Zwei Schicksalswege

Unter dem FensterUNDER THE WINDOW
Nachdem ich die Lage des Hafens durch meinen Taschencompass festgestellt hatte, ging ich die nächste Straße, die vor mir lag, entlang. Wie ich vorwärts schritt, sahen mich die alten, verfallenen Häuser zu beiden Seiten finster an. Hinter dem Fenster waren keine Lichte, auf den Straßen keine Laternen. Ich ging eine Viertelstunde lang, tiefer und tiefer in das Innere der Stadt hinein, ohne einem lebenden Wesen zu begegnen, das Licht der Sterne war mein einziger Begleiter. Als ich endlich in eine Straße einbog, die breiter als die übrigen war, sah ich vor mir eine Gestalt, die sich bewegte, aber in dem Schatten der Häuser kaum zu unterscheiden war. Ich beschleunigte meine Schritte und wurde bald gewahr, dass ich einen Mann in Bauerntracht verfolgte. Als er meine Schritte hinter sich hörte, drehte er sich um und sah mich an und so wie er entdeckte, dass ich ein Fremder war, erhob er einen dicken Prügel, den er bei sich trug, schwang ihn drohend und rief mir, wie mir aus seinen Bewegungen hervorging, in seiner Sprache zu, dass ich stehen bleiben möge. Ein Fremder, der sich zu dieser Nachtzeit in Enkhuizen blicken ließ, wurde von diesem Bürger entschieden als ein Räuber betrachtet! Ich hatte unterwegs von dem Kapitän des Bootes gelernt, wie ich für den Fall dass ich mich allein in einer fremden Stadt befände, auf holländisch nach dem Wege fragen möchte und nun wiederholte ich meine Lektion, indem ich nach dem Wege zu dem Fischereigeschäft der Herren van Brandt fragte. Entweder verstand mich der Mann wegen meiner fremden Aussprache wirklich nicht, oder sein Argwohn hinderte ihn mir zu trauen.I SET the position of the harbor by my pocket-compass, and then followed the course of the first street that lay before me. On either side, as I advanced, the desolate old houses frowned on me. There were no lights in the windows, no lamps in the streets. For a quarter of an hour at least I penetrated deeper and deeper into the city, without encountering a living creature on my way--with only the starlight to guide me. Turning by chance into a street broader than the rest, I at last saw a moving figure, just visible ahead, under the shadows of the houses. I quickened my pace, and found myself following a man in the dress of a peasant. Hearing my footsteps behind him, he turned and looked at me. Discovering that I was a stranger, he lifted a thick cudgel that he carried with him, shook it threateningly, and called to me in his own language (as I gathered by his actions) to stand back. A stranger in Eukhuizen at that time of night was evidently reckoned as a robber in the estimation of this citizen! I had learned on the voyage, from the captain of the boat, how to ask my way in Dutch, if I happened to be by myself in a strange town; and I now repeated my lesson, asking my way to the fishing office of Messrs. Van Brandt. Either my foreign accent made me unintelligible, or the man's suspicions disinclined him to trust me.
Wiederum schwang er seinen Prügel und gab mir ein Zeichen zurückzubleiben. Weiter in ihn zu dringen, wäre nutzlos gewesen. Ich ging auf die andere Seite der Straße hinüber und er verschwand bald vor meinen Blicken in dem Portal eines Hauses.Again he shook his cudgel, and again he signed to me to stand back. It was useless to persist. I crossed to the opposite side of the way, and soon afterward lost sight of him under the portico of a house.
Endlich erreichte ich, den Krümmungen der Straßen immer weiter folgend, die Stelle, die ich für das Ende der Stadt hielt.Still following the windings of the deserted streets, I reached what I at first supposed to be the end of the town.
Nach meiner Schätzung lag ungefähr eine halbe Meile oder mehr vor mir ein Strich Wiesenlandes, auf dem Schafe, die dort ihre Nachtruhe hielten, verstreut lagerten. Ich schritt über das Gras weiter und bemerkte hier und da, wo sich der Boden etwas erhob, vermoderte Überreste von Mauerwerk. Als ich mich mitten auf der Wiese befand, sah ich vor mir an der entgegengesetzten Seite einen luftigen Bogen oder Torweg schmal und dunkel in die Nacht hineinragen, ohne Mauern an den Seiten, ohne weit und breit irgend ein benachbartes Gebäude entdecken zu können. Das war, wie ich später erfuhr, eines der alten Stadttore. Die in Ruinen zerfallende Mauer war zerstört worden, weil man sie als ein unnützes Hindernis, das den Boden bedeckte, ansah. Auf der öden Wiese um mich her, hatten einst die Läden der reichsten Kaufleute, die Paläste der stolzesten Edelleute Nordhollands gestanden. Ich befand mich tatsächlich auf der Stelle, die einst das reichste Viertel von Enkhuizen gewesen war. Und was war nun davon übrig geblieben? Einige Hügel von zerbrochenen Mauersteinen, ein Weideland voll süßduftendem Grase und eine kleine, schlafende Schafherde. Before me, for half a mile or more (as well as I could guess), rose a tract of meadow-land, with sheep dotted over it at intervals reposing for the night. I advanced over the grass, and observed here and there, where the ground rose a little, some moldering fragments of brickwork. Looking onward as I reached the middle of the meadow, I perceived on its further side, towering gaunt and black in the night, a lofty arch or gateway, without walls at its sides, without a neighboring building of any sort, far or near. This (as I afterward learned) was one of the ancient gates of the city. The walls, crumbling to ruin, had been destroyed as useless obstacles that cumbered the ground. On the waste meadow-land round me had once stood the shops of the richest merchants, the palaces of the proudest nobles of North Holland. I was actually standing on what had been formerly the wealthy quarter of Enkhuizen! And what was left of it now? A few mounds of broken bricks, a pasture-land of sweet-smelling grass, and a little flock of sheep sleeping.
Mich erfüllte schon der bloße Anblick der Verwüstung, ganz abgesehen von den geschichtlichen Erinnerungen mit einem Gefühl des Entsetzens Mir war, als wenn mein Gemüt in der schaurigen Stille um mich her, sein Gleichgewicht verlor. Ich fühlte unsagbare Vorahnungen von Leiden, die meiner warteten. Zum ersten Male bereute ich England verlassen zu haben, und meine Gedanken kehrten reuevoll zu den waldigen Ufern der Grünwasserfläche zurück. Wäre ich nur bei meinem Entschlusse geblieben, so ruhte ich jetzt friedlich in dem tiefen Wasser des Sees. Wofür hatte ich gelebt, Pläne entworfen, wozu war ich gereist, seit ich Dermodys Häuschen verließ? Vielleicht nur, um mich zu überzeugen, dass ich die Frau, die ich liebte, verloren hatte - in dem Augenblick, wo ich mich an demselben Orte mit ihr befand!The mere desolation of the view (apart altogether from its history) struck me with a feeling of horror. My mind seemed to lose its balance in the dreadful stillness that was round me. I felt unutterable forebodings of calamities to come. For the first time, I repented having left England. My thoughts turned regretfully to the woody shores of Greenwater Broad. If I had only held to my resolution, I might have been at rest now in the deep waters of the lake. For what had I lived and planned and traveled since I left Dermody's cottage? Perhaps only to find that I had lost the woman whom I loved--now that I was in the same town with her!
Als ich die äußerste Häuserreihe, die noch stehen geblieben war, wieder erreicht hatte, schaute ich mich in der Absicht um, die Straße zum Rückweg aufzusuchen, durch die ich hergekommen war. In dem Augenblick, als ich sie wiedergefunden zu haben glaubte, bemerkte ich ein zweites lebendes Wesen in dieser öden Stadt. Ein Mann stand an einem der letzten Häuser zu meiner Rechten vor der Tür und sah nach mir hin.Regaining the outer rows of houses still left standing, I looked about me, intending to return by the street which was known to me already. Just as I thought I had discovered it, I noticed another living creature in the solitary city. A man was standing at the door of one of the outermost houses on my right hand, looking at me.
Ich beschloss, selbst auf die Gefahr hin, mich wieder einem rauhen Empfange auszusetzen, einen letzten Versuch zu wagen, um Frau van Brandt zu entdecken, bevor ich zu meinem Boote zurückkehrte.At the risk of meeting with another rough reception, I determined to make a last effort to discover Mrs. Van Brandt before I returned to the boat.
Als der Fremde sah, dass ich mich ihm näherte, kam er mir auf halbem Wege entgegen. Seine Kleidung und Bewegungen zeigten deutlich, dass ich dieses Mal nicht jemand aus den niederen Gesellschaftsschichten vor mir hatte. Er beantwortete meine Fragen höflich in seiner Sprache. Als er sah, dass ich mich vergeblich bemühte seine Antworten zu verstehen, forderte er mich durch Zeichen auf ihm zu folgen.Seeing that I was approaching him, the stranger met me midway. His dress and manner showed plainly that I had not encountered this time a person in the lower ranks of life. He answered my question civilly in his own language. Seeing that I was at a loss to understand what he said, he invited me by signs to follow him.
Nachdem wir einige Augenblicke in einer mir ganz neuen Richtung weiter gegangen waren, blieben wir in einem kleinen Viereck, in dessen Mitte sich ein Stück gänzlich vernachlässigter Gartenanlagen befand, stehen. Mein Führer sagte auf holländisch, indem er auf ein niedriges Fenster in einem der Häuser wies, durch das ein düsteres Licht schimmerte:After walking for a few minutes in a direction which was quite new to me, we stopped in a gloomy little square, with a plot of neglected garden-ground in the middle of it. Pointing to a lower window in one of the houses, in which a light dimly appeared, my guide said in Dutch:
»Hier ist das Geschäft von van Brandt, mein Herr« - verbeugte sich und - verließ mich."Office of Van Brandt, sir," bowed, and left me.
Ich trat an das Fenster. Es stand offen, und ich reichte grade mit dem Kopfe heran. Das Licht aus dem Zimmer drang durch die Zwischenräume der hölzernen Fensterladen hinaus Ich zögerte meine Ankunft ganz plötzlich durch ein Ziehen an der Hausklingel anzukündigen, da mich immer noch eine Ahnung von bevorstehenden Sorgen bedrückte. Welch neues Ungemach konnte meiner warten, so wie die Tür geöffnet wurde? Ich blieb also unter dem Fenster und - lauschte.I advanced to the window. It was open, and it was just high enough to be above my head. The light in the room found its way outward through the interstices of closed wooden shutters. Still haunted by misgivings of trouble to come, I hesitated to announce my arrival precipitately by ringing the house-bell. How did I know what new calamity might not confront me when the door was opened? I waited under the window and listened.
Es verging kaum eine Minute bis ich die Stimme einer Frau im Zimmer vernahm. Der Zauber ihres Klanges war unverkennbar. Es war Frau van Brandts Stimme.Hardly a minute passed before I heard a woman's voice in the room. There was no mistaking the charm of those tones. It was the voice of Mrs. Van Brandt.
»Komm, mein Liebling!« sagte sie. »Es ist sehr spät, du hättest schon vor zwei Stunden zu Bett gehen müssen.«"Come, darling," she said. "It is very late--you ought to have been in bed two hours ago."
Des Kindes Stimme antwortete: »Aber ich bin nicht müde, Mama.«The child's voice answered, "I am not sleepy, mamma."
»Bedenke, dass Du krank gewesen bist, mein Kind. Du kannst wiederum erkranken, wenn Du abends so spät zu Bett gehst. Lege Dich nur erst hin, dann wirst Du schon einschlafen, wenn ich das Licht auslösche.«"But, my dear, remember you have been ill. You may be ill again if you keep out of bed so late as this. Only lie down, and you will soon fall asleep when I put the candle out."
»O bitte, lösche das Licht nicht aus," erwiderte das Kind mit großem Nachdruck. »Mein neuer Papa kommt an. Wie soll er den Weg zu uns finden, wenn Du das Licht auslöschst?«"You must not put the candle out!" the child returned, with strong emphasis. "My new papa is coming. How is he to find his way to us, if you put out the light?"
Die Mutter antwortete scharf, als ob die Worte des Kindes sie gereizt hätten.The mother answered sharply, as if the child's strange words had irritated her.
»Du sprichst Unsinn,« sagte sie, »und musst nun schlafen gehen. Mr. Germaine weiß nichts von uns, Mr. Germaine ist in England.«"You are talking nonsense," she said; "and you must go to bed. Mr. Germaine knows nothing about us. Mr. Germaine is in England."
Länger konnte ich mich nicht beherrschen. Ich rief unter dem Fenster: »Mr. Germaine ist hier!«I could restrain myself no longer. I called out under the window: "Mr. Germaine is here!"


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