Mann und Weib



Fünfundfünzigstes Kapitel - Die Nacht

Beim Hinaustreten aus Lady Lundie’s Hause rief Geoffrey den ersten vorüberfahrenden Fiaker an. Er öffnete die Wagenthür und bedeutete Anne hineinzusteigen. Sie gehorchte ihm mechanisch. Er setzte sich auf die Rückseite des Wagens und wies den Kutscher an, nach Fulham zu fahren.

Der Wagen setzte sich in Bewegung, während Mann und Frau sich beiderseits schweigend verhielten. Anne lehnte erschöpft den Kopf zurück und schloß die Augen. Jhre Kraft war unter der übermenschlichen Anstrengung zusammengebrochen, mit der sie sich vom Anfange bis zum Ende der Untersuchung aufrecht erhalten hatte. Sie vermochte nicht mehr zu denken; sie fühlte nichts, wußte von nichts, fürchtete nichts. Halb ohnmächtig, halb schläfrig, hatte sie, noch ehe fünf Minuten ihrer Fahrt nach Fulham verflossen waren, jede Empfindung für ihre fürchterliche Lage verloren.

Geoffrey, der ihr, ganz in seine schlechten Gedanken vertieft, gegenüber saß, raffte sich plötzlich auf. Durch sein träges Gehirn war eine Idee gefahren; er steckte den Kopf zum Wagenfenster hinaus und hieß den Kutscher umkehren und nach einem Hotel in der Nähe der großen Nordbahn fahren.

Als er sich wieder niedergesetzt hatte, warf er Anne einen verstohlenen Blick zu. Noch immer saß sie mit geschlossenen Augen da, ohne sich zu rühren sie hatte allem Anschein nach von dem eben Geschehenen gar nichts bemerkt. Er beobachtete sie aufmerksam. Sollte sie wirklich krank sein? War die Zeit nicht fern, wo er sich von ihr befreit sehen würde? Während er sie fortwährend scharf beobachtete, brütete er über diese Frage. Allmälig aber schwand die nichtswürdige Hoffnung wieder dahin, und trat ein nichtswürdiger Verdacht an ihre Stelle. Wie, wenn dieser Anschein von Krankheit nur gemacht war? Wie, wenn sie nur darauf wartete, daß er sie einen Augenblick außer Acht lasse, um ihm bei dieser ersten Gelegenheit zu entfliehen?

Er steckte den Kopf wieder zum Wagenfenster hinaus und gab dem Kutscher wieder eine andere Ordre.

Der Wagen lenkte von dem graden Wege ab und hielt vor einem unter einem angenommenen Namen von dem Trainer Perry gehaltenen Wirthshaus in Holborn.

Geoffrey schrieb mit Bleistift eine Zeile auf seine Karte und schickte den Kutscher damit in’s Haus. Nach einigen Minuten erschien ein Bursche am Wagen und legte die Hand an den Hut; Geoffrey steckte den Kopf zum Wagenfenster hinaus und sprach leise mit ihm; dann stieg der Bursche zum Kutscher hinauf. Der Wagen kehrte wieder um und fuhr jetzt nach dem an der Nordbahn gelegenen HoteL Hier stieg Geoffrey aus und postirte den Burschen vor die Wagenthür, indem er auf Anne deutete, die noch immer mit geschlossenen Augen zurückgelehnt dasaß, dem Anscheine nach noch immer zu erschöpft, um ihren Kopf zu erheben, und zu schwach, um von dem, was um sie her vorging, Notiz zu nehmen.

»Wenn sie den Versuch machen sollte auszusteigen, so halte sie zurück und laß mich rufen.«

Nach Ertheilung dieser Ordre trat Geoffrey in’s Hotel und fragte nach Mr. Moy.

Mr. Moy war eben von Portland Place zurückgekehrt. Er stand auf und verneigte sich kalt, als Geoffrey in sein Zimmer geführt wurde.

»Was wünschen Sie von mir?« fragte er.

»Mir ist ein Gedanke durch den Kopf gefahren«, erwiderte Geoffrey, »Über den ich gern gleich mit Ihnen reden möchte.«

»Ich muß Sie bitten, sich an jemand Andern zu wenden, da ich mit Ihren Angelegenheiten ferner nichts mehr zu thun haben will.«

»Wie?« fragte Geoffrey. »Wollen Sie mich in der Patsche lassen?«

»Ich werde keinen Schritt mehr in irgend einer Ihrer Angelegenheiten thun«, erwiderte Mr. Moy mit festem Tone. »Ich kann in Zukunft nicht mehr Ihr Advoeat sein. Was die bisher für Sie geführte Angelegenheit betrifft, so werde ich die mir noch obliegenden formellen Pflichten Ihnen gegenüber gewissenhaft erfüllen. Mrs. Inchbare und Bishopriggs werden, wie verabredet, diesen Abend um sechs Uhr zu mir kommen, um vor ihrer Abreise das ihnen schuldige Geld in Empfang zu nehmen. Ich selbst werde mit dem Nachtzug nach Schottland zurückkehren Die Personen, auf deren Zeugniß Sir Patrick im Betreff der Angelegenheit des Heirathversprechens sich bezogen hat, befinden sich alle in Schottland. Ich werde die Aussagen derselben, sowohl bezüglich der Handschrift, als der Dauer des Aufenthalts in Schottland aufnehmen und Ihnen zuschicken. Damit wird meine geschäftliche Thätigkeit für Sie ein Ende erreicht haben; Ich muß es aber entschieden ablehnen, Ihnen bezüglich irgend eines ferneren Schrittes, den Sie zu ergreifen gemeint sein sollten, meinen Rath zu ertheilen.«

Geoffrey dachte einen Augenblick nach und that dann eine Frage. »Sie sagten, Bishopriggs und die Frau würden heute Abend um sechs Uhr herkommen, nicht wahr?«

»Jawohl.«

»Wo sind sie vorher zu finden?«

Mr. Moy schrieb die Adresse der beiden Zeugen auf ein Stück Papier und übergab dasselbe Geoffrey mit den Worten: »Da werden Sie sie finden.«

Geoffrey nahm die Adresse zu sich und ging fort. Der Advocat und der Client trennten sich, ohne daß einer von Beiden ein Wort sagte. Unten auf der Straße fand Geoffrey den Burschen auf seinem Posten Wache haltend.

»Ist irgend etwas passirt?«

»Die Dame hat sich nicht gerührt, Herr, seit Sie ausgestiegen sind.«

»Ist Perry im Wirthshaus?«

»Jetzt nicht, Herr.«

»Ich brauche einen Advocaten. Weißt Du, wer Perry’s Advocat ist?«

»Ja, Herr.«

»Und weißt Du seine Adresse?«

»Ja, Herr.«

»Setz’ Dich auf den Bock und bezeichne dem Kutscher, wohin er fahren soll.«

Der Wagen stzte sich wieder in Bewegung, fuhr durch Euston-Road nach einer Seitengasse und hielt hier vor einem Hause, das ein Messingschild an der Thür als die Wohnung eines Advocaten bezeichnete. Der Bursche stieg ab und kam an’s Wagenfenster. »Hier ist es, Herr.«

»Klopf’ an die Thür und sieh’ zu, ob er zu Hause ist.«

Er war zu Hause. Geoffrey trat hinein, nachdem er den Burschen zuvor wieder vor die Wagenthür postirt hatte. Der Bursche bemerkte, daß die Dame sich dieses mal bewegte. Sie schaudern, als ob es sie fröstele, öffnete ihre Augen einen Augenblick mit dem Ausdruck der Erschöpfung, blickte seufzend durch’s Fenster, und sank wieder in die Ecke des Wagens zurück.

Nach einer guten halben Stunde trat Geoffrey wieder aus dem Hause. Seine Conferenz mit Perry’s Advocat schien sein Gemüth von einer Sorge befreit zu haben, die auf demselben gelastet hatte. Er beorderte den Kutscher, wieder nach Fulham zu fahren, öffnete die Wagenthür, um einzusteigen schien sich aber dann plötzlich eines Andern zu besinnen und stieg, nachdem er den Burschen hatte herunterkommen lassen und ihm geheißen hatte, sich in den Wagen zu setzen, zum Kutscher auf den Bock.

Als der Wagen abfuhr, sah er sich nach Anne um. »Es ist immer einen Versuch werth«, dachte er bei sich. »So werden wir quitt und ich komme von ihr los.«

Endlich hielt der Wagen vor dem Salzland. Vielleicht, daß sich in Folge der Ruhe Anne’s Kräfte wieder gehoben hatten; vielleicht, daß der Anblick dieses Platzes endlich den Selbsterhaltungstrieb wieder in ihr erweckte; genug, sie stieg zu Geoffrey’s Ueberraschung ailein aus dem Wagen. Als er die hölzerne Eingangspforte mit einem eigenen Schlüssel öffnete, fuhr sie zurück und sah ihn zum ersten Mal an. Er wies auf die Eingangsthür hin und sagte: »Geh’ hinein!«

»Unter welchen Bedingungen?« fragte sie, ohne sich von der Stelle zu rühren. Geoffrey bezahlte den Kutscher und schickte den Burschen mit der Weisung in den Garten, dort fernere Ordres zu erwarten. Sobald er sich dann mit Anne allein sah, antwortete er ihr in einem lauten und brutalen Tone: »unter allen Bedingungen, die ich zu machen für gut finden werde.«

»Nichts«, erwiderte sie mit fester Stimme »wird mich vermögen, mit Dir als Deine Frau zu leben. »Du kannst mich umbringen aber dazu kannst Du mich nicht zwingen.«

Einen Schritt vortretend, öffnete er die Lippen, wie wenn er reden wollte, schien sich aber plötzlich wieder anders zu besinnen. Er wartete eine Weile, während welcher er sich offenbar etwas überlegte, und sagte dann mit auffallender Ruhe und Selbstbeherrschung und mit dem Ausdruck eines Menschen, der Worte wiederholt, die ihm in den Mund gelegt sind oder auf die er sich vorbereitet hat: »Ich habe Dir etwas in Gegenwart von Zeugen zu sagen. Ich verlange es nicht von Dir und wünsche auch nicht, daß Du im Hause mit mir allein bist.«

Die Veränderung in seinem Wesen und die Art wie er eben seine Worte auffallend vorsichtig gewählt hatte, erschreckte sie viel mehr, als die Rohheit, mit der er sich eben vorher ausdrücke.

Noch immer auf die Thür weisend, wartete er ab, was sie thun werde. Sie zitterte ein wenig, nahm sich dann wieder zusammen und trat ein. Der Bursche, der im Vordergarten gewartet hatte, folgte ihnen. Er öffnete die Thür des Wohnzimmers an der linken Seite des Vorplatzes. Sie trat in dasselbe ein. Zu dem gleich darauf erscheinenden Dienstmädchen sagte Geoffrey: »Rufen Sie Mrs. Dethridge und kommen Sie selbst wieder mit ihr her«; und trat dann gleichfalls in das Wohnzimmer in das ihm der Bursche folgen mußte und dessen Thür er weit offen stehen ließ.

Hester Dethridge kam aus der Küche, von dem Dienstmädchen gefolgt. Bei dem Anblick Anne’s schien die steinerne Ruhe ihres Gesichts einen Augenblick einem andern Ausdrucke Platz zu machen. Ein matter Glanz belebte ihre Augen. Sie nickte langsam mit dem Kopf. Ein Laut, der etwas wie Freude oder Erleichterung auszudrücken schien, entfuhr ihren Lippen.

Auf Anne zeigend, sagte Geoffrey indem er wieder mit auffallender Ueberlegung und Selbstbeherrschung und wieder mit dem Ausdruck eines Menschen, der Worte wiederholt, die ihm in den Mund gelegt sind, oder auf die er sich vorbereitet hat: »Diese Dame ist meine Frau. In Gegenwart von Euch Dreien als Zeugen erkläre ich ihr, daß ich ihr nicht verzeihe. Ich habe sie in Ermangelung eines andern zuverlässigen Platzes hierher gebracht, damit sie hier den Ausgang der Schritte abwarte, die ich zur Vertheidigung meiner Ehre und meines guten Namens unternommen habe. So lange sie hier ist, wird sie von mir getrennt in ihrem eigenen Zimmer wohnen. So oft ich es für nothwendig halten werde, mündlich mit ihr zu verkehren, werde ich es nur in Gegenwart einer dritten Person thun. Habt Ihr mich Alle verstanden?«

Hester Dethridge nickte mit dem Kopf, die andern Beiden antworteten mit »Ja« und wollten dann hinausgehen. Da stand Anne auf und das Dienstmädchen und der Bursche blieben auf ein von Geoffrey gegebenes Zeichen, um mit anzuhören, was sie zusagen habe. »Ich bin mir keiner Handlung bewußt«, sagte sie, zu Geoffrey gewandt, »die Dir das Recht gäbe, diesen Leuten zu erklären, daß Du mir nicht verzeihest. Diese Worte sind, von Dir gegen mich gebraucht, einer Beleidigung. Ebenso wenig weiß ich, was Du meinst, wenn Du von einer Vertheidigung Deines guten Namens sprichst. Alles, was ich von Deinen Worten verstehe, ist, daß wir in diesem Hause getrennt leben werden und daß ich mein eigenes Zimmer haben werde. Für diese Einrichtung bin ich Dir, gleichviel, welche Motive Dich dabei geleitet haben mögen dankbar. Weise eine von diesen beiden Frauen an, mir mein Zimmer zu zeigen.«

Geoffrey wandte sich an Hester Dethridge »Bringen Sie sie hinauf«, sagte er, »und lassen Sie sie unter den Zimmern wählen. Geben Sie ihr zu essen und zu trinken, was sie verlangt. Bringen Sie mir die Adresse des Hauses, wo sich ihr Gepäck befindet, mit herunter. Der Bursche hier soll mit der Eisenbahn in die Stadt fahren und es herausholen. Das ist Alles. Jetzt gehen Sie!«

Hester ging. Anne folgte ihr die Treppe hinauf. Auf dem Vorplatz des ersten Stocke; blieb Hester stehen. Wieder flackerte der matte Glanz in ihren Augen auf. Sie schrieb etwas auf ihre Tafel und hielt dieselbe dann Anne entgegen. »Ich wußte, daß Sie wieder kommen würden. Es ist zwischen ihm und Ihnen noch nicht vorbei.«

Anne erwiderte nichts. Hester fuhr mit einem schwachen Lächeln um die dünnen bleichen Lippen fort zu schreiben. »Ich verstehe mich auf schlechte Ehemänner. Ihrer ist einer der schlimmsten, die es je gegeben hat. Er wird Sie bös auf die Probe stellen.«

Anne versuchte es, ihr Einhalt zu thun. »Sehen Sie nicht, wie angegriffen ich bin?« sagte sie in sanftem Ton.

Hester ließ die Tafel wieder herabhängen, sah Anne fest und mit dem Ausdruck einer mitleidlosen Aufmerksamkeit in’s Gesicht, nickte mit dem Kopf, als wolle sie sagen: »Ich sehe es jetzt«, und ging ihr voran in eins der leeren Zimmer. Es war das nach vorn über dem Wohnzimmer liegende Schlafzimmer. Ein erster Blick auf dasselbe zeigte, daß es ebenso sauber gehalten, wie solide und geschmacklos möblirt war. Die häßlichen Tapeten an der Wand und der häßliche Teppich auf dem Fußboden waren beide von der besten Qualität.

Die große schwere Bettstelle von Mahagony mit ihren, von einem an der Decke befestigten Haken, herabhängenden Bettvorhängen und mit ihrem gleich hohen plump geschnitzten Kopf und Fußende, bot den sonderbaren Anblick eines französischen durch englische Ueberladung verunstalteten Musters. Das Auffallenste in dem Zimmer waren die außerordentlichen Vorrichtungen zur Sicherung der Thür. Außer dem gewöhnlichen Thürschloß waren an der inneren Seite derselben, oben und unten, noch zwei starke Riegel angebracht. Es war einer der exeentrischen Züge in dem Character Ruben Limbricks gewesen, daß er in beständiger Furcht vor nächtlichen Einbrüchen in sein Haus gelebt hatte.

Alle in’s Freie führenden Thüren und alle Fensterläden waren mit einer soliden Eisenbekleidung und mit nach einem neuen Princip construirten Allarmglocken versehen. Die Thüren aller Schlafzimmer hatten zwei Riegel an der innern Seite. Der ganze Complex dieser Vorsichtsmaßregeln gipselte in einem kleinen auf dem Dach des Hauses befindlichen Glockenthurm mit einer Glocke von so ausgiebigem Klang, daß sie auf der Polizeistation von Fulham gehört werden konnte. Zu Ruben Limbrick’s Zeiten hatte der Glockenstrang bis in sein Schlafzimmer gereicht. Jetzt hing derselbe auf dem äußern Vorplatz an der Wand herunter.

Als Anne sich im Zimmer umsah, blieben ihre Blicke auf der dasselbe vom Nebenzirnmer trennenden Scheidewand haften. Dieselbe hatte keine Verbindungsthür, nur ein Waschtisch und zwei Stüle standen daran.

»Wer schläft in dem Zimmer nebenan?« fragte Anne.

Hester Dethridge deutete auf das unter ihnen befindliche Wohnzimmer, in welchem sie Geoffrey verlassen hatten. Es war sein Schlafzimmer, Anne trat wieder auf den Vorplatz hinaus.

»Zeigen Sie mir das andere Zimmer«, sagte sie.

Auch dieses lag an der Vorderseite des Hauses. Es herrschte darin dieselbe Häßlichkeit der Tapeten und des Teppichs bei gleich guter Qualität. Auch hier stand eine schwere Bettstelle von Mahagony, die aber mit einem über dem Kopfende befestigten Baldachim der die Bettvorhänge trug, versehen war. Dieses Mal kam Hester Anne’s Frage zuvor und deutete, indem sie nach dem anstoßenden, nach hinten gelegenen Zimmer sah, auf sich selbst. Anne entschied sich sofort für dieses; es war das von Geoffrey’s Zimmer entfernteste.

Hester wartete, bis Anne die Adresse des Concertunternehmers, bei welchem sich ihr Gepäck befand, aufgeschrieben hatte, nahm dann Anne’s Weisung für ihr Abendessen entgegen, das sie hinaufschicken sollte, und verließ das Zimmer.

Sobald sie sich allein befand, schloß Anne die Thür und warf sich aufs Bett. Noch immer zu erschöpft, um zu denken, noch immer physisch unfähig, sich die Hilflosigkeit und Gefahr ihrer Lage deutlich zu vergegenwärtigen, öffnete sie ein an ihrem Hals hängendes Medaillon, küßte die an beiden Seiten desselben befindlichen Bilder ihrer Mutter und Blanche’s und versank dann in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Inzwischen wiederholte Geoffrey an der Eingangspforte dem Burschen seine letzten Ordres: »Wenn Du das Gepäck geholt hast, gehst Du zum Advocaten. Wenn er noch heute Abend herkommen kann, so zeigst Du ihm den Weg. Wenn er nicht kommen kann, wirst Du von ihm einen Brief für mich erhalten, den Du mir herbringst. Nimm Dich in Acht, daß Du meine Ordres genau ausführst, sonst geht’s Dir schlecht. Und nun pack Dich und versäume den Zug nicht.«

Der Bursche lief davon. Geoffrey sah ihm noch eine Weile nach und überdachte dabei, was bis jetzt geschehen war.

»Alles in Ordnung soweit«, sagte er zu sich; »ich habe im Wagen nicht bei ihr gesessen, ich habe ihr vor Zeugen erklärt, daß ich ihr nicht verzeihe und warum ich sie hier in’s Haus genommen habe, ich habe ihr ein besonderes Zimmer angewiesen und wenn ich sie sprechen muß, so spreche ich sie in Gegenwart von Hester Dethridge als Zeugin. Ich habe Alles gethan, was mir oblag, nun muß der Advocat noch das Seinige thun.«

Er schlenderte nach dem Hintergarten und zündete sich seine Pfeife an. Nach einer Weile, als die Nacht einzubrechen begann, sah er ein Licht in Hester’s Wohnzimmer zur ebenen Erde. Er trat an’s Fenster. Hester und die Magd waren beide bei der Arbeit.

»Nun«, sagte er, »wie steht es mit dem Frauenzimmer oben?« Hester’s Tafel und die Zunge der Magd berichteten ihm, was über Anne zu berichten war. Sie hatten ihr Thee und ein Omelette aufs Zimmer gebracht und hatten sie aus dem Schlaf wecken müssen. Sie hatte ein klein wenig von dem Omelette gegessen und sehr viel Thee getrunken. Dann waren sie wieder hinausgegangen, um das Geschirr herunter zu holen und hatten sie wieder im Bett, aber nicht schlafend, sondern nur matt und angegriffen gefunden; sie sagte kein Wort, sah ganz erschöpft aus, wir stellten ihr ein Licht hin und ließen sie allein.« So lautete der Bericht.

Nachdem er denselben angehört hatte, zündete er sich, ohne irgend eine Bemerkung zu machen, eine zweite Pfeife an und nahm seine Wanderung durch den Garten wieder auf. Die Zeit verging; es fing an, kühl zu werden. Der Wind strich hörbar über das offene Land, welches den Garten umgab; schwarze Wolken bedeckten die flimmernden Sterne und der ganze Himmel war in finstere Nacht gehüllt.

Geoffrey ging hinein. Im Speisezimmer brannte Licht; auf dem Tisch lag eine Abendzeitung. Er setzte sich und versuchte zu lesen; die Zeitung enthielt nichts, was ihn irgend interessirte. Die Zeit, wo er von dem Advocaten hören würde, rückte näher und näher. Er konnte nicht lesen, nicht still sitzen. Er ging wieder hinaus in den Vordergartem schlenderte nach der Eingangspforte, öffnete dieselbe, und sah gedankenlos den Weg hinunter und hinauf. Die über der Pforte befindliche Gaslaterne beleuchtete mit ihrem Schein nur ein einziges lebendes Wesen. Die Gestalt kam näher; es war der Postbote, der seine letzten Briefe ausbrachte Er kam mit eintritt Briefe in der Hand ans die Pforte zu.

»Wohnt hier Mr. Geoffrey Delamayn?«

»Jawohl!«

Geoffrey nahm dem Postboten den Brief ab und ging damit wieder in’s Speisezimmer. Als er bei dem Kerzenlicht die Adresse betrachtete, erkannte er Mrs. Glenarm’s Handschrift. »Ein Glückwunsch zu meiner Hochzeit!« murmelte er bitter vor sich hin und öffnete den Brief.

Das Glückwunschschreiben Mrs. Glenarm’s lautete wie folgt:

»Mein angebeteter Geoffrey!

Ich weiß Alles. Mein Geliebter! Mein Einziger! Du bist ein Opfer der nichtswürdigsten Spitzbübin, die je das Licht der Welt erblickt hat, und ich habe Dich verloren! Ich frage mich selbst, wie es möglich ist, daß ich noch lebe, nachdem ich das gehört habe, wie es möglich ist, daß ich mit glühendem Hirn und gebrochenem Herzen denken und schreiben kann. Aber, Du Engel, was mich aufrecht erhält, ist ein reines, schönes, unser Beider würdiges Ziel, das ich verfolge. Ich lebe, Geoffrey, ich lebe, um mich ganz dem Gedanken an Dich, mein Angebeteter hinzugeben. Du mein Held, Du meine erste und letzte Liebe! Ich werde keinen andern Mann heirathen. Ich werde, das gelobe ich feierlich, auf meinen Knieen, treu gegen Dich leben und sterben. Ich bin Deine Seelenbraut! Mein geliebter Geoffrey! Sie kann nicht zwischen uns treten, nein, sie kann Dich nimmermehr um die unerschütterliche Treue meines Herzens, um die unirdische Hingebung meines Selbst bringen. Ich bin Deine Seelenbraut! O, der unschuldigen Wollust, diese Worte zu schreiben! Antworte mir, Geliebter, und sage, daß Du ebenso empfindest. Gelobe, Du Jdol meines Herzens, wie ich gelobt habe, unerschütterliche Treue, unirdische Hingebung! Nie, nie werde ich das Weib eines Andern werden. Nie, nie werde ich der Person vergeben, die sich zwischen uns gedrängt hat. Ewig und einzig Dein, Dein mit einer fleckenlosen Leidenschaft, die auf dem Altare des Herzens brennt, Dein, Dein, Dein.

E. G.«

Dieser Erguß eines an und für sich einfach lächerlichen hysterischen Blödsinn’s war doch in seiner Wirkung auf Geoffrey von großer Bedeutung. Durch denselben gewann die Befriedigung seiner Rache gegen Anne zugleich ein sehr materielles Interesse für ihn. Da bot sich ihm in freier Hingebung ein jährliches Einkommen von zehntausend Pfund Sterling, und nichts hinderte ihn, die Hand nach dieser Einnahme auszustrecken, als das Weib, das ihn in seine Falle gelockt, das sich für Lebenszeit an seine Fersen gehängt hatte!

Er steckte den Brief in die Tasche. »Warte, bis Du von dem Advocaten gehört hast«, sagte er zu sich selbst. »Das wäre doch der einfachste Weg, aus der Sache herauszukommen, und ein völlig gesetzlicher Weg.« Er sah ungeduldig nach seiner Uhr. Als er sie eben wieder in die Tasche gesteckt hatte, erklang die Glocke an der Pforte. War es der Bursche, der das Gepäck brachte? Ja. Und er brachte auch den Bericht des Advocaten? Nein, sondern was noch besser war, den Advocaten selbst.

»Treten Sie näher!« rief Geoffrey dem Herrn, den er an der Thür traf, entgegen; der Advocat trat in’s Speisezimmer. Das Kerzenlicht beleuchtete einen corpulenten Mann mit aufgeworfenen Lippen und glänzenden Augen, mit einer gelben Hautfarbe, die einen Beisatz von Negerblut verrieth, dessen Ausdruck und ganze Haltung keinen Zweifel darüber ließen, das er sich mit den schmutzigsten Rechtsgeschäften zu befassen gewohnt war.

»Ich habe einen kleinen Besitz hier in der Nähe, und da dachte ich, ich wollte auf meinem Heimwege selbst bei Ihnen vorsprechen Mr. Delamayn.«

»Haben Sie die Zeugen gesprochen?«

»Ich habe sie Beide vernommen, Mr. Delamayn. Zuerst Mrs. Inchbare und Mr. Bishopriggs zusammen und dann Jeden von ihnen einzeln.«

»Nun?«

»Nun, Mr. Delanmyn, ich bedauere, Ihnen sagen zu müssen, daß das Ergebniß kein günstiges war.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Von keinem der beiden Zeugen ist eine Aussage, wie Sie sie brauchen, zu erlangen. Davon habe ich mich überzeugt.«

»Davon.haben Sie sich überzeugt? Sie haben verfluchten Unsinn gemacht! Sie verstehen den Fall nicht!«

Der Mulatten-Advocat lächelte. Die Grobheit seines Clienten schien ihn nur zu ergötzen. »So?« erwiderte er. »Ich verstehe den Fall nicht? Wie wäre es, wenn Sie mir sagtest, worin ich ihn mißverstanden habe? In Kürze liegt der Fall so: Am vierzehnten August dieses Jahres befand sich Ihre Frau, in einem Gasthof in Schottland. Ein Herr, Namens Arnold Brinkworth kam dort zu ihr. Er gab sich für ihren Mann aus und blieb bis zum nächsten Morgen bei ihr. Auf Grund dieser Thatsachen beabsichtigen Sie gegen Ihre Frau auf Scheidung zu klagen. Sie beschuldigen Mr. Arnold Brinkworth der Liebhaber Ihrer Frau gewesen zu sein und berufen sich dafür auf die Aussagen des Kellners und der Wirthin des Gasthofs. Sind meine Angaben soweit richtig, Mr. Delamayn?«

»Vollkommen richtig.« Der Plan, den Geoffrey als er auf dem Wege nach Fulham umgekehrt war, um Mr. Moy zu confultiren, ersonnen hatte, war nämlich kurz der, Anne mit einem einzigen feigen Streiche wieder von sich zu stoßen, und sich so wieder frei zu machen.

»Soviel über den Fall«, nahm der Advorat wieder auf. »Nun hören Sie, was ich nach Empfang Ihrer Instruktion gethan habe. Ich habe die Zeugen vernommen und habe eine nicht sehr angenehme Conferenz mit Mr. Moy gehabt. Das Ergebniß dieser beiden Schritte ist kurz Folgendes. Erste Entdeckung: Als Mr. Brinkworth sich für den Mann der Dame ausgab, handelte er nach Ihren Instructionen, —— ein Umstand, der auf das Entschiedenste gegen Sie spricht. Zweite Entdeckung: Keiner von beiden Zeugen hat in dem Verkehr der Dame und des Herrn während ihres gemeinsamen Aufenthaltes im Gasthofe die geringste Unschicklichkeit oder auch nur etwas einer harmlosen Vertraulichkeit Nahekommendes bemerkt. Es läßt sich im strengsten Sinne des Wortes nichts Anderes gegen sie aussagen, als daß sie in zwei aneinanderstoßenden Zimmern im Gasthofe zusammen waren. Wie wollen Sie auf eine schuldvolle Absicht klagen, wenn Sie keine Spur einer schuldvollen Handlung beweisen können? Sie können einen solchen Fall so wenig zum Gegenstand einer gerichtlichen Verhandlung machten, wie Sie über das Dach dieses Hauses wegspringen können.«

Er sah seinem Clienten scharf in’s Gesicht und machte sich auf einen groben Ausfall gefaßt, fand sich aber in dieser Erwartung angenehm getäuscht.

Seine Worte schienen auf diesen sonst so gedankenlosen und halsstarrigen Menschen einen sehr eigenthümlichen Eindruck hervorgebracht zu haben. Geoffrey stand ruhig auf und sagte, äußerlich vollkommen gefaßt: »Halten Sie also den Fall für hoffnunglos?«

»Wie die Dinge jetzt stehen, kann von einem Fall gar nicht die Rede sein, Mr. Delamayn.«

»Ich muß also die Hoffnung aufgeben, mich von ihr scheiden zu lassen?«

»Warten Sie einen Augenblick. Sind Ihre Frau und Mr. Brinkworth, seit sie in dem Gasthof zusammen waren, nicht wieder zusammengetroffen?«

»Nein.«

»Wie sich die Dinge in Zukunft gestalten mögen, kann ich natürlich nicht sagen. Auf Grund der Vergangenheit dürfen Sie nicht hoffen, von ihr geschieden zu werden.«

»Danke Ihnen. Guten Abend.«

»Guten Abend, Mr. Delamayn.«

Also für das Leben an sie gefesselt, durch ein Band gefesselt, welches das Gesetz zu lösen außer Stande war.«

Geoffrey brütete über diesen Gedanken, bis er sich ihn in seiner ganzen Bedeutung klar gemacht und völlig davon durchdrungen war. Dann zog er Mrs. Glenarm’s Brief wieder aus der Tasche und las denselben noch einmal aufmerksam von Anfang bis zu Ende durch. Nichts hatte ihre treue Anhänglichkeit an ihn erschüttern können. Nichts konnte sie auch jetzt noch bewegen, einen andern Mann zu heirathen. Da stand es von ihrer eigenen Hand geschrieben, wie sie auch ferner ganz nur für ihn leben und mit ihrem Vermögen darauf warten wolle, bis sie sein Weib werden könne. Und da war andererseits sein Vater, der, soviel er wußte, nur darauf wartete, Mrs. Glenarm als Schwiegertochter zu bewillkommnen, und dem Sohn, der ihm diese Schwiegertochter zuführen würde, ein eigenes Einkommen auszusetzen. Also die schönsten Aussichten, die ein Mann nur wünschen konnte, und nichts, was ihn an der Verwirklichung derselben hinderte, als das verwünschte Weib da oben. Er ging in den Garten in die dunkle Nacht hinaus. Der Hintergarten stand mit dem Vordergarten auf allen Seiten in ungehinderter Verbindung. Sein Weg führte ihn wieder und wieder bald am Hause vorüber, wo ein, von einem Fenster ausgehender Lichtschein seine Gestalt beleuchtete, bald in die dunkeln Parthien des Garten’s. Der Wind strich ihm erfrischend über das entblößte Haupt. Einige Minuten lang ging er so ohne einen Augenblick still zu stehen, wie im Kreise herum, endlich blieb er vor dem Hause stehen. Er sah hinauf nach dem trüben Licht, das von Anne’s Zimmer her schien.

»Wie?« Das ist die Frage.

»Wie?«

Er trat wieder in’s Haus und klingelte Die Magd, die darauf erschien, fuhr bei seinem Anblick zusammen. Seine frische Gesichtsfarbe war verschwunden, seine Augen starrten sie an, ohne daß er sie zu sehen schien. Der Schweiß stand ihm in dicken Tropfen auf der Stirn.

»Sind Sie nicht wohl, Herr?« fragte die Magd.

Er hieß sie mit einem Fluch den Mund halten, und ihm Branntwein bringen. Als sie wieder eintrat, stand er, ihr den Rücken zukehrend, am Fenster und blickte in die Nacht hinaus, ohne Notiz davon zu nehmen, daß sie die Flasche auf den Tisch setzte. Sie hörte ihn etwas vor sich hinmurmeln, als wenn er mit sich selber spräche. Dieselbe Schwierigkeit, die ihm draußen unter Anne’s Fenster innerlich beschäftigt hatte, beschäftigte ihn noch immer.

Wie? Das war das zu lösende Problem.

Er nahm seine Zuflucht zum Branntwein.


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