen, welche alle Herzen gewannen, konnte ich sicher sein, unmerklich zu einer Abschweifung über ihren Wuchs, ihr Gesicht, ihren Teint und ihre Toilette verleitet zu werden.
Dieser letztere Gegenstand interessirte Margarethen namentlich, und sie ward nicht müde, zu fragen, wie Clara sich des Morgens Kleide, wie sie sich coiffüre, welche Nachmittagstoilette sie mache, ob sie sich für ein großes Diner anders costümire als für einen Ball, welche Farben sie am meisten liebe, wer ihr Friseur sei, ob sie viel Schmuck trage, was sie vorzugsweise in das Haar stecke, ob sie Blumen eleganter fände als Perlen, wie viel neue Toiletten sie jährlich anschaffe und ob sie eine Dienerin speciell für sich habe.
Dann wollte sie auch wissen, ob sie einen eignen Wagen habe, welche Damen ihr bei ihren Besuchen in der Gesellschaft als Begleiterinnen dienten, ob sie den Tanz liebe, welche Tänze in den Soireen der vornehmen Welt jetzt Mode wären, ob die jungen Damen der höhern Gesellschaft viel Fleiß auf das Pianofortespiel verwendetem wie viele Bewerber meine Schwester schon gehabt, ob sie auch bei Hofe empfangen werde wie mein Vater, was sie von den Herren spräche und was diese über sie äußerten, ob, wenn sie mit einem Herzoge spräche, dieser ihr einen Stuhl oder ein Glas Eis böte und gegen sie überhaupt die Pflichten der Courtoisie erfülle, welche die Herren gewöhnlich den Damen der Gesellschaft gegenüber auf sich nehmen.
Meine Antworten auf diese und hundert ähnliche Fragen wurden von Margarethen mit der lebhaftesten Aufmerksamkeit angehört. Ueber das beliebtes Thema der Toilette Clara’s waren meine Antworten für. sie eine unerschöpfliche Quelle des Vergnügens. Sie gefiel sich darin, mich siegreich aus der Verlegenheit zu ziehen, wenn ich mich bei Beschreibung von Shawls, Kleidern und Hüten unbeholfen ausdrückte, und lehrte mich, der Sprache der Modewaarenhändler gemäß, die Ausdrücke, deren ich mich hätte bedienen sollen. Ihre triumphirende Miene, ihr ernst komischer Ton, wenn sie mich in diesen Dingen belehrte, entzückten mich.
Zu jener Zeit dünkte jedes Wort, welches sie sprach, wie unbedeutend und nichtssagend es auch sein mochte, meinen Ohren die süßeste Musik zu sein. Nur durch die bittere Erfahrung, welche ich später erlangte, lernte ich ihre Conversation analysiren. Zuweilem wenn ich nicht bei ihr war, faßte ich den Gedanken, ihre mädchenhafte Neugier auf ein edleres Ziel zu lenken; sobald ich sie aber wieder sah, entschwand dieser Gedanke und ich fand schon genug Genuß darin, sie sprechen zu hören, ohne weiter zu überlegen, weßhalb und was sie sprach.
Dies waren die Tage, welche für mich in Glück und Gedankenlosigkeit verflossen, während meine Brust sich im hellen Sonnenscheine der Liebe erweiterte. Meine Augen waren geblendet und dadurch ward mein Verstand eingeschläfert. Ein oder zwei Mal schien eine drohende Wolke Alles um mich her erkälten und verdüstern zu wollen, aber sie zerrann wieder und die Sonne brach wieder hervor und war für mich dieselbe wie vorher.
Zweites Kapitel.
Der erste Vorfall, welcher die ruhige Gleichförmigkeit des Lebens in der Nordvilla unterbrach, war folgender:
Eines Abends, als ich in den Salon trat, fand ich hier nicht Mistreß Sherwim sondern zu meinem großen Aerger ihren Gatten, der sich für diesen Abend hier festsetzen zu wollen schien. Er schien in einiger Aufregung zu sein, und die ersten Worte, mit welchen er mich anredete, waren:
»Denken Sie sich nur —— Mr. Mannion ist wider da! Er ist wenigstens zwei Tage eher zurückgekommen, als ich ihn erwartete.«
Zunächst fühlte ich mich versucht zu fragen, wer Mr. Mannion sei und in welcher Beziehung seine Rückkunft meine Person interessiren könne; beinahe in demselben Augenblicke aber besann ich mich, daß Mr. Mannion’s Name schon bei meiner ersten Unterredung mit Mr. Sherwin erwähnt worden war. Gleichzeitig versuchte ich mir das Portrait zurückzurufen, welches man mir von ihm entworfen.
Man hatte mir ihn als Mr. Sherwin’s Geschästsführer oder Buchhalter und als einen Mann von etwa vierzig Jahren geschildert, welcher einen hohen Grad von Bildung besäße und Margarethen bei der Fortsetzung der in dem Pensionat begonnenen Studien an die Hand gegangen sei.
Mehr wußte ich über ihn nicht, und meine Neugier trieb mich auch nicht, aus Mr. Sherwins Munde mehr zu erfahren.
Margarethe und ich setzten uns wie gewöhnlich an den Tisch und nahmen unsere aufgeschlagenen Bücher zur Hand. Ich bemerkte etwas Lebhaftes und Aufgeregtes in dem Empfange, den sie mir angedeihen ließ. Als wir anfingen, zu lesen, gab sie alle Minuten Beweise von auffallender Zerstreutheit, und mehrmals drehte sie sich nach der Thür herum. Mr. Sherwin ging fortwährend im Zimmer auf und ab, und blieb ein einziges Mal stehen, um mir mitzuteilen, daß Mr. Mannion noch denselben Abend ihn besuchen würde und daß er nichts mir Unangenehmes zu thun hoffe, wenn er mich einem Manne vorstelle, der ganz wie ein Mitglied der Familie betrachtet und mir wegen seiner literarischen Bildung ganz gewiß gefallen werde.
Ich fragte mich im Stillen, was für ein ganz außerordentlicher Mann dieser Mr. Mannion sein müsse, daß seine Ankunft in dem Hause seines Prinzipals eine solche Sensation hervorrief. Ich flüsterte Margarethen leise einige Worte hierüber zu; sie begnügte sich jedoch, auf ein wenig verlegene Weise zu lächeln und antwortete Nichts.
Endlich ließ der Ton der Klinge! sich vernehmen. Margarethe zuckte ein wenig zusammen. Mr. Sherwin setzte sich und suchte eine würdevolle Haltung anzunehmen. Die Thür öffnete sich und Mr. Mannion trat ein.
Mr. Sherwin empfing seinen Buchhalter, indem er in seinen Worten die Autorität des Herrn affectirte; aber sein Ton und seine Manieren standen mit dieser studirten Sprache in Widerspruch. Margarethe erhob sich rasch und setzte sich auf nicht weniger schnelle Weise wieder, während Mr. Mannion ihr ehrerbietig die Hand reichte und die gewöhnlichen Fragen der Höflichkeit an sie richtete. Hierauf ward er mir vorgestellt, während Margarethe hinauf in das Zimmer ihrer Mutter ging, um sie herunterzuholen.
Während ihrer Abwesenheit konnte ich meine Aufmerksamkeit ganz nach Belieben auf diesen Mr. Mannion richten. Ich empfand, indem ich ihn ansah, ein Gefühl von Neugier, gemischt mit einem Interesse, welches ich mir anfangs kaum zu erklären vermochte.
Wenn außerordentliche Regelmäßigkeit der Züge für sich allein hinreicht, um die Schönheit eines männlichen Gesichts auszumachen, so war Mr. Sherwin’s Buchhalter sicherlich einer der schönsten Männer, die ich jemals gesehen. Abgesehen von dem Kopfe, der hinten wie vorn ein wenig zu breit war, zeigte sein ganzer Wuchs die vollkommenste Symmetrie.
Der obere Theil des Kopfes war kahl, glatt und massiv wie Marmor. Seine hohe Stirn und seine schmalen Augenbrauen besaßen ebenfalls die Festigkeit und Unbeweglichkeit des Marmors, während sie auch nicht weniger kalt zu sein schienen. Ausgenommen wenn er sprach, waren die feingeschnittenen Lippen gewöhnlich fest geschlossen und so ruhig und unbeweglich, als wenn der Hauch des Lebens nicht zwischen ihnen aus- und einginge. Ohne diese kahle Stirn aber und ohne das ergrauende Haar, welches sich an seinem Hinterhaupte und zu beiden Seiten des Kopfes zeigte, wäre es unmöglich gewesen, nach seinem Aeußern auf sein Alter zu schließen, ohne sich wenigstens um zehn Jahre zu irren.
Von dieser Art war die äußere Erscheinung Mr. Mannion's; aber dabei entdeckte ich auf seinem Gesichte keinen Ausdruck und in seinen Zügen keinen Abglanz der unsterblichen Seele.
Niemals hatte ich ein Gesicht gesehen, welches so sehr wie das seine aller physiognomischen Conjecturen spottete. Es sagte Nichts von seinen Gedanken, wenn er sprach, Nichts von seinem moralischen Charakter, wenn er schwieg. Seine hellen durchsichtigen grauen Augen waren den Bemühungen des Beobachters, ihn zu durchschauen, nicht förderlich. Sie bewahrten unabänderlich einen festen, geradeausgehenden Blick, der für Margarethen ganz genau derselbe war wie für mich, und für Mr. Sherwin derselbe wie für dessen Gattin, mochte er nun plaudern oder schweigen, mochte er von gleichgültigen oder von ernsten Dingen sprechen.
Wer war er? Wovon lebte er? Seinen Namen, seinen Beruf zu nennen, wäre eine sehr ungenügende Antwort aus diese Frage gewesen. War seine Natur so kalt, daß sie durch Nichts in Bewegung gesetzt werden konnte? Oder hatte eine gewaltige Leidenschaft das Leben in ihm so vollständig vernichtet, daß nur diese todte Hülle übrig geblieben war?
Hier öffnete sich ein weites Feld für Muthmaßungen Es war aus den bloßen Anblick hin unmöglich zu bestimmen, ob er ein kaltes oder feuriges Temperament hatte, und ob seine Intelligenz sich der Beobachtung oder dem Nachdenken zuneigte. Man hatte in ihm ein undurchdringliches, alles Ausdrucks entkleidetes Gesicht vor sich, ohne daß es deshalb Nichts sagend gewesen wäre —— ein lebendiges Räthsel, welches weder mit den Augen noch mit dem Verstande gelöst werden konnte —— eine Außenseite, die Etwas verbarg —- aber war es Tugend oder Laster?
Sein durchaus schwarzes Costüm erhöhete noch diesen Ausdruck von Verschlossenheit und Undurchdringlichkeit.
Was seinen Wuchs betraf, so war derselbe mehr als Mittelstatur. Nur durch seine Manieren schien er Etwas für die Beobachtung Anderer zu liefern. In Rücksicht auf den Posten, den er bekleidete, verrieth seine Haltung, so discret sie auch war, einen Mann, der nicht an seinem rechten Platze war. Er besaß jene vollkommene und ruhige Ungezwungenheit eines Mannes vom besten Tone. Er bewahrte seine elegante höfliche Haltung, ohne ein einziges Mal Dünkelhaftigteit zu verfallen. Seine Sprache war bestimmt und präcis wie seine Geberde, ohne daß er deswegen anmaßend oder dreist erschien.
Ehe ich noch fünf Minuten in seiner Gesellschaft zugebracht, war ich überzeugt, daß er von seinem eigentlichen socialen Standpuncte auf den, welchen er jetzt einnahm, herab gestiegen war.
Als er mir vorgestellt ward, verneigte er sich, ohne ein Wort zu sprechen. Wenn er mit Mr. Sherwin sprach, war seine Stimme beinahe eben so monoton als sein Gesicht, besaß aber dabei entschiedenen Wohlklang. Er sprach besonnen, ruhig und langsam, aber ohne, wie so viele Leute, die dies thun, gewisse Worte mit besonderem Nachdrucke hervorzuheben und ohne im Bezug auf die Wahl der Ausdrücke lange unschlüssig zu sein.
Als Mistreß Sherwin eingetreten war, begann ich diese in ihrem Benehmen gegen den Buchhalter ihres Gatten zu beobachten Als er sich ihr näherte und ihr einen Stuhl bot, konnte sie ein leichtes krampfhaftes Zusammenfahren nicht verbergen. Als er sich nach ihrer Gesundheit erkundigte, antwortete sie ihm, ohne ihn ein einziges Mal anzusehen. Ihre Augen blieben vielmehr während dieser ganzen Zeit auf Margarethen und auf mich mit einem Ausdrucke von Schwermuth und Trauer geheftet, der seit jenem Tage oft wieder in meiner Erinnerung aufgetaucht ist. In Gegenwart ihres Gatten schien die arme Frau stets mehr oder weniger in Furcht zu sein; vor Mr. Mannion aber war sie geradezu wie von eisigem Erstarren ergriffen.
Mit Einem Worte, schon bei dieser ersten Unterredung, während welcher ich Muße hatte, diesen sogenannten Buchhalter in der Nordvilla zu beobachten, war ich überzeugt, daß er hier der Herr sei; aber ein Herr, der sich auf gemessene und discrete Weise zu benehmen wußte. Er stellte sich die Aufgabe, Nichts von dieser Ueberzeugung durchblicken zu lassen; aber die Wahrheit offenbarte sich durch die Blicke und die Manieren seines Prinzipals und der Familie desselben, jetzt, wo er an einem und demselben Tische mit ihm saß. Die Augen Margarethens befragten die seinigen weit öfter als die ihrer Eltern; aber Mr. Mannion beobachtete gegen sie durchaus nicht dasselbe Verfahren, denn er sah sie nur an, wenn die gewöhnliche Höflichkeit es durchaus verlangte.
Wenn mir Jemand vorhergesagt hätte, daß ich meine gewöhnlichen Abendbeschäftigungen mit meiner jungen Gattin aussetzen würde, um den Mann, der eben die Ursache dieser Unterbrechung war —— noch dazu Mr. Sherwins Buchhalter! —— besser zu beobachten, so würde ich eine solche Voraussetzung verlacht haben.
Aber dennoch war dem so. Unsere Bücher lagen auf dem Tische unbeachtet von mir, vielleicht auch unbeachtet von Margarethen, und zwar bloß um Mr. Mannion's willen.
Die Conversation spottete, wenigstens während dieses ersten Beisammenseins, meiner Neugier eben so vollständig als sein Gesicht. Ich bemühete mich, ihn zum Sprechen zu bringen. Er antwortete mir —— und dies war Alles —— in den anständigsten und ehrerbietigsten Redensarten, und drückte sich auf sehr verständliche, aber dabei auf sehr lakonische Weise aus.
Nachdem Mr. Sherwin ihm ein Langes und Breites über die Speculation vorgeschwatzt, weßwegen er ihn nach Lyon geschickt, um einen Einkauf von Seidenwaaren zu machen, richtete er im Bezug auf Frankreich und die Franzosen einige Fragen an ihn, die augenscheinlich von der 1ächer1ichsten Unkenntniß dieses Landes und seiner Bewohner eingegeben wurden.
Mr. Mannion berichtigte seine Irrthümer, erlaubte sich aber Nichts weiter. Es lag dabei in seiner Stimme nicht der mindeste sarkastische Ton, und sein Blick widerlegte den Verdacht heimlichen Spottes.
Wenn wir unter uns sprachen, nahm er nicht Theil an der Conversation, sondern wartete ruhig und ohne seinen Platz zu verlassen, bis eine fernerweite Frage direct an ihn gerichtet würde. Es tauchte nun ein unklarer Argwohn auf, der mir selbst in der Zeit, wo ich seinen Charakter zu studiren suchte, als Zielpunct diente, und oft drehete ich mich rasch nach ihm herum, um zu sehen, ob er mich ansähe; aber niemals ertappte ich ihn dabei.
Seine so wenig lebhaften grauen Augen waren weder auf mich noch auf Margarethen geheftet, sondern am häufigsten auf Mistreß Sherwin, die aber diesen Blick niemals auszuhalten vermochte.
Nachdem er ein wenig über eine halbe Stunde geblieben, erhob er sich, um wieder fortzugehen. Während Mr. Sherwin sich vergebens bemühete, ihn zu bestimmen, noch länger zu bleiben, lenkte ich meine Schritte nach dem runden Tische am andern Ende des Zimmers, auf welchem das Buch lag, in welchem Margarethe und ich uns vorgenommen hatten, diesen Abend zu lesen.
Ich stand an diesem Tische, als Mr. Mannion auf mich zukam, um Abschied von mir zu nehmen.
Sein Blick heftete sich auf das Buch, welches ich in der Hand« hielt, und er sagte mir in einem Tone, der zu leise war, um an dem andern Ende des Zimmers gehört werden zu können:
»Ich will nicht fürchten, daß ich Sie heute Abend in Ihren Beschäftigungen gestört habe, Sir. Mr. Sherwin, welcher überzeugt ist von dem Interesse, welches ich nothwendig an Allem nehme, was die Familie eines Prinzipals betrifft, dem ich seit so langen Jahren diene, hat mich im Vertrauen —- und ich weiß, welche Verschwiegenheit mir dieses Vertrauen zur Pflicht macht ——- von Ihrer Vermählung mit seiner Tochter und von den eigenthümlichen Umständen unterrichtet, unter welchen diese Heirath geschlossen worden ist. Ich hoffe, daß es mir gestattet sein wird, Sir, dieser jungen Dame zu der Veränderung ihres Standes und zu den neuen Quellen intellectueller Freuden, welche Sie ihr erschließen werden, Glück zu wünschen.«
Er verneigte sich und zeigte mit dem Finger aus das Buch, welches ich mittlerweile auf den Tisch gelegt hatte.
»Ich glaube, Mr. Mannion,« sagte ich, »daß ich Ihnen viel Dank für den Beginn und die Leitung der Studien schuldig bin, auf welche Sie, wie ich vermuthe, eben anspielten.«
»Ich bin stets bemüht gewesen, Sir, mich meinem Prinzipale hier wie überall, wo ich ihm habe dienen« können, nützlich zu machen.«
Er verneigte sich abermals, indem er diese Worte sprach, und verließ dann den Salon, während Mr. Sherwin ihm folgte und in dem Nebenzimmer noch einige Worte mit ihm sprach.
Was hatte er zu mir gesagt? bloß einige höfliche in sehr ehrerbietigem Tone gesprochene Worte.
Diesen wenigen Worten ward weder durch eine besondere Betonung noch durch einen Blick eine hervortretende Bedeutung gegeben. Vielleicht hatte er, indem er sie sprach, nur noch ein wenig mehr Phlegma und Ruhe gezeigt, als ich bis jetzt an ihm bemerkt; aber dies war Alles.«
Dennoch aber begann ich in dem Augenblicke, wo er mir den Rücken wendete, über seine Worte nachzudenken, als ob sie einen verborgenen Sinn enthielten, der mir anfänglich entgangen sei, und mir so viel als möglich seine Stimme und seine Geberde wieder zu Vergegenwärtigen, um dadurch zur Entdeckung des wirklichen Sinnes geleitet zu werden. Ich fühlte in mir eine lebhafte Neugier im Bezug auf diesen Mann erwachen. Es war, wie ich so eben gefunden, unmöglich, seinen Charakter an irgend einem Zeichen, sei es nun in der Physiognomie, sei es in der Conversation, zu erkennen.
Ich befragte Margarethen hierübet. Sie konnte mir auch nicht viel mehr sagen, als ich schon wußte. Er war stets gefällig gewesen; er hatte ihr eine Menge Dienste zu leisten gewußt; er war ein gewandter Mann, der eine Conversation lange im Gange zu erhalten verstand, wenn er sonst wollte, und er hatte sie im Studium der Sprachen und der fremden Literaturen in Einem Monate mehr Fortschritte machen lassen, als sie im Pensionat innerhalb eines ganzen Jahres gemacht hatte.
Während sie mir dies sagte, achtete ich kaum auf den mürrischen Ton ihrer Worte und auf die Hast, mit der sie ihre Bücher und ihre Arbeit auf dem Tische zurechtlegte.
Mistreß Sherwin zog meine Aufmerksamkeit noch mehr auf sich. Ich war überrascht, zu sehen, wie ihr Körper, sobald Margarethe sprach, sich vorwärts bog und wie ihre Augen sich auf ihre Tochter hefteten, und zwar mit einem Grade von Energie, den man der sonst so schwachen und passiven Frau nicht zugetraut hätte.
Ich dachte eben daran, sie ebenfalls über Mr. Mannion zu befragen; in diesem Augenblicke aber trat Mr. Sherwin in das Zimmer, und nun suchte ich mir durch diesen mehr Auskunft zu verschaffen.
»Ja, ja,« rief Mr.Sherwin, indem er sich mit triumphirender Miene die Hände rieb, »ich wußte wohl, daß Mannison Ihnen gefallen würde. Ich hatte es Ihnen wohl gesagt. Sie werden sich erinnern, daß ich es Ihnen; schon vor seinem Besuche sagte. Er ist ein interessanter Mann, ein sehr interessanter Mann, nicht wahr?«
»Ich kann weiter Nichts behaupten, als daß ich in meinem ganzen Leben noch kein Gesicht gesehen habe, welches die entfernteste Aehnlichkeit mit dem seinigen hätte. Ihr Buchhalter, Mr. Sherwin, ist ein lebendiges Räthsel welches ich nicht lösen kann. Margarethe wird mir, fürchte ich, dabei auch nicht sehr förderlich sein können. Als Sie eintraten, stand ich eben im Begriffe, zu Mistreß Sherwin meine Zuflucht zu nehmen, um vielleicht von dieser ein wenig Beistand zu erlangen.«
»O, thun Sie. das nicht, denn Sie würden sich in Ihrer Erwartung täuschen. Meine Frau scheint sich in seiner Gesellschaft nicht sehr wohl zu fühlen, und wenn ich erwäge, wie sie sich gegen ihn benimmt, so wundere ich mich, daß er so höflich gegen sie sein kann.«
»Das mag sein; aber können denn Sie selbst, Mr. Sherwin, meine Neugier im Bezug aus diesen Mann befriedigen?«
»Ich kann Ihnen sagen, daß es in ganz London kein Handelshaus gibt, weiches einen solchen Buchhalter und Disponenten besitzt, wie dieser ist. Er ist mein Factotum, meine —— meine rechte Hand, mit Einem Worte, und auch meine Linke Hand, so viel Dienste leistet er mir. Er versteht meine Art, Geschäfte zu machen, ausgezeichnet und ist im Abschließen eines Handels unübertrefflich. Er würde schon wegen der Art und Weise, auf welche er die jüngeren Commis zu schulen weiß, so viel Gold werth sein als er schwer ist. Die armen Teufel! Sie scheinen nicht zu wissen, wie er es macht, aber er besitzt eine ganz besondere Manier, sie mit seinem kalten Auge anzusehen, vor welchen sie sich, glaube ich, mehr fürchten als vor Deportation und Galgen. Sie können mir auf mein Ehrenwort glauben, wenn ich Ihnen versichere, daß er, seitdem er bei mir ist, nicht einen einzigen Tag krank gewesen ist und auch nicht ein einziges Versehen begangen hat. Stets mit Ruhe, Festigteit und Pünktlichkeit zu Werke gehend, ist er in der Arbeit uuverwüstlich. Und wie dienstfertig und gefällig ist er auch außerhalb des Geschäfts! Ich brauche bloß zu ihm« zu sagen: »Mangarethen ist aus dem Pensionat wieder da —— sie hat Ferien,« oder: »Wir haben uns vorgenommen, Margarethen die Hälfte des Jahres zu Hause zu behalten —— was ist zu thun, damit sie nicht der Frucht ihrer Lectionen verlustig gehe; denn ich kann weder eine Gouvernante bezahlen —— ein schlechtes Unterrichstssystem ist das der Gouvernanten —— noch sie länger in der Pension lassen,« und sofort entreißt sich Mannion seinen Büchern und seinem stillen Kamine, an welchem er seine Abende zuzubringen pflegt. O, es ist Etwas, denke ich, für einen Mann von seinem Alter, ohne weitere Entschädigung den Lehrer zu machen, und zwar einen Lehrer von erster Qualität. Das nenne ich einen Juwel besitzen, und dennoch und trotz der vielen Jahre, die er bei uns verlebt hat, ist meine Frau fortwährend mürrisch und unfreundlich gegen ihn. Ich möchte wissen, was für einen Grund sie dazu hätte -— ich bin überzeugt, sie wird keinen angeben können.«
»»Wissen Sie denn, wo er beschäftigt gewesen ist, ehe er zu Ihnen kam?«
»Ah, da haben Sie den delikaten Punct berührt. In dieser Beziehung haben Sie allerdings Recht, wenn Sie von Räthsel und Geheimniß sprechen. Sie wollen wissen, was er gemacht hat, ehe er mit mir in Verbindung trat? Das kann ich Ihnen nicht genau sagen. Er kam zu mir mit der Empfehlung und Bürgschaft eines hochgestellten Mannes, dessen ehrenwerther Charakter offenkundig ist wie der Tag. Ich hatte in meinem Geschäfte einen Posten vacant und nahm ihn auf-Probe. Sehr bald erkannte ich seinen Werth. Ich verstehe mich ein wenig darauf, meine Leute zu beurtheilen. Ehe ich mich an dieses ganz eigenthümliche Gesicht, welches er den Leuten zeigt, an seine gemesssenen Manieren und Alles dergleichen gewöhnen konnte, empfand ich den lebhaften Wunsch, mehr von ihm zu wissen. Zu diesem Zwecke wendete ich mich an seinen Freund, an denselben, der mir ihn empfohlen. Dieser konnte mir aber auch keine Aufklärung geben und ich erhielt von ihm bloß die Zusicherung, daß sein Schützling das vollständigste Vertrauen verdiene. Eines Tages ging ich nun geraden Weges auf das Ziel los und befragte Mannion selbst über seine Vergangenheit. Er antwortete mir, er habe Gründe, Niemanden von seinen Familienangelegenheiten zu unterrichten; weiter erfuhr ich Nichts. Sie kennen nun seine Art und Weise, und er hat seit dieser Zeit unausgesetzt verstanden, mir im Bezug auf so1che Fragen den Mund zu verschließen. Ich wollte nicht gern mich der Gefahr aussehen, den besten Gehilfen, den man haben kann, zu verlieren, daß ich weiter in ihn dränge, um seine Geheimnisse zu erfahren. Mit den Geschäften und mit mir hatten diese ja Nichts zu schaffen, und deshalb that ich meiner Neugier Zwang an. Ich weiß demnach über ihn weiter Nichts, als daß er meine rechte Hand und der ehrlichste Männ ist, der jemals Gottes Erdboden betreten hat. Und wenn er der verkappte Geoßmogul wäre, so würde ich mich weiter nicht darum kümmern. Vielleicht haben Sie, mein lieber Freund, das große Talent, zu erforschen, was er verbergen will; ich meines Theils verzichte darauf.«
»Nach Dem, was Sie mir da gesagt haben, Mr. Sherwin, glaube ich, daß ich auch nicht mehr Glück haben würde als Sie.«.
»Hm! das weiß ich weiter nicht. Es giebt mitunter sonderbare Möglichkeiten, wissen Sie. Jedenfalls werden Sie sehr oft Gelegenheit haben, ihn zu sehen. Er wohnt hier ganz in der Nähe und wir sehen ihn beinahe alle Abende. Wir haben unsere festbestimmten Stunden, um von Geschäften zu sprechen, und außerdem kommt er auch oft hier herauf, um ein wenig mit mir zu plaudern. Wir betrachten ihn als Familienglied; begegnen Sie auch ihm als einem solchen und sehen Sie zu, daß er sich gegen Sie so vertraulich als möglich ausspricht. Ja, ja, liebe Frau, schmolle wie Du willst. Ich sage nochmals, er gehört zur Familie. Früher oder später werde ich ihn zu meinen! Affocie machen, und dann wirst Du Dich an ihn gewöhnen müssen, magst Du wollen oder nicht.»
»Noch eine einzige Frage: Ist er verheirathet?«
»Nein, er ist Garcon —— ein alter solider Junggeselle. Die Damen würden sich umsonst bemühen, ihn in ihr Netz locken zu wollen.«
Während dieses ganzen Zwiegesprächs hatte Mistreß Sherwin uns mit der ernstesten und aufmerksamsten Miene betrachtet, die ich bis jetzt an ihr bemerkt. Sogar ihre krankhafte Erschlaffung schien der lebendigsten Neugier zu weichen, sobald von Mr.Mannion die Rede war. Vielleicht vertrat hier ihre Antipathie die Stelle eines Reizmittels.
Margarethe hatte ihren Stuhl in den Hintergrund des Zimmers geschoben, während ihr Vater sprach, und der Gegenstand des von uns begonnenen Gesprächs schien sie sehr wenig zu interessiren, Die erste Pause, welche in« unserem Gespräche eintrat, benutzte sie, um sich über Kopfweh zu beklagen, und bat um Erlaubniß, sich auf ihr Zimmer zurückziehen zu dürfen.
Sobald sie uns verlassen hatte, schickte ich mich ebenfalls zum Fortgehen an; denn augenscheinlich hatte Mr. Sherwin mir über seinen Geschäftsführer Nichts mehr zusagen, was der Mühe verlohnt hätte, gehört zu werden.
Auf meinem Nachhausewege beschäftigte Mr. Mannion meine Gedanken beinahe ausschließlich.
Der Gedanke, alles Mögliche aufzubieten, um das Geheimniß zu durchdringen, in welches dieser Mann sich hüllte, hatte für meine Phantasie etwas Verlockendes, und ich fühlte, daß eine rastlose Neugier mich bei meinen Nachforschungen anspornen würde. Ich beschloß, mich über diesen Gegenstand im Stillen mit Margarethen zu besprechen und sie zu meiner Verbündeten zu machen, die meine Pläne fördern könnte.
Wenn wirklich ein Roman sich an Mr. Mannion’s Vergangenheit knüpfte, wenn dieses seltsame Gesicht wirklich ein versiegeltes Buch war, welches eine geheime Geschichte enthielt, wie stolz und froh mußten dann Margarethe und ich sein, wenn es uns gelang, dieses Räthsel zu lösen!
Als ich den nächstfolgenden Morgen erwachte, überredete ich mich nur mit Mühe, daß dieser Commis oder Buchhalter meine Neugierde in so hohem Grade interessirt hatte, daß meiner jungen Gattin während des vorigen Abends die Hälfte meiner Gedanken geraubt worden war.
Und dennoch äußerte er das erste Mal, wo ich ihn wieder sah, genau denselben Eindruck auf mich.
Drittes Kapitel
Es vergingen einige Wochen Margarethe und ich hatten uns wieder unsern frühern Beschäftigungen und Vergnügungen gewidmet. Das Leben in der Nordvilla verging in so eintöniger Ruhe wie gewöhnlich, und ich erfuhr über die Geschichte und den Charakter des räthselhaften Mr. Mannion so wenig als vorher. Oft fand er sich Abends ein, aber meistentheils, um mit Mr. Sherwin in dessen Zimmer zu sprechen, und nahm nur selten die Einladung an, die sein Prinzipal stets an ihn ergehen ließ, sich der Gesellschaft in dem Salon anzuschließen.
In diesen seltenen Zwischenzeiten, wo wir ihn sahen, war seine äußere Erscheinung und sein Benehmen gerade so, wie während jenes Abends, wo ich ihn zum ersten Male gesehen hatte. Er sprach eben so wenig und sträubte sich mit derselben höflichen und ehrerbietigen Festigkeit gegen die vielfachen Versuche, die ich machte, ihn redseliger zu stimmen und ihn zur Theilnahme an der Conversation zu bewegen. Wenn er wirklich gesucht hätte, mein Interesse zu erregen, so hätte ihm dies nicht besser gelingen können. Ich befand mich vollkommen in der Lage eines Menschen, der sich in einem Labyrinthe verirrt hat und dessen Beharrlichkeit, den Ausweg zu suchen, mit den Schwierigkeiten jedes neuen Versuches wächst.
Margarethe jedoch theilte die Neugier, die mich beherrschte, durchaus nicht. Ich wunderte mich über die Gleichgültigkeit, welche sie in Bezug auf Mannion an den Tag legte; denn wenn das Gespräch auf ihn kam, so verfehlte sie, so oft es von ihr abhing, es fortzusetzen oder nicht, niemals, der Conversation eine andere Wendung zu geben.
Mistreß Sherwins Benehmen dagegen war ein ganz verschiedenes. Sie hörte stets Alles, was ich sagte, aufmerksam an, ihre Antworten aber waren unabänderlich kurz, verworren und zuweilen geradezu unverständlich. Es kostete mir viel Mühe, sie zu dem Geständnisse zu bringen, daß sie eine Antipathie gegen Mr. Mannion hatte.
Aber woher kam diese Antipathie? Sie konnte es nicht sagen. Argwöhnte sie Etwas? Wenn ich diese Frage an sie richtete. so stammelte sie, anstatt zu antworten, zitterte und wendete ihre Blicke von mir ab.
Niemals erhielt ich von ihr verständlichere Antworten als diese. Was ihre Verwirrung betraf, so brachte ich diese auf Rechnung der nervösen Gereiztheit, die sich allemal bei ihr entwickelte, wenn sie über irgend einen Gegenstand sprach. Ich hörte deshalb sehr bald auf, sie zu einer nähern Erklärung bringen zu wollen. und beschloß fernerhin, Niemandes Beistand mehr zu suchen, um Mr. Mannion's eigentlichen Charakter zu durchschauen.
Endlich verschaffte mir der Zufall eine günstige Gelegenheit, Etwas über seine Gewohnheiten und Geschmacksrichtungen zu erfahren und demzufolge auch den Mann selbst ein wenig besser kennen zu lernen.
Eines Abends traf ich ihn in dem Salon der Nordvilla, gerade in dem Augenblicke, wo er selbst nach einer geschäftlichen Besprechung aus Mr. Sherwins Zimmer trat. Wir lenkten unsre Schritte gemeinschaftlich nach der Hausthür.
Der Himmel war schwarz und die Nachtluft schwül und drückend. Ferner Donner ließ sich rund um den ganzen Horizont herum vernehmen. Die Blitze, welche rasch nach einander auf zuckten, machten das dunkle Firmament einem dichten Vorhang ähnlich, der vor einem von blendendem Lichte strahlenden Himmel unaufhörlich sich hob und senkte.
Wir beschleunigten unsern Schritt, aber wir waren noch nicht weit gekommen, als ein furchtbarer Regen herabzuströmen begann und der Donner in lauten Schlägen gerade über unsern Häuptern losbrach.
»Ich wohne hier ganz in der Nähe,« sagte mein Begleiter in demselben ruhigen, besonnenen Tone, der ihm niemals untreu ward. »Ich bitte Sie daher, mit zu mir zu kommen, bis das Ungewitter vorüber ist.« -
Ich folgte ihm in eine Seitengasse Er zog einen Schlüssel aus der Tasche, öffnete damit eine Thür, und einen Augenblick später sah ich mich unter Mr. Mannion’s Dache geborgen.
Er führte mich sofort in ein Parterrezimmer. Ein lustiges Feuer brannte in dem Kamin. In der Ecke desselben stand ein großer Lehnsessel mit einem Lesepulte. Die Lampe war schon angezündet. Das Theegeschirr stand auf dem Tische, dichte Vorhänge von dunkler Farbe verdeckten vollständig das Fenster und, wie um dieses Bild häuslicher Behaglichkeit vollständig zu machen, wärmte sich eine große schwarze Katze vor dem Kamin liegend mit wollüstiger Trägheit.
Während Mr. Mannion sich entfernte, um, wie er sagte, seiner Dienerin einige Befehle zu ertheilen, hatte ich Muße, das Zimmer genauer in Augenschein zu nehmen. Das Zimmer eines Menschen zu studieren, ist oft eben so gut als das Studium seines Charakters selbst.
Mr. Sherwin’s Person bot einen ziemlich auffallenden Contrast zu der seines Geschäftsführers der Contrast aber, welcher zwischen den Dimensionen und der Ausstattung ihrer Zimmer bestand, war nicht weniger außerordentlich.
Das Gemach, welches ich in diesem Augenblicke musterte, war kaum halb so umfangreich als das Wohnzimmer der Nordvilla. Rothdunkle Tapeten bedeckten die Wände. Die Vorhänge waren von derselben Farbe, auf der Diele lag ein brauner Teppich, dessen Muster, wenn er eins hatte, nicht darauf berechnet war, das Auge zu fesseln, denn bei dem Lampenscheine sah man gar Nichts davon.
Eine der vier Wände war vollständig durch ein Brettgestell von Ebenholz in Anspruch genommen, welches vollständig mit Büchern besetzt war. Die meisten derselben waren wohlfeile Ausgaben von klassischen Werken der alten und neuen Literatur.
Die gegenüber befindliche Wand verschwand unter dicht geschlossenen Reihen von Palisanderrahmen mit Kupfer- und Stahlstichen, die nach den Werken der modernen englischen und. französischen Maler aufgeführt waren.
Alle Geräthschaften waren von guter Qualität, aber von der einfachsten Gattung; selbst die porzellanene Theekanne und die auf dem Tische stehenden Tassen waren ohne Muster oder Malerei.
Welch einen Contrast bot dieses Gemach zu dem Salon der Nordvilla.
Als Mr. Mannion wieder eintrat, bemerkte er, daß ich die Augen auf seine Theegeräthschaften geheftet hielt.
»Ich kann nicht leugnen, Sir, daß ich verdiene, in zwei Dingen des Epikuräismus und der Verschwendung beschuldigt zu werden,« sagte er; »des Epikuräismsus in Bezug auf den Thee, und der Verschwendung —— wenigstens wenn man meine Stellung ins Auge faßt —- in Bezug auf Bücher. Indessen, mein ziemlich guter Gehalt gestattet mir, meine Geschmacksrichtungen, wie sie nun einmal sind, zu befriedigen und sogar noch ein wenig Geld zu sparen. Womit kann ich Ihnen dienen, Sir?«
Da ich die auf dem Tische gemachten Vorbereitungen sah, so verlangte Thee. Während er noch mit mir sprach, bemerkte ich eine neue Eigenthümlichkeit in seiner Person.
Die meisten Menschen legen, wenn man sie in ihrer Häuslichkeit sieht, mehr oder weniger und ohne daran zu denken, die Manieren ab, welche sie außerhalb ihres Hauses affectiren. Die steifsten und förmlichsten zeigen sich an ihrem Herd ein wenig gemüthlicher, die kältesten werden ein wenig wärmer.
Mit Mr. Mannion aber war dies nicht der Fall, denn er war zu Hause ganz derselbe wie bei Mr. Sherwin.
Er hätte mir nicht erst zu sagen gebraucht, daß er in Bezug aus den Thee Epikuräer war. Die Art und Weise, auf welche er denselben bereitete, hätte diese Thatsache hinreichend offenbart. Er nahm ziemlich das Dreifache der Quantität, welche gewöhnlich als für zwei Personen hinreichend betrachtet wird, und unmittelbar, nachdem er die Theekanne mit kochendem Wasser gefüllt, begann er die Flüssigkeit in die Tassen zu gießen, indem er auf diese Weise das ganze Aroma und die ganze Delikatesse des Parfüms bewahrte, ohne daß die bittere Eigenschaft der Pflanze sich damit vermischte.
Als wir unsre erste Tasse getrunken hatten, warf er den Bodensatz nicht heraus und goß auch kein Wasser auf die Blätter.
Eine Dienerin von gesetzten Jahren und sauberem Aeußern trat ein und nahm das Theebret weg, um es uns bald darauf mit Theekanne und Tassen in gereinigtem und leerem Zustande wiederzubringen, so daß nun ein Aufguß auf neue Blätter erfolgen konnte.
Es waren dies Kleinigkeiten, aber ich dachte an so viele andere Commis und Buchhalter, welche ihren zweiten Aufguß von denselben Blättern tranken, und dergleichen Einzelheiten schienen mir nicht unnütz zu beobachten, denn auch sie waren Anzeichen von dem Charakter des Mannes.
Unser Gespräch drehte sich anfangs um Alltäglichkeiten und ward von meiner Seite ziemlich nachlässig geführt, denn gewisse Eigenthümlichkeiten meiner gegenwärtigen Lage machten mich gedankenvoll.
Ein Mal gerieth die Unterhaltung völlig ins Stocken, und gerade in diesem Augenblicke brach der Gewittersturm in seiner größten Wuth los. Der Hagel mischte sich mit dem Regen und peitschte die Fenster. Der mit jedem Schlage lauter hallende Donner schien das Haus bis in seine Grundmauern zu erschüttern.
Während ich diesem furchtbaren Rollen lauschte, welches die unendlichen Räume der Luft mit seinem Getöse erfüllte, und als meine Augen sich sodann auf das ruhige Gesicht meines Wirthes richteten, ein Gesicht, auf welchem die Ruhe des Todes thronte und ich nicht die mindeste Spur von irgend einer menschlichen Gemüthsbewegung zeigte, fühlte ich mich von seltsamen Empfindungen ergriffen.
Unser Schweigen begann mir drückend zu werden und ich fühlte einen unklaren Wunsch, mich plötzlich einer dritten Person gegenüber zu befinden, mit welcher ich ein Wort und einen Blick wechseln könnte.
Er war der Erste, der das Gespräch wieder begann. Ich hätte geglaubt, es sei jedem Menschen, der einem so, betäubenden Kampfe der Elemente zuhörte, unmöglich, an etwas Anderes zu denken als an den Gewittersturm, und von etwas Anderem zu sprechen als von diesem.
Und dennoch, als er wieder das Wort nahm, geschah es, um von unsrer ersten Begegnung in der Nordvilla zu sprechen. Seine Aufmerksamkeit schien durch den furchtbaren Aufruhr der Elemente draußen eben so wenig angezogen zu werden, als wenn die Ruhe der Nacht auch nicht durch das mindeste Geräusch oder Murren unterbrochen worden wäre.
»Darf ich fragen, Sir,« sagte er, »ob ich Grund habe, zu fürchten, daß mein Benehmen gegen Sie seit unsrer ersten Begegnung bei Mr. Sherwin Ihnen sonderbar oder vielleicht sogar unhöflich erschienen ist?«
»In welcher Beziehung, Mr. Mannion?« fragte ich ein wenig verwundert über diese plötzliche Frage.
»Ich habe sehr wohl bemerkt, Sie, daß Sie in mehreren Fällen den Wunsch zu erkennen gegeben haben, nähere Bekanntschaft mit mir zu machen. Wenn ein Mann von Ihrem Range einem Manne von dem meinigen auf diese Weise entgegenkommt, so hat er das Recht, Dankbarkeit und gleiches Entgegenkommen zu erwarten.«
Warum stockte er? Wollte er mir sagen, daß er bemerkt, wie meine Annäherung ihren Grund in der Neugier hatte, über ihn mehr zu erfahren als er Lust hatte, mir zu sagen? Ich wartete, um ihn weiter sprechen zu lassen.
»Wenn ich,« hob er wieder an, »dieser Artigkeit, welche Sie von mir zu erwarten das Recht hatten, nicht genügt habe, so liegt der Grund davon darin, daß ich mich fragte, ob meine Gegenwart, wenn Sie bei Ihrer jungen Gattin sind, Ihnen wirklich so wenig lästig erschiene als Sie mich wohlwollender Weise vermuthen ließen.«
Gerade als er diese letzten Worte sprach, erdröhnte ein furchtbarer Donnerschlag unmittelbar über dem Hause. Ich sagte Nichts weiter, denn dieses Getöse ließ mich verstummen
»Da meine Erklärung Ihnen genügt, Sir,« sagte er mit seiner klaren, entschlossenen Stimme, welche kaum das noch andauernde Rollen des letzten Donnerschlags zu beherrschen vermochte, »so werden Sie vielleicht entschuldigen, wenn ich mich über Ihre gegenwärtige Stellung in dem Hause meines Chefs mit einiger Freiheit ausspreche. Ich möchte Sie aber vorher fragen, ob eine vollkommen freundschaftliche Freiheit in diesem Punkte Sie nicht verletzen würde?«
Ich bat ihn, sich so frei auszusprechen als es ihm beliebe, und wünschte aufrichtig, daß er auf diese Weise mit mir spräche, ohne deswegen zu glauben, daß ich ihn dadurch bewegen würde, mit eben so wenig Rückhalt und Zwang auch von sich selbst zu sprechen.«
»Die tiefe Ehrerbietung des Benehmens und der Sprache, deren Gegenstand ich von Seiten eines Mannes von seinem Alter war, erzeugte ein gewisses Unbehagen in mir. Wahrscheinlich war er in Bezug eins Kenntnisse meines Gleichen, und übrigens besaß er ganz die Manieren und den Ton eines Mannes Von Welt. Vielleicht war er auch von guter Familie, denn Nichts ließ mich auf das Gegentheil schließen.
Der einzige Unterschied zwischen uns beruhte daher in unsrer socialen Stellung Der Familienstolz meines Vaters hatte sich nicht in hinlänglichem Grade auf mich vererbt, um mich denken zu lassen, daß diese Ungleichheit allein einen Mann, der beinahe noch ein Mal so alt war als ich, und dessen Kenntnisse die meinigen vielleicht übertrafen, nöthigte, so mit mir zu sprechen, wie Mr. Mannion bis jetzt mit mir gesprochen.
»Ich kann Ihnen sagen,« hob er wieder an, »daß, obschon ich eifrigst wünsche, Ihnen während der Stunden, welche Sie in der Nordvilla zubringen, in Nichts lästig zu fallen, ich gleichzeitig bedaure, mich so entfernt halten zu müssen. Ich möchte Ihnen nützlich sein, so weit dies von mir abhängt. Nach meiner Meinung hat Mr. Sherwin Ihnen eine etwas harte Bedingung gestellt. Er stellt Ihre Discretion und Ihre Entschlossenheit auf eine fast zu schwere Probe, wie mir scheint, wenn man Ihr Alter und das Recht, das Ihnen zusteht, in Betracht zieht. Dies ist meine Ueberzeugung, und demzufolge wäre ich sehr glücklich, wenn ich den Einfluß, den ich vielleicht auf die Familie habe, benutzen könnte, um diese Zeit des Wartens und der Prüfung Ihnen weniger drückend zu machen. Sie werden sich nicht denken, Sir, wie viele Mittel mir zu diesem Zwecke zur Verfügung stehen.«
Sein Anerbieten überraschte mich ein wenig. Ich schämte mich fast, Wärme des Gefühls und offene Mittheilsamkeit bei einem Manne hervorzurufen, bei dem ich hiervon so wenig zu finden erwartete. Unmerklich ward ich weniger aufmerksam. aus den Sturm, der noch draußen tobte, und versuchte mehr und mehr, den Sinn seiner Worte zu durchdringen, denn er fuhr fort:
»Ich weiß recht wohl, daß ein Vorschlag, wie der meine, der von einem Manne ausgeht, welcher Ihnen fast ganz fremd ist, Ihnen auf den ersten Blick seltsam und sogar verdächtig erscheinen kann. Ich kann ihn nicht anders erklären, als indem ich Sie bitte, zu bedenken, daß ich die junge Dame von ihrer Kindheit an kenne, und daß ich, da ich ihren Geist bilden helfen und die Entwickelung ihres Charakters gefördert habe, für sie beinahe die Gefühle eines zweiten Vaters empfinde und weit entfernt bin, gleichgültig gegen die Interessen des Mannes zu sein, der sie zu seinem Weibe genommen.«
War ein leichtes Zittern in seiner Stimme bemerkbar, als er diese letzten Worte sprach? Ich glaubte es und erspähte in seinen Zügen den Schimmer eines lebhafteren Ausdrucks, welcher zum ersten Male seine starre Physiognomie milderte und« den eisigen Ausdruck derselben in den Hintergrund drängte.
Gerade aber, als ich ihn ansah, bückte er sich, um das Feuer zu schüren. Als er sich« wieder zu mir wendete, war sein Gesicht wieder so undurchdringlich und sein Auge so fest, schroff und ausdruckslos wie zuvor.
»Uebrigens,« fuhr er fort, »muß der Mensch einen Gegenstand für seine Sympathieen haben. Ich habe weder Weib noch Kind und eben so wenig nahe Verwandte. Außer meiner gewohnten Beschäftigung während« des Tages und meiner einsamen Lectüre des Abends an meinem Kamin, giebt es für mich Nichts. Unser Leben ist allerdings nichts Großes, aber dennoch ist es zu etwas Besserem als diesem bestimmt. Meine ehemalige Schülerin in der Nordvilla ist nicht mehr meine Schülerin. Ich kann nicht umhin, zu glauben, daß es für mich ein Grund zum Leben wäre, wenn ich mich mit Margarethens Glücke und mit dem Ihrigen, Sir, beschäftigte —— wenn ich zwei junge Leute, die in der Blüthe der Jugend und der Liebe stehen, von Zeit zu Zeit ihre Augen auf mich wenden sähe, um mir für die Erfüllung irgend eines ihrer Wünsche zu danken. Es giebt Freuden, die man Andern mit so wenig Mühe verschaffen kann. Alles Dies wird Ihnen seltsam und unbegreiflich erscheinen; wenn Sie aber in meinen Jahren ständen, Sir. und sich in einer der meinen ähnlichen Situation befänden, so würden Sie mich verstehen.«
War es möglich, daß er so ohne die mindeste Veränderung in seiner Stimme, und ohne daß sein Auge das Mindeste von seiner Unbeweglichkeit verlor, sprechen konnte? Ja, ich hielt meine Augen auf ihn geheftet, ich hörte ihm mit der gespanntesten Aufmerksamkeit zu, aber sein Ton blieb ganz derselbe, eben so wie seine Physiognomie vollkommen unverändert. Nichts in seiner äußern Erscheinung verrieth, ob dieser Mann fühlte, was er sagte, oder ob er es nicht fühlte. Seine Worte hatten meinem Gemüthe ein solches Bild von der Vereinsamung, in welcher er lebte, vorgeführt, daß ich unwillkürlich die Hand ausgestreckt hatte, um die seine zu ergreifen, während er mit mir sprach.
Sobald er aber aufgehört hatte, genügte es mir, seine eisige Miene zu sehen, um diese Aufwallung sofort wieder in mir ersterben zu fühlen.
Er schien meine unwillkürliche Gebärde eben so wenig bemerkt zu haben als die sofortige Unterdrückung derselben, und fuhr fort:
»Ich habe Ihnen vielleicht schon mehr gesagt als ich sollte. Wenn es mir indessen nicht gelungen ist, mich so verständlich zu machen, wie ich verstanden zu werden wünsche, so wollen wir von etwas Anderem sprechen und auf diesen Gegenstand erst dann zurückkommen, wenn Sie mich besser kennen gelernt haben.«
»O, ich bitte, Mr. Mannion, sprechen wir nicht von etwas Anderem!« rief ich, denn es lag mir viel daran, ihm zu beweisen, daß es nicht meine Absicht war, ihm mein Vertrauen vorzuenthalten. »Ich bin sehr dankbar für das Wohlwollen, welches Sie mir durch dieses Anerbieten beweisen, und für das Interesse, welches Margarethe und ich Ihnen einflößen. Ich stehe für sie, daß Ihre freundlichen Dienste von uns, Beiden werden angenommen werden.«
Ich schwieg. Der Gewittersturm hatte sich einigermaßen gelegt, aber ich ward von der Heftigkeit des Windes betroffen, der sich in demselben Maße erhoben hatte, wie der Donner und der Regen ruhiger geworden waren. Wie heulte er von einem Ende der Straße bis zum andern! Ich empfand seltsame Gefühle, welche mich bewogen, wider Willen zu schweigen, aber ich kämpfte dagegen und nahm nach einer Pause meinerseits das Wort.
»Wenn ich Ihnen noch nicht geantwortet habe wie ich sollte,« sagte ich, »so müssen Sie dies auf Rechnung dieses Gewittersturms bringen, der, wie ich gestehe, meine Gedanken ein wenig verworren gemacht hat, so wie auch auf Rechnung des Erstaunens, eines sehr unzeitigen Erstaunens, wie ich bekenne, dessen ich mich aber nicht erwehren kann, indem ich Sie so lebhafte Sympathieen Dingen widmen sehe, die sonst in der Regel nur auf junge Leute Eindruck machen.«
»Bei Männern meines Alters erneut sich die Jugend des Herzens öfter als junge Leute glauben,« sagte er. »Sie sind vielleicht überrascht, einen Kaufmann, einen Buchhalter so sprechen zu hören —— ich bin aber nicht immer gewesen, was ich jetzt bin. Das Wissen ist mir, mit Leiden gemischt, langsam zugegangen. Ich bin vor der Zeit alt geworden und meine vierzig Jahre sind wie bei Andern fünfzig.« Mein Herz schlug schneller. Wollte er selbst den geheimnisvollen Schleier heben, der augenscheinlich sein vergangenes Leben bedeckte? Nein, er berührte diesen Gegenstand bloß und ging daran vorüber. Ich wollte ihn bitten, ihn wieder aufzunehmen, ward aber durch dieselbe Befangenheit, von welcher mir Mr. Sherwin gesagt, zurückgehalten und schwieg.
»Es handelt sich nicht von Dem, was ich früher gewesen bin,« fuhr er fort, »sondern von Dem, was ich für Sie thun kann. Allerdings kann ich Ihnen nur eine schwache Mitwirkung leihen, aber dennoch kann diese Ihnen nützlich sein. Zum Beispiel waren Sie kürzlich, wenn ich mich nicht irre, ein wenig ärgerlich darüber, daß Mr. Sherwin seine Tochter mit in eine Gesellschaft nahm, in welche die Familie eingeladen war. Es war dies sehr natürlich. Sie konnten nicht mitgeben, Sie konnten sich nicht in Ihrer wirklichen Eigenschaft zeigen, ohne ein Geheimniß zu verrathen, welches bewahrt werden muß, und dennoch wußten Sie auch nicht, was für jungen Männern Margarethe dort begegnen würde. Die, welche sie dort traf, mußten natürlich glauben, sie sei immer noch Miß Sherwin, und ihr Benehmen danach regeln. Nun glaube ich, daß ich unter dergleichen Umständen von einigem Nutzen sein könnte. Ich übe auf meinen Chef einen gewissen Einfluß, ich möchte sagen, einen großen Einfluß —— dies ist die strengste Wahrheit, und wenn Sie es wünschen, so werde ich diesen Einfluß zu Ihren Diensten verwenden, um den Vater zu bestimmen, seine Tochter nicht anders in Gesellschaft zu führen, als wenn Sie es gut finden. Noch Etwas. Ich glaube, daß ich mich nicht täusche, wenn ich annehme, daß Ihnen die Gesellschaft der Mistreß Sherwin bei Ihren Zusammenkünften mit der jungen Dame weit lieber ist als die des Vaters.»
Wie hatte er dies entdeckt? Auf jeden Fall war seine Vermuthung jedoch richtig und ich gestand es naiv zu.
»Diese Vorliebe scheint mir eine in mehr als Einer Beziehung vollkommen begründete,« hob er wieder an; »wenn Sie aber Mr. Sherwin Etwas davon bemerken ließen, so ist es klar, daß dies eine ungünstige Wirkung auf ihn äußern würde. Wie dem jedoch auch sei, so könnte ich auch hier vermitteln, ohne Argwohn zu erwecken. Ich könnte eine Menge Vorwände ausfindig machen, um Mr. Sherwin zu veranlassen, des Abends nicht im Salon anwesend zu sein, und diese Vorwände werde ich so oft benutzen, als Sie es wünschen. Endlich auch, wenn es Ihnen angenehm wäre, Ihre junge Frau in der Nordvilla öfter und länger zu sprechen, so mache ich mich anheischig, Sir, Ihnen dazu zu verhelfen. Wenn ich dies sage, so geschieht es nicht etwa, um den rechtmäßigen Einfluß, den Sie auf Mr. Sherwin besitzen, in Zweifel zu ziehen, wohl aber muß ich Ihnen sagen, daß mein Chef mich in Allem, was Ihr Verhältnis zu seiner Tochter betrifft, um meine Meinung gefragt hat und dies auch ferner thun wird. Bis jetzt habe ich jede Art von Recht, Rathschläge in Ihren Angelegenheiten zu geben, abgelehnt, dennoch aber werde ich sie zu Ihren Gunsten und zu Gunsten der jungen Dame geben, wenn es Ihnen Beiden recht ist.«
Ich dankte ihm, aber nicht mit jener herzlichen Wärme, die ich ihm bewiesen haben würde, wenn ich nur das mindeste Lächeln auf seinem Gesichte gesehen oder die mindeste Aenderung seines so gemessenen und phlegmatischen Tones während er sprach, bemerkt hätte.
Wenn seine Worte mich geneigt machten, das Eis zu brechen, so schreckte mich die Kälte seiner Blicke wider Willen zurück.
»Ich muß Sie auch noch bitten, Sir,« hob er wieder an, »sich Dessen zu entsinnen, was ich in Bezug aus die Beweggründe, welche mich zu diesen Anerbietungen bewogen, bereits gesagt habe. Wenn Sie jedoch in allem Diesem nur eine zudringliche Einmischung in Ihre Angelegenheiten sehen sollten, so werde ich mir sicherlich nicht eine Freiheit anmaßen, zu welcher ich durch Sie ermächtigt sein will, und Sie würden sich nicht wieder mit mir auf den Fuß stellen, auf welchem wir heute Abend stehen. Ich würde mich dann jedoch über Ihre Handlungsweise gegen mich nicht beklagen, sondern mich bemühen, Sie nicht als ungerecht gegen mich zu betrachten.«
Einer solchen Ansprache konnte ich nicht widerstehen. Ich antwortete ihm sofort und dies Mal, indem ich alle Zurückhaltung beiseite setze. Welches Recht hatte ich, lieblose Schlüsse aus der Physiognomie eines Menschen, aus seiner Stimme und seinen Manieren bloß deshalb zu ziehen, weil diese einen etwas ungewöhnlichen Eindruck auf mich machten? Wußte ich, ob diese äußeren Eigenthümlichkeiten, welche mich betroffen machten, nicht großenteils von den Mängeln seiner natürlichen Constitution oder von der schlummernden Wirkung des Kummers und des Leidens herrührten? Mit gutem Rechte hätte er mir, und zwar in energischen Worten vorwerfen können, daß ich ungerecht sei, wenn ich ihm nicht mit Herzlichkeit geantwortet hätte.
»Ich bin, Mr. Mannion,« sagte ich, »völlig außer Stand, Ihr Anerbieten mit anderem Gefühle als dem der lebhaftesten und offensten Dankbarkeit anzunehmen. Ich werde es Ihnen beweisen, indem ich Sie um Ihre guten Dienste für Margarethen und mich mit vollkommenem Vertrauen und vielleicht viel eher bitte als Sie glauben.«
Er verneigte sich und antwortete mir mit einigen cordialen Worten, die ich nicht recht verstand; denn während ich zu ihm sprach, heulte ein Windstoß, der heftiger war als alle vorhergegangenem durch die Gasse, erschütterte Fenster und Läden und verhallte mit einem unheimlichen gedehnten Pfeifen.
Als Mr. Mannion nach einer augenblicklichen Pause wieder anhob zu sprechen, geschah es, um auf einen andern Gegenstand zu kommen. Er sprach von Margarethen und verbreitete sich auf sehr lobende Weise über ihre moralischen Eigenschaften weit mehr als über die Vorzüge ihrer körperlichen Erscheinung; von Mr. Sherwin, indem er gewisse solide und anziehende Seiten seines Charakters hervorhob, die ich noch nicht an ihm bemerkt hatte. Was er von Mistreß Sherwin sagte, schien mir ebenfalls von Mitleid und Ehrerbietung eingegeben zu sein. Er spielte sogar auf die Kälte an, mit welcher sie ihm begegnete und die er einer unfreiwilligen Laune zuschrieb, welche in der nervösen Empfindsamkeit und fortwährenden Erschlaffung der armen Frau ihren Grund hätte.
Indem er nach einander diese Gegenstände berührte, war seine Sprache eben so frei von irgendwelcher Affection, wie ich sie bis jetzt durchgängig gefunden.
Die Zeit verging. Der Donner rollte noch dumpf in der Ferne, der Wind aber schien sich durchaus nicht beruhigen zu wollen.
Endlich hörte das Plätschern des Regens auf, sich an den Fenstern hörbar zu machen. Ich hatte nun keinen plausiblen Beweggrund mehr, noch länger zu bleiben, und wünschte auch nicht, einen zu finden. Ich glaubte Mr. Mannion nun hinreichend zu kennen, um überzeugt zu sein, daß alle Bemühungen, die ich fortan machen könnte, um ihm trotz seiner Zurückhaltung die Geheimnisse zu entreißen, die sich an sein vergangenes Leben knüpften, zu Nichts führen würden.
Wenn ich aber ein Urtheil über ihn fällen wollte, warum sollte ich ihn nicht lieber nach seinem jetzigen Benehmen beurtheilen als nach der Geschichte seiner Vergangenheit? Ich hatte Gutes und nur Gutes von ihm sprechen hören. Sein Chef kannte ihn besser als irgend Jemand, und hatte ihn seit langer Zeit erprobt. Er hatte Zartgefühl und den lebhaftesten Wunsch bewiesen, mir nützlich zu sein. Ganz gewiß hätte ich diesem Entgegenkommen sehr schlecht entsprochen, wenn ich eine ungerechtfertigte Neugier, Etwas von seinen Privatangelegenheiten zu erfahren, kund gegeben hätte.
Ich erhob mich, um mich zu entfernen. Er machte keinen Versuch, mich länger aufzuhalten, sondern, nachdem er den Fensterladen aufgestoßen und sich zum Fenster hinausgebeugt, bemerkte er bloß, der Regen habe nachgelassen und mein Regenschirm werde mir jetzt hinreichenden Schutz gewähren.
Er folgte mir ans den Corridor heraus, um mir zu leuchten. Als ich mich auf der Schwelle der Thür umdrehte, um ihm für seine Gastfreundschaft zu danken und ihn; gute Nacht zu wünschen, fiel mir ein, daß mein Benehmen ihm habe kalt und mißtrauisch erscheinen müssen, besonders als er mir seine Dienste anbot. Wenn ich wirklich diesen Eindruck auf ihn gemacht hatte, so war es, da er an Rang unter mir stand, grausam von mir, ihn dabei zu lassen. Ich wollte vielmehr mit einem bessern Eindrucke von ihm Abschied nehmen.
»Erlauben Sie mir, Ihnen noch zu versichern.« sagte ich, »daß es nicht meine Schuld sein wird, wenn Margarethe und ich nicht von Ihren guten Diensten mit der ganzen Dankbarkeit Gebrauch machen, welche man einem Freunde schuldig ist, der sich von so wohlwollenden Absichten beseelt zeigt.«
Es blitzte immer noch am Himmel, obschon nur in langen Zwischenräumen. In Folge eines seltsamen Zufalles geschah es, daß in dem Augenblicke, wo ich sprach, eben wieder ein Blitz aufzuckte und Mr. Mannion’s Gesicht grell beleuchten.
Dieser Lichtschein gab seinen Zügen eine so geisterhafte Farbe und zersetzte es mit so infernalischer Schnelligkeit, daß ich plötzlich ein Gespenst, einen Dämon zu sehen glaubte, der mich höhnisch angrinste. In diesem Augenblicke mußte ich mich daran erinnern, wie sehr das seinem Gesichte aufgeprägte unerschütterliche Phlegma mir bekannt war, um mich zu überzeugen, daß meine Augen bloß durch eine optische Täuschung geblendet wurden.
Als wieder Finsterniß herrschte, sagte ich ihm gute Nacht, indem ich ihm mechanisch und beinahe in denselben Ausdrücken wiederholte, was ich ihm schon ein Mal gesagt hatte.
Gedankenvoll kehrte ich nach Hause zurück. Diese Nacht gab mir viel zu überlegen.
Viertes Kapitel.
Ungefähr zu der Zeit, wo ich Mr. Mannion's Bekanntschaft machte, oder, richtiger gesagt, eben so vor wie nach dieser Zeit verursachten gewisse Eigenthümlichkeiten in dem Charakter und in dem Benehmen Margarethens, die ich zufällig bemerkte, mir ein wenig Unruhe und erweckten in mir das Gefühl getäuschter Erwartung.
Weder die eine noch die andere dieser Empfindungen dauerte jedoch lange, denn die Vorfälle, welche sie hervorriefen, hatten im Grunde genommen an und für sich eine nur geringe Bedeutung.
So wie ich schreibe, tauchen diese kleinen häuslichen Episoden wieder lebhaft in meiner Erinnerung auf. Ich will bloß zwei davon erwähnen. Der weitere Verlauf meiner Erzählung wird beweisen, daß sie hier nicht am unrechten Orte sind.
An einem schönen Herbstmorgen kam ich einige Minuten vor der verabredeten Stunde in der Nordvilla an. In dem Augenblicke, wo der Diener mir die Gartenthür öffnete, fiel mir ein, Margarethen eine Ueberraschung zu bereiten, indem ich unversehens mit einem für sie auf Ihren eigenen Beeten gepflückten Blumenstrauße in den Salon träte. Indem ich daher dem Diener befahl, mich nicht anzumelden, machte ich einen Umweg und begab mich durch eine Seitenthür in den Hintergarten. Nur mit meinen Blumen beschäftigt, gelangte ich bis an einen Rasenplatz, der sich unter den Fenstern des Salons hinzog, von welchen eins ein wenig geöffnet war.
Meine junge Gattin und ihre Mutter waren in diesem Zimmer, denn ich hörte ihre Stimmen.
Ich gestehe, daß ich horchte, was sie sprächen, und Das, was ich hörte, war Folgendes:
»Ich sage Dir aber, Mama, ich muß dieses Kleid haben, und werde es haben, mag mein Vater wollen oder nicht.«
Dies ward in einem lauten und entschlossenen Tone gesagt, den Margarethe in meiner Gegenwart noch nie angenommen hatte.
»Aber ich bitte Dich, liebe Tochter!« antwortete Mistreß Sherwins schwache Stimme, »Du weißt, daß das für Dich bestimmte Jahrgeld schon ausgegeben ist —— und Du verlangst noch mehr?«
»Aber ich will von diesem festbestimmten Jahrgelde Nichts mehr wissen. Seine Schwester bekommt auch mehr.«
»Aber, liebe Tochter, das ist ein großer Unterschied.«
»Nein, es ist keiner; wenigstens jetzt nicht, wo ich seine Frau bin. Es wird nicht lange dauern, so werde ich auch meine Equipage haben, eben so wie seine Schwester. Er läßt in allen Dingen meinen Willen entscheiden —— Ihr müßt es auch so machen.«
»Aber gieb nur mir nicht die Schuld, Margarethe. Wenn ich Etwas vermöchte, so solltest Du sicherlich Alles bekommen; aber ich getraue mir in der That nicht, Deinen Vater um dieses Kleid- anzureden, nachdem Du dieses Jahr schon so Viel gekostet haßt.«
»Das ist so Deine gewöhnliche Ausrede, Mama. Ein Mal wagst Du nicht Das zu thun, ein Mal wagst Du nicht Jenes zu thun. Ach, Du bist manch’ Mal wirklich recht langweilig. Ich muß aber dieses Kleid bekommen —— ich habe mir’s einmal vorgenommen. Er sagt, seine Schwester trage, wenn sie in Abendgesellschaft geht, ein hellblaues Kreppkleid, und Du sollst sehen, daß ich auch eins bekomme. Ich werde, wenn es nicht anders ist, Mittel und Wege»zu finden wissen, es mir selbst aus dem Kaufgewölbe mitzunehmen. Papa achtet nicht sehr darauf, was ich trage, und braucht gar nicht zu erfahren, ob ich mir aus dem Gewölbe Etwas mitnehme. Er erfährt es überhaupt auch nicht eher, als bis man ihm das Lagerbuch, oder wie es heißt, vorlegt, und wenn er dann vielleicht einen seiner Wuthanfälle bekommt, so ——«
»Ach, liebes Kind, wie kannst Du Dir erlauben, so von Deinem Vater zu sprechen? Es ist das sehr unrecht von Dir, Margarethe sehr unrecht. Was würde Mr. Sidney sagen, wenn er Dich hört.«
»Ich beschloß, sofort hinein zu gehen und Margarethen zu sagen, was ich gehört hatte. Gleichzeitig nahm ich mir vor, Festigkeit zu zeigen und Margarethen um ihres eigenen Besten willen vorstellig zu machen, wie sehr ich durch beinahe Alles, was sie gesagt, überrascht und verletzt worden war.
Bei meinem unerwarteten Eintritte erschrak Mistreß Sherwin ein wenig und schien noch schüchterner zu seien als jemals.
Margarethe kam mir mit ihrem gewohnten Lächeln entgegen und bot mir freundlich die Hand. Ich sagte nicht eher Etwas, als bis wir uns in unserm gewohnten Winkel niedergesetzt hatten, um wie gewöhnlich leise mit einander zu Plaudern. Dann begann ich meine Vorstellungen in sehr zärtlichem und möglichst gedämpftem Tone.
Sie ergriff das beste Mittel, um mich trotz all’ meiner Entschlossenheit zum Schweigen zu bringen, als ich gerade im besten Zuge war. Ihre Augen füllten sich mit Thränen, die ersten, die ich sie vergießen sah, und diese Thränen flossen durch meine Schuld.
Sie murmelte einige Worte über meine Unfreundlichkeit und sagte, daß ich gar keinen Grund hätte, mich gegen sie zu erzürnen, denn sie habe mir bloß gefallen wollen und deswegen sich eben so zu kleiden gewünscht wie meine Schwester.
Binnen wenigen Augenblicken schlug sie alle festen Entschlüsse, die ich erst den Augenblick vorher gefaßt, in die Flucht. Ohne es selbst zu wollen, war ich während der noch übrigen Stunden des Morgens bemüht, sie zu beruhigen und mich zu entschuldigen.«
Brauche ich erst zu sagen, wie dieser kleine Zwist endete? Ich ließ über diesen Gegenstand kein Wort mehr fallen und schenkte ihr das gewünschte Kleid.
Nach einigen Wochen vollkommener Ruhe machte mich der Zufall zum Zeugen einer anderweiten kleinen häuslichen Scene, bei welcher Margarethe die Hauptrolle spielte.
Bei dieser Gelegenheit fand ich, als ich an dem Hause ankam —— es war abermals des Vormittags —— die vordere Hausthür offen. Ein Besen stand auf den Stufen. Augenscheinlich war die Dienerin beschäftigt gewesen zu kehren, und hatte, bei ihrer Arbeit unterbrochen, vergessen, die Thür zu schließen.
Die Ursache dieser Unterbrechung entdeckte ich sofort bei meinem Eintritte in den Saal.
»Um Gottes willen!« rief aus dem Speisezimmer eine Stimme, in welcher ich die der Dienerin erkannte, »Um Gottes willen, lassen Sie das Thier doch gehen! Ihre Mutter wird sogleich hier sein, und Sie wissen, wie Viel sie auf diese Katze hält. Lassen Sie ab —— Sie werden sie doch nicht tödten wollen!«
»Ja wohl will ich sie tödten, diese nichtswürdige Katze —- mag sie gehören, wem sie will. Mein armer Vogel! mein armer Vogel!«
Die Stimme war die Margarethens. Anfangs war ihr Ton der des Zornes ——- später wurden ihre Worte durch krampfhaftes Schluchzen unterbrochen.
»Der arme Vogel!« fuhr die Dienerin fort, indem sie ihre junge Herrin immer noch zu beschwichtigen suchte. »Er thut mir sehr leid, und Sie thun mir auch leid, Miß Margarethe Aber Sie müssen bedenken, daß Sie gewissermaßen selbst schuld sind, weil Sie den Käfig auf dem Tische hatten stehen lassen, so daß die Katze ihn erreichen konnte.«
»Schweig’, unglückliche! Wie kannst Du Dich unterstehen, mir in den Arm fallen zu wollen ——" gleich laß mich los, oder —«
»O nein, nein, das dürfen Sie nicht thun! Bedenken Sie, daß die Katze der Liebling Ihrer Mutter ist, die ja so keine andere Freude aus der Welt hat.«
»Was geht das mich an! Die Katze hat meinen Vogel erwürgt, und dafür muß sie sterben. Ich werde den ersten besten Gassenbuben herauf rufen, damit er sie mit fortnehme, um sie zu vergiften oder zu erdrosseln. Gleich laß mich gehen. —— Wirst Du mich nicht gehen lassen?«
»Nicht eher, ais bis ich der Katze fortgeholfen habe,so wahr ich Susanne heiße!«
Einen Augenblick darauf öffnete sich plötzlich die Thür und die verbrecherische Katze rannte an mir vorüber, um das Weite zu suchen. Unmittelbar hinter ihr folgte die Magd, welche, als sie mich im Zimmer stehen sah, ganz außer Athen und wie von panischem Schrecken ergriffen stehen blieb. Ich trat sofort in das Speisezimmer.
Der Käfig stand mit dem armen todten Canarienvogel auf der Diele. Es war derselbe Vogel, mit welchem ich Margarethen an jenem Tage, an welchem ich sie zum ersten Male gesehen, so fröhlich scherzen sah. Der Kopf des Vogels war durch die mörderischen Klauen der Katze beinahe ganz zwischen dem Drahtgitter hindurchgezogen.
Margarethe stand neben dem Herd, Und das Schüreisen, mit dem sie die Katze hatte erschlagen wollen, lag neben ihr aus der Diele. Noch nie vorher war sie mir so strahlend schön erschienen wie in diesem Augenblicke unter der Einwirkung des Zornes, der in ihr tobte.
Ihre großen schwarzen Augen schossen durch die Thränen hindurch Blitze, welche sie noch größer erscheinen ließen; das Blut glühte durch die dunkelrothen Wangen; ihre halb geöffneten Lippen schienen nach Luft zu keuchen, Mit der einen Hand hielt sie sich an den Kaminsims, während sie die andere krampfhaft auf die Brust drückte.
Schmerzlich berührt durch die Kundgebung dieses heftigen Zornes, bei welcher sie sich durch mich hatte überraschen lassen, konnte ich nichtsdestoweniger ein unfreiwilliges Gefühl von Bewunderung nicht unterdrücken, und mein Blick heftete sich mit vielsagendem Ausdrücke auf sie. Selbst der Zorn war bezaubernd auf diesem bezaubernden Antlitze.
Zwei oder drei Minuten lang betrachtete sie mich, ohne sich zu rühren. Dann, als ich mich ihr näherte, sank sie neben dem Käfig auf die Kniee nieder, schluchzte mit äußerster Heftigkeit, und während ein förmlicher Strom von Verwünschungen über die unglückliche Katze sich aus ihrem Munde ergoß, trat Mistreß Sherwin ein und machte durch ihren gänzlichen Mangel an Tact und Geistesgegenwart die Sache noch weit schlimmer. Kurz, der Auftritt endete mit Nervenkrämpfen.
An diesem Tage so mit Margarethen zu sprechen, wie ich gern mit ihr gesprochen hätte, war unmöglich, und selbst in der Folge gewann ich Nichts, wenn ich das Gespräch auf den Tod des Kanarienvogels brachte. Wenn ich auf die sanfteste und für den Vogel mitleidigste Weise nur anzudeuten wagte, daß ich ein wenig erstaunt gewesen sei, gesehen zu haben, daß sie sich von einem solchen Zorne habe hinreißen lassen, so bekam ich weiter keine Antwort, als daß sie in Thränen ausbrach, und von allen Entgegnungen war dies gerade die, welche am Besten geeignet war, mir den Mund zu verschließen.
Wenn ich eben so so de facto, wie ich es dem Namen nach war, ihr Gatte oder ihr Bruder oder ihr Freund gewesen wäre, so hätte ich erst ihrer Gemüthsbewegung freien Spielraum gelassen, um dann ernsthaft mit ihr zu sprechen. Aber ich war ja noch ihr Geliebter, und in meinen Augen wurden selbst Margarethens Fehler durch ihre Thränen in Tugenden umgewandelt.
Abenteuer wie diese, die sich aber in weit getrennten Zwischenräumen ereigneten, waren die einzige Abwechselung in dem friedlichen und größtentheils sehr glücklichen Einerlei unseres Umganges. Die Wochen vergingen eine nach der andern, ohne daß ein heftiges oder unfreundliches Wort unsere Harmonie gestört hätte.
Seitdem der vorhin erwähnte kleine Zwist beigelegt worden, hatte keine weitere Veruneinigung zwischen Mr. Sherwin und mir stattgefunden.
Was jedoch dieses letzte Element der häuslichen Ruhe in der Nordvilla betraf, so war dasselbe weniger Mr. Sherwins Besonnenheit oder meiner persönlichen Klugheit, als vielmehr der geschickten Vermittelung Mr. Mannion's zuzuschreiben.
Seit meiner Unterredung mit ihm in seiner Wohnung waren mehrere Tage vergangen, während welcher ich mich enthalten hatte, die mir so freundlich angebotenen Dienste in Anspruch zu nehmen, und ich wußte, indem ich dies that, selbst nicht recht, von welchem Beweggrund ich geleitet ward. Es war ein starker, obschon unklarer Eindruck in mir von Dem zurückgeblieben, was an jenem Abende des Gewittersturmes gesprochen worden.
So seltsam es auch scheinen mag, so wußte ich doch nicht recht, ob die kurze, aber außerordentliche Studie, die ich über meinen neuen Freund gemacht, mir Zuneigung zu ihm eingeflößt hatte oder nicht.
Es widerstrebte mir —- dies fühlte ich wohl —- ihm für einen mir geleisteten Dienst verpflichtet zu sein. Es war das nicht eine Folge von Stolz oder von falschem Zartgefühl oder von Mißtrauen, sondern vielmehr ein unerklärlicher Widerwille, der seinen Grund in der Furcht hatte, mir irgend eine Verantwortlichkeit aufzubürden, obschon ich nicht wußte, von welcher Art dieselbe sein würde. Instinctartig suchte ich Zeit zu gewinnen. Ich fürchtete, einen Schritt vorwärts zu thun, und Mr. Mannion that seinerseits eben so wenig einen. Er bewahrte fortwährend dieselbe Haltung, und sein Benehmen in der Familie richtete sich unausgesetzt nach denselben Prinzipien oder denselben Gewohnheiten, die ich vor jenem Abende des Gewittersturmes an ihm bemerkt hatte.
Seitdem wir uns wiedergesehen, hatte er nicht die mindeste Anspielung auf unsere damalige Unterredung fallen lassen.
Margarethens Benehmen, als ich ihr den von Mr. Mannion zu erkennen gegebenen Wunsch mittheilte, uns Beiden nützlich zu sein, war eher geeignet, meine Ungewißheit zu steigern als zu mindern. Ich konnte sie nicht bewegen, zu zeigen, daß sie an irgend Etwas, was ihn betraf, auch nur das mindeste Interesse nähme. Weder seine Wohnung, noch sein Aeußeres, noch seine eigenthümlichen Gewohnheiten, noch die Verschwiegenheit, weiche er im Bezug auf sein früheres Leben beobachtete, schienen im Stande zu sein, ihre Aufmerksamkeit oder ihre Neugier auch nur im Mindesten zu erwecken.
Am Abende seiner Rückkehr vom Continente hatte sie allerdings eine gewisse Aufmerksamkeit für ihn an den Tag gelegt. jetzt jedoch schienen ihre Gedanken über diesen Punct eine vollständige und unbegreifliche Umwandlung erlitten zu haben. Sie ward, so oft ich in unserem Gespräche nur ein wenig bei Mr. Mannion verweilte, sofort zerstreut und sprach von anderen Dingen. Es war, als ob es sie unangenehm berühre, zu sehen, daß er sich mit ihr in meine Gedanken theilte.
Was die schwierige Frage betraf, ob wir ihn für unser Interesse gewinnen sollten oder nicht, so schien sie so wenig Gewicht darauf zu legen, daß sie es verschmähte, sich darüber auszusprechen.
Wie dem jedoch auch sein mochte, so traten bald Umstände ein, welche mich bestimmten, Mr. Mannion gegenüber einen Entschluß zu fassen.
Ein reicher Kaufmann und Freund von Mr. Sherwin gab einen Ball, auf welchen er auch Margarethen mitnehmen wollte. Ich ward eifersüchtig darüber, und meine Eifersucht war eine ganz natürliche, wenn man die eigenthümliche Situation erwog, in welcher ich mich befand.
Wie konnte ich meine junge Gattin unter dem Namen Miß Sherwin sich in Gesellschaft produciren lassen, um hier wie eine unverheirathete junge Dame mit den jungen Herren zu tanzen, die ihr vorgestellt werden würden!
Zweitens lag mir auch unendlich Viel daran, Margarethen noch vor Ablauf des Prüfungsjahres von dem Umgange mit ihren eigenen Standesgenossen zu entfernen, weil ich hoffte, sie in der Folge in die Gesellschaft meines Standes einzuführen. Ich hatte ihr meine Ideen hierüber unter vier Augen mitgetheilt und sie vollkommen geneigt gefunden, meinen Absichten zu entsprechen. Der Ehrgeiz, sich auf die höchsten Staffeln der socialen Stufenleiter zu erheben, äußerte seine Macht über sie, und schon hatte sie begonnen, die Gesellschaft, die ihr durch die Personen ihres Standes geboten ward, mit Gleichgültigkeit zu betrachten.
Was Mr. Sherwin betraf, so konnte ich ihm hiervon Nichts anvertrauen. Ich machte ihm bloß Vorwürfe über seine Manie, Margarethen fortwährend in Gesellschaft führen zu wollen, während dies doch weder ihrem Geschmack, noch dem meinigen entsprach. Er erklärte, sie liebe solche Gesellschaften, alle junge Mädchen liebten dergleichen; sie heuchele bloß Abneigung dagegen, um mir damit einen Gefallen zu thun, und er habe durchaus nicht die Verpflichtung auf sich genommen, sie ein ganzes Jahr lang zu Hause schmachten zu lassen, bloß um meinen Eigensinn zu befriedigen.
Bei Gelegenheit des Balles, von dem ich so eben gesprochen, erhob sich wieder derselbe Streit. Dies Mal war Mr. Sherwin entschlossen, seinem Kopfe zu folgen, und wagte, mir dies ohne Umschweife zu erklären. »
Erbittert durch seine Hartnäckigkeit und den Mangel an Rücksicht, den er für meine Gefühle und meinen wehrlosen Zustand an den Tag legte, vergaß ich alle meine Zweifel und Bedenklichkeiten, und wendete mich insgeheim an Mr. Mannion, damit er den Einfluß aufböte, den er mir, wenn ich es wünschte, versprochen hatte, zu meinen Gunsten geltend zu machen.
Das Resultat war ein eben so schnelles als bündiges.
Am nächstfolgenden Abende erschien Mr. Sherwin vor uns mit einem zusammengefalteten Papier in der Hand und theilte uns mit, es sei dies ein Brief, durch welchen er anzeige, daß er die Einladung seines Freundes für seine Tochter nicht annehmen könne. Mr. Mannion's Name kam dabei nicht über seine Lippen, sondern er sagte bloß in schmollendem und ziemlich kurzem Tone, er habe sich die Sache nochmals überlegt und sei aus gewissen Gründen von seinem anfänglichen Entschlusse zurückgekommen.
Nachdem ich in dieser neuen Richtung einmal einen ersten Schritt gethan, ging ich ohne zu zögern weiter und that noch viele ähnliche.
Jedes Mal, wo ich die Nordvilla öfter zu besuchen wünschte, brauchte ich es bloß Mr. Mannion zu sagen, und den nächstfolgenden Morgen ward mir von der regierenden Gewalt die gewünschte Erlaubniß unverlangt ertheilt.
Mit Hilfe desselben geheimen Mechanismus konnte ich Mr. Sherwins Kommen und Gehen, wenn Margarethe und ich beisammen waren, nach meinem Belieben regeln. Ich war jetzt so ziemlich sicher, außer Mistreß Sherwin Niemanden weiter in unserer Nähe zu finden, wenn ich es nämlich so wünschte, und man kann sich leicht denken daß dies meistentheils der Fall war.
Die günstige Vermittlung meines neuen Freundes war stets bereit, ruhig und in aller Stille für mich thätig zu sein.
Niemals erfuhr ich, wann oder wie er seinem Chef seine Anschauungsweise aufzwang, und Mr. Sherwin ließ seinerseits niemals ein Wort über diesen Einfluß fallen, dem er sich unterwarf. Er gewährte mir alle ausnahmsweisen Vergünstigungen, die ich von ihm verlangte, als ob es sich einzig und allein um seinen freien Entschluß handelte, ohne, wie es schien, auch nur zu ahnen, daß ich den Beweggrund seines Entschlusses so gut kannte.
Ich gewöhnte mich an diese vermittelnde Thätigkeit Mr. Mannion’s um so eher, als dieser dabei das größte Zartgefühl an den Tag legte.
Er selbst schien nicht zu denken, daß er mir dadurch nur die mindeste Verbindlichkeit auflege. Er affectirte nicht eine plötzliche Vertrautheit mit mir, und in seinen Manieren war nicht die mindeste Aenderung wahrzunehmen. Er bestand darauf, unsere Gesellschaft des Abends nur dann aufzusuchen, wenn ich ihn ausdrücklich dazu aufforderte, und wenn ich ihm nur zu verstehen gab, daß ich mir zu seinem Eifer für mein Interesse Glück wünschte, antwortete er stets in demselben kurzen Tone und mit seiner männlichen Festigkeit, daß er vielmehr sich als den begünstigten Theil betrachte, weil er dadurch Gelegenheit erhalte, Personen gefällig zu sein, an welchen er ein so aufrichtiges und so natürliches Interesse nähme.
Ich hatte Mr. Mannion, als ich an jenem Gewitterabende von ihm Abschied nahm, gesagt, daß ich seine Anerbietungen wie die eines Freundes aufnehmen würde, und jetzt fand sich, daß ich mein Wort viel früher und mit weit weniger Zurückhaltung gelöst als ich ohne Zweifel in dem Augenblicke beabsichtigte, wo wir uns an der Schwelle seiner Thür trennten.
Fünftes Kapitel
Wir standen »in den letzten Tagen des Herbstes, und schon hatte der Winter, ein rauher, düsterer und trauriger Winter, sich zu zeigen begonnen.
Beinahe fünf Monate waren verflossen, seitdem Clara und mein Vater auf das Land gegangen waren. Welche Mittheilung hatte ich mit ihnen während dieses Zeitraums unterhalten? Ich hatte keins von Beiden wieder gesehen und an meine Schwester bloß geschrieben. Sie vermied sorgfältig, mir auch nur einen Schatten von Vorwurf im Bezug auf meine lange Abwesenheit zu machen, und unterhielt mich bloß von allerlei Einzelheiten im Bezug auf das Landleben, von welchen sie glaubte, daß sie mich interessiren könnten.
Der Ton ihrer, Briefe war liebreich; ja, er schien mir sogar noch liebreicher zu sein als gewöhnlich; die Heiterkeit und süße angeborene Ruhe meiner Schwester waren aber in ihren Briefen nicht zu finden.
Es war leicht zu sehen, daß sie sich oft viel Mühe gab, den lebhaften pikanten Ton wieder zu treffen, der früher ihren Briefen einen so eigenthümlichen Reiz zu geben pflegte; aber das Streben war zu sichtlich, als daß eine Täuschung hierüber möglich gewesen wäre.
Mein Gewissen sagte mir nur zu deutlich, was an dieser Veränderung schuld war. Mein Gewissen sagte mir, was diese Umgestaltung in dem Tone der Briefe Clara's herbeigeführt, weil dadurch alle ihre Lieblingspläne gehemmt und die süßesten Freuden ihres Aufenthalts auf dem Lande vernichtet worden.
Mein Gewissen ermahnte mich, zu bedenken, daß meine Schwester mich erwartete und nach meiner Rückkehr seufzte, und daß Sie Wochen auf Wochen, Monate auf Monate in dieser fortwährend getäuschten Erwartung verfließen sah.
Ich war jetzt Egoist genug, um an meinen eigenen Leidenschaften, an meinen eigenen Interessen, an meiner eigenen Bequemlichkeit zu hängen. Dennoch aber war ich für die Einflüsse, welche mich seit meiner Kindheit geleitet und geführt, noch nicht so todt und unempfindlich, daß ich weder an Clara noch an meinen Vater, noch an das alte Landschloß gedacht hätte, welches so viele reine und glückliche Erinnerungen in mir wach rief.
Zuweilen sogar, in der geliebten Nähe Margarethens, dachte ich an irgend eine Stelle in den Briefen meiner Schwester, welche ihr in meinem Herzen das Uebergewicht wiederzugeben schien, welches sie bis vor Kurzem noch besessen.
Zuweilen verbannte der Gedanke an meine Schwester alle anderen Gedanken, und in dem einsamen Hause in London nahmen meine Betrachtungen oft einen seltsamen Gang. Ich sah mich auf dem Lande an der Seite meiner Schwester reitend, oder wir plauderten ruhig in der alten gothischen Bibliothek des Schlosses, als ob meine neue Liebe und meine Vermählung mit all' ihrem Gefolge von Hoffnungen und Befürchtungen Ereignisse wären, welche nicht stattgefunden, und Interessen, die mich niemals anders bewegt hätten als in meiner Phantasie oder in einem entschwundenen Traume der Nacht.
Mit diesen Gedanken beschäftigt, faßte ich zwei Mal den Entschluß, mir Verzeihung für meine lange Abwesenheit dadurch zu erwerben, daß ich meinen Vater und meine Schwester auf dem Lande. besuchte, wenn auch nur auf einige Tage —- aber jedes Mal ward mein Entschluß wieder wankend.
Das zweite Mal blieb ich standhaft bei meinem Vorhaben bis an den Bahnhof, wo ich auch wirklich ankam, aber bloß, um mich wieder anders zu besinnen und wieder umzukehren.
Ich hatte endlich über den Schmerz triumphiert, den ich schon bei dem Gedanken empfand, mich auf einige Zeit von Margarethen zu trennen; die eben so lebhafte als unklare Furcht aber, daß ihr, ich weiß nicht was, in meiner Abwesenheit zustoßen könne, bewog mich, meinen Entschluß wieder aufzugeben.
In meinem Herzen schämte ich mich meiner Schwäche, gab ihr aber nichtsdestoweniger nach.
Endlich erhielt ich von Clara einen Brief, der einen Ruf an mich enthielt, welchem ich nicht widerstehen konnte.
»Niemals,« schrieb sie, »habe ich von Dir im Namen Deiner Liebe zu mir verlangt, uns zu besuchen; denn nimmermehr könnte es mir einfallen, mich Deinen Interessen oder Deinen Plänen in den Weg zu stellen. Heute aber bitte ich Dich um Deiner selbst willen, zu uns zu kommen und eine Woche, nicht länger, zu bleiben, dafern du nicht selbst Lust hast, uns Deine Gegenwart länger zu schenken.
»Du erinnerst Dich, daß unser Vater Dir in seinem Zimmer zu London sagte, er glaube, Du habest ein Geheimnis« vor ihm. Ich fürchte, daß dieser Gedanke in seinem Gemüthe Wurzel faßt. Deine lange Abwesenheit bringt ihn auf mancherlei Gedanken. Er sagt Nichts darüber; aber wenn ich Dir schreibe, trägt er mir niemals eine Botschaft an Dich auf, und wenn ich Dich erwähne, so bringt er sofort das Gespräch auf etwas Anderes. Ich bitte Dich daher, komme zu uns und zeige Dich einige Tage lang. Es wird keine Frage an Dich gestellt werden —- in dieser Beziehung sei unbesorgt.«
»Deine Anwesenheit wird eine vortrefflicher Wirkung hervorbringen und das verhindern, was ich, um jeden Preis vermieden zu sehen wünschte —- ein ernstes Zerwürfnis zwischen unserem Vater und Dir. Bedenke lieber Sidney, daß wir in vier bis sechs Wochen in die Stadt zurückkehren werden, und dann würde die Gelegenheit vorbei sein.«
Sobald ich diese Zeilen gelesen hatte, beschloß ich sofort, aufs Land zu reisen, so lange der Eindruck noch frisch in meinem Gemüthe war.
Margarethe sagte, als ich Abschied von ihr nahm, bloß, daß sie mich sehr gern begleiten würde.
Es würde, meinte sie, für sie ein großes Vergnügen sein, ein großes Landschloß zu sehen wie das unsere.
Mr. Sherwin lächelte seiner Gewohnheit gemäß verschmitzt über die vielen Schwierigkeiten, die ich machte, um seine Tochter nur auf eine Woche zu verlassen .
Mistreß Sherwin nahm mich bei Seite, um mir mit einer damals unerklärlich scheinenden Dringlichkeit zu empfehlen, nicht länger abwesend zu bleiben, als ich jetzt meiner Erklärung zufolge beabsichtigte, und Mr. Mannion versicherte mir unter vier Augen, daß ich in meiner Abwesenheit ebenso auf ihn rechnen könne, wie ich bis jetzt gethan, und daß er meine Interessen in der Nordvilla stets auf das Genaueste im Auge behalten würde.
Es war seltsam, daß seine Worte die einzigen waren, welche mich bei dem Abschiede von London beruhigten und befriedigten.
Die Annäherung des Abends verdunkelte schon den kurzen Winternachmittag, als mein Wagen die Grenze unseres Landgutes passierte.
Ich habe stets gern das Land gesehen, wenn der weiße Schnee die Fläche des Bodens deckt. Gern hätte ich dieses Schauspiel am Tage meiner Ankunft auf unserem Landgut genossen; aber in der vergangenen Woche war Thauwetter gewesen. Ueberall um mich her sah ich Nichts als Schmutz, Wassertümpel und Nebel.
Die Luft ging scharf und feucht —— der Schatten des Abends ward dichter und die alten entlaubten Ulmen der Parkallee seufzten im Winde und knarrten über mir, während ich mich dem Hause näherte.
Mein Vater empfing mich auf ceremoniösere Weise als mir lieb war. Ich wußte schon von meiner Kindheit an, was diese Höflichkeit zu bedeuten hatte,— die er gegen seinen eigenen Sohn an den Tag legte. Welche Schlüsse hatte er wohl aus meiner langen Abwesenheit und der Hartnäckigkeit gezogen, mit der ich mein Geheimniß vor ihm bewahrte? Ich konnte es nicht wissen; aber es war klar, daß ich meinen gewohnten Platz in seiner Achtung verloren, und daß ich nicht hoffen konnte, ihn durch einen einwöchentlichen Besuch wieder zu erobern. Das Zerwürfniß, welches meine Schwester fürchtete, hatte zwischen uns schon begonnen.
Der öde Anblick der Natur hatte mich, während ich mich unserer Wohnung näherte, schon kalt angeweht. Der Empfang, den ich von meinem Vater erfuhr, vermehrte meinen Hang zur Melancholie. Ich bedurfte der ganzen liebevollen Wärme, mit der Clara mich bewillkommnete, und des Vergnügens mit dem ich sie mir leise danken hörte, daß ich ihre Bitte so rasch erfüllt, um mich nicht gänzlicher Mutlosigkeit hinzugeben.
In der ersten freudigen Erregung und während ich meine Schwester in meine Arme schloß, bemerkte ich nicht, daß trotz ihrer sanften Worte und ihrer zärtlichen Blicke ihr Gesicht eine Veränderung erfahren hatte, die mir später immer auffälliger ward. Sie schien magerer geworden zu sein, und ihre natürliche Blässe war größer als gewöhnlich. Augenscheinlich hatte sie mit Sorgen und Unruhe zu kämpfen gehabt. War ich die Veranlassung dazu gewesen?
Beim dem Diner herrschte an diesem Abende ein drückender, beengender Zwang. Mein Vater sprach bloß von allgemeinen und alltäglichen Dingen; als ob er es mit einem einfachen, Bekannten zu thun hätte. Als meine Schwester sich entfernte, verließ er ebenfalls das Speisezimmer, um Jemanden zu empfangen, der in Geschäften mit ihm sprechen wollte. Die Gesellschaft der Weinflaschen hatte für mich keinen Reiz, und ich suchte daher Claras in ihrem« Zimmer auf.
Anfangs sprachen wir bloß von den verschiedenen Beschäftigungen, mit denen sie sich seit ihrer Rückehr aufs Land befaßt. Sie scheuete sich ebenso wie ich, den Gegenstand meines langen Verweilens in London zur Sprache zu bringen, und eben so viel Ueberwindung kostete es ihr, mit mir von dem Mißfallen zu sprechen, welches meine lange Abwesenheit in meinem Vater augenscheinlich erweckt hatte. Es bestand deshalb ein gewisser Zwang zwischen und, den Keins von Beiden abzuschütteln wagte.
Ein Zufall indessen, obschon ein an und für sich ganz unbedeutender, nöthigte mich bald, ein wenig mehr Offenheit zu zeigen, indem er mir Gelegenheit gab, mich frei über den Gegenstand auszusprechen, welcher ihre Gedanken vorzugsweise beschäftigte.
Ich saß Clara gegenüber in dem Winkel des Kamins und spielte mit einem Lieblingshunde der mir in das Zimmer gefolgt war. Als ich mich zu dem Thiere herabneigte, machte ein Medaillon, welches Haar von Margarethen enthielt, sich von der Stelle meiner Weste, an der ich es befestigt hatte, los und hing nur noch an dem Schnürchen, welches ich um den Hals geschlungen. Ich beeilte mich, es wieder zu verbergen, aber nicht so schnell, daß nicht Clara mit jener Schnelligkeit des weiblichen Blickes Zeit gehabt hätte, ihre Augen auf diesen Gegenstand als auf etwas Neues zu heften und im Bezug auf den Gebrauch, zu dem es diente, die wahrscheinlichsten Schlüsse zu ziehen.
Ein Ausdruck der Ueberraschung und Freude verklärte ihre Züge. Sie stand auf legte ihre Hand auf meine Schulter, wie um mich zu bewegen, ruhig auf meinem Platze sitzen zu bleiben und sah mich aufmerksam an.
»Sidney, Sidney,« sagte sie, »wenn dies das ganze Geheimniß ist, welches Du uns nicht hast mittheilen wollen, wie freue ich mich dann! Wenn ich aus der Weste meines Bruders ein Medaillon fallen sehe, von dem ich nicht wußte, daß er es trägt.« fuhr sie fort, als sie bemerkte, daß ich zu verworren war, um zu sprechen, und wenn ich diesen Bruder erröthen sehe während er sich beeilt, diesen Gegenstand wieder zu verstecken, so müßte ich nicht Weib sein, wenn ich nicht darüber sofort meine Betrachtungen und Vermuthungen anstellte.«
Sie schwieg. Ich machte einen neuen obschon sehr unglücklichen Versuch, die Sache von der scherzhaften Seite aufzufassen. Ihr Gesicht ward plötzlich nachdenklich und ernst, während sie immer noch die Augen auf mich geheftet hielt. Sie faßte mich sanft bei der Hand und murmelte mir ins Ohr:
»Wenn Du Dich vermählst, Sidney werde ich meine neue Schwester eben so lieben als ich Dich liebe.«
Und sie kehrte auf ihren Platz zurück.
In diesem Augenblick trat die Dienerin ein und brachte den Thee. Diese Unterbrechung verschaffte mir ein paar Minuten Zeit zum Nachdenken. Sollte ich ihr Al1es sagen? Die erste Bewegung sagte Ja; das Nachdenken sagte Nein.
Wenn ich die Wirklichkeit so enthüllte, wie sie war, so wußte ich, daß ich meine Schwester Margarethen vorstellen mußte.
Zu diesem Zwecke hätte ich sie nothwendig in Mr. Sherwins Haus führen und sie der Gefahr aussetzen müssen, sich demselben demüthigenden Zwange zu unterwerfen, in welchen ich mich in meinen Beziehungen zu meiner Gattin fügen mußte.
Ich ward demnach durch verschiedene Gefühle, ganz besonders aber durch meine Eigenliebe, von meiner anfänglichen Absicht wieder abwendig gemacht. Und übrigens mein Schwester in mein Geheimniß einweihen, hieß zugleich Sie in alle Folgen verwickeln, welche die Entdeckung dieses Geheimnisses haben konnte, und unerträglich war mir der Gedanke, sie die Verantwortlichkeit theilen zu lassen, welche auf mir allein lasten sollte.
Sobald wir uns daher allein sahen, sagte ich zu ihr:
»Denke nicht zu schlecht von mir, Clara, wenn ich es Dir frei stelle, aus Dem, was Du gesehen hast, Deine Schlüsse zu ziehen. Ich bitte Dich um weiter Nichts, als daß Du keinem Menschen ein Wort davon sagst. Ich kann jetzt noch nicht sprechen, wie ich zu sprechen wünschte. In wenigen Tagen wirst Du erfahren warum, und mir dann zu meiner Zurückhaltung Glück wünschen. Wirst Du mittlerweile zufrieden sein, wenn ich Dir die Versicherung gebe, daß Du, wenn die Zeit da ist, mein Geheimniß bekannt werden zu lassen, die erste Person sein wirst, die es erfährt, die erste, zu welcher ich Vertrauen haben werde?«
»Da Du meine Neugier nicht ganz ohne Nahrung lässt,« sagte Clara lächelnd, »sondern ihr im Gegentheile erlaubst, vor der Hand sich an ein wenig Hoffnung zu weiden, so glaube ich, obschon ich ein Mädchen bin, Dir Alles Versprechen zu können, was Du wünschest. Ernsthaft gesprochen, Sidney,« fuhr sie fort, »Dein kleines indiscretes Medaillon hat die schwarzen Befürchtungen, deren Ursache Du warst, schon auf so angenehme Weise zerstreut. daß ich mich glücklich schätzen werde jetzt in der Erwartung zu leben, ohne jemals eher wieder von Deinem Geheimnisse zu sprechen, als bis Du mich dazu ermächtigst.«
Hier trat mein Vater in das Zimmer und unser Gespräch ward unterbrochen.
Sein Benehmen hatte sich seit dem Diner, im Bezug auf mich nicht geändert, und blieb auch während der Woche, welche ich bei ihm auf dem Lande verweilte, dasselbe.
Eines Morgens, als wir allein waren, faßte ich Muth und beschloss mich ein wenig auf das gefährliche Terrain zu wagen, um zu wissen, wie ich mich in der Zukunft zu benehmen haben würde.
Nicht so bald aber hatte ich angefangen, auf mein langes Zurückbleiben in London hinzudeuten und versucht, mich zu entschuldigen, als er mich plötzlich unterbrach.
»Ich habe Dir,« sagte er in ernstem und kaltem Tone, »schon vor einigen Monaten gesagt, daß ich auf Deine Ehre zu fest baue, als daß es mir einfallen könnte, Dich mit Argwohn zu beobachten oder mich in Angelegenheiten mischen zu wollen, welches Du vorziehst für Dich zu bewahren. So lange Du nicht vollkommenes Vertrauen zu mir hast und mit vollständiger Aufrichtigkeit mit mir sprechen kannst, mag ich Nichts hören. Dieses Vertrauen hast Du jetzt nicht. Du stockst, wenn Du sprichst und Deine Augen begegnen den meinigen nur mit schlecht verhehlter Verlegenheit. Ich sage Dir nochmals, daß ich Dich bei den ersten Worten deiner unbestimmten Erklärung, die Du wieder an mich richtest, abermals unterbrechen werde. Die Verstellung nährt sich von Entschuldigungen, und ich würde Dir Unrecht thun, wenn ich voraussehen wollte, daß Du einen ernsten Beweggrund hättest, mir gegenüber Gebrauch davon zu machen. Du stehst in einem Alter, wo Du die Verantwortlichkeit für Deine Handlungen tragen mußt und sie eben so gut kennen mußt, wie ich die meinige kenne. Wähle daher sofort und sage mir entweder Alles oder Nichts.»
Nachdem er so gesprochen, blieb er noch einige Minuten im Zimmer, dann verließ er es. In diesem Augenblicke war mir die demüthigende Nothwendigkeit, mich verstellen zu müssen, so peinlich, daß ich ihm Alles gestanden haben würde, wenn ich überzeugt gewesen wäre, daß er diese Qual verstanden und mich beklagt, wenn mir auch nicht verziehen hätte.
Dies war der erste und der letzte Versuch, den ich meinem Vater gegenüber zu machen wagte, um ihm auf dem Wege der Andeutungen und halben Geständnisse die Beschaffenheit meines Geheimnisses zu offenbaren. Was ein muthiges vollständiges Bekenntniß betraf, so hatte ich mich durch eine sophistische Argumentation überredet, daß nur viel Uebles daraus hervorgehen könne. Da ich noch mehrere Monate warten musste, wie ich deren bereits mehrere gewartet, bis mein Glück eine Wirklichkeit würde, warum sollte sich dann nicht das Geheimniß meiner Vermählung solange als möglich bewahren? War es nicht am Besten, wenn ich mich enthielt, es meinem Vater zu entdecken, so lange die Notwendigkeit mich nicht unbedingt dazu zwang, oder die Umstände dafür nicht günstig waren?
Meine Neigung entschied die Frage mit Ja, und eine Entscheidung dieser Art, mochte sie gut oder schlecht sein, war damals vollkommen hinreichend, um mich zu beruhigen.
Was meinen Vater betraf, so blieb daher meine Reise aufs Land vollständig erfolglos. Ich hätte schon am Tage nach meiner Ankunft wieder nach London zurückreisen können, ohne daß seine Meinung sich in irgend einer Beziehung geändert hätte. Nichtsdestoweniger blieb ich die ganze Woche —— um Claras willen.
Wie großes Vergnügen ich auch in dem Umgange mit meiner Schwester fand, so war mein Besuch doch im Ganzen genommen ein schmerzerregender.
Der egoistische Wunsch, wieder bei Margarethen zu sein, den ich nicht ganz unterdrücken konnte, die Kälte meines Vaters, die Nothwendigkeit, sich während der fortwährend unfreundlichen und regnerigen Witterung auf das Zimmer beschränkt zu halten, alles Dies trug in verschiedenem Grade bei das Gefühl der Behaglichkeit nicht in mir aufkommen zu lassen.
Abgesehen von diesen Ursachen aber fühlte ich mich auch gekränkt und gedemüthigt durch den Gedanken, daß ich in meinem eigenen Vaterhause gleichsam ein Fremdling geworden war. Nichts schien mehr dieselbe, Physiognomie zu haben wie früher. Die Zimmer, die alten Diener, die Promenaden, die Hausthiere, Alles schien seit meinem letzten Besuche, seitdem ich es das letzte Mal gesehen, Etwas von seiner eigenthümlichen Pysiognomie verloren zu haben.
Der Theil des Hauses, welchen ich früher vorzugsweise bewohnte, mißfiel mir jetzt, und es kostete mir peinliche Anstrengung, wieder in gewisse Gewohnheiten zu fügen, die mir sonst ganz vertraut, waren. Seit dem letzten Herbste und Winter schien mein Leben sich einen neuen Kanal gebahnt zu haben und nicht wieder auf meinen Befehl in sein altes Bett zurückleiten lassen zu wollen. Kurz, ich fühlte mich fremd in der Heimath.
Sobald die Woche um war, trennten mein Vater und ich uns genau auf dieselbe Weise, wie wir uns wiedergesehen. Als ich von Clara Abschied nahm, machte sie keine Anspielung auf die kurze Zeit meines Verweilens, sondern sagte einfach, daß wir uns bald in London wiedersehen würden.
Augenscheinlich hatte sie die wehmüthigen Eindrücke bemerkt, weiche dieser Besuch in mir zurückgelassen, und war entschlossen, diese neue, aber kurze Trennung unter so lachenden Auspicien als möglich stattfinden zu lassen. Jetzt verstanden wir einander, und dies war für sie ein Grund, mich zu trösten, indem ich sie verließ.
Gleich nach meiner Wiederankunft in London machte ich mich auf den Weg nach der Nordvilla. Es war, sagte man mir, in meiner Abwesenheit Nichts vorgefallen; dennoch aber schien Margarethe mir ein wenig verändert zu sein. Sie war blaß, außerordentlich reizbar und schweigsam, wie ich sie noch nie gesehen. Sie erklärte dies, als ich sie befragte, durch eine gewisse Niedergeschlagenheit, welche ihr gezwungenes Zuhause bleiben während dieser kalten, Nebel- und Regentage bei ihr zur Folge gehabt.
In anderer Beziehung hatte diese Häuslichkeit Nichts von ihrer gewohnten Monotonie verloren.
Mistreß Sherwin saß wie gewöhnlich auf ihrem Platze in dem Salon, und ihr Mann las das Abendjournal in dem Speisesaale bei einem Glase seines alten viel gerühmten Portweins.
Nachdem die ersten fünf Minuten vorüber waren, kehrte ich zu meinen früheren Gewohnheiten mit so leichter Mühe zurück, als ob sie nicht einen einzigen Tag unterbrochen gewesen wären. Ueberall wo meine junge Gattin war, da war fortan meine Heimath, ohne daß ich eine andere haben durfte.
Mr. Mannion kam ziemlich spät mit Geschäftsbriefen, die er Mr. Sherwin vorlegen wollte. Da ich im Begriffe stand, fortzugehen, so ließ ich ihn bitten, auf einen Augenblick aus dem Speisezimmer herauszukommen.
Er hatte niemals eine sehr warme Hand, dies Mal aber fand ich sie, als ich sie angriff, am ihn zu begrüßen, so eisig, daß einen Augenblick lang die meinige buchstäblich durch diese Berührung erstarrte.
Er wünschte mir bloß in alltäglichen Worten Glück zu meiner Rückkehr und sagte ebenfalls, daß in meiner Abwesenheit Nichts vorgefallen sei.
Als er aber diese wenigen Worte sprach, bemerkte ich zum ersten Male eine leichte Veränderung in seiner Miene. Der Ton war dumpfer und leiser und die Artikulation eine raschere als gewöhnlich.
Dieser Umstand in Verbindung mit der außerordentlichen Kälte seiner Hand veranlaßte mich, ihn zu fragen ob er sich wohl fühle. Er antwortete, daß er in meiner Abwesenheit allerdings ein wenig leidend gewesen sei, und zwar in Folge allzu angestrengten Arbeitens. Er entschuldigte sich. sodann, daß er mich wegen der von ihm mitgebrachten Geschäftsbriefe so schnell wieder verlassen müsse, und kehrte mit einer Hast, die ich noch nicht an ihm bemerkt, wieder in das Speisezimmer zu Mr. Sherwin zurück.
Ich hatte sowohl Margarethen als auch Mr. Sherwin bei guter Gesundheit verlassen; bei meiner Rückkunft aber fand ich sie beide unwohl.
Ganz gewiß war in meiner Abwesenheit Etwas vorgefallen, obschon Alle in der Erklärung überein stimmten, daß Nichts geschehen sei. In der Nordvilla schien man jedoch vorübergehenden Unpäßlichkeiten keine große Beachtung zu schenken, denn Mistreß Sherwins schwächliche Gesundheit hatte hier Jedermann an fortwährende Klagen in dieser Beziehung gewöhnt.
Sechstes Kapitel.
Ungefähr sechs Wochen nach dem Besuche, den ich meinem Vater und Clara auf dem Lande abgestattet, kehrten sie für die Saison nach London zurück.
Ihre Ankunft hatte keine Veränderung in meinen täglichen Gewohnheiten zur Folge. Die Verlegenheit war von meiner Schwester eben so wie von mir bei unsrer Unterredung beseitigt und es ward mit keinem Worte auf mein Geheimniß hingedeutet. Die Geschäfte, welche mein Vater in der Stadt, wie gewöhnlich, zu besorgen hatte, hielten ihn von mir entfernt.
Meine Absicht ist indessen nicht, länger bei dem Leben zu verweilen, welches ich sowohl in unserm Hause als in der Nordvilla während des Frühlings und des Sommers führte. Es hieße dies einfach, Vieles wiederholen, was schon erzählt worden ist. Besser ist es, wenn ich sofort zur Zeit des Endes meines Prüfungsjahres komme -- einer Zeit, von welcher zu sprechen mir trotz meines ernsten Entschlusses viel Ueberwindung kostet.
Ich bin jedoch schon zu weit vorgeschritten, als daß ich noch Halt machen könnte Uebrigens wird es auch nur noch weniger Blätter bedürfen, um —-
O, welche Schwäche! —— Ich muß weiter erzählen —— meine Erzählung muß vollständig sein. Es handelt sich bloß noch um eine Arbeit von wenigen Wochen und dieses Werk der Reue und Buße ist beendet.
Der Leser denke sich daher, daß der letzte Tag meines langen Prüfungsjahres gekommen ist und daß den nächstfolgenden Tag Margarethe, um deren willen ich mich geopfert, für welche ich so viel gelitten, endlich mein sein wird.
Am Vorabende des Tages, wo diese große Veränderung in meinem Leben vorgehen sollte, konnten die verschiedenen Situationen, in welchen wir uns sämtlich zu einander befanden, auf folgende Weise angedeutet werden.
Die Kälte, die mein Vater mir in seinem Benehmen zeigt, hat sich seit meinem Verweilen in London nicht geändert. Ich meinerseits habe mich sorgfältig gehütet, in seiner Gegenwart nur ein Wort zu sprechen, welches eine, wenn auch nur entfernte Beziehung zu meiner wirklichen Situation hätte. Wir sehen einander nicht, ohne die gewöhnlichen äußern Formen zu beobachten, die in den Beziehungen zwischen Vater und Sohn liegen, aber dennoch ist unser Zerwürfniß ein vollständiges geworden.
Clara hat nicht verfehlt, dies zu bemerken, und im Stillen darüber geseufzt Nichtsdestoweniger erwachten glücklichere Gefühle in ihrem Gemüthe, als ich ihr unter vier Augen zu verstehen gab, daß die Zeit, ihr mein Geheimniß zu entdecken, nicht mehr fern sei. Ihre Aufregung kam beinahe der meinigen gleich, obschon sie an weiter Nichts denken konnte als an eine ihr vorbehaltene Erklärung und Ueberraschung.
Oft, wenn ich an ihre natürliche Empfänglichkeit dachte, fürchtete ich beinahe, sie noch länger in Ungewißheit zu lassen, und bedauerte, ihr Etwas von dem neuen Interesse, welches mein Leben beherrschte, zu wissen gethan zu haben, ehe die Zeit da war, ihr Alles zu sagen.
Mr. Sherwin und ich hatten in der letzten Zeit in einem Vernehmen zu einander gestanden, in welchem nichts weniger als große Herzlichkeit herrschte. Er hatte einen kleinen Groll gegen mich, weil ich meinem Vater gegenüber noch nicht meine Vermählung muthig zur Sprache gebracht hatte, und betrachtete die Gründe, die ich hatte, um dieselbe noch geheim zu halten, als die Wirkung eines unbedingten Mangels an moralischer Festigkeit
Andrerseits konnte er jedoch auch nicht die gewissenhafte Genauigkeit verkennen, mit welcher ich seinen Wünschen in jeder andern Beziehung entsprochen hatte. Ich hatte mein Leben zu Margarethens Gunsten mit einer ziemlichen Summe versichert und auch die geeigneten Schritte gethan, um bei der ersten eintretenden Vacanz eine für mich passende Anstellung zu erhalten. Die große Mühe, die ich mir gegeben, um Margarethens Zukunft und die meinige gegen schlimme Zufälle sicher zu stellen, brachte aber dennoch auf Mr. Sherwin nicht die günstige Wirkung hervor, welche sie auf einen weniger egoistischen Menschen nothwendig geäußert haben würde. Wenigstens hatte sie jedoch die Folge, daß er Nichts weiter über meine Zurückhaltung hinsichtlich. meines Vaters äußerte und gegen mich eine Höflichkeit beobachtete, die zwar mürrisch, aber im Grunde genommen bei Weitem nicht so widerlich war als jenes familiäre Wesens, mir der er mir anfangs lästig fiel.
Während des Frühlings und des Sommers schien Mistreß Sherwin immer schwächer und schwächer zu werde. Zuweilen ließen ihre Worte und ihr Wesen, besonders in Bezug auf mich, fürchten, daß ihr Verstand mit den Kräften des Körpers zugleich schwinde.
Bei einer Gelegenheit zum Beispiel, wo Margarethe das Zimmer auf einige Minuten verlassen hatte, näherte sie sich mir rasch, um mir mit fieberhafter Unruhe die Worte zuzumurmeln:
»Geben" Sie genau Acht auf Ihre Gattin; vergessen Sie nicht, alle bösen Menschen von ihr fern zu halten. Ich habe mich bemüht, dies zu thun; thun Sie es ebenfalls.
Ich verlangte sofort eine Erklärung dieses außerordentlichen Rathes von ihr, aber sie antwortete nur, indem sie Etwas von der ganz natürlichen Besorgniß einer Mutter flüsterte, dann verfügte sie sich schleunigst wieder auf ihren Platz. Es war mir unmöglich, sie zu bewegen, sich auf deutlichere Weise zu erklären.
Mehr als ein Mal bemerkte ich an Margarethen gewisse Ausbrüche von seltsamer Laune, die mir eben so unerklärlich waren als das Benehmen ihrer Mutter. Es war dies kurze Zeit nach meiner Rückkehr vom Lande nach der Nordvilla. Oft ward sie Plötzlich traurig und träumerisch, oder reizbar und empfindlich, während sie gleich darauf sich wieder eifrigst bedacht zeigte, dem geringsten meiner Wünsche zuvorzukommen und sich dankbar für die mindeste Aufmerksamkeit zu bezeigen, die ich ihr bewies.
Diese seltsame Veränderlichkeit berührte mich unangenehmer und schmerzlicher als ich sagen kann. Ich liebte Margarethen zu sehr, als daß ich im Stande gewesen wäre, mit dem sichern Blicke eines Moralisten die Unvollkommenheiten ihres Charakters zu ergründen. Mir war dabei nicht bewußt, daß ich ihr zu dieser Veränderlichkeit der Laune Anlaß gab, und wenn sie einzig und allein auf Rechnung der Koketterie zu bringen war, so war die Koketterie in diesem Falle das letzte Mittel der Verführung, welches im Stande gewesen wäre, über mich einige Gewalt auszuüben.
Indessen ließen diese Veränderlichkeiten und meine Vorstellungen dagegen glücklicher Weise keine Spur zurück, während das Ende meiner Prüfungszeit immer näher heranrückte.
Margarethe hatte jetzt ihre früheren bezaubernden Manieren ganz wiedergewonnen. Zuweilen verriethen sich bei ihr gewisse Symptome von Verlegenheit und eines ungewöhnlichen träumerischens Wesens, aber ich bedachte, wie nahe wir dem Tage waren, wo unsere Liebe keinem Zwang mehr unterliegen würde, und diese Verlegenheit erschien mir an ihr wie ein neuer Reiz, wie eine neue Zierde ihrer Schönheit. Es gab jetzt Augenblicke, wo ich beinahe zitterte, wenn ich mein eigenes Herz prüfte, und entdeckte, mit welcher vollständigen Hingebung ich alle Schätze zu Margarethens Füßen niedergelegt hatte.
Mr. Mannion fuhr, was die Aufmerksamkeit auf, meine Interessen betraf, fort, sich wie immer als eifriger und meiner würdiger Freund zu zeigen, doch schien in mehreren Beziehungen auch mit ihm eine Veränderung vorgegangen zu sein. Das Unwohlsein, über welches er sich zur Zeit meiner Wiederankunft in London beklagt, schien sich verschlimmert zu haben. Er besaß immer noch dasselbe kalte, marmorne, undurchdringliche Gesicht, welches gleich das erste Mal, wo ich es"gesehen, einen so gewaltigen Eindruck auf mich gemacht hatte; seine bis dahin so ruhigen und anscheinend durch die Macht des Willens beherrschten Manieren waren schroff und veränderlich geworden. An gewissen Abenden, wo ich ihn hatte bitten lassen, in den Salon zu kommen, um uns über eine schwierige Stelle in einem italienischen oder deutschen Buche —- denn ich hatte mit Margarethen wieder die Abendlectüre begonnen —— hinwegzuhelfen, hielt er oft, ehe er noch drei oder vier Worte erklärt hatte, inne und murmelte in verändertem Tone Etwas über plötzliches Ohrenbrausen, über Nervenzufälle und dergleichen, worauf er in der Regel das Zimmer wieder verließ.
Diese Zufälle waren eben so geheimnißvoll und räthselhaft wie alles Andere, was mit diesem Manne zusammenhing. Man gewahrte an ihm kein äußeres Anzeichen von Schmerz und keine außerordentliche Blässe. Endlich hörte ich ganz auf, ihn zu bitten, zu uns zu kommen, denn seine plötzlichen Anwandlungen wirkten ganz natürlich auch auf Margarethen so nachtheilig ein, daß sie sich während des ganzen noch übrigen Abends unwohl fühlte. In den letzten Wochen meines Probejahres schien, wenn der Zufall mich mit ihm zusammenführte, die günstige Jahreszeit des Sommers keine Besserung in seinem Zustande herbeigeführt zu haben. Ich bemerkte, daß seine kalte Hand, deren Berührung mich an jenem rauhen Winterabende, wo ich vom Lande zurückgekommen war, zuerst mit dem Gefühle eisiger Erstarrung erfüllt, während der heißen Tage, die der Entwickelung meiner seltsamen Situation in der Nordvilla vorangingen, noch sehen so kalt war als damals. So war der Stand der Dinge in meinem väterlichen Hause und bei Mr. Sherwin, als ich mich auf den Weg machte; um Margarethen den letzten Besuch unter meinem entlehnten Charakter abzustatten, denn es sollte nun nur noch eine einzige Nacht vor unsrer gänzlichen und vollständigen Vereinigung verfließen. Ich hatte den ganzen Tag in einem kleinen Hause zugebracht, welches ich in der Umgebung von London auf einen Monat gemietet und wo ich mich mit den nothwendigen Vorbereitungen beschäftigt hatte.
Ein Monat reinen Glücks mit Margarethen, fern von der Welt und allen Einflüssen derselben, dies war das irdische Paradies, dem seit länger als Einem Jahre meine theuersten und lebhaftesten Hoffnungen zugewendet waren —— Hoffnungen, die sich nun endlich verwirklichen sollten. Ich war mit meinen Arrangements in diesem kleinen Landhause zeitig genug fertig, um ein wenig vor der gewohnten Stunde des Diners in das Haus meines Vaters zurückkehren zu können. Während dieser Mahlzeit erklärte ich, daß ich London auf Einen Monat verlassen würde, indem ich vorgab, daß ein auf dem Lande wohnender Freund mich zu sich eingeladen hätte.
Mein Vater hörte mich mit seiner gewohnten Kälte und Gleichgültigkeit an und fragte mich gegen meine Erwartung nicht einmal, wer der Freund. sei, welchen ich besuchen wolle.
Nach dem Diner nahm ich Clara beiseite und sagte ihr, daß ich ihr morgen, meinem Versprechen gemäß; ehe ich abreiste, das Geheimniß anvertrauen würde, welches ich so lange in die eigene Brust verschlossen, indem ich sie zugleich bat. es jetzt noch Niemandem weiter mitzutheilen.
Hierauf verließe ich zwischen neun und zehn Uhr schnell das Hause, um in der Nordvilla einen letzten halbstündigen Besuch zu machen.
Ich zweifelte beinahe an der Wirklichkeit meines Glückes, und war, glaube ich unfähig, mir einen richtigen Begriff von der Freude zu machen, welche mein Herz erfüllte.
Eine Enttäuschung erwartete mich. Margarethe war nicht zu Hause. Sie war, wie man mir sagte, zu einer Abendgesellschaft bei einer ihrer Tanten gegangen, einer alten Jungfer, welche für sehr reich galt und welcher deshalb von der Familie alle möglichen Aufmerksamkeiten und Rücksichten erwiesen wurden.
Ich ward durch Das, was ich erfuhr, aber nicht bloß überrascht,sondern mit Entrüstung erfüllt. Margarethen gerade an diesem Abende von allen andern aus dem Hause zu schicken, verrieth einen empörenden Mangel von Rücksicht gegen uns Beide.
Mister und Mistreß Sherwin waren im Zimmer als ich eintrat, und ich sprach mich gegen ihn in Ausdrücken aus, die durchaus nichts Versöhnliches hatten. Er litt an heftigem Kopfweh, und da dies seine schlechte Laune noch bedeutend gesteigert haben mochte, so antwortete er mir in dem anmaßendsten Tone, den er bis jetzt anzunehmen gewagt:
»Mein werther Herr, erlauben Sie mir ein für alle Mal, mich entschieden auszusprechen. Von morgen an werden Sie thun, was in Ihrem Belieben steht, heute aber lassen Sie mich zum letzten Male thun, was mir beliebt. Ich weiß wohl, daß es nicht gern gesehen haben, wenn Margarethe in Gesellschaft ging, und wir würden auch heute Abend Rücksicht auf Ihre Wünsche genommen haben, wenn die alte Dame uns nicht einen zweiten Brief geschrieben hätte, in welchem sie uns mit ihrer Ungnade drohte, wenn wir Margarethen nicht erlaubten, sie zu besuchen. Ich konnte wegen meines Kopfwehes nicht ausgehen, um ihr Gegenvorstellungen zu machen. Dennoch liegt es auch in Ihrem eignen Interesse, daß meine Tochter in gutem Einvernehmen mit ihrer Tante bleibe, denn sie wird ein Mal ihr ganzes Vermögen erben, dafern sie sie nur zuweilen besucht. deshalb habe ich sie auch heute Abend gehen lassen. Dies wird uns früher oder später einige tausend Pfund einbringen. Mr. Mannion hat sich, obschon er nicht recht wohl ist, erbitten lassen, ihr als Cavalier dienen, um sie wieder nach Hause zu begleiten, und Sie können sich daher denken, daß sie in guten Händen ist. Wozu machen Sie also ein so großes Aufheben über eine so ganz natürliche Sache?«
Allerdings war es für mich eine bedeutende Herzenserleichterung zu erfahren, daß Mr. Mannion Margarethens Begleiter war. Nach meiner Meinung verdiente er dieses Vertrauen weit eher als selbst mein Schwiegervater. Von allen Diensten, die er mir bis jetzt geleistet, erachtete ich diesen für den kostbarste; aber ich wäre ihm noch dankbarer gewesen, wenn er sich bemüht hätte, Margarethen von dem Besuche dieser Abendgesellschaft abzureden.
»Ich muß Ihnen nochmals sagen,« hob Mr. Sherwin an, als ich ihm nicht sogleich antwortete, »ich muß Ihnen nochmals sagen, daß Sie sehr Unrecht haben, wenn Sie sich über meine Handlungsweise beschweren. Ich habe Alles zum Besten und mit Rücksicht auf Margarethens und Ihre Bequemlichkeit arrangirt. Gegen Mitternacht wird sie wieder da sein und Mr. Mannion ist bei ihr und ich weiß daher wirklich nicht, was Ihnen in den Kopf gefahren ist, daß Sie mich, ohne auf meinen leidenden Zustand Rücksicht zu nehmen, so mit Vorwürfen und Beschuldigungen überhäufen.«
»Sie thun mir Ihres Unwohlseins wegen sehr leid, Mr. Sherwin, und ich ziehe Ihre guten Absichten eben so wenig in Zweifel als die Versicherung, daß Margarethe an Mr. Mannion's Seite wohl aufgehoben ist, dennoch aber ist es mir natürlicher Weise sehr unangenehm sie heute Abend nicht zu Hause anzutreffen«
»Ich sagte wohl, daß sie heute Abend nicht ausgehen sollte —— trotz des Briefes ihrer Tante —— ich sagte es wohl.«
Diese kecke Interpellation kam von Mistreß Sherwin. Ich hatte sie noch niemals in Gegenwart ihres Mannes eine Meinung aussprechen hören, und ein solcher Ausfall von ihrer Seite schien mir unerklärlich. Sie sprach diese Worte schnell und entschieden und in einem entschlossenen Tone, den sie sonst niemals annahm, während sie gleichzeitig einen ganz eigenthümlich ausdrucksvollen Blick auf mich heftete.
»Wirst Du wohl schweigen!« rief Mr. Sherwin wüthend; »wie zum Teufel kannst Du Dir erlauben, eine Meinung auszusprechen, wenn Dich Niemand darum fragt! —— Ich muß Ihnen sagen, Mr. Sidney,« fuhr er fort, »indem er sich wieder zu mir wendete, »Sie würden, um diesem-ganzen abgeschmackten Auftritte ein Ende zu machen, am besten thun, wenn Sie sich selbst in die fragliche Gesellschaft begäben. Sie brauchen sich bloß auf mich zu berufen und Mr. Mannion wird mit seiner gewohnten Höflichkeit die Formalitäten der Vorstellung auf sich nehmen. Gehen Sie hin, ich bitte Sie —— gehen Sie hin —- es ist dies das Beste, was Sie thun können.«
Er schwieg und schien den Rest seiner Mißlaune an der Klingel auszulassen, in die er heftig hineinriß, weil die Dienerin ihm den vom Arzte verordneten kühlenden Trank noch nicht gebracht hatte.
Ich wußte nicht recht, ob ich auf seinen Vorschlag eingehen sollte. Während ich darüber noch dachte, benutzte Mistreß Sherwin einen Augenblick, wo ihr Mann seine Augen nicht auf sie gerichtet hatte, um mir bedeutsam zuzunicken. Ich begriff, daß sie wünschte, mich in die Abendgesellschaft gehen zu sehen; aber zu welchem Zwecke? und was sollte diese Handlungsweise bedeuten?
Die langen Körperleiden der armen Frau hatten augenscheinlich auch ihren Verstand geschwächt. Wozu sollte ich mich entschließen? Ich hatte mir fest vorgenommen, Margarethen noch diesen Abend zu sehen, aber in Gesellschaft ihrer Eltern zwei oder drei tödtlich lange Stunden auf ihre Rückkehr zu warten —- mit dieser Idee konnte ich mich nicht befreunden.
Ich entschloß mich daher, Mr. Sherwins Rathe zu folgen und zu der alten Tante zu gehen. Dort kannte mich sicherlich Niemand. Auf jeden Fall traf ich dort Leute, die einer ganz andern Welt angehörten als der, in welcher ich mich sonst zu bewegen pflegte, und deren Thun und Treiben mir vielleicht Stoff zu interessanten Beobachtungen bot. Auf alle Fälle war dies das sichere Mittel, diesen Abend noch ein paar Stunden in Margarethens Nähe zuzubringen, und ich konnte dann selbst sie nach Hause begleiten. Ohne weiter zu zögern, nahm ich daher die Adresse, welche Mr. Sherwin mir auf ein leeres Couvert geschrieben, und wünschte meinen Schwiegereltern gute Nacht.
Es schlug gerade zehn Uhr, als ich aus der Nordvilla heraustrat. Der Mond, der vorher ziemlich hell geschienen, zeigte sich nur noch in seltenen Zwischenräumen, denn die Wolken wurden immer dichter und hatten beinahe schon den ganzen weiten Raum des Himmels überzogen.
Siebentes Kapitel.
Um mich an den Ort meiner Bestimmung zu begeben, mußte ich mich ziemlich weit von Mr. Sherwin’s Hause entfernen und den Weg durch den volkreichen Stadttheil nehmen, welcher sich auf der rechten Seite von Edgeware Road hinzicht.
Das Haus der Tante Margarethens erkannte ich bei meinem Eintritte in die Straße, wo es stand, sofort an den glänzend erleuchteten Fenstern, an den Tönen der Tanzmusik und an einer Menge von Kutschern, Lakaien und müssigen Gaffern, die vor der Thür standen. Augenscheinlich war die versammelte Gesellschaft sehr zahlreich. Ich war unschlüssig, ob ich eintreten sollte oder nicht. Ich fühlte wohl, daß ich nicht in der geeigneten Gemüthsstimmung war, um conventionelle Complimente mit Personen auszutauschen, die mir vollständig fremd waren. Es war mir, als wenn mir Jedermann das Fieber der Freude und Ungeduld, welches in mir tobte, sofort am Gesichte ansehen müßte. Konnte ich Margarethen gegenüber wohl die angenommene Rolle eines Familienfreundes durchführen ——- besonders an diesem Abende?
Ganz gewiß mußte mir dies sehr schwer fallen und höchst wahrscheinlich ward, wenn ich mich in dieser Gesellschaft bewegte, unser Geheimniß durch mein Benehmen verrathen. Ich beschloß daher, in der Nähe des Hauses bis gegen Mitternacht auf- und abzugehen, dann wollte ich eintreten, Mr. Mannion meine Karte hinaufschicken und ihm melden lassen, daß ich ihn unten erwartete, um mit ihm gemeinschaftlich Margarethen nach der Nordvilla zurückzubegleiten.
Ich schritt über die Straße hinüber, um mich auf das dem Hause gegenüber befindliche Trottoir zu stellen und von hier ans die Fenster zu betrachten.
Ich hörte einige Zeit der Musik zu, welche durch die geöffneten Fenster hindurch deutlich hörbar war, und suchte mir vorzustellen, was Margarethe in diesem Augenblicke thäte. Hierauf drehte ich mich herum und ging in östlicher Richtung weiter, ohne zu wissen, wohin ich meine Schritte lenkte. Ich fühlte mich sehr ungeduldig, aber keineswegs ermüdet. Ich wußte, daß ich ehe noch zwei Stunden vergingen, meine Gattin wiedersehen würde. Bis dahin existierte die Gegenwart nicht für mich —— ich lebte nur in der Vergangenheit und in der Zukunft.
Ich ging allein, ohne mich um Etwas zu kümmern, durch Seitengassen und von Menschen wimmelnde Hauptstraßen.
Von allen den Schauspielen, welche eine große Stadt einem nächtlichen Spaziergänger darbieten zog nicht ein einziges meine Aufmerksamkeit auf sich. Ich hörte und sah Nichts, als was in meinem eigenen, Herzen vorging. Was galt mir in diesem Augenblicke die ganze Welt? Sie war für mich bloß in jenem kleinen Hause enthalten, welches uns den nächstfolgenden Tag in seine friedlichen Räume aufnehmen sollte!
Nachdem ich so eine Stunde lang aufs Gerathewohl umherpromenirt war, näherte ich mich unwillkürlich wieder dem Hause, in welchem Margarethens Tante wohnte.
Ich kam demselben gegenüber gerade in dem Augenblicke an, wo auf der Uhr einer benachbarten Kirche die elfte Stunde schlug.
Ich erwachte aus meinem Hinbrüten. Eine noch größere Anzahl Wagen als vorher hielt auf der Straße, und vor der Thür sah ich auch eine noch größere Anzahl Diener und Kutscher versammelt. Waren die Eingeladenen im Begriffe, sich zu entfernen, oder waren erst noch späte Gäste empfangen worden? Ich beschloß, mich dem Hause zu nähern und mich zu überzeugen, ob die Musik aufgehört habe oder nicht. Ich brauchte bloß einige Schritte zu thun, um die Töne der Harfe und des Pianoforte lustiger als je erklingen zu hören.
Plötzlich öffnete sich die Hausthür und eine Dame und ein Herr traten heraus. Das Licht der unmittelbar über der Hausthür brennenden Laterne fiel hell auf das Gesicht der Heraustretenden und ich erkannte Margarethen und Mr. Mannion Sie gingen also schon nach Hause? Ueber Eine Stunde vor dem Augenblicke, wo sie von ihrer Wirthin Abschied nehmen sollten? Warum?
« Ich konnte mir nur Einen Beweggrund denken: Margarethe dachte an mich, an das, was ich empfinden würde, wenn ich in der Nordvilla sie bis nach Mitternacht erwarten müßte.
Ich eilte auf sie zu, um sie anzureden, während sie die Stufen herabstiegen; in demselben Augenblicke aber ward durch einen unter den Kutschern ausgebrochenen Streit meine Stimme übertäubt und der Weg mir versperrt. Einer schrie, es, habe ihm eben Jemand in die Tasche gegriffen, und Andere riefen, sie hätten den Dieb. Es kam zu Thätlichkeiten, die Polizei mischte sich ein und ich war auf allen Seiten von einem heulenden, wüthenden Pöbel umringt, welcher der Hölle entstiegen zu sein schien.
Ehe ich mich frei machen und die Mitte der Straße gewinnen konnte, waren Margarethe und Mr. Mannion in eine Droschke gestiegen und ich sah nur eben noch, wie der Wagen rasch davon fuhr.
Nicht weit von mir stand eine zweite Droschke. Ich sprang sofort hinein und befahl dem Kutscher, dicht hinter der ersten herzufahren. Nachdem ich so lange geduldig gewartet, war ich fest entschlossen, mich nicht durch einen bloßen Zufall von meinem Vorsatze, mit den Beiden zugleich nach Hause zurückzukehren, abwendig machen zu lassen.
Da die Entfernung, welche uns trennte, sich immer mehr minderte, so hatte ich schon den Kopf zum Schlage herausgesteckt, um den Kutscher des ersten Wagens zu rufen und dem meinigen zu sagen, daß auch er ihn rufen solle, als die erste Droschke plötzlich in eine Seitenstraße einbog und auf diese´Weise eine Richtung einschlug, welche der nach der Nordvilla führenden geradezu entgegengesetzt war.
Was sollte das bedeuten? Warum fuhr man nicht gerades Wegs nach Hause?
Mein Kutscher fragte mich, ob man nicht wohl thun würde, die Andern anzurufen, ehe er sie immer mehr Vorsprung gewinnen ließe, und indem er dies sagte, gestand er offen, daß sein Pferd durchaus nicht im Stande sei, mit dem des ersten Wagens noch lange gleichen Schritt zu halten.
Ohne mir die Sache lange zu überlegen und beinahe mechanisch, denn ich hatte keinen vernünftigen Grund, so zu handeln, wies ich seinen Vorschlag zurück und befahl ihm einfach, der ersten Droschke zu folgen, wenn auch die Entfernung, sich mehre.
Während ich diese Worte sprach, bemächtigte sich meiner eine seltsame Empfindung. Es war, als wenn mein Mund, indem er sprach, nur das Echo einer andern Stimme wäre. So eben noch war mir ganz heiß und eine fieberhafte Aufregung schüttelte mich. Jetzt dagegen packte mich plötzlicher Frost und ich wagte kaum, mich zu bewegen. Woher kam das?
Meine Droschke machte Halt. Ich bog mich hinaus und sah, daß das Pferd zusammengebrochen war.
»Es hilft Nichts, mein Herr,« sagte der Kutscher, indem er ruhig vom Bocke herunterstieg. »Mein Pferd kann nicht weiter.«
Ich bezahlte ihn und stieg schnell aus, entschlossen, der ersten Droschke zu Fuße zu folgen.
Die Gegend, in der wir uns befanden, war eine ziemlich öde, eine Art im Entstehen begriffene Kolonie von halbfertigen Straßen und halb bewohnten Häusern in der Nähe eines Eisenbahnhofs. Ich hörte das gellende Pfeifen und dann das heisere Krächzen der Maschine eines abgehenden Zuges, während ich den finsteren Platz entlang eilte, auf welchen ich mich auf diese Weise versetzt sah.
Die Droschke welcher ich nacheilte, hielt an der Ecke einer langen Straße, die an dem einen Ende aus bereits geschlossenen Kaufläden und an dem andern, mir zunächst befindlichen, wie es schien, aus einigen kleinen Hotels bestand.
Margarethe und Mannion stiegen rasch aus dem Wagen und gingen, ohne rechts oder links zu sehen, in die Straße hinein.
Vor dem neunten Hause blieben sie stehen. Ich folgte ihnen so dicht aus dem Fuße, daß ich das Knarren der Thür hörte, welche sich hinter ihnen schloß.
Ein furchtbarer Verdacht begann in mir zu erwachen. Er bemächtigte sich meiner leise und gleichsam kriechend wie die durch die Berührung mit einem Leichnam verursachte Kälte. Er durchdrang mich und durchzuckte mein Herz.
Ich betrachtete das Haus. Es war ein Gasthaus von verdächtigem oder wenigstens räthselhaften Aussehen. Mechanisch und ohne mir von meinen Gedanken Rechenschaft zu geben, nur dem instinctartigen Entschlusse folgend, den Beiden in das Innere des Hauses nachzufolgen, wie ich ihnen durch die Straßen gefolgt war, ging ich gerade auf die Thür zu und zog die Klingel.
Auf diesen Ruf erschien ein Diener oder Kellner und öffnete. Das in der Hausflur brennende Licht fiel auf mein Gesicht und er trat wie erschrocken einen Schritt vor mir zurück. Ohne mich erst auf eine Erklärung einzulassen, schloß ich die Thür hinter mir und sagte dann:
»So eben sind eine Dame und ein Herr hier hereingekommen.«
»Was geht denn das Sie an?« fragte der Kellner, setzte aber gleich darauf in etwas höflicherem Tone hinzu: »Darf ich fragen, was Sie von diesen Personen wollen, Sir?«
»Ich will, daß Ihr mich an einen Ort führet, wo ich ihre Stimmen hören kann, weiter will ich Nichts. Hier habt Ihr ein Goldstück —— thut dafür was ich verlange.«
Die Augen des Kellners hefteten sich mit dem Ausdrucke gemeiner Habgier auf das Goldstück, welches ich ihm vor die Augen hielt. Leise, auf den Zehen schlich er sich bis an das Ende des Corridors, wo er zu horchen schien. In diesem Augenblicke hörte ich weiter Nichts als die raschen Schläge meines Herzens. Nach wenigen Augenblicken kam der Kellner wieder zurück und murmelte:
"»Mein Herr wird Nichts bemerken. Er sitzt eben beim Abendessen Wir wollen es wagen. Sie versprechen mir doch, sich sogleich wieder zu entfernen und keinen Spektakel im Hause zu machen? Wir sind hier ruhige Leute, die so Etwas nicht leiden. Also versprechen Sie mir, leise aufzutreten und kein Wort zu sprechen?«
»Ja, ich verspreche es.«
»Nun, so kommen Sie und machen Sie ja kein Geräusch.«
Während ich hinter ihm die Treppe zu ersteigen begann, war es mir, als wenn Alles in mir erstarrte und als ob ich mich nur auf den Antrag einer geheimen unwiderstehlichen Macht bewegte. Der Kellner schritt mir voran in ein leeres Zimmer. Er zeigte auf die vier Wände und sagte leise:
»Es sind bloß Brettverschläge mit Papier überklebt.«
Dann wartete er, währender seine Augen mit dem Ausdrucke der Unruhe auf mich geheftet hielt.
Ich horchte und durch den dünnen Bretterverschlag hindurch hörte ich Stimmen —- seine Stimme und ihre Stimme. —— Ich hörte und ich sah —- ich erfuhr den mir gespielten schändlichen Verraths in seinem ganzen gräßlichen Umfange. Er wünschte sich Glück zu der teuflischen Geduld und Verstellung, welche den Erfolg seiner geheimen Machination herbeigeführt, deren Frucht er am Vorabende des Tages, ernten, wo ich sie, die nicht weniger strafbar war als er, als meine würdige und theure Gattin zu begrüßen gedachte.
Ich war keiner Bewegung, keines Athemzuges mächtig: Ich fühlte, wie mir das Blut nach dem Gehirn emporstieg —— mein Herz drohte zu bersten. Ganze Jahre geistiger und körperlicher Qualen waren in diese wenigen Augenblicke zusammengedrängt.
Das Bewußtsein Dessen, was ich litt, verließ mich keinen Augenblick.
Plötzlich schwanden meine Sinne. Ich hörte den Kellner Murmeln:
»Mein Gott, er stirbt!«
Ich fühlte, wie er mir das Halstuch aufband und dann das Gesicht mit kaltem Wasser benetzte. Hierauf zog er mich aus dem Zimmer hinaus, öffnete ein Fenster, welches auf die Straße ging, und hielt mich aufrecht, während der kalte Nachthauch mein Gesicht fächelte.
Alles Dies wußte ich und als der Paroxysmus vorüber war, blieb nur noch ein fieberhaftes krankhaftes Zucken der Muskeln und Nerven zurück.
Es dauerte nicht lange, so gewann ich auch wieder die Fähigkeit des Denkens. Demüthigung Scham, Entsetzen, der unklare Wunsch, mich vor den Augen Aller zu verbergen, den Rest eines fortan verzweiflungsvollen Lebens in Einsamkeit zu begraben, bemächtigten sich meiner.
Und dann traten diese Regungen in den Hintergrund und ein einziger Gedanke gewann die Oberband, indem er alle Bedenken des Gewissens, alle Grundsätze der Erziehung, die Pläne der Zukunft und die Erinnerungen an die Vergangenheit, ja selbst den Hinblick auf das Leben im Jenseits niederwarf.
Vor dem verzehrenden Feuer dieses Gedankens schwanden alle andern -— gute sowohl als böse. Ich fühlte meine physischen Kräfte wieder erwachen und eine seltsame plötzliche Energie durchdrang alle meine Adern wie Feuer.
Ich drehte mich herum und schaute nach dem Zimmer hin, welches wir so eben verlassen —— mein Auge schien dieses Zimmer und das andere durchdringen zu wollen, in welchem die Verräther waren.
Der Kellner hielt sich fortwährend mir zur Seite und überwachte ängstlich alle meine Bewegungen. Plötzlich trat er erschrocken und mit leichenblassem, bestürztem Gesichte zurück und streckte die Hand nach der Treppe aus.
»Sie müssen fort,« murmelte er, »ich kann Sie nicht länger dalassen. Ich bemerkte den furchtbaren Blick, den Sie so eben nach jenem Zimmer warfen. Sie haben für Ihr Geld gehört, was Sie hören wollten. Entfernen Sie sich nun, denn ehe ich um Ihretwillen meinen Posten verlieren sollte, rufe ich lieber nach Hilfe und bringe das ganze Haus in Alarm. Ja, ich sage Ihnen noch Etwas —- so wahr Gott im Himmel lebt -— ich werde diese beiden Personen warnen, ehe sie unser Haus wieder verlassen.«
Ich schien diese Worte nicht gehört zu haben, verließ aber das Haus. Keine menschliche Stimme, keine schmeichelnde Bitte hätte jetzt aus meinem Kopfe den Gedanken zu bannen vermocht, der sich darin festgesetzt.
Als ich mich entfernte, folgte der auf der Schwelle stehende Kellner mir mit wachsamem Auge. Als ich dies bemerkte, machte ich einen Umweg, um nicht direct wieder auf den Platz zu gelangen, wo, wie ich mir gedacht, die Droschke, in der sie gekommen waren, sie noch erwartete.
Der Kutscher saß schlafend im Innern des Wagen. Ich weckte ihn und sagte ihm, man habe mich hergeschickt, ihm zu sagen, daß seine Dienste für diese Nacht nicht mehr nöthig seien, und bestimmte ihn, sich sofort zu entfernen, indem ich ihn selbst bezahlte, wie er bezahlt sein wollte. Er fuhr rasch davon. Damit war das erste Hinderniß aus dem verhängnißvollen Wege geräumt, den ich entschlossen war zu betreten.
Als ich die Droschke nicht mehr sehen konnte, betrachtete ich den Himmel. Er war sehr schwarz. Die dunkeln Wolken bildeten fast nur noch eine einzige unförmliche Masse, die sich immer tiefer herabsenkte. Ich kehrte in die Straße zurück und stellte mich in einen Thorweg, dem kleinen Hotel gerade gegenüber. In dem Schweigen und dem Dunkel, in diesem Augenblicke, wo jede andere Thätigkeit in mir gespannt war, sprachen sich meine Gedanken unwillkürlich in Worten aus. Ich sagte leise zu mir selbst:
Sobald dieser Mann heraustritt, bringe ich ihn um.
Von diesem Gedanken entfernte sich mein Geist nicht einen einzigen Augenblick. Ich dachte nicht ein einziges Mal an mich selbst oder an Matgarethen. Der Schmerz war todt in meinem Herzen und mit ihm das Bewußtsein meiner Leiden erstarrt. Vor dem Tode ward Alles kalt, und der Tod und mein Gedanke waren nur Eins.
Welche Qual, welche Ungeduld, als ich so hier stand und lauerte!
In demselben Augenblicke, wo ich bei mir sagte, daß die Stunde vorrücke und daß die Verräther nun nothwendig das Haus verlassen müßten, um nach der Nordvilla zurückzukehren, hörte ich den langsamen, regelmäßigen Tritt eines Mannes, welcher die Straße heraufkam.
Es war der Polizeimann dieses Stadtviertels, der seine Runde machte.
Als er sich dem Eingange des Gäßchens näherte, blieb er stehen, gähnte, dehnte sich die Arme und begann ein Liedchen zu pfeifen. Wenn nun Mannion herauskam, während dieser Mann noch zugegen war! Bei diesem Gedanken war es mir, als wenn mir das Blut in den Adern erstarrte.
Plötzlich hörte der Mann aus zu pfeifen, ging langsam in der entgegengesetzten Richtung weiter und probierte die Thür eines der benachbarten Häuser, dann that er einige Schritte, blieb abermals stehen und probierte wieder eine Thür, dann sagte er in schläfrigem Tone:
»Ah, ich habe ja schon gesehen, daß hier Alles in Ordnung ist -— die andere Straße ist es, die ich vergessen hab es zu inspiciren.«
Mit diesen Worten drehte er sich auf dem Absatze herum und entfernte sich.
Während ich auf das immer undeutlicher werdende Geräusch seiner Tritte hörte, heftete ich meine Augen mit verzehrender Ungeduld auf das kleine Hotel mir gegenüber. Es dauerte nicht lange, so verstummte das Geräusch gänzlich, aber der Mann, dem ich nach dem Leben trachtete, kam immer noch nicht zum Vorscheine.
Nach ungefähr zehn Minuten öffnete sich endlich die Thür und ich hörte Mannion's Stimme, ebenso wie die des Kellners, der mich eingelassen.
Letzterer sagte am Ende des Corridors zu ihm:
»Schauen Sie sich sorgfältig um, ehe Sie hinaustreten ——- die Straße ist nicht sicher.»
Diese Warnung verachtend oder sich wenigstens stellend, als verachte er sie, unterbrach Mannion den Kellner und bemühte sich, seine Begleiterin zu beruhigen, indem er zu ihr sagte, diese Warnung sei weiter Nichts als eine verkappte Bitte um ein Geldgeschenk.
Der Kellner protestierte dagegen und erklärte, es liege ihm an seinem Gelde eben sowenig als an seiner Person.
Unmittelbar darauf ward eine Thür im Innern mit lautem Getöse zugeschlagen und ich begriff, daß Mannion seinem Schicksale überlassen war.
Nun herrschte einige Augenblicke lang Schweigen, dann hörte ich ihn zu seiner Begleiterin sagen, er wolle allein nach dem Orte gehen, wo er den Wagen zurückgelassen, und sie werde wohl thun, die Hausthür zu schließen und unbesorgt in der Hausflur zu warten, bis er wiederkäme.
Dies geschah auch.
Er ging bis ans Ende der Gasse.
Mitternacht war vorüber. Man hörte nirgends ein verdächtiges Geräusch.
Keine Seele weilte an diesem Orte, um Zeuge des drohenden Kampfes zu sein oder ihn zu verhindern. Sein Leben war mein.
Der Tod folgte ihm eben so schnell als meine Füße, während ich hinter ihm herging.
Am Ende der Gasse angelangt, sah er sich nach allen Seiten hin nach seinem Wagen um und kehrte, da er ihn nicht gewahrte, rasch wieder um.
In diesem Augenblicke, sah er sich mir gegenüber. Ehe wir noch ein Wort oder eigen Blick gewechselt, hatte ich ihn mit beiden Händen an der Gurgel gepackt.
Er war größer als ich und kräftig gebaut.
Ohne zweifel begriff er sofort, daß es ein Kampf auf Leben und Tod war, und wehrte sich mit aller seiner Kraft. Es gelang ihm indeß nicht, sich auch nur einen Augenblick lang von meinen Händen loszuwinden, wohl aber zerrte er mich acht bis zehn Schritte weit aus der Gasse auf die große Fahrstraße hinaus.
Dem Ersticken nahe, ließ er ein immer schnelleres und keuchenderes Krächzen aus seinem offenen Munde dringen und ich fühlte seinen Hauch auf meiner Stirn. Mit seinen hocherhobenen Fäusten versetzte er mir fortwährend gewaltige Schläge auf den Kopf, aber ich blieb fest und hielt ihn mit ausgestreckten Armen so weit als möglich von mir entfernt.
Während meine Füße einen festen Stand zu gewinnen suchten, entlockten sie dem frisch aufgefahrenen Steinschutte ein mattes, dumpfes Geräusch. Ein barbarischer Gedanke verwandelte die unversöhnliche Wuth, die mich beseelte, mit einem Male in blutdürstigen Wahnsinn. Ich ließ meinen Feind plötzlich los und schleuderte ihn mit der ganzen Wucht meiner Wuth auf den Boden mit dem Gesichte auf die spitzen Steine nieder.
In diesem ersten Augenblicke des Triumphes meiner Rache bückte ich mich zu ihm nieder, denn er lag zu meinen Füßen ausgestreckt, anscheinend sinnlos, vielleicht todt —— um ihm nicht bloß das Leben, sondern mit Hilfe der scharfen Steine auch das Ansehen der Menschengestalt zu rauben, als ich in dem tiefen Schweigen, welches auf den Kampf folgte, die Thür des kleinen Hotels sich wieder öffnen hörte.
Sofort ließ ich meinen Feind liegen und eilte nach dieser Richtung hin, ich weiß selbst nicht, in welcher Absicht.
Auf den Stufen des Hauses, auf dieser fluchbeladenen Schwelle stand das Weib, welches der Diener Gottes mir zur Gattin gegeben. Ich fühlte, indem ich sie betrachtete, wie Scham und Verzweiflung mir das Herz zusammenschnürten. Es war mir, als erwachte ich aus einem entsetzlichen Traume zu einer noch entsetzlicheren Wirklichkeit. Mit trockenen! Auge und nicht im Stande, ein Wort zu sprechen, ging ich gerade auf Margarethen zu, faßte sie am Arme und führte sie eine Strecke weit von dem Hause hinweg.
Ich gehorchte einem mir selbst unklaren In1pulse, der mich trieb, sie einen Augenblick lang sich von mir entfernen zu lassen, ehe ich im Stande wäre zu sprechen. Aber was wollte ich sagen —- und wann konnte ich es sagen? Dies wußte ich nicht.
Ein Schrei schwebte auf ihren Lippen; in dem Augenblicke aber, wo unsere Augen sich begegneten, erstarb dieser Schrei in einem langen, halb erstickten krampfhaften Aechzen, Ihre Wangen waren leichenblaß —- ihre Blicke stier wie die einer Wahnsinnigen. Schon hatte das Bewußtsein und die Angst ein Geschöpf aus ihr gemacht, welches entsetzlich anzuschauen war.
Ich zog sie noch einige Schritte weiter fort, dann blieb ich stehen und dachte an Mannion, den ich mit dem Gesichte abwärts gewendet auf den Steinen der Fahrstraße hatte liegen lassen.
Jene wilde, rein animalische Kraft, welche ich noch kurz vorher in mir gefühlt, hatte mich in dem Augenblicke verlassen, wo ich Margarethen sah. Jetzt taumelte ich hin und her —— so schwach war ich. Nur noch krampfhaft hielt ich sie fest.
Kalter Schweiß rieselte an meinem Gesichte herab und ich lehnte mich an die Wand eines Hauses, um nicht niederzusinken Diese Bewegung benutzte Margarethe, um sich schnell von mir loszureißen, und indem sie mit halberstickter Stimme um Hilfe rief, entfloh sie nach dem andern Ende der Straße.
Immer noch von dem seltsamen Instincte beherrscht, welcher mich trieb, sie nicht loszulassen, eilte ich ihr nach, indem ich taumelte wie ein Betrunkener.
Aber binnen kaum einer Minute war sie schon so weit, daß ich sie nicht mehr sehen konnte.
Nichtsdestoweniger setzte ich meine Verfolgung fort. Ich lief immer weiter und weiter, ohne zu wissen, in welcher Richtung. Mehr als einmal kam ich wieder durch dieselben Straßen und an denselben Häusern vorüber, denn die Aufregung und Verzweiflung hatte mir allen Ortssinn geraubt.
Dabei aber war es mir immer, als wenn Margarethe sich eben erst von mir losgerissen hätte und so dicht vor mir her eilte, daß ich sie jeden Augenblick wieder erreichen könnte.
Ich erinnere mich, daß ich während dieses tollen Laufes zwei Männern mitten in einer breiten Straße begegnete. Beide blieben stehen, drehten sich um und kamen mir einige Schritte nach. Der Eine hielt mich für betrunken und fing an zu lachen. Der Andere gebot ihm in ernstem Tone Schweigen und sagte, ich sei kein Betrunkener, sondern ein Wahnsinnigen. Er hatte mein Gesicht gesehen, als ich unter einer Gaslaterne vorüber rannte, und war überzeugt, daß ich den Verstand verloren hätte.
»Wahnsinnig!« Dieses Wort, welches ich im Vorübereilen erhaschte, dröhnte mir nach wie ein verhängnißvoller Urtheilsspruch, wie eine Sterbeglocke, die in der Welt der Geister das Abscheiden des meinigen verkündete.
»Wahnsinnig!« Dieses Wort erfüllte mich mit einem entsetzen ärger als der Tod für Jeden, der es noch fühlen kann —- einem Entsetzen, welches keine menschliche Zunge jemals richtig zu schildern vermag.
Ich rannte immer weiter, denn eine Vision lockte mich hinter sich her. Ja —— da —— vor mir flog ein Schatten vor mir hin, der schwärzer war als die nächtliche Finsterniß, und immer weiter und weiter eilte ich, denn die Furcht gestattete mit nicht, stehen zu bleiben.
Ich weiß nicht, wie groß die Strecke war, die ich auf diese Weise zurückgelegt hatte.
Plötzlich verließen mich meine Kräfte vollständig und ich sank wie ohnmächtig nieder, an einem einsamen Orte, wo ich trotz des Dunkels einige Baumgruppen zwischen vereinzelt umher stehenden Häusern erblickte.
Ich bedeckte das Gesicht mit den Händen und bemühte mich, mich zu überreden, daß ich mich noch in vollem Besitze meiner Fähigkeiten befände. Ich stellte mir die mühsame Aufgabe, Ordnung in meine Gedanken zu bringen, meine Erinnerungen zu analysiren, das Chaos meines Gehirns zu entwirren, um mich an eine bestimmte klare Idee festzuhalten, aber es gelang mir nicht.
In diesem furchtbaren Kampfe, durch welchen ich wieder Herr meines Geistes zu werden suchte, fand ich nur Ertödtung fast aller Empfindungen. Es war mir, als wäre gar Nichts geschehen. Die furchtbaren Ereignisse dieser Schreckensnacht waren für mich gleichsam nicht vorhanden.
Ich erhob mich mühsam und ließ meine Blicke um mich her schweifen. Ich bemühte strich, durch Anwendung von allerhand trivialen Mitteln wieder zur Besinnung zu erwachen. Ich versuchte die Häuser zu zählen, welche ich durch das Dunkel der Nacht hindurch gewahrte.
Das Dunkel der Nacht? War es wirklich Nacht? Oder begann nicht vielmehr der Tag am fernen Horizonte heraufzudämmern? Wußte ich, was ich sah? Erschien mir ein Gegenstand zwei Mal hintereinander in einer und derselben Gestalt? Wo war ich? Auf was war ich niedergesunken? Auf Gras? Ja, auf den kalten thauigen Rasen.
Ich neigte meine Stirn, um sie durch diese Berührung zu erfrischen, und bemühte mich zum letzten Male, durch das Gebet meinen Geist wieder zu erwecken. Ich versuchte jenes Gebet zu sprechen, welches ich so gut kannte —— denn ich betete es seit meiner Kindheit alle Tage —— »Vater unser« -—.
Aber die göttlichen Worte gehorchten meinem Rufe nicht. Nein, nicht ein einziges —— von Anfang bis zu Ende.
Ich richtete mich auf die Kniee empor. Ein heller Sonnenstrahl traf mein Auge.
Sofort ward ich wie von dem Scheine einer höllischen Gluth geblendet, in welcher Tausende von höhnenden Teufeln durcheinander tanzten, und dann folgte wieder die schwarze Nacht, die Nacht der Blindheit. —— Endlich war Gott barmherzig —— er nahm mir die Besinnung!
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Als ich wieder zu mir kam, sah ich mich auf meinem eigenen Bette in meinem Zimmer liegen. Mein Vater stützte mir den Kopf, der Arzt fühlte mir an den Puls und ein Polizeimann erzählte ihnen, wie er mich gefunden und nach Hause gebracht.
Achtes Kapitel.
Wenn man die Blinden operiert, um ihnen das Gesicht wiederzugeben, schließt dieselbe hilfreiche Hand, welche ihnen das Schauspiel der Welt wieder öffnet, sofort, wenigstens auf einige Zeit, die magische Perspective. Die Augen müssen sich noch verbinden lassen, damit nicht bei der Empfindlichkeit des wiedergewonnenen Sinnes der plötzliche Uebergang aus dem Dunkel zum Lichte eine verderbliche Einwirkung aus sie äußere.
Zwischen diesem furchtbaren Nichts aber, welches der gänzliche Mangel des Gesichts erzeugt, und diesem zeitweiligen Mangel der Sehkraft, der nur durch den Schleier verursacht wird, liegt ein ungeheurer Unterschied.
Das Auge des Blinden hat in demselben Augenblicke, wo die Operation gelingt, einen Lichtstrahl erfaßt, und dieser helle Schein offenbart sich ihm noch auch unter dem dichtesten Schleier, so sehr durchdringt und beherrscht er Alles. Das neue Dunkel, in welches er versenkt ist, gleicht nicht mehr jener leeren Finsterniß. Es ist erfüllt von raschen wechselnden Visionen, von prismatischen Farben, von kaleidoskopischen Formen, welche sich jede Secunde nach allen Richtungen hin durch einander bewegen. Und so sind die vor Kurzem noch der Sehkraft beraubten Augen, obschon sie wieder dicht verbunden sind, dennoch nicht mehr die eines Blinden.
So war es auch mit meinem geistigen Gesichte. Nach der vollständigen Vergessenheit und der Nacht, in welche meine Ohnmacht mich versenkt, sprang das Bewußtsein in meinem Geiste empor wie ein Lichtstrahl, als ich mich meinem Vater gegenüber und in meinem eigenen Hause sah.
Beinahe in demselben Augenblicke aber, wo ich wieder zur Wahrnehmung dieses verhängnißvollen Lichtes geboren ward, breitete sich eine, neue Finsterniß über meinen Geist —— eine Finsterniß, die aber dies Mal nicht mehr die des vollständigen Vergessens war.
Ich hatte jetzt Gefühle, ich hatte Gedanken, ich hatte Visionen aber Alles ertrank und adsorbirte sich in furchtbarem Delirium.
Der Gang der Zeit, die Aufeinanderfolge der Ereignisse, selbst die des Tages und der Nacht, die Personen, welche sich um mich herum bewegten, die Worte, welche sie sprachen, die liebevollen Dienste, welche sie mir leisteten —— Alles entschlüpfte mir wieder von dem Moment an, wo ich die Augen wieder schloß, nachdem ich sie eine Secunde lang auf meinen Vater in seinem Cabinet geheftet.
Ich war zu schwach, um mich zu bewegen, um zu sprechen, um die Augen zu öffnen oder um auch nur in geringem Grade Gebrauch von einem meiner körperlichen Organe oder einer meiner Geistesfähigkeiten zu machen.
Das Gehör war der erste Sinn, dessen Gebrauch ich wieder erlangte, und der erste Ton, welchen ich erkannte, war der eines leichten, behutsamen Trittes, welcher sich geheimnißvoll näherte, stehen blieb und sich dann leise wieder aus dem Zimmer entfernte. Dieses leichte Geräusch zu hören, war meine erste Freude. Ich erwartete, daß es sich wiederholen würde, und in diesem Warten lag mein erstes Glück, seitdem ich krank gewesen war.
Ein Mal näherte sich dieser leichte Tritt, machte einen Augenblick lang Halt, schien sich wieder zu entfernen und näherte sich dann abermals. Ich hörte einen schwachen, aber deutlichen Seufzer —— ein Murmeln, welches ich mir nicht erklären konnte, drang bis zu meinem Ohre, dann ward Alles wieder still. Ich wartete —— aber in welcher wonnigen Ruhe —— wieder, daß dieses Murmeln sich wiederholen sollte, und nahm mir vor, besser darauf zu hören. Es dauerte auch nicht lange, so näherte sich der Schritt zum dritten Male, und dieselben Worte wurden gemurmelt. Ich hörte meinen Namen nennen —- ein, zwei, drei Mal —— auf sehr sanfte Weise und in bittendem Tone, als ob man um die Antwort bäte, welche meine Schwäche mich noch hinderte zu geben.
Diese Stimme aber erkannte ich nun —— es war die Clara’s. Lange nachher, nachdem sie noch aufgehört hatte, sich hören zu lassen, hallte sie in meinem Ohre. Es war ein süßes Murmeln, welches mich bald sanft einschläferte wie ein Kind in der Wiege, bald einen Ton annahm, der mich zum Erwachen aufzufordern schien.
Es war mir, als wenn der Ton dieser schmeichelnden Stimme einen seltsamen Einfluß auf mein Wesen ausübte, welches davon ganz durchdrungen ward und so zu sagen wieder auflebte. —— Es war derselbe Einfluß, den die Sonne mehrere Wochen später auf mich ausübte, als ich das erste Mal wieder ins Freie ging.
Das erste Geräusch, welches ich hierauf hörte, kam aus meinem Zimmer. Zuweilen hörte ich es ganz nahe an meinem Kopfkissen Es war der leiseste Ton, den man sich denken konnte, und bestand in Nichts als in dem weichen, eintönigen Rauschen eines Frauengewandes Und dennoch hörte ich darin unzählige Harmonien und entzückende Modulationen. Ich besaß nur erst die Kraft, die Augen auf eine Minute zu öffnen, und konnte sie noch nicht fest auf einen Gegenstand heften. Ich begriff jedoch, daß dieses Rauschen von Clara’s Gewande herrühre, und neue Gefühle erwachten in mir, als ich dieses Geräusch hörte, welches mir verkündeten, daß sie in dem Zimmer war.
Aus meinem Gesichte fühlte ich die weiche, warme Luft des Sommers. Der milde Duft der Blumen, welcher diese Luft sättigte, ergötzte mich, und ein Mal, als meine Thür einen Augenblick offen stehen geblieben war, schlug das Gezwitscher der Vögel in dem am Fuße der Treppe befindlichen Vogelhause ganz deutlich an mein Ohr und bereitete mir den herrlichsten Genuß.
Auf diese Weise kräftigten meine Fähigkeiten sich Stunde um Stunde und immer gemessen und allmählich von dem Augenblicke an, wo ich das Geräusch von Tritten und das leise Murmeln vor der Thür meines Zimmers zum ersten Male hörte.
Eines Abends erwachte ich aus einem langen, von jeder Vision freien Schlafe, und als ich Clara neben meinem Bette sitzen sah, nannte ich mit matter Stimme ihren Namen und bewegte meine abgemagerten Hände, um die ihrigen zu ergreifen.
In dem Augenblicke, wo ich ihr sanftes, Güte athmendes Gesicht sich über mich neigen sah, während ihre Augen aufmerksam auf die meinen geheftet waren, der letzte Schimmer der scheidenden Sonne auf mein Bett fiel und die Luft mild und weich zu dem geöffneten Fenster hereindrang; in diesem wonnigen Augenblicke, wo meine Schwester mich in ihre Arme schloß und mich ermahnte, aus Liebe zu ihr mich noch ruhig zu verhalten und mich zu gedulden, erwachte die Erinnerung an meinen Ruin und an die Schmach, welche mich überfluthet, in meinem Herzen.
Ich dachte an meine Liebe, welche eine Infamie geworden, und an die kurzen Hoffnungen eines Jahres, welches mir Nichts zurückließ als eine von der Verzweiflung zerstörte Existenz.
Der Schimmer des Abendrothes fiel in diesem Augenblicke auf mein Gesicht. Clara kniete neben mein Bett nieder und Hob ihr Tuch, um meine Augen vor diesem Lichtscheine zu schirmen.
»Gott hat Dich uns wiedergegeben, Sidney,« murmelte sie leise, »Um uns glücklicher zu machen als je.« ——
Diese Worte öffneten die Schleusen des so lange in mich selbst verschlossenen Schmerzes. Heiße Thränen entströmten meinen Augen und ich weinte zum ersten Male nach jener Schreckensnacht, ich weinte in den Armen meiner Schwester in dieser stillen Abendstunde über den Verlust meiner Ehre, über das Scheitern meiner theuersten Hoffnungen und über das Entschwinden des Glückes, welches schon jetzt in meiner Jugend mir auf ewig entflohen war.
Neuntes Kapitel.
Eine außerordentliche Mattigkeit und tiefe Melancholie verschleierte Das, was ich während der langen Tage meiner Wiedergenesung empfand. Nach dem ersten Ausbruck des Kummers an jenem Abende, an welchem ich meine Schwester wieder erkannt und ihren Namen gemurmelt, während sie neben mir saß, fühlte ich mich in einem Zustande, den ich mit Worten nicht beschreiben kann. Ich will nicht sagen, welche Erinnerungen an die Verbrecherin, durch welche ich verrathen und dem Unglücke geweiht worden, sich jetzt unaufhörlich und verrätherisch in mein Herz schlichen.
Die Körperkräfte kehrten allmählich zurück; aber meine moralische Energie deutete durch Nichts an, daß sie sich auch wieder emporzurichten gedachte.
Ueber die Ursache meiner langen Krankheit, über die seltsamen Worte, die mir in meinem Delirium entschlüpft waren, beobachtete mein Vater. ein so vollkommenes Schweigen und meine Schwester eine solche Zurückhaltung, daß mir dadurch auf zarte Weise zu verstehen gegeben ward, daß nun der Augenblick gekommen sei, wo ich meiner Familie das späte verhängnißvolle Geständniß meines Fehltritts zu machen hätte. Dennoch aber hatte ich nicht den Muth, zu sprechen, und nicht Entschlossenheit genug, um mich auf Alles gefaßt zu machen.
Die so schreckliche Vergangenheit verrammelte mir die Gegenwart eben so wie die Zukunft. Die Spannkraft meines Geistes schien erschlafft zu sein, und ich glaubte, meine Thätigkeit sei für immer erstorben.
Es gab Augenblicke —— besonders in den ersten Morgenstunden, wenn ich, obschon wach, doch mich noch nicht vollständig ermuntern konnte —— wo ich mir die Wirklichkeit des Unglücks, in welches ich versenkt worden, nur mit Mühe zu denken vermochte, wo es mir schien, als wenn während der Nacht meine Träume mir Scenen von Verbrechen und grausame Situationen vorgeführt hätten, in welche ich niemals wirklich versetzt gewesen.
Und in der That war Margarethens Verbrechen auch von der Art, daß man nur mit Mühe daran glauben konnte.
Ich hatte ihr alle Opfer gebracht, welche ein Mann bringen kann.
Ein ganzes Jahr lang hatte ich ihr unausgesetzt Beweise von meiner glühenden und aufrichtigen Liebe gegeben —— ich hatte mich zu Allem verstanden. Wo sollte ich daher die Gründe finden, welche mir erklärten, weßhalb sie eine so treue Hingebung und Anhänglichkeit auf so nichtswürdige, verworfene Weise gelohnt? Worin bestand das Geheimniß jener furchtbaren Gewalt, welche Mannion, selbst wenn sie die verworfenste der Frauen war, über Margarethe Sherwin ausgeübt hatte, um sie zu diesem Verrathe an mir zu bewegen?
Mannion! —— Eins der seltsamen Resultate der Geisteskrankheit, welche mich heimgesucht, war, daß ich mir seit den Tagen des Beginns meiner Genesung, und obschon meine Gedanken Margarethen nicht von Mannion trennten, mich doch nicht gefragt hatte, von welcher Art der Ausgang unseres Kampfes wohl für ihn gewesen sei. Nun sollte jedoch bald der Augenblick kommen, wo der Wunsch, mich nach dem, Schicksale Mannion’s zu erkundigen, mich mehr als jeder andere Gedanke beherrschen und meinem Geiste seine Wachsamkeit, meinem Herzen seine Mannhaftigkeit wiedergeben sollte.
Eines Abends saß ich allein in meinem Zimmer. Mein Vater war mit Clara ausgegangen, damit sie sich ein wenig Bewegung machen und freie Luft schöpfen möchte, und der Diener, welcher gewöhnlich bei mir war, hatte sich auf meinen ausdrücklichen Wunsch ebenfalls entfernt. In dieser Stunde der Ruhe und Einsamkeit und während das Abend dunkel hereinbrach und ich am Fenster saß und das Scheiden des Tages beobachtete, erwachte jener Gedanke plötzlich in meinem Herzen, und ich fragte mich:
»Ist Mannion todt oder lebendig von den Steinen aufgehoben worden, auf welche ich ihn nieder geschleudert hatte?«
Unwillkürlich sprang ich mit einem Grade der Kraft, welcher mir bei guter Gesundheit eigen war, auf die Füße. Ich wiederholte diese Frage mir immer wieder —— ich murmelte sie leise vor mich hin —— ich fühlte, daß mein Leben noch kein ganz zweckloses war —- daß ich noch Absichten zu verwirklichen und Pläne auszuführen hatte. Wie konnte ich den Zweifel, der über eine so ernste Thatsache in meinem Gemüthe erwacht war sofort aufhellen?
Einen Augenblick lang versank ich in Berechnung aller Arten von Wahrscheinlichkeiten, und kurz nachher ging ich in die Bibliothek hinunter.
Hier wurden die Nummern einer täglich erscheinenden Zeitung, nachdem mein Vater sie gelesen, aufbewahrt. Wenn ich dieselben nachlas, so konnte ich die verhängnißvolle Frage vielleicht in wenigen Minuten entscheiden. Meine Unruhe und Ungeduld war so groß, daß ich kaum die Blätter umwenden und deutlich die Buchstaben lesen konnte, indem ich die Nummer von dem Tage suchte, an welchem ich Margarethen hatte laut als mein Weib anerkennen sollen.
Endlich fand ich die gesuchte Nummer; aber die mit sehr kleiner Schrift gedruckten Colonnen tanzten vor einen Augen. Ich ergriff ein nicht weit von mir stehendes Glas Wasser, tauchte mein Taschentuch hinein und erfrischte mir die brennend heißen Augen. Von der Entdeckung, die, ich im Begriffe stand zu machen, hing das Schicksal meines künftigen Lebens ab.
Ich verschloß sorgfältig die Thür, um von Niemandem gestört zu werden, kehrte dann zu meiner Aufgabe zurück und suchte weiter. Langsam fuhr ich mit meinen Fingern auf allen Seiten des Blattes Colonne für Colonne und Artikel für Artikel herab.
Als ich beinahe bis an den Fuß der letzten Seite gekommen war, las ich Folgendes:
»Räthselhafter Vorfall.«
»Heute Morgen Ein Uhr hat der im ***Square Dienst habende Polizeimann mitten auf der öffentlichen Fahrstraße einen Mann, der einer distinguirten Klasse der Gesellschaft anzugehören scheint, mit dem Gesichte auf dem Boden liegend gefunden. Allem Anscheine nach hatte der Unglückliche das Leben verloren. Er war auf einen Theil der seit kurzer Zeit macadamisirten Straße gefallen und hatte sich, wie man uns versichert, durch das Aufschlagen auf den frisch aufgefahrenen spitzen Granit das Gesicht fürchterlich verstümmelt. Der Polizeimann hat ihn sofort in das Hospital *** bringen lassen, wo man ihm sofortige Pflege angedeihen ließ und bemerkte, daß er noch athmete. Man versichert uns, daß der Wundarzt es als unbedingt unmöglich betrachtet, daß ein einfacher Fall so schwere Verletzungen habe herbeiführen können, wenn er nicht vielleicht durch den Zusammenstoß mit einem mit voller Schnelligkeit fahrenden Wagen oder durch eine von einem Unbekannten ausgeübte Gewalt veranlaßt worden wäre. Wenn jedoch dies Letztere stattgefunden hat, so ist die Absicht, zu stehlen, nicht der Beweggrund dazu gewesen, denn die Uhr dieses Unglücklichen, seine Börse, ja sogar seine Ringe, haben sich noch bei ihm vorgefunden. Dagegen fand man in seinen Taschen weder eine Visitenkarte noch Briefe irgend welcher Art, und seine Wäsche war bloß mit einem M. gezeichnet. Er trug ein durchgängig schwarzes Abendgesellschaftscostüm. Nach Dem, was man über die Art und Weise sagt, auf welche sein Sturz ihn entstellt hat, kann man bis jetzt kein besonderes Zeichen der Wiedererkennung verlangen. Wir erwarten mit Spannung die Aufschlüsse, welche uns erlauben werden, etwas Näheres über diese räthselhafte Angelegenheit zu erfahren, sobald der Verwundetes im Stande sein wird, sich selbst zu erklären. Der letzte Umstand, den unser Nachrichtgeber im Stande gewesen ist, in dem Hospitale zu erfahren, ist der, daß der Chirurg das Lebens des Patienten zu retten und ihm ein Auge zu erhalten hoffe —— das andere ist dagegen rettungslos verloren.«
Ein Abscheu vor mir selbst, durch Gefühle herbeigeführt, die ich damals eben so wenig analysiren konnte als jetzt, bemächtigte sich meiner beim Lesen des soeben mitgetheilten Artikels Ich beeilte mich mit fieberhafter Ungeduld, die nächstfolgende Nummer durchzublättern, fand aber in dieser Nichts, was auf den Gegenstand meiner Nachforschung Bezug gehabt hätte.
In der zweitfolgenden jedoch kam man mit folgenden Worten darauf wieder zurück:
»Das Geheimnis welches den traurigen Vorfall von *** Square umgiebt, wird immer dichter. Der Verwundete ist wieder zur Besinnung gekommen. Er ist vollkommen im Stande, Alles, was man zu ihm sagt, zu hören und zu verstehen. Er vermag sogar zu sprechen, obschon sehr schwach und nur ganz kurze Zeit. Die Inspectoren des Hospitals hofften, eben so wie wir, daß der Unglückliche sobald er wieder zur Besinnung käme, einige Erklärungen über die Art und Weise geben würde, auf welche der furchtbare Unfall, der ihn in einen solchen Zustand versetzt hat, herbeigeführt worden ist. Zum großen Erstaunen Aller aber weigert der Kranke sich hartnäckig, irgend eine der Fragen zu beantworten, die man an ihn über die Umstände gethan hat, durch welche sein Leben auf diese Weise in Gefahr gekommen ist. Es scheint vollkommen vergeblich zu sein, ihn bestimmen zu wollen, auf vernünftige Weise das Schweigen zu erklären, hinter welches er sich verschanzt. Er scheint ein Mann von ungewöhnlicher Festigkeit des Charakters zu sein, und augenscheinlich liegt in diesem systematischen Widerstande gegen alle an ihn gerichteten Aufforderungen etwas Anderes als augenblicklicher Eigensinn. Man möchte daraus fast den Schluß ziehen, daß das ganze unglückliche Ereigniß das Werk persönlicher Rache sei, nur daß der Verwundete den Urheber derselben nicht der Entrüstung des Publikums Preisgeben wolle —- aber aus welchem Grunde? Dies weiß man nicht. Wir hören, daß Alle, welche Zutritt zu dem Verwundeten haben, über die Standhaftigkeit erstaunen, mit der er seine schweren Leiden erträgt. Der Schmerz vermag ihm weder ein Wort noch einen Seufzer auszupressen. Er hat keine Miene gezuckt, als der Arzt ihm mittheilte, daß eins seiner Augen hoffnungslos verloren sei, und auf die Andeutung, daß das andere ihm erhalten werden würde, hat er verlangt, daß man ihm, sobald er sich desselben wieder bedienen könne, Schreibmaterialien bringe. Er hat hinzugefügt, daß er in der Lage sei, das Hospital für die ihm geschenkte Pflege durch ein angemessenes Geschenk, sobald er wiederhergestellt sein würde, zu entschädigen. Seine unerschrockene Kaltblütigkeit unter grausamen Leiden, welche die Mehrzahl anderer Menschen der Fähigkeit des Denkens oder des Sprechens berauben würden, ist eben so bemerkenswerth als sein unbeugsamer Entschluß, das Geheimniß zu wahren, ein Geheimniß welches wir, wenigstens für den Augenblick, nicht hoffen können zu durchdringen.«
Ich legte das Journal wieder an seinen Ort.
Eine unbestimmte Ahnung Dessen, was diese unerklärliche Zurückhaltung Mannion's für mich bedeutete, durchzuckte mich.
Nach meiner eigenen Erfahrung die teuflische Schlauheit und geduldige Verstellung beurtheilend, welche in diesem verruchten Herzen wohnte, betrachtete ich es, nachdem ich diese Artikel gelesen, als gewiß, daß ich in Zukunft noch mehr Gefahren und Hindernissen zu trotzen haben würde als in der Vergangenheit. Die größten Gefahren harrten meiner auf dem Boden des Abgrundes, in welchen ich gestürzt war.
So wie diese Ueberzeugung mich durchdrang, fühlte ich die entnervende Erinnerung an die Liebe, welcher ich mich geopfert, schwächer werden. Die bitteren Thränen, welche ich« während so vieler vergangener Tage im Stillen vergossen, versiegten Mit dem Gefühle des bevorstehenden Kampfes fühlte ich die Kraft des Duldens und des Widerstandes wieder in mir erwachen.
Als ich die Bibliothek verließ, ging ich wieder in mein Zimmer hinauf. Ehe ich mir weitere Auskunft im Bezug auf Mannion verschaffte, wünschte ich Etwas über seine Mitschuldige zu erfahren, über das Weib, welches vor den Menschen noch das Recht hatte, sich meine Gattin zu nennen.
Mehrere während meiner Krankheit eingegangene Briefe waren in einen auf dem Tische stehenden Korb geworfen worden.
Ich hatte sie noch nicht geöffnet. Bis jetzt hatte mir der Muth gefehlt, sie zu lesen, oder vielmehr, ich hatte mich nicht darum gekümmert. ich zu dieser Aufgabe bereit.
Indem ich die Adressen der Briefe durchsah bemerkte ich darunter zwei, die mir vielleicht Aufschlüsse geben konnten. Ich erkannte nämlich Mr. Sherwin’s Handschrift.
Der erste, den ich öffnete, war vor ungefähr einem Monate geschrieben und enthielt Folgendes:
»Nordvilla, Hollyoake
Square.
»Geehrter Herr!
»Nur ein Vater, und zwar ein sein Kind zärtlich liebender Vater, kann sich einen Begriff von dem Gefühlen des bittern Kummers machen, welcher mich erfüllt, indem ich von dem fluchwürdigen Verbrechen spreche, welches jener Heuchler, der verworfene Mannion, an uns begangen. Sie werden sehen, daß meine unschuldige und unglückliche Tochter eben so wie ich und wie Sie das Opfer des teuflischsten Betruges gewesen ist, durch welchen man jemals achtbare, harmlose Leute zu hintergehen versucht hat. Ich überlasse Ihnen, sich selbst vorzustellen, was ich empfand, als in jener verhängnißvollen Nacht meine geliebte Tochter, anstatt ruhig wie gewöhnlich nach Hause zurückzukommen, plötzlich in einem an Wahnsinn grenzenden Zustande ins Zimmer gestürzt kam, um mir die entsetzlichste Mittheilung zu machen, welche jemals dem Ohre eines Vaters beschieden gewesen ist Dieser nichtswürdige Mannion hat, ihre Unschuld und ihr Vertrauen —- ich kann sagen, unser Aller Unschuld und unser Aller Vertrauen —- benutzend, meine Tochter, die nichts Arges ahnte, in eine Spelunke gelockt, und hier, während sie sich in seiner Gewalt befand, die Unverschämtheit gehabt, ihr die verworfensten Anträge zu machen. Meine Margarethe hat einen tugendhaften Muth gezeigt, wie man ihn von ihrem Alter kaum erwarten sollte. Sie ist dem Nichtswürdigen mit einer Entrüstung und Kühnheit entgegengetreten, vor der er zurückbeben mußte, und die das natürliche Resultat der frommen und streng moralischen Grundsätze ist, welche ich ihr von ihrer Kindheit an eingeprägt habe. Brauche ich noch zu sagen, wie die Sache endete? Die Tugend siegte, wie sie stets siegt. Der feige Verbrecher suchte das Weite und überließ meine Tochter sich selbst. In dem Augenblicke, wo sie sich der Schwelle der Thür näherte, um die Flucht zu ergreifen und sich in die Arme ihrer Eltern zu««werfen, ist sie, wie sie sagt, in Folge eines höchst merkwürdigen Zufalls Ihnen begegnet. In Ihrer Eigenschaft als Mann von Welt begreifen Sie leicht, wie groß unter so unerwarteten und fürchterlichen Umständen die Bestürzung einer jungen Frau sein mußte. Ueberdies zeigten Sie, wie es scheint, eine so abschreckende und außerordentliche Miene, und meine arme Margarethe fühlte so lebhaft, wie sehr der trügerische Anschein gegen sie war, daß der Muth ihr entsank und sie, wie ich schon gesagt habe, die Flucht ergriff, um sich in die Arme ihrer-Eltern« zu werfen. Sie besitzt noch die ganze Reinheit und Unschuld eines Kindes, und hat bei diesem beklagenswerthen Vorfalle auch wie ein solches gehandelt. Sie hat sich von dieser Erschütterung noch nicht wieder erholt. Der gereizte Zustand ihrer Nerven herrscht noch auf sehr beunruhigende Weise vor. Sie fürchtet, daß Sie nur zu geneigt sein werden dem Scheine zu glauben; aber ich kenne Sie besser. Ihre Erklärung wird Ihnen genügen, eben so wie sie mir genügt hat. Wir können in unserer Anschauungsweise hinsichtlich gewisser Einzelheiten aus einander gehen; aber in der Hauptsache sind wir Beide von einem und demselben Vertrauen beseelt —-— Sie auf Ihre Gattin und ich auf meine Tochter.
»Ich bin in dem Hause Ihres würdigen Vaters gewesen, um mit Ihnen mich vollständiger auszusprechen als es auf dem Papiere geschehen kann. Es geschah dies gleich an dem Morgen nach jenem für uns Alle so betrübenden Abenteuer. Man sagte mir aber, daß Sie sehr krank seien, und ich bitte Sie, sich in dieser Beziehung meines aufrichtigen Bedauerns versichert zu halten. Das Erste, woran ich sodann dachte. war, an Ihren geachteten Vater zu schreiben und ihn um eine Unterredung unter vier Augen zu bitten. Ich überlegte mir jedoch die Sache reiflicher und dachte, es gezieme mir vielleicht nicht, einen solchen Schritt auf mich allein zu nehmen, so lange Sie noch das Bett hüten müßten und nicht im Stande - wären, mit Ihrer Erklärung voranzugehen oder mich dann bei der meinigen zu unterstützen. Es war in der That möglich, daß, wenn ich als einfacher Fremdling unser kleines Geheimniß hinsichtlich Ihrer Vermählung offenbarte, dadurch eine für beide Seiten peinliche Uneinigkeit herbeigeführt worden wäre, auf welche man später wieder hätte zurückkommen müssen, besonders nach Dem, was Sie mir bei mehreren Gelegenheiten über die Ansichten und Gesinnungen Ihres geehrten Vaters mitgetheilt haben. Sie werden dem nach begreifen, daß ich Bedenken trug, Etwas zu unternehmen, was gegen Ihr Interesse oder gegen das Interesse meiner lieben Tochter gewesen wäre, um so mehr, als ich wußte, daß ich das Certificat über die rechtmäßig vollzogene Vermählung in der Tasche habe und es im Nothfalle als Beweis produzieren kann, wenn ich vielleicht aufs Aeußerste getrieben und genöthigt werden sollte, in dieser Angelegenheit auf eigne Faust zu handeln. Jedoch, wie ich schon gesagt habe, ich hege zu der Biederheit Ihrer Gesinnungen das väterlichste und freundschaftlichste Vertrauen, und weiß, daß Sie von der vollkommenen Unschuld meiner lieben Tochter eben so fest überzeugt sind als ich. Aus diesem Grunde werde ich über diesen Gegenstand Nichts weiter sagen.
»Da ich auf alle Fälle entschlossen bin, Ihre vollständige Wiederherstellung abzuwarten, so behalte ich meine liebe Tochter Margarethe zu Hause, wo sie ganz eingezogen lebt, bis Sie die Güte haben werden, uns zu besuchen und sie in Gegenwart ihrer Familie und der Ihrigen als Ihre Gattin anzuerkennen. Ich habe nicht verfehlt, mich beinahe alle Tage, bis zu dem Augenblicke, wo ich Ihnen schreibe, nach Ihrem Befinden erkundigen zu lassen und werde damit fortfahren bis zu Ihrer Wiederherstellung welche, hoffe ich, nicht lange mehr auf sich warten lassen wird. Sobald Sie daher im Stande sein werden, meine Tochrer und mich wiederzusehen, werden Sie die Güte haben, uns zu unsrer ersten Zusammenkunft irgend einen Ort zu bestimmen, denn in der Nordvilla kann sie unglücklicher Weise nicht stattfinden. Meine Frau, deren fortwährende Kränklichkeit uns schon seit mehreren Jahren Nichts als Unruhe und Beschwerde gemacht, hat nämlich in Folge jenes verhängnisvollen nächtlichen Auftrittes den Verstand ganz verloren und spricht sich über die Nichtswürdigkeit Mannion’s und über die muthige Weise, auf welche Margarethe ihm entronnen ist, in Worten aus, welche das Gefühl eines jeden verständigen Menschen verletzen müssen. Sie wäre daher auch im Stande, uns bei unsrer Unterredung ans höchst störende Weise zu unterbrechen, und ich ersuche Sie daher, unsre erste Zusammenkunft nicht in meinem Hause stattfinden zu lassen.
»Ich hoffe, daß dieser Brief jede unangenehme Idee aus Ihrem Gemüthe verbannen wird, und indem ich baldige Nachricht von Ihrer vollständigen Genesung zu erhalten hoffe, verbleibe ich Ihr gehorsamer Diener
»Stephen Sherwin.«
»N. S. —- Ich bin noch nicht im Staude gewesen, zu erfahren, wohin dieser Schurke von Mannion geflohen ist. Mögen Sie dies nun aber eher als ich erfahren oder nicht, so muß ich Ihnen sagen, um Ihnen zu beweisen, daß meine Entrüstung gegen seine Nichtswürdigkeit eben so groß ist als die Ihrige, daß ich bereit bin, ihn mit der ganzen Strenge des Gesetzes zu verfolgen, wenn nämlich das Gesetz ihn erreichen kann, indem ich mir vorbehalte, aus meiner Tasche alle Kosten zu bezahlen, welche vielleicht aufgewendet werden müssen, um ihn zu züchtigen und für sein ganzes noch übriges Leben unschädlich zu machen.«
Troß der Eile, mit der ich dieses fade, widerliche Schreiben durchlief, entdeckte ich jedoch sofort, welche neue Machination angezettelt worden, um mich in meinem Irrthume zu erhalten und um mit derselben Frechheit gegen mich Unrecht auf Unrecht zu häufen.
Margarethe wußte nicht, daß ich ihr in das Innere des Hauses gefolgt war, daß ich von ihrer Stimme und von der Mannion’s Alles gehört. Sie glaubte, daß ich nicht wüßte, was vor dem Augenblicke, wo ich ihr an der Hausthür begegnete, geschehen sei, und in dieser Ueberzeugung hatte sie die erbärmliche Lüge erfunden, welche ihr Vater mit seiner Hand aus das Papier übertragen.
War er wirklich von seiner Tochter getäuscht worden oder war er nicht vielmehr ihr Mitschuldiger? Diese Frage verdiente indessen nicht, daß ich mich damit beschäftigte. —— Die schwärzeste und traurigste Entdeckung, die ich machen konnte, hatte sich bereits herausgestellt —- Margarethe war eine Heuchlerin und Verrätherin durch und durch.
Und dies war das Wesen, welches mir gleich bei der ersten raschen Bewegung erschienen war wie der Stern, auf welchen ich mein ganzes Leben lang meine Blicke heften müßte; um dieses Weibes willen hatte ich meiner Familie gegenüber mich ein ein Trugsystem verwickelt, an welches ich jetzt nicht denken durfte, ohne mich vor mir selbst zu entsetzen! Um dieses Weibes willen hatte ich allen Folgen des Zornes meines Vaters getrotzt und mich muthwillig dem Verluste aller Vortheile ausgesetzt, welche Geburt und Vermögen mir bieten konnten!
Wenn ich dies überlegte, gährte der Zorn in mir und Verzweiflung nagte an meinem Herzen. Warum war ich wieder aufgestanden von dem Bette, auf welches jene schwere Krankheit mich geworfen? Besser, weit besser für mich wäre es gewesen, wenn ich gestorben wäre.
Da aber das Leben mir noch lieb war, so brachte es auch seine Prüfungen und Kämpfe mit sich, vor welchen zurückzuweichen nicht bloß vergeblich, sondern auch verbrecherisch gewesen wäre.
Es blieb mir demzufolge Nichts weiter übrig, als auch noch von Mr. Sherwins zweitem Briefe Kenntniß zu nehmen. Ich mußte seine ganze Bosheit kennen lernen, um sie vollständig besiegen zu können.
Dieser zweite Brief war weit kürzer als der erste und allem Anscheine nach vor höchstens zwei oder drei— Tagen geschrieben. Der Ton, welchen Mr. Sherwin darin anschlug, war ein anderer. Er schmeichelte mir nicht mehr, sondern begann mir zu drohen.
Gestützt auf die Nachricht von meiner Genesung, welche mein Diener seit einigen Tagen gemeldet, fragte er mich, warum ich ihm bis jetzt noch nicht die mindeste Antwort hätte zu Theil werden lassen. Er deutete mir an, daß mein Schweigen völlig zu meinem Nachtheile gedeutet werden müsse, und wenn ich dabei beharrte, so würde er die gerechte Sache seiner Tochter laut und öffentlich zur Kenntniß, nicht bloß meines Vaters, sondern auch der ganzen Welt bringen.
Der Brief endete damit, daß mir insolenter Weise drei Tage Frist gegeben wurden.
Einen Augenblick lang vermochte ich meine Entrüstung nicht zu bemeistern. Ich erhob mich, um mich sofort nach der Nordvilla zu begeben und dort die Elenden zu entlarven, welche mit mir noch immer so leichtes Spiel zu haben glaubten wie in der Vergangenheit.
Noch ehe ich aber die Thür geöffnet hatte, besann ich mich. Ich bedachte, daß meine erste Pflicht, die größere Verbindlichkeit, die ich mir geschaffen, darin bestehe, sofort Alles meinem Vater zu bekennen. Ich mußte vor allen Dingen die Situation kennen lernen, in welcher ich künftig meiner Familie gegenüber stehen würde.
Ich kehrte an den Tisch zurück und raffte die zerstreut auf demselben umher liegenden Briefe zusammen. Mein Herz klopfte schneller, mein Kopf schwindelte, aber ich hatte den festen Entschluß gefaßt, meinem Vater, was auch daraus folgen würde, mein unglückliches Geheimnis; zu offenbaren.
Ich blieb in Einsamkeit und Dunkel, bis es ganz finster war.
Der Diener brachte mir Licht.
Warum fragte ich ihn nicht, ob Clara und mein Vater wieder nach Hause gekommen seien? Ward mein Entschluß schon wankend?
Nicht lange darauf hörte ich Geräusch auf der Treppe und man pochte an meine Thür War es mein Vater? Nein, es war Clara.
Ich versuchte, als sie eintrat, von gleichgültigen Dingen mit ihr zu sprechen.
»Wie! »bist Du denn bis in die sinkende Nacht spazieren gegangen, Clara?« »
»Wir sind nicht weit gewesen. Weder Papa noch ich bemerkten, daß der Abend schon so weit vorgerückt war. Wir sprachen von Dingen, die uns Beide in hohem Grade interessieren.«
Sie schwieg einen Augenblick und heftete ihre Augen auf die Diele. Dann näherte sie sich mir mit einer gewissen Hast und setzte sich neben mich auf einen Stuhl. Ein eigenthümlicher Ausdruck von Trauer und Unruhe malte sich auf ihrem Gesichte, während sie fortfuhr:
»Und erräthst Du nicht, was das Thema unsrer Unterredung war? Du selbst warst es, Sidney. Unser Vater wird sogleich zu Dir kommen, er will mit Dir sprechen. Vorher aber wollte ich Dir sagen —— ich wollte Dich bitten ——«
Sie stockte. Eine matte Röthe überzog ihre Wangen, und wie um sich zu fassen, begann sie mehrere auf dem Tische umherliegende Bücher zu ordnen.
Plötzlich hielt sie in dieser mechanischen Beschäftigung inne, die Röthe schwand aus ihrem Antlitze, sie war ganz bleich, als sie wieder zu sprechen begann, und ihre Stimme war merklich verändert -—- so auffallend verändert, daß ich einen Augenblick lang zweifelte, ob es die ihre wäre.
»Du weißt, Sidneh, daß Du uns seit langer, seit sehr langer Zeit eine wichtige Angelegenheit verheimlicht hast. Mir hattest Du versprochen, Dein Geheimniß zuerst zu enthüllen, aber ich habe mich anders besonnen. Ich wünsche nicht mehr dieses Geheimniß zu wissen, lieber Bruder, und es wäre besser, wenn davon zwischen uns nie die Rede gewesen wäre.«
Sie erröthete und ihr Zögern verrieth sich abermals, dann setzte sie in ernstem Tone sehr rasch hinzu:
»Ich hoffe jedoch, daß Du unserm Vater Alles sagen wirst. Er kommt hierher, um Dir dieses Geständniß abzufordern. Ach, lieber Sidney, sei offen gegen ihn, verbirg ihm Nichts. Wir wollen unter einander wieder sein wie wir früher, wie wir voriges Jahr waren. Du hast Nichts zu fürchten, dafern Du offenherzig und ohne Rückhalt sprichst, denn ich habe ihn beschworen, sich gegen Dich gut und nachsichtig zu zeigen, und Du weißt, daß er mir Nichts abschlägt. Ich bin jetzt bloß gekommen, um Dich aufzufordern; Vertrauen und Vernunft zu zeigen. Doch still! Ich höre einen Tritt auf der Treppe. Also erkläre Dich, Sidney, aus Liebe zu mir! Ich beschwöre Dich, die Erklärung zu geben, welche von Dir verlangt werden wird; dann laß mich das Uebrige thun.«
Und sie verließ mit einem gewissen Grade von Eile mein Zimmer.
Eine Minute später trat mein Vater ein.
Vielleicht täuschte mich mein schuldiges Gewissen, aber es schien mir, als wenn er mich mit einer traurigen, strengen Miene betrachtete, die ich noch nicht an ihm wahrgenommen hatte. Seine Stimme zitterte ebenfalls, als er sprach —- ein bei ihm sehr bedeutsames Symptom.
»Ich komme, Sidney, um mit Dir von einer Sache zu sprechen, welche Du selbst zuerst hättest zur Sprache bringen sollen.«
»Ich glaube, zu errathen, was Du meinst, lieber Vater, und ich ——«
»Ich muß, Dich bitten, mich mit der ganzen Geduld anzuhören, welche Dir zu Gebote steht,« antwortete er. »Ich werde kurz sein.«
Es trat eine Pause ein, während welcher ein schwerer Seufzer sich seiner Brust entrang. Ich glaubte eine gewisse Rührung in seinem Blicke zu bemerken. Ich fühlte mich fast gedrängt, mich an seine Brust zu werfen, meinen Thränen, die mich zu ersticken drohten, freien Laus zu lassen und ihm zu bekennen, daß ich nicht mehr werth sei, sein Sohn zu heißen.
O, daß ich diesem Impulse nachgegeben hätte! O, daß wir immer auf die Stimme des Engels hörten, welcher in unserm Innern flüstert!
»Sidney,« fuhr mein Vater in gleichzeitig ernstem und traurigem Tone fort, »ich hoffe und glaube, daß ich mir in meiner Handlungsweise gegen Dich sehr wenig Vorwürfe zu machen habe. Ich glaube mich zu rechtfertigen, wenn ich sage, daß sehr wenig Väter gegen ihren Sohn so gehandelt haben würden, wie ich während des ganzen verflossenen Jahres, wo nicht schon seit noch längerer Zeit an Dir gehandelt habe. Vielleicht habe ich im StilIen über das beklagenswerthe Geheimniß geseufzt, welches Dich uns seit einiger Zeit entfremdet hat. Vielleicht habe ich Dir durch mein Benehmen den Schmerz zu erkennen gegeben, den ich darüber empfand, aber niemals habe ich meine Autorität gebraucht, um Dich zu zwingen, über Dein Verhalten eine Erklärung abzugeben, welche Du Dich so hartnäckig weigertest, uns auf freien Antrieb mitzutheilen. Ich vertraute auf die Ehre und Moralität meines Sohnes. Ich werde auch jetzt noch nicht glauben, daß dieses Vertrauen am unrechten Orte gewesen ist; aber es hat mich, fürchte ich, verleitet, all zulange die Pflichten der Wachsamkeit zu vernachlässigen, die ich über Dich, zu Deinem eignen« Besten, üben sollte. Jetzt muß ich diese Nachlässigkeit büßen. Die Umstände lassen mir keine Wahl mehr, Sidney, es liegt mir als Vater und als Haupt unserer Familie viel daran, zu wissen in Folge welches schweren Unglücksfalles mein Sohn besinnungslos von der öffentlichen Landstraße aufgehoben worden und hierauf in eine Krankheit. verfallen ist, welche seinen Verstand und sein Leben gefährdet hat. Du bist jetzt so weit wiederhergestellt, daß Du mir es sagen kannst, und ich stütze mich einfach auf die Autorität, welche Gott mir über meine Kinder gegeben, wenn ich Dir sage, daß ich Alles wissen muß, daß Du mir die ganze Wahrheit sagen mußt, sollte diese Erzählung auch Dich und mich demüthigen. Wenn Du Dich jetzt noch weigerst, so werden von diesem Augenblicke an unsre Beziehungen sich für das ganze Leben ändern.«
»Ich weigere mich nicht, lieber Vater, sondern bitte Dich bloß im Voraus, zu glauben, daß, wenn ich mich schwer an Dir vergangen habe, die Strafe meines Fehltritts mich schon erreicht hat. Ich fürchte jedoch, daß selbst Deine traurigsten Ahnungen unmöglich auf das vorbereitet haben, was ——«
»In Deinem Fieberwahnsinn hast Du Worte gesprochen, die, ich gehört nach denen ich Dich aber nicht beurtheilen will, obschon sie meine traurigsten Ahnungen rechtfertigen würden.«
»Meine Krankheit hat mir den grausamsten Theil meiner grausamen Prüfung erspart, wenn sie Dich auf das Geständniß vorbereitet hat, welches ich thun muß, und wenn Du muthmaßest ——«
»Ich muthmaße nicht, sondern bin nur zu fest überzeugt, daß Du, mein zweiter Sohn, von welchem ich ein ganz andres Benehmen erwartete, im Geheimen Deinem Bruder in seinen beklagenswerthen Verirrungen gefolgt, ja, wie ich fürchte, sogar noch weiter gegangen bist als er.«
»Meinem Bruder? Meine Fehltritte wären die meines Bruders Ralph?«
»Ja, Deines Bruders« Ralph Meine letzte Hoffnung ist, daß Du wenigstens auch Ralph’s Offenheit nachahmen werdest. Wisse seine beste Eigenschaft von ihm zu entlehnen, eben so wie Du Dir schon an seinen Lastern ein Beispiel genommen hast.«
Als ich meinen Vater so sprechen hörte, erstarrte mein Herz und schlug nur noch schwach.
Wie weit, wie schrecklich weit entfernt war mein Vater, nur im Mindesten zu ahnen, was wirklich geschehen war!
Ich machte einen Versuch, auf seine letzten Worte zu antworten, aber plötzlich dachte ich an die Demüthigung, an den ewigen Kummer, der aus meinem Geständnisse für ihn hervorgehen müßte, und ich verstummte.
Als er nach einer kurzen Pause wieder zu sprechen begann, war sein Ton streng und er heftete einen forschenden unerbittlichen Blick auf mich.
»Ein Mann Namens Sherwin,« sagte er, »ist jeden Tag hier gewesen, um sich nach Deinem Befinden zu erkundigen. In welchem Verhältnisse stehst Du zu diesem mir gänzlich unbekannten Manne, daß er sich die Freiheit nimmt, so oft in unserm Hause zu erscheinen und seine Fragen mit einer Vertraulichkeit in seinem Tone und in seinen Manieren zu thun, welche unsre Dienstleute betroffen gemacht hat? Wer ist dieser Mr. Sherwin?«
»Er ist —— doch ich muß von einer früheren Zeit anfangen -— ich muß ——«
»Ja, Du mußt weiter zurückgehen als Du thun zu können scheinst Du mußt bis zu der Zeit zurückgehen, wo Du mir Nichts zu verschweigen hattest und, wo Du mit der Offenheit und Wahrheitsliebe eines jungen Mannes von guter Geburt zu mir sprachst.«
»Ich bitte um ein wenig Geduld, lieber Vater; gestatte mir einige Minuten, um mich zu sammeln. Ich muß in meinen Ideen erst klar werden, ehe ich Dir Alles sage.«
»Alles -—— Alles? Dein Ton sagt mehr als Deine Worte. Dieser wenigstens ist aufrichtig. Ich habe das Schlimmste gefürchtet, aber wie es scheint, bin ich in meinen Befürchtungen doch noch nicht weit genug gegangen. Sidney, verstehst Du mich? Sidney, Du zitterst auf seltsame Weise —— wie bleich Du wirst!«
»Ich fürchte, ich bin noch nicht wieder so kräftig als ich zu sein gedachte. Mein Vater, mein Herz ist eben so gebrochen wie meine Denkkraft. Habe ein wenig Geduld, sonst bin ich nicht im Stande, mit Dir zu sprechen.«
Es war mir, als sähe ich seine Augen feucht werden. Er bedeckte sie einige Secunden lang mit der Hand und seufzte wieder so schwer und bekümmert, wie ich es kurz vorher schon ein Mal gehört.
Ich machte eine Anstrengung, um mich von meinem Stuhle zu erheben und mich ihm zu Füßen zu werfen. Er deutete diese Bewegung irrig und faßte mich am Arme, denn er glaubte, ich würde ohnmächtig werden.
»Für heute Abend ist es genug, Sidney,« sagte er hastig, obschon in sehr sanftem Time. »Sprechen wir erst morgen weiter hierüber.«
»Jetzt kann ich sprechen, lieber Vater. Es wird besser sein, wenn ich mich sofort erkläre.
»Nein, nein, Du bist zu aufgeregt. Ich glaubte Dich wieder kräftiger. Morgen früh —— morgen früh wollen wir weiter sprechen, wenn Du gut geschlafen hast. —— Nein, nein, ich mag jetzt Nichts mehr hören. Begieb Dich zur Ruhe. Ich will deiner Schwester sagen, daß sie Dich heute Abend nicht weiter stören soll. -—- Morgen kannst Du ganz nach Deinem Belieben mit mir sprechen, ohne unterbrochen zu werden und ohne Dich zu übereilen. Gute Nacht, Sidney, gute Nacht.«
Ohne zu warten bis ich ihm die Hand reichte, ging er rasch nach der Thür, als, ob er die quälenden Befürchtungen die sich augenscheinlich seiner bemächtigten, meiner Beobachtung entziehen wollte. In dem Augenblicke aber, wo er im Begriffe stand, das, Zimmer zu verlassen zögerte er, drehte sich noch einmal herum -— sah mich mit sehr wehmüthiger Miene einen Augenblick lang an reichte mir die Hand, drückte die meinige, ohne Etwas zusagen, und ließ mich allein. Stand wohl zu erwarten, daß er, sobald diese Nacht einmal vorüber wäre, mir je wieder sie Hand reichen würde?
Zehntes Kapitel
Niemals hatte ich einem so lachenden, so schönen Morgen gesehen wie an dem Tage, wo zwischen»mir und meinem Vater Alles entschieden, wo über meine Zukunft, über meine Stellung in der Familie der Urtheilsspruch gefällt werden sollte.
Der reine, unbewölkte Himmel, die Milde, weiche Temperatur, der helle, blendende Sonnenschein, welcher selbst die gewöhnlichsten Gegenstände in einem Lichtmeer schwimmen ließ -— alles Dies stand,in grellem Wiederspruche zu den Empfindungen meines Herzens, während ich so an meinem Fenster stand und an die harte Pflicht dachte die ich zu erfüllen hatte -— an das strenge Urtheil, welches noch vor dem Beginne des nächsten Tages gesprochen werden mußte.
Während der Nacht hatte ich mir keinen Plan zu der furchtbaren Enthüllung entworfen, vor welcher ich nicht mehr zurücktreten konnte. Die Krisis schien mir so drohend, daß ich mich vollkommen außer Stand fühlte, mich darauf vorzubereiten.
Ich dachte an den Charakter meines Vaters, an die Grundsätze der Ehre und Freimüthigkeit, welche er bis zum Fanatismus trieb. Ich dachte an seinen Stolz, der sich in seinen Worten allerdings sehr selten verrieth, aber deswegen nicht weniger tief in seiner Natur wurzelte und jede seiner Gemüthsbewegungen und Gesinnungen durchdrang. Ich dachte an jene beinahe weibliche Zurückhaltung, mit der es selbst die entferntesten Anspielungen und unlauteren Hindeutungen mied, von welchen andere Männer sich beim Glase so ungezwungen unterhalten, indem sie dieselben ihren Scherzen zum Grunde legen.
An alles, Dies dachte ich, und indem ich mich erinnerte, daß dies der Mann war, welchem ich die heimlich von mir geschlossene, mich so tief entehrende Vermählung offenbaren sollte, entwich die Hoffnung, die ich auf seine natürliche Liebe gesetzt, und der Gedanke, an seine ritterliche Großmuth zu appelliren, schien mir eine Verirrung, aus welche es Wahnsinn wäre, mich auch nur einen Augenblick lang zu verlassen.
Im Allgemeinen wird unsere Beobachtungsgabe schärfer, wenn unsre Denkkraft von seiner schweren Wucht niedergedrückt wird.
Allein in meinem Zimmer, horchte ich mit unerhörter ermüdender Aufmerksamkeit auf das unbedeutendste Geräusch im Hause, auf Klänge, die sich jeden Tag wiederholten, auf Einzelheiten, an welche ich bis jetzt kaum gedacht. Es war mir, als wenn das dumpfe Geräusch eines Trittes, der Widerhall einer Stimme, das behutsame Oeffnen oder Schließen einer Thür in den unteren Gemächern an diesem verhängnißvollen Tage mir ein geheimes, gegen mich, ich wußte nicht wie oder durch wen, angezetteltes Complott verrathen müßte. Zwei oder drei Mal ertappte ich mich selbst dabei, wie ich auf der Treppe stand und horchte. In welcher Absicht? Dies bin ich kaum im Stande zu sagen.
Gewiß war indessen, daß sich an diesem Morgen eine furchtbare, bedeutsame Ruhe auf das Haus nieder gesenkt hatte. Ich sah Clara nicht kommen, mein Vater ließ mir Nichts sagen —— die Klingel schien sich ganz ungewöhnlich stumm zu Verhalten. Ueber mir in der oberen Etage rührten die Dienstleute sich sticht, sie schienen gänzlich unthätig zu sein.
Auf den Zehen Zehrte ich in Mein Zimmer zurück, als ob ich fürchtete, durch das Geräusch meiner Tritte eine Katastrophe herbeizuführen, die sich im Dunkeln vorbereiten. Seit länger als Einem Jahre hatte die Wolke über unserm Herd geschwebt. Heute war der Tag, wo sie endlich zerstreut werden sollte, aber leider nicht durch die Sonne, sondern durch den Sturm.
Ich fragte mich, ob mein Vater mich wieder in meinem Zimmer aufsuchen oder ob er mich in das seinige rufen lassen würde.
Ich blieb nicht lange in Zweifel.
Ein Diener pochte an meine Thür. Es war derselbe, welcher mich in meiner Krankheit gepflegt hatte. Gern hätte ich die Hand dieses Mannes ergriffen, ihn um seine Theilnahme gebeten und bei ihm Ermuthigung gesucht.
»Sir,« sagte er, »mein Herr hat mir befohlen, Ihnen zu sagen, daß er, wenn Sie sich wohl genug fühlen, Sie in seinem Zimmer zu sprechen wünscht.«
Ich erhob mich sofort und folgte dem Diener.
Auf dem Corridor kam ich an der Thür vorüber, welche in Clara’s Zimmer führte. Diese Thür öffnete sich. Meine Schwester trat heraus und legte die Hand auf meinen Arm. Sie lächelte, während ich sie ansah, aber ihre Augen waren geröthet vom Weinen und ihr Gesicht war todtenbleich.
»Vergiß nicht, was ich Dir gestern Abend sagte, Sidney,« murmelte sie, »und wenn vielleicht ein wenig rauhe Worte an Dich gerichtet werden, so denke an mich. Ich werde heute für Dich Alles thun, was unsere Mutter gethan hätte, wenn sie noch bei uns wäre. Dies vergiß nicht, sei standhaft und hoffe.«
Sie kehrte rasch in ihr Zimmer zurück und ich ging die Treppe hinunter.
In der Hausflur erwartete mich ein Diener mit einem Briefe in der Hand.
»Dies ist so eben für Sie abgegeben worden, Sir. Der Bote, welcher den Brief brachte, sagte, er brauche nicht auf Antwort zu warten.«
Jetzt war nicht für mich die geeignete Zeit, einen Brief zu lesen, denn die Unterredung mit meinem Vater sollte in diesem Augenblicke stattfinden. Ich schob den Brief rasch in die Tasche und bemerkte dabei bloß, daß die Handschrift der Adresse eine unregelmäßige und mir völlig unbekannte war.
Ich trat in das Zimmer meines Vaters. Er saß vor seinem Tische und war mit dem Aufschneiden einiger neuer Bücher beschäftigt. Indem er mir einen neben ihm stehenden Stuhl anwies, erkundigte er sich zugleich kurz nach dem Zustande meiner Gesundheit und setzte dann, die Stimme senkend, hinzu:
»Nimm Dir so lange Zeit als Du willst, Sidney, um Dich zu sammeln und Deine Gedanken reiflich zu erwägen. Diesen Morgen gehört meine Zeit Dir.
Damit wendete er sich ein wenig von mir hinweg« und fuhr fort, die vor ihm liegenden Bücher aufzuschneiden.
Ich fühlte mich immer noch nicht fähig, mich auf irgend eine Weise auf die Enthüllung vorzubereiten, die man von mir erwartete. Trotz der warmen Luft, welche zu dem geöffneten Fenster hereindrang, fröstelte ich Ohne Gedanken, ohne Hoffnung, ohne irgend ein Gefühl als höchstens das der Dankbarkeit für die mir auf diese Weise gewährte Frist, ließ ich meine« Augen mechanisch rings im Zimmer umherschweifen, als ob ich den Urtheilsspruch, der über mich gefällt werden sollte, an den Wänden angeschrieben zu sehen erwartete.
Welcher Mensch hat jemals-erfahren, daß alle seine Denkkraft, selbst in der drückendsten moralischen Beengung, auf einen und denselben Gegenstand concentrirt war? In diesen Augenblicken drohender Gefahr wendet sich der Geist, trotz der Gegenwart, unwillkürlich zurück zur Vergangenheit. In den Augenblicken bitterer Betrübniß denkt er plötzlich, uns selbst zum Trotze, an geringfügige, alltägliche Dinge.
Ich saß schweigend in dem Cabinette meines Vaters, und die verschiedenen Theile und Gegenstände dieses Zimmers riefen, Erinnerungen aus meiner Kindheit wach, die sich an jeden derselben knüpften —— Erinnerungen, die ich seit langer Zeit vergessen und deren Wiedererwachen gleichwohl durch meine Unruhe und fieberhafte Aufregung nicht verhindert ward. Die, Erinnerungen, welche in diesem kritischen Augenblicke zuletzt hätten erwachen sollen, waren gerade die ersten die sich in mir regten.
Mit schwellendem, Herzen und fieberhaften Augen betrachtete ich die Wände rings um mich her. Dort in jenem Winkel, befand sich die rothe Tapetenthür, welche in die Bibliothek führte. Wie oft hatten Ralph und ich, als wir noch Knaben waren, einen schüchternen, neugierigen Blick durch diese Oeffnung geworfen, um zu sehen, was unser Vater in seinem, Cabinet machte, und uns über die große Anzahl von Briefen zu wundern, die er schrieb so wie über die Menge, Bücher, welche er lesen mußte! Wie waren, wir eines Tages Beide erschrocken als er uns ertappt und tüchtig ausgescholten hatte! Wie glücklich waren wir einen Augenblick später gewesen, nachdem wir ihn gebeten, uns zu verzeihen, und er uns zum Beweise seiner Verzeihung mit einem großen Bilderbuche zum Ansehen in die Bibliothek zurückgeschickt hatte!
Vor dem Fenster stand das alte, hohe antike Pult von Acajouholz, aus welchem noch derselbe große Folioband mit Bildern aus der biblischen Geschichte lag, in welchem Clara und ich zuweilen Sonntags Nachmittags blättern durften, wobei wir immer wieder neuen Genuß fanden.
Und in der Wandvertiefung, zwischen zwei Büchergestellen, sah ich denselben alten Secretair mit seinen Reihen von kleinen Schubfächern und auf dem oberen Aufsatze die alte französische Stutzuhr, die früher meiner Mutter gehört, und welche die Stunden so hell und munter schlug. Vor diesem Secretair sagten Raiph und ich unserm Vater Lebewohl, wenn wir nach den Ferien wieder auf die Schule zurückkehrten, und erhielten unser kleines Taschengeld. Aus einem dieser kleinen Schubfächer nahm unser Vater das Geld.
Dicht daneben erwartete uns gewöhnlich Clara, damals ein rosiges Kind, mit ihrer Puppe auf dem Arme, um ebenfalls von uns Abschied nehmen, wie sie niemals zu thun verfehlte, und um uns aufzufordern, bald wiederzukommen und dann nicht wieder fortzugehen.
Ich drehte mich um und schaute nach dem Fenster hin, denn die Erinnerung, welche dieses Zimmer mir zurückrief, bedrückte mich.
Draußen indem beschränkten Raume des Gartens murmelten einige verkümmerte mit Straßenstaub bedeckte Bäume eben so angenehm als wenn ein frischer Wind auf einer freien, offenen Wiese durch ihr Laubwerk geweht hätte. Weiterhin hörte ich das verworrene Summen der Straße, das Wühlen und Treiben London? am hellen Mittage Gleichzeitig und näher aus einer Seitengasse drang der muntere Ton einer Drehorgel. Sie spielte eine reizende Polka, nach welcher ich oft getanzt.
Welche ironische Erinnerungen im Innern, welche ironische Töne von draußen bildeten das Vorspiel zu dem traurigen Geständnisse, welches ich zu thun hatte und welches davon begleitet sein sollte! Die Minuten folgten mit unerbittlicher Schnelligkeit auf die Minuten, aber dennoch brach ich das Schweigen nicht. Langsam und ruhig richtete ich meine Augen wieder auf meinen Vater. Er fuhr fort, nicht nach mir her zu sehen, und schnitt immer noch seine Bücher auf.
Selbst bei dieser geringfügigen Verrichtung verriethen sich aber die Gemüthsbewegungen, die er zu verbergen bemüht war, auf furchterregende Weise. Seine gewöhnlich so feste und geschickte Hand zitterte sichtlich und das Papiermesser schnitt oft schräg und in die Seiten hinein.
Ich glaube, er errieth, daß ich ihn ansah, denn er unterbrach sich plötzlich in seiner Beschäftigung und drehte sich ohne Weiteres nach mir herum.
»Ich habe mir vorgenommen, Dir Zeit zu lassen,« sagte er, »und es fällt mir auch nicht ein, meinem Entschlusse untreu zu werden. Nur bitte ich Dich, zu bedenken, daß jede Minute Verzögerung den Schmerz und die Unruhe steigert die ich um Deinetwillen empfinde.«
Er nahm wieder »ein frisches Buch zur Hand und setzte in leiserem Tone hinzu:
»Raph würde an Deiner Stelle schon gesprochen haben.«
Wieder Ralph! Ralph’s Beispiel ward mir abermals vorgehalten! Nun konnte ich nicht länger schweigen.
»Die Fehler, welche mein Bruder an Dir und an seiner Familie begangen hat, sind nicht mit den meinigen zu vergleichen, lieber Vater,« begann ich. »Ich habe nicht seine Laster nachgeahmt Ich habe gehandelt, wie er an meiner Stelle nicht gehandelt haben würde, und dennoch hat keine seiner Verirrungen ein so unheilvolles Resultat gehabt, als welches das meines Fehltrittes in Deinen Augen erscheinen wird.«
Er sah mich scharf an, indem ich diese Worte sprach. Ein düsteres Feuer entzündete sich in seinen Augen und der bedeutsame rote Fleck kam auf seinen bleichen, Wangen sofort zum Vorscheine.
»Was willst du damit sagen?« fragte er kurz.
»Ich, will diese Frage auf, indirecte Weise beantworten, lieber Vater,« entgegnete ich. Gestern Abend fragtest Du mich wer jener Mr. Sherwin sei, der so oft hier in unserm Hause gewesen ist, um sich nach meinem Befinden zu erkundigen.«
«Ja wohl! Auch heute Morgen ist er wieder dagewesen. Uebrigens habe ich auch noch andere Fragen an Dich zu richten. In Deinem Delirium hast Du nicht aufgehört, einen Frauennamen zu nennen. Vorher aber wiederhole mich die Frage: Wer ist dieser Mr. Sherwin?
»Er wohnt in -—-—«
»Ich frage Dich nicht wo er wohnt, was er ist, was er macht?
»Mr. Sherwin ist Modewarenhändler in, Orfordstreet.«
»Du bist ihm wohl Geld schuldig? Er hat Dir welches geliehen, nicht wahr? Schweig’! Deine Umschweife und Ausreden nützen Dir bei mir Nichts. Warum hast Du mir dies nicht sogleich gesagt? Du hast mein Haus beschimpft, indem Du diesen Menschen nöthigst, hierher zu kommen, um Dich zu mahnen. Er nannte sich, indem er sich nach Deinem Befinden erkundigte, Deinen Freund —- dies haben mir die Diener wiedererzählt. Dieser Krämer, dieser Geldwucher ist also Dein Freund! Wenn man mir gesagt hätte, da? der ärmste Tagelöhner, welcher auf meinen Aeckern arbeitet, sich Deinen Freund nennt, so würde ich Dich durch die Anhänglichkeit und Dankbarkeit eines ehrlichen Mannes geehrt geglaubt haben. Wenn ich aber höre, daß dieser Name Dir von einem Krämer und Geldwucherer gegeben worden ist, so betrachte ich diese Beziehung zu Leuten, welche aus dem Betruge ein Handwerk machen, als einen Schandflecken für Dich. Du hast recht, Sidney, wenn Du Dich scheust, Dich mir zu entdecken. Wie viel bist Du ihm schuldig? Wo sind die entehrenden Papiere, die Du unterschrieben hast? Oder hast Du vielleicht von meinem Namen und meinem Credit unerlaubten Gebrauch gemacht? Sage es mir sofort -— ich will es wissen.«
Er sprach sehr schnell und in verächtlichem Tone, dann stand er von seinem Stuhle auf und ging mit ungeduldiger Miene im Zimmer auf und ab.
»Ich bin Mr. Sherwin kein Geld schuldig, Vater -—-— ich bin Niemandem Geld schuldig.«
Er blieb stehen.
»Du bist Niemandem Geld schuldig?« wiederholte er in sehr langsamem und sehr verändertem Tone. »Dann handelt es sich also um etwas noch Schlimmeres als Schulden?«
In diesem Augenblicke ließ ein leichter Tritt sich in dem Nebenzimmer vernehmen. Mein Vater drehte sich sofort herum und verriegelte die Thür, welche in dieses Zimmer führte.
»Sprich hob er wieder an, »und sprich offen und ehrlich, wenn Du kannst. Warum hast Du mich hintergangen? Während Deines Fieberwahnsinnes nanntest Du fortwährend einen Frauennamen und ließest dabei noch allerhand seltsame Worte fallen, die es mir unmöglich war vollständig zu fassen. Dabei aber sagtest Du genug, um uns Anlaß zu der Vermuthung zu geben, daß diese Person zu den verworfensten ihres Geschlechts gehört, daß ihre Immoralität -—-— doch es ist zu empörend, mich zu nöthigen, von ihr zu sprechen. Ich verlange daher sofort zu wissen, bis zu welchem Punkte das Laster Dich verleitet hat, Dich mit diesem Geschöpfe zu compromittiren.«
»Sie hat mich betrogen, —— grausam, entsetzlich betrogen -——«
Mehr konnte ich nicht sagen -——- mein Kopf neigte sich aus die Brust, die Scham zermalmte mich.
»Wer ist sie? Du nanntest sie Margarethe in Deinem Delirium -——- wer ist sie?«
»Sie ist Mr. Sherwin’s Tochter und -—-—«
Die beiden Worte, welche ich hinzufügen wollte, drohten mir die Kehle zuzuschnüren, Ich verstummte.
Ich hörte ihn bei sich Murmeln:
»Die Tochter dieses Mannes! Dieser Köder ist noch verächtlicher als der des Geldes.«
Er neigte sich zu mir und sah mich an, als ob er in meiner innersten Seele lesen wollte. Ich fühlte, wie ich mit einem Male todtenbleich ward.
»Sidney!« rief er in einem Tone, der beinahe der des Entsetzens war, »um Himmels willen, antworte mir augenblicklich, die Tochter dieses Mr. Sherwin, was ist sie für Dich?«
»Mein Weib!«
Ich hörte keine Antwort, meine Augen waren von Thränen geblendet -——- mein Gesicht war auf die Diele geneigt, -—— anfangs sah ich Nichts.
Als ich den Kopf wieder emporrichten, als ich mir die Thränen getrocknet, welche mir die Augen verdunkeltem als ich endlich aufblickte, drang mir das Blut eisig kalt ins Herz zurück.
Mein Vater stand mit dem Rücken an einen der Bücherschränke gelehnt und hielt die Arme über der Brust gekreuzt. Sein Kopf war zurückgebogen, seine weiß gewordenen Lippen zitterten, ließen aber keinen Ton entschlüpfen. Sein Gesicht war verstört, und die Veränderungen, welche der Tod herbeiführt, können nicht furchtbarer sein.
Von Schrecken ergriffen, eilte ich auf ihn zu und versuchte seine Hand zu ergreifen. Es war, als ob meine Berührung ein Feuer wäre, welches seinen ganzen Körper durchzuckte. Er richtete sich sofort in die Höhe und stieß mich weit von sich hinweg, ohne ein« einziges Wort zu sprechen.
In diesem furchtbaren Augenblicke, unter diesem entsetzlichen Schweigen mischte sich das Rauschen der Bäume mit dem gedämpften Rollen der Wagen draußen, während die Drehorgel einen luftigen Walzer spielte.
Einige Minuten lang blieben wir einander so gegenüber stehen. Keiner von Beiden bewegte sich oder sprach ein Wort. Hierauf sah ich ihn sein Tuch aus der Tasche ziehen und sich über das Gesicht fahren. Sein Athemzug war schwer und gedrückt —-— er lehnte sich wieder an den Bücherschrank. Als er sein Tuch wegnahm und mich wieder ansah, begriff ich, daß der Kampf zwischen seiner Vaterliebe und seinem Familienstolze beendet war, und daß die Kluft, die uns fortan trennen sollte, sich zwischen Vater und Sohn gähnend geöffnet hatte.
Mit gebieterischer Gebärde befahl er mir wieder auf meinem Stuhle Platz zu nehmen. Er selbst setzte sich jedoch nicht. Während ich ihm gehorchte, sah ich, daß er die Glasthür des Schrankes, an den er sich gelehnt, öffnete und die Hand auf eines der darin stehenden Bücher legte.
Ohne sich herumzudrehen, ohne mich anzusehen, fragte er mich, ob ich ihm Nichts weiter zu sagen hätte.
Die seltsame Ruhe, die in seinem Tone lag, die Frage selbst und der Augenblick, in welchem er sie mir stellte, die Gewalt, welche er sich anthun mußte, um kein einziges Wort der Entrüstung, des Zornes und des Kummers auszusprechen, nachdem ich ihm jenes Geständnis gethan, raubte mir selbst die Fähigkeit zu reden.
Er trat ein wenig von dem Bücherschrank hinweg, während er die Hand immer noch auf dem Buche ruhen ließ, und wiederholte seine Frage. Seine Augen hatten, als sie den meinigen begegneten, einen schlaffen, mürrischen Blick, als ob sie lange Zeit genöthigt gewesen wären, widerliche, unangenehm berührende Gegenstände zu betrachten. Das aristokratische Phlegma war aus seiner Physiognomie verschwunden und diese hatte einen Ausdruck von Schroffheit und Kälte angenommen, welche die Züge wie mit einem Zauberschlage verändert hatte. Er schien seitdem ich die letzten verhängnißvollen Worte gesprochen, plötzlich um zehn Jahr älter geworden zu sein.
»Hast Du mir noch Etwas zu sagen?«
Als ich diese furchtbare Frage wiederum an mich richten hörte, sank ich auf den Stuhl nieder, neben welchem ich stehen geblieben war, und bedeckte mir das Gesicht mit den Händen.
Ohne mir Rechenschaft von der Reihenfolge zu geben, in welcher ich sprach, oder von dem Beweggrund, der mich zum Sprechen trieb, ohne noch den mindesten Rest von Hoffnung in mir zu fühlen, ohne eine Veränderung an meinem Vater zu erwarten, ohne an etwas Anderes zu denken als die Strafe für meinen Fehltritt mit ihrer vollen Wucht auf mich herabstürzen zu lassen, begann ich die traurige Erzählung meiner Heirath und alles dessen was daraus gefolgt war.
Ich entsinne mich nicht mehr der Ausdrücke, deren ich mich bediente, oder Dessen, was ich zu meiner Vertheidigung geltend machte. Ich war wie in einem Schwindel befangen, oder vielmehr, ich sank immer mehr in eine tödtliche Erstarrung. Ich sprach, ohne mich sprechen zu hören, schnell und ohne strengen Zusammenhang, bis ich durch die Stimme meines Vaters abermals zum Schweigen gebracht und zu mir selbst zurückgerufen ward. Ich glaube, ich war bei dem letzten, bei dem schmachvollsten Theile meines Geständnisses angelangt, als er mich unterbrach.
»Erspare mir alle diese Einzelheiten,« sagte er in hastigem, trockenem Tone. »Du hast mich hinreichend gedemüthigt —- Du hast mir genug gesagt«
Er zog das Buch, auf welchem während dieser ganzen Zeit seine Hand geruht hatte, aus dem Schranke und näherte sich damit dem Tische. Einen Augenblick blieb er bleich Kind schweigend stehen, dann schlug er langsam die erste Seite des Buches auf und setzte sich.
Ich erkannte das Buch sofort. Es war eine biographische Geschichte unsrer Familie, welche bis zu seinen ersten Ahnen zurückreichte und bis auf die Geburt seiner eignen Kinder fortgeführt war. Die Quartblätter von starkem Pergament waren nach Art der alten Manuscripte mit schönen Malereien geschmückt. Dieses Buch hatte ihm jahrelange Forschungen und angestrengten Fleiß gekostet. Auf jedem Blatte standen in regelrechter Ordnung die Tage der Geburt und des Todes, die Vermählungen und die Güter, die Waffenthaten und die mittelalterlichen Titel eines jeden der normannischen Barone, von welchen er seine Abstammung herleitete.
Mein Vater wendete langsam und schweigen die Blätter dieses Buches um, welches seiner Ansicht nach, wie ich glaube, nächst der Bibel das ehrwürdigste war, welches es für ihn gab, die bis er zum letzten Blatte kam, welches meinem Namen gewidmet war. oben am Rande dieses Blattes befand sich mein Miniaturportrait, welches gemalt worden, als ich noch Kind war. Unten stand der Tag meiner Geburt, mein Name, der der Schule und der Universität wo ich meine Studien gemacht, so wie der des Standes, welchem ich mich gewidmet. Der leer gelassene Raum war bestimmt, später andere Nachrichten über meine Person aufzunehmen.
Dieses Blatt war es, auf welches mein Vater seinen Blick heftete. Er beobachtete immer noch dasselbe Schweigen und sein Gesicht hatte immer noch denselben starren, kalten Ausdruck.
Die Drehorgel war verstummt, aber das sanfte Rauschen der Bäume, so wie, das dumpfe Rollen der Wagen schlug immer noch an unser Ohr. In dem Garten eines benachbarten Hauses kamen einige Kinder heraus, um zu spielen, »-
In demselben Augenblicke, wo ihre frischen, muntern, fröhlichen Stimmen in der weichen Sommeratmosphäre zu uns herauf drangen sah ich meinen Vater, während er noch immer die Augen auf das Blatt geheftet hielt, seine zitternden Hände nach meinem Bildnisse ausstrecken, so daß mir der Anblick desselben entzogen ward.«
Hierauf sprach er, aber ohne die Augen aufzuheben und als ob er mehr mit sich selbst spräche als zu mir. Seine sonst, so helle, biegsame und wohlklingende Stimme, hatte jetzt etwas so Rauhes und Heiseres, daß sie an mein Ohr schlug wie die eines Fremden.
»Als ich heute Morgen hierher kam,« hob ernst, »hatte ich mich auf eine peinliche und schmerzliche Unterredung gefaßt gemacht Ich wußte, daß das Geständniß gewisser Fehltritte und beklagenswerther Verirrungen mich betrüben und daß es vielleicht trotz meines guten Willens nicht von mir abhängen würde, sie später vergessen zu können. Weit entfernt aber war ich, darauf gefaßt zu sein, zu hören, welchen Makel mein eigner Sohn mir und den Meinigen aufgedrückt welchen Mißbrauch er mit dem Vertrauen getrieben, welches ich so stolz war, ihm zu bezeugen. Ich brauche meiner Entrüstung nicht Worte zu leihen —-— Deine Verdammung hängt nicht von mir ab —— Du bist der Strafbare und schon hat die Strafe Dich ereilt. Aber nicht Dich allein treffen die Wirkungen derselben, sondern auch Deinen Bruder und seinen Vater —— ja sogar der reine Name Deiner Schwester kann jetzt -——«
Er schwieg und schauderte. Als er weiter sprach, ward seine Stimme immer matter und sein Kopf neigte sich auf die Brust herab.
»Ich sage Dir nochmals, Du bist zu tief gesunken, als daß ich Dir Vorwürfe machen oder ein Verdammungsurtheil über Dich aussprechen könnte. Ich habe aber eine Pflicht gegen meine beiden Kinder, die nicht hier zugegen sind, zu erfüllen —— nachdem diese Pflicht erfüllt sein wird, hebe ich zu Dir ein letztes Wort zu sprechen. Auf diesem Blatte er zeigte mit dem Finger auf das Familienstammbuch, sein Ton ward fester, während seine Züge sich auf seltsame Weise verdüsterten, »auf diesem Blatte war ein freier Raum reserviert, um die künftigen Ereignisse Deines Lebens darein zu schreiben. Wenn ich Dich daher noch als meinen Sohn anerkennte, wenn ich glaubte, daß Deine Gegenwart mit der Gegenwart meiner Tochter in einem und demselben Hause vereinbar wäre, so müßte ich hier eine infamirende Thatsache niederschreiben, welche niemals seit Jahrhunderten eine einzige Seite dieses Buches besudelt hat. Dieser entehrende Schandfleck Deiner Heirath und ihre Folgen würde sich nothwendig auf Alles erstrecken, was vor Deiner Zeit rein von Makel ist, und eben so bis zum Ende über Alles hinwegreichen, was später diesem Buche noch hinzugefügt werden würde. Dies darf aber nicht geschehen. Ich setze keine Hoffnung und kein Vertrauen mehr auf Dich. Ich sehe in Dir nur noch meinen Feind, den Feind meines Hauses. Wollte ich Dich noch meinen Sohn nennen, so wäre dies ein Spott, eine Heuchelei. Es hieße Clara und sogar Ralph beleidigen, wenn ich Dich noch als mein Kind betrachten wollte. In diesem Buche der Erinnerungen ist Dein Platz auf immer vernichtet. Wollte Gott, ich könnte die Vergangenheit eben so aus meinem Gedächtnisse reißen, wie ich dieses Blatt aus diesem Buche reißen kann!«
Während er noch sprach, schlug die Stunde und die alte französische Uhr ließ dasselbe kleine silberne Glockenspiel hören, welches ich in Gegenwart meiner Mutter so oft mit kindischer Freude in ihrem Zimmer angehört. Es war lange; sehr lange her. Der muntere Glockenton verschmolz sich mit dem Geräusche des Pergamentblattes, welches mein Vater aus den Buche und dann in kleine Stücken riß, die er auf die Diele warf. Nachdem er das Buch zugeschlagen, erhob er sich rasch.
Seine Wangen rötheten sich noch ein Mal, und als er wieder zu sprechen begann, ward seine Stimme immer lauter. Es war, als wenn er seinem Entschlusse, mich zu verstoßen, selbst nicht traute und in seinem Zorne die Kraft der Entschließung suchte, welche er in ruhiger Stimmung nicht im Stande gewesen wäre, gegen mich aus sich selbst zu schöpfen.
»Jetzt mein Herr,« hob er an, »wollen wir mit einander sprechen wie ein Fremdling zu dem andern. Sie sind Mr. Sherwins Sohn aber nicht mehr der meinige. Sie sind der Gatte seiner Tochter und gehören nicht mehr zu meiner Familie. Stehen Sie auf mein Herr, wie ich Ihnen das Beispiel dazu gegeben habe —— wir Können nicht länger mit einander in einem und demselben Zimmer sitzen. Schreiben Sie -—— »er schob mir Schreibzeug und Papier hin —— »schreiben Sie Ihre Bedingungen nieder. Ein schriftliches Versprechen werden Sie vielleicht respektieren. Schreiben Sie die, Bedingungen nieder, unter welchen Sie sich dazu verstehen, auf Zeit Ihres Lebens dieses Land zu verlassen, und nennen»Sie den Preis Ihres Schweigens so wie dessen Ihrer Mitschuldigen -—— verstehen Sie mich? Schreiben Sie, was Ihnen beliebt. Ich bin, zu allen Opfern bereit, dafern Sie nur England verlassen ewiges Schweigen bewahren und auf den Namen verzichten, den Sie geschändet haben. Mein Gott! Muß ich es erleben, das Schweigen über die Schande meiner Familie mit Geld zu erkaufen und einen solchen Handel mit meinem Sohne zu machen!«
Verzweiflung und Scham hatten bis jetzt meine Zunge« gefesselt. Ich hatte kein einziges Wort zu meiner Verteidigung gewagt, aber diese letzte Anrede rüttelte mich wieder zur Energie empor. Ein Grad von dem Stolze meines Vaters erwachte in meinem Herzen dieser Verachtung gegenüber.
Ich richtete den Kopf empor un zum ersten Male schauten meine Augen direct in die seinigen. Ich schob die Schreibmaterialien weit von mir hinweg und verließ meinen Platz neben dem Tische.
»Bleib,« rief er, »Du wirst noch nicht gehen. Willst Du vielleicht thun, als hättest Du mich nicht verstanden?«
»Eben weil ich Dich verstanden habe, Vater, gehe ich. Ich habe Deinen Zorn verdient und mich ohne Murren Allem unterworfen, was er über mich verhängen würde. Mit welcher Demüthigung aber ich auch gestraft worden bin und wie groß mein Unglück auch sein mag, so kann ich doch nicht vergessen, daß ich eine so harte Züchtigung nicht verdient habe. Ich habe unrecht an Dir gehandelt, ich habe vergessen, was ich dem Range unsrer Familie schuldig war. Nach der andern Seite dagegen habe ich ehrenwerth und vollkommen gewissenhaft gehandelt. Vielleicht hatte ich das Recht, zu erwarten, daß Du dies als eine Milderung meines Fehlers betrachten würdest; vielleicht durfte ich nicht glauben, daß den Gefühlen, mit welchen Du meinen Fehltritt betrachtest, sich einiges Mitleid beigesellen würde, aber dennoch hatte ich, glaube ich, das Recht, zu hoffen, daß Deine Verachtung eine stillschweigende und daß die letzten Worte, die Du an mich richtest, keine Beleidigung sein würden.«
»Du sprichst von Beleidigung und wagst diesen Ton anzunehmen? Ich sage Dir nochmals, ich verlange von Dir eine schriftliche Verpflichtung, wie ich sie von einem fremden Menschen, dem ich mißtraue, verlangen würde. Ich will sie haben, ehe Du dieses Zimmer verlässt.«
»Alles, was diese demüthigende Schrift mir auflegen soll, werde ich ohnehin thun und mehr noch. Die Ehre Deiner Familie wird mir stets so heilig bleiben als Dir selbst. Ich werde Deinen Namen vor dem Brandmale bewahren, das sich an den meinigen heftet. Dabei aber will ich nur meinem eignen Willen folgen. Ich will nur durch eine gegen mich selbst übernommene Verpflichtung verbunden sein. Ich will mich nicht dafür bezahlen lassen. Ich bin noch nicht so tief gesunken, daß ich Lohn für Erfüllung einer Pflicht verlangte. Es steht Ihnen frei, zu vergessen, daß Sie mein Vater sind, aber ich werde niemals vergessen, daß ich Ihr Sohn bin.«
»Mögen Sie dies vergessen oder nicht, so frage ich weiter nicht darnach. Ich bestehe darauf, diese schriftliche von Ihnen unterschriebene Verpflichtung zu haben, wäre es auch nur, um zu zeigen, daß ich aufgehört habe, Ihrem Worte Vertrauen zu schenken. Schreiben Sie auf der Stelle, mein Herr —— verstehen Sie mich? Schreiben Sie!«
Ich rührte mich nicht und antwortete nicht.
Die Züge meines Vaters, in denen eine neue Veränderung vorging, wurden noch bleicher. Seine Finger zitterten krampfhaft und zerknitterten den Bogen Papier, als er ihn von dem Tische hinweg nehmen wollte.
»Sie weigern sich!« rief er in kurzem Tone.
»Ich habe es Ihnen schon gesagt, mein Herr.«
»Hinaus!« rief er nun, indem er mit zorniger Gebärde auf die Thür zeigte; »hinaus mit Ihnen aus diesem Hause, welches Sie niemals wieder betreten werden! Hinaus mit Ihnen! Sie sind von nun an für mich nicht bloß ein Fremdling, sondern ein Feind! Ich habe kein Vertrauen zu dem einfachen Versprechen, welches Sie mir gegeben. Es giebt keine Nichtswürdigkeit, deren ich Sie nicht fähig glaubte. Aber ich sage Ihnen —— Ihnen sowohl als den Elenden, mit welchen Sie gemeinschaftliche Sache gemacht haben —— nehmen Sie sich in Acht. Ich besitze Vermögen, ich besitze Einfluß —— ich bekleide einen Rang, ich werde Alles gegen den Mann oder das Weib aufbieten, welche den makellosen Ruf meiner Familie compromittiren würden. Gehen Sie merken Sie sich das! Gehen Sie!«
Als er, diese letzten Worte sprach und in demselben Augenblicke, wo meine Hand sich auf das Thürschloß legte, ließ ein halb ersticktes Seufzen oder Schluchzen sich. in der Richtung des Bibliothekzimmers hören.
Mein Vater schwieg und ließ seine Blicke-umherschweifen.
Durch, ich weiß nicht welche Inspiration bewogen, blieb ich ebenfalls stehen. Meine Augen folgten den seinigen und hefteten sich auf den Vorhang, der die in Bibliothek führende Thüre verdeckte.
Dieser Vorhang hob sich ein wenig, fiel wieder, ward aber, mit Einem male gänzlich auf die Seite geschlagen.
Clara trat langsam und-geräuschlos in das Zimmer. Ihr stilles und so unvorhergesehenes Eintreten in diesem Augenblicke, ihr hohler stierer Blick, ihr bleiches Gesicht, ihre weiße Kleidung, ihr langsamer Gang und die Sorgfalt, mit der sie das Geräusch ihrer Tritte gedämpft hatte, Alles trug dazu bei, ihrer Erscheinung etwas Uebernatürliches zu verleihen. Es war, als wenn Clara's Geist und nicht sie selbst auf uns zukäme.
Als sie an meinem Vater vorüber schwebte, nannte er im Tone des Erstaunens ihren Namen, aber es war mehr ein verhaltenes Murmeln als ein Ruf.
Einen Augenblick lang blieb sie zögernd stehen.
Ich sah sie zittern, als ihre Augen denen unsres Vaters begegneten, dann richtete sie dieselben wieder auf mich, näherte sich einige Schritte, ergriff mich bei der Hand und stellte sich neben mich, unserem Vater gegenüber.
»Clara,« rief nochmals in demselben gedämpften Tone.
Ich fühlte die kalte Hand des armen Mädchens fest die meine drückend, so fest, daß ihre schlanken Finger mir fast Schmerz verursachten. Ihre Lippen bewegten sich, brachten aber nur unartikulierte Laute hervor, so gebrochen keuchte ihr Athem.
»Clara!« wiederholte mein Vater zum dritten Male in festerem Tone.
Bei den ersten Worten aber, die er hinzufügte, ward seine Stimme wieder hohl und umschleiert, denn in demselben Augenblicke erfuhr er jenen mächtigen Einfluß, den die Ritterlichkeit seines Charakters, die sich im vorliegenden Falle mit seiner väterlichen Liebe zu meiner Schwester verschmolz, auf ihn ausübte.
»Clara,« sagte er in traurigem, mattem Tone, laß seine Hand los —— Deine Gegenwart ist hier am unrechten Orte. Verlaß uns —— ich bitte Dich, Du darfst nicht seine Hand ergreifen. Er hat eben so aufgehört, mein Sohn als Dein Bruder zu sein. Clara, hörst Du mich nicht?«
»Verzeihe mir, mein Vater, ich höre Dich,« antwortete sie. »Gebe Gott, daß meine Mutter im Himmel Dich nicht auch höre!«
Er näherte sich ihr, aber bei den letzten Worten, die sie sprach, blieb er plötzlich stehen und wendete das Gesicht von uns ab. Wer konnte sagen, welche Erinnerungen an vergangene Tage in diesem Augenblicke in seinem Herzen erwachten?
»Du hast« gesprochen, Clara, wie Du nicht sprechen solltest,« fuhr er fort, ohne den Kopf emporzurichten. »Deine Mutter-« seine Stimme zitterte und versagte ihm. »Wirst Du nach Dem, was ich Dir so eben gesagt, fortfahren, ihm die Hand zu reichen? Ich sage Dir nochmals: Er ist unwürdig, vor Deinen Augen zu erscheinen. Mein Haus ist fortan nicht mehr das seine —— muß ich Dir befehlen, von ihm abzulassen?«
Der Instinct des Gehorsams behauptete die Oberhand. Clara ließ meine Hand los, aber ohne sich deswegen von mir zu entfernen.
»Verlaß uns jetzt, Clara,« fuhr mein Vater fort. »Du hast unrecht daran gethan, in dem Nebenzimmer unser Gespräch anzuhören. Wenn ich hinaufkomme, werde ich mit Dir sprechen, hier darfst Du nicht länger bleiben.«
Sie faltete ihre zitternden Hände und seufzte schwer.
»Ich kann nicht gehen,« sagte sie sehr rasch und ohne Athem zu schöpfen.
»Dann« muß ich Dir wohl zum ersten Male sagen, daß Du als ungehorsame Tochter handelst.«
»Ich kann nicht,« antwortete sie wieder in dem selben bittenden Thone, »ich kann nicht eher, als bis Du mir gesagt hasts daß Du ihm verzeihen wirst.«
»Ich sollte ihm verzeihen? Ich sollte vor solchen Gräueln die Augen verschließen? Clara, bist Du so verändert, daß Du mir offenen Widerstand zu leisten wagst?«
Indem er dies sagte, entfernte er sich einige Schritte von uns.
»O nein, nein!« rief sie und eilte auf ihn zu, blieb aber auf der Hälfte des Weges stehen und drehte sich wieder nach mir herum —— ich stand immer noch an der Thür.
»Sidney,« rief sie, »Du hast mir nicht Wort gehalten! Du hast nicht Geduld genug gehabt. —— O, mein Vater, wenn ich jemals Deine Güte verdient habe, so trage sie auf ihn über! Sidney, sprich doch! Sidney, bitte unsern Vater auf den Knieen um Verzeihung! O, mein Vater, ich habe ihm versprochen, daß Du ihm Verzeihung gewähren würdest, wenn ich Dich darum bäte! Keiner spricht ein Wort. O, das ist zu schrecklich!. Geh’ noch nicht fort, Sidney —— geh’ noch nicht fort! O, mein Vater bedenke, wie gut, wie freundlich er gegen mich gewesen ist -— er —— der geliebte Sohn unsrer armen Mutter —— ich muß wohl von, ihr sprechen. Du hast mir selbst gesagt, daß er von meinen beiden Brüdern der gewesen ist, welchen sie immer am meisten geliebt hat. Er war der Liebling meiner Mutter. Willst Du um eines ersten Fehltrittes, um eines ersten Kummers willen, den er Dir bereitet, sagen, daß unser Haus fortan nicht mehr das seinige sei? Strafe mich, mein Vater —— ich habe eben so gut unrecht gehandelt als er. Als ich hörte, daß Eure Stimmen sich so laut erhoben, horchte ich in der Bibliothek —— Sidney! O, er geht —— nein, nein —— noch nicht!«
Sie eilte nach der Thüre, als ich dieselbe öffnete, und schlug sie heftig wieder zu. Erschreckt durch die Aufregung, welcher ich sie zur Beute werden sah, war mein Vater, während sie sprach, in seinen Sessel niedergesunken. Jetzt erhob er sich und sagte:
»Clara, ich befehle Dir, ihn gehen zu lassen.«
Dann kam er einige Schritte auf mich zu und rief:
»Gehen Sie —— seien Sie wenigstens so menschlich mich von der Qual zu befreien, dir Ihr Anblick mir verursacht.«
Ich sagte leise zu meiner Schwester:
»Ich werde Dir schreiben, liebe Schwester.«
Dann machte ich mich aus ihren Armen los, welche fest und doch weich meinen Hals umschlungen hielten. Auf der Schwelle der Thür drehte ich mich noch einmal um und warf einen letzten Blick in dieses Zimmer.
Clara lag in den Armen meines Vaters, auf dessen Schulter sie ihr Haupt ruhen ließ. Eine himmlische Ruhe malte sich auf ihrem reinen Antlitze, welches in diesem Augenblicke einen fast überirdischen Ausdruck hatte. Sie war ohnmächtig geworden.
Mein Vater hielt in dem einen Arme die sinkende Gestalt meiner Schwester, während er in der andern freien Hand ungeduldig hinter sich an der Wand nach der Klingelschnur umher tastete.
Dabei waren seine Augen mit dem Ausdrucke unaussprechlicher Liebe und Besorgniß auf das Gesicht geheftet, dessen heitere Ruhe zu seinen eignen verstörten Zügen einen so auffälligen Gegensatz bildete.
Eine Minute lang sah ich sie so, ehe ich die Thür hinter mir schloß. Einen Augenblick später hatte ich das Haus verlassen.
Von diesem Tage an bin ich nicht wieder dahin zurückgekehrt; von diesem Tage an habe ich meinen Vater nicht wieder gesehen.