Armadale



Fünfter Band

Erstes Kapitel.

Montag früh den achtundzwanzigsten Juli langte Miß Gwilt auf dem gewohnten Umwege auf ihrem Beobachtungsposten im Park an, um Allan und Neelie zu belauschen.

Sie war etwas erstaunt, Neelie am Platze des Rendezvous allein zu finden. Noch weit mehr erstaunte sie aber, als sie den säumigen Allan zehn Minuten später mit einem großen Buche unter dem Arme die kleine Anhöhe herauskommen sah und hörte, wie er sich wegen seines Zuspätkommens damit entschuldigte, daß er mit der Jagd nach den Büchern die Zeit vergeudet und schließlich nur ein einziges gefunden habe, das einigermaßen so aussehe, als ob es Neelie sowohl als ihn für die Mühe, es anzusehen, entschädigen könne.

Hätte Miß Gwilt am letzten Sonnabend lange genug im Park gewartet, um die Scheideworte der Liebenden zu hören, so würde sie sich das Geheimniß des Buches unter Allan’s Arme leicht haben erklären können und seine Entschuldigungen wegen des Spätkommens ebenso wohl verstanden haben wie Neelie selbst.

Es gibt einen einzigen Fall im menschlichen Leben —— es ist der des Heirathens —— in dem selbst Mädchen in ihren Backfischjahren mehr oder minder hysterisch die Folgen zu bedenken vermögen. Im Augenblicke des Scheidens am letzten Sonnabend hatte Neelie sich plötzlich in die Zukunft versetzt und Allan durch die Frage ganz verdutzt gemacht, ob die beabsichtigte Entführung ein Vergehen sei, das gesetzliche Strafe nach sich ziehen könne. Sie erinnerte sich bestimmt, einst irgendwo, möglicherweise in einem Romane, von einer Entführung mit einem fürchterlichen Ende gelesen zu haben, wo die Braut unter Krampfanfällen heim geschleppt und der Bräutigam zum Kerker verurtheilt worden war, nachdem man ihm, einer Parlamentsacte zufolge, den Kopf geschoren hatte. Gesetzt, sie könne sich je zu einer solchen Entführung entschließen, was sie keineswegs versprechen wolle, so müsse sie darauf bestehen, sich vorher davon zu überzeugen, ob irgendwie Gefahr vorhanden sei, daß außer dem Geistlichen und seinem Küster auch die Polizei bei ihrer Vermählung eine Rolle spielen dürfte. Allan müsse dies wissen, da er ein Mann sei, und an ihn wende sie sich deshalb um Auskunft mit der vorläufigen Versicherung, daß sie lieber tausendmal an gebrochenem Herzen sterben, als die unschuldige Ursache sein wolle, daß ihm nach Parlamentsacte der Kopf geschoren würde und er im Gefängnisse schmachten müsse. »Es ist ganz und gar nicht zum« Lachen«, sagte Neelie zum Schlusse; »ich will an unsere Heirat selbst nicht einmal denken, bis ich nicht in Bezug auf das Gesetz beruhigt bin.«

»Aber ich weiß von dem Gesetz nichts, nicht einmal so viel wie Du«, entgegnete Allan. »Zum Kukuk! Ich mache mir nichts daraus, ob mir der Kopf geschoren wird. Laß es uns riskieren.«

»Riskieren?« wiederholte Neelie entrüstet. »Nimmst Du keine Rücksicht auf mich? Ich wills nicht riskieren! Wer den Willen hat, findet schon den Weg. Wir müssen uns selbst über das Gesetz unterrichten.«

»Mit dem größten Vergnügen, aber wie?«

»Aus Büchern natürlich! In Deiner ungeheuren Bibliothek im Herrnhause muß sich eine Masse von Auskunft darüber finden. Wenn Du mich wirklich liebst, wird es Dir nicht darauf ankommen, die Rücken von einigen tausend Büchern anzusehen.«

»Zehntausend Bücherrücken will ich ansehen!« rief Allan mit Wärme. »Willst Du mir wohl sagen, wonach ich suchen soll?«

»Nach Rechtswissenschaft versteht sich! Wenn auf dem Rücken Rechtswissenschaft steht, so mache das Buch auf und suche darin nach den Ehegesetzen, lies jedes Wort darüber und dann komme her und setze mir’s auseinander. Wie? Du meinst, in einer so einfachen Sache könne man sich nicht auf Deinen Kopf verlassen?«

»Ich bin davon überzeugt«, sagte Allan. »Kannst Du mir nicht helfen?«

»Natürlich kann ich das, wenn Du nicht ohne mich fertig werden kannst! Die Rechtswissenschaft mag schwer zu begreifen sein, aber schwerer als die Musik kann sie nicht sein, und ich muß und will mich darüber beruhigen. Bringe mir Montag früh alle die Bücher, die Du findest, in einem Schubkarrem wenn die Menge zu groß ist und Du sie nicht anders herschaffen kannst.«

Das Ergebniß dieser Unterhaltung war, daß Allan an dem unheilvollen Montagmorgen, an dem Miß Gwilt’s schriftliche Einwilligung zu ihrer Verlobung mit Midwinter in dessen Hände gegeben ward, mit einem großen Bande von Blackstone’s Commentarien unter dem Arme im Park erschien. Hier, wie immer im Leben, wurden die grell einander entgegengesetzten Elemente des Lächerlichen und des Fürchterlichen durch das feine Gesetz des Contrastes an einander gedrängt, das eins der Gesetze des irdischen Lebens bildet. Von Verwickelungen immer dichter umringt, während der Schatten des Mordes von dem Winkel aus, wo Miß Gwilt lauerte, schon an einen der Beiden heran glitt, setzte sich das Paar ahnungslos mit dem Buche nieder und beschäftigte sich; eifrig mit dem Studium der Ehegesetze und zwar mit einer ernsten Entschlossenheit, sie zu begreifen, wie sie bei zwei solchen Studirenden an sich schon eine Posse war.

»Suche die Stelle«, sagte Neelie, sobald sie sich bequem niedergelassen hatten. »Wir müssen uns in die Aufgabe theilen. Du sollst lesen, und ich will Notizen machen.«

Damit zog sie ein zierliches kleines Taschenbuch nebst Bleistift hervor und öffnete dasselbe in der Mitte, wo sieh rechts und links ein unbeschriebenes Blatt befand. Rechts oben schrieb sie das Wort »Gut« nieder und links das Wort »Schlecht«. »Gut bedeutet soviel, als daß wir das Gesetz für uns haben«, erklärte sie, »und Schlecht, wo dasselbe gegen uns ist. Wir wollen die beiden ganzen Seiten hinunter Gut und Schlecht einander gegenüberstellen und dann beide zusammenaddieren und nach dem Facit handeln. Es heißt immer, wir Mädchen hätten keinen Kopf für Geschäfte. Nicht so? Sieh mich nicht an, sieh Blackstone an und geh ans Werk.«

»Würde es Dir vie? Ausmachen, mir zuerst einen Kuß zu geben?« fragte Allan.

»Ganz außerordentlich viel würde mir’s ausmachen. Es überrascht mich, wie Du in unserer bedenklichen Lage, wo wir beide unsern Verstand aufs äußerste werden anstrengen müssen, nur so etwas verlangen kannst!«

»Deshalb eben bitte ich darum«, sagte der schamlose Allan. »Mir scheint, daß dies mich erleuchten würde.«

»O wenn es Dich erleuchtet, so ist is ein Anderes! Natürlich muß ich Dich erleuchten, wie groß auch das Opfer ist. Aber nur einen«, flüsterte sie kokett, »und bitte, gib auf Blackstone Acht, oder Du wirst die Stelle verblättern.«

Eine Pause in der Unterhaltung trat ein. Blackstone sowohl als das Taschenbuch fielen auf die Erde.«

»Wenn das noch einmal passiert«, sagte Neelie, indem sie mit erhöhter Farbe und glänzenden Augen das Taschenbuch aufhob, »so werde ich Dir für den Rest des Morgens den Rücken zukehren. Wirst Du jetzt anfangen?«

Zum zweiten Male suchte Allan die Stelle und stürzte sich kopfüber in den bodenlosen Abgrund der englischen Rechtsgelehrsamkeit.

»Seite zweihundertundachtzig«, begann er. »Gesetze bezüglich der Eheleute.« Hier ist gleich etwas, das ich nicht verstehe: »Im Allgemeinen muß bemerkt werden, daß das Gesetz die Ehen als einen Contract betrachtet.« Was soll das heißen? Ich glaubte, ein Contract sei eine Art von Schrift, die ein Baumeister unterzeichnet, wenn er die Arbeitsleute zu einer bestimmten Zeit aus dem Hause zu schaffen verspricht, die aber, wenn die Zeit kommt, wie meine liebe Mutter zu sagen pflegte, niemals gehen.«

»Ist nichts von Liebe darin?« fragte Neelie. »Sieh etwas weiter unten nach.«

»Kein Wort. Er bleibt fortwährend bei seinem verdammten Contract.«

»Dann ist er ein Ungeheuer! Geh zu etwas Anderem über, das mehr auf uns anwendbar ist.«

»Da ist etwas, das mehr für uns paßt: »Wenn Leute unter gesetzlichen Hindernissen zusammenkommen, so ist dies eine unrechtmäßige nicht eine eheliche Verbindung. Das erste dieser gesetzlichen Hindernisse ist eine frühere Heirath, aus der entweder ein Gatte oder eine Gattin am Leben ist.«

»Halt« sagte Neelie. »Das muß ich mir notieren.« Dann trug sie mit großem Ernst folgende Bemerkung unter der Rubrik Gut ein: »Ich habe keinen Gatten und Allan hat keine Gattin. Wir sind beide gegenwärtig völlig unverheirathet.«

»Soweit ganz richtig«, bemerkte Allan, über ihre Schulter blickend.

»Fahre fort«, sagte Neelie. »Was kommt weiter?«

»Das nächste Hindernis, fuhr Allan fort, »ist fehlendes Alter. Das zur Ehe erforderliche Alter ist für männliche Personen vierzehn und für weibliche Personen zwölf Jahre? Komm!« rief er vergnügt, »Blackstone fängt jedenfalls früh genug an!«

Neelie war zu geschäftsmäßig um ihrerseits andere Bemerkungen zu machen, als die, welche sie in ihr Taschenbuch eintrug. Sie schrieb unter die Rubrik Gut: »Ich bin alt genug, um meine Einwilligung zu geben, und Allan ebenfalls.« »Fahre fort«, sagte sie dann, dem Vorleser über die Schulter blickend. »All dies Gefasele über Jahre der Vernunft beim Gatten und das Alter der Gattin unter zwölf kannst Du überschlagen. Abscheuliches Geschöpf! Eine Frau unter zwölf! Geh zum nächsten Hinderniß über, wenn er von einem solchen spricht.«

»Das dritte Hinderniß«, fuhr Allan fort, ist Mangel an Verstand.«

Neelie trug augenblicklich unter Gut die Bemerkung ein: »Allan und ich sind beide vollkommen vernünftig.«

»Wende um.«

Allan wendete um. »Ein viertes Hinderniß besteht in zu naher Verwandtschaft.«

Unverzüglich folgte eine vierte Bemerkung auf der rechten Seite des Taschenbuchs: »Er liebt mich und ich liebe ihn, ohne daß wir im allergeringsten mit einander verwandt sind.« »Sonst noch etwas?« fragte Neelie, sich ungeduldig mit dem Bleistift ans Kinn klopfend.

»Noch eine Menge«, erwiderte Allan; »Alles in Hieroglyphen. Sieh her! »Ehegesetze 4 Geo. 1V. C. 76 und 6 und 7 Will. IV. C. 85 (q).« Blackstone scheint hier den Verstand zu verlieren. Wenden wir nochmals um und sehen nach, ob er ihn auf der nächsten Seite wiederfindet?«

»Warte einen Augenblick«, sagte Neelie »Was ist das, was ich da in der Mitte sehe?« Sie las einen Augenblick schweigend, indem sie über Allan’s Schulter ins Buch sah, und faltete plötzlich verzweifelnd die Hände. »Ich wußte, daß ich Recht hattet« rief sie aus. »O Himmel, hier ist es!«

»Wo?« fragte Allan »Ich sehe nichts vom Verschmachten im Kerker oder kahl geschorenem Kopfe, falls es nicht in den Hieroglyphen ausgedrückt ist. Ist »4 Gseo. IV.« etwa eine Abkürzung für: »Man sperre ihn ein?« oder sollte »C. 85 (q)« vielleicht bedeuten: »Man lasse den Haarschneider kommen?«

»Ich bitte Dich, sei ernst«, sagte Neelie dringend. »Wir sitzen beide über einem Krater. Hier!« sagte sie, auf die Stelle deutend. »Lies dies! Kann Dir irgend etwas eine klare Vorstellung von unserer Lage geben, so wird es das hier thun.«

Allan räusperte sich und Neelie setzte die Spitze ihres Bleistifts auf der fatalen, mit Schlecht überschriebenen Seite ihres Taschenbuchs zum Schreiben an.

»Und da die Weisheit unserer Gesetzgebung begann Allan, »die Heirath zwischen Personen unter einundzwanzig Jahren und ohne Einwilligung ihrer Aeltern oder Vormünder zu verhindern sucht« (Hier trug Neelie ihre erste Notiz unter Schlecht ein: »Ich werde an meinem nächsten Geburtstage erst siebzehn und bin durch die Umstände daran verhindert, dem Papa meine Zuneigung anzuvertrauen«) —— »so ist bestimmt worden, daß im Falle öffentlichen Aufgebots von Personen unter einundzwanzig, die nicht Wittwe oder Wittwer sind, welch letztere als emancipirt anzusehen« —— (Neelie trug eine zweite Notiz auf der ungünstigen Seite ein: »Allan ist kein Wittwer und ich bin keine Wittwe, folglich sind wir nicht emancipirt«) —— »wenn die Aeltern oder Vormünder zur Zeit des Aufgebots öffentlich ihr Verbot zu erkennen geben« —— (»was der Papa ganz sicherlich thun würde«) —— »ein solches Aufgebot ungültig sein soll.« Ich will hier einmal Athem schöpfen, wenn Du mir’s gütigst erlauben willst«, sagte Allan »Blackstone könnte sich wenigstens in kürzeren Sätzen expliciren, dünkt mich, selbst wenn er sich nicht zu weniger Worten entschließen kann. Muth gefaßt, Neelie! Es muß noch andere Mittel und Wege zum Heirathen geben als diese außerordentlich weitläufigen, die in Aufgebot und Ungültigkeit enden. Verwünschtes Kauderwelsch!l Ich könnte besser schreiben als das da.«

»Wir sind noch nicht am Ende«, sagte Neelie. »Die Ungültigkeit ist gar nichts im Vergleich zu dem, was noch kommt.«

»Was es auch sei«, entgegnete Allan, »wir wollen es wie Medicin behandeln, auf der Stelle hinunterschlucken, damit es überstanden ist.« Dann fuhr er zu lesen fort: »Und es soll zum Heirathen ohne Aufgebot kein Erlaubnißschein bewilligt werden, ohne daß eins der Betheiligten vorher eidlich versichert, daß kein Hindernis; in Gestalt von Blutsverwandtschaft oder früheren Bündnisses im Wege ist.« Nun, das kann ich mit gutem Gewissen beschwören! Was sonst noch? »Und eins der besagten Betheiligten muß unmittelbar vor der Bewilligung eines solchen Erlaubnißscheins für den Zeitraum von vierzehn Tagen in dem Kirchspiele oder Kapellbezirke, in dem die Ehe geschlossen werden soll, seinen Wohnsitz gehabt haben!« Kapellbezirk! Mit dem größten Vergnügen will ich vierzehn Tage in einem Hundestalle wohnen. Höre mal, Neelie, dies scheint mir Alles ganz einfach. Worüber schüttelst Du den Kopf? Ich soll weiter lesen und werde dann sehen? O, mir ist’s recht; ich will weiter lesen. Also: »Und wenn eins der besagten Betheiligten, das weder Wittwer noch Wittwe, unter einundzwanzig Jahren ist, so muß zuvor ein Eid abgelegt werden, daß die Einwilligung derjenigen Personen, von denen dieselbe erforderlich, erlangt oder daß keine Person vorhanden ist, welche eine solche Autorität besitzt. Die durch diese Acte bedingte Einwilligung ist die eines Vaters —— « Bei diesen fürchterlichen Worten stockte Allan plötzlich »Die eines Vaters«, wiederholte er mit dem nothwendigen Ernste in Miene und Wesen. »Das könnte ich kaum beschwören, wie?«

Neelie antwortete durch ein bedeutungsvolles Schweigen. Sie reichte ihm das Taschenbuch, in dem sich zum Schlusse auf der Seite Schlecht die Notiz: »Unsere Heirath ist unmöglich, ohne daß Allan einen Meineid schwört«, eingetragen fand.

Die Liebenden sahen sich über das unübersteigliche Hinderniß in der Gestalt von Blackstone in sprachloser Bestürzung an.

»Mache das Buch zu«, sagte Neelie mit Ergebung. »Ich bezweifle nicht, daß wir im Umschlagen die Polizei und das Gefängniß und das Kopfscheeren Alles richtig angegeben finden würden. Aber wir brauchen uns nicht weiter zu bemühen, wir wissen bereits mehr als genug. Es ist um uns geschehen. Ich muß am Sonnabend nach der Pension abreisen und Du mußt, so gut Du kannst, mich zu vergessen suchen. Im späteren Leben mögen wir uns vielleicht einmal wiedersehen, wenn Du etwa ein Wittwer und ich eine Wittwe und wir damit beide emancipirt sind, und wenn das uns nicht im geringsten mehr nützen kann. Bis dahin werde ich ohne Zweifel alt und häßlich sein und Du wirst natürlich mich nicht mehr lieben, und Alles wird im Grabe enden, und zwar je eher, je lieber. Lebe Wohl«, schloß Neelie, indem sie sich mit thränenvollen Augen erhob. »Wir verlängern unser Elend nur, wenn wir hier verweilen, außer —— außer Du hättest noch etwas in Vorschlag zu bringen?«

»Ich habe in der That etwas in Vorschlag zu bringen«, rief der unbesonnene Allan. »Ein ganz neuer Einfall. Hättest Du etwas dagegen, es mit dem Schmied zu Gretna-Green zu versuchen?«

»Nichts in der Welt könnte mich dazu bewegen, mich von einem Schmied verheirathen zu lassen«, entgegnete Neelie mit Entrüstung.

»Fühle Dich deshalb nicht beleidigt«, flehte Allan; »ich meinte es gut. Eine Menge von Leuten in unserer Lage haben es mit dem» Schmied versucht und ihn ebenso gut wie den Geistlichen und obendrein höchst liebenswürdig gefunden. Doch es hilft nichts, wir müssen noch etwas Anderes versuchen.«

»Es bleibt uns nichts Anderes mehr übrig«, sagte Neelie.

»Verlaß Dich auf mein Wort«, sagte Allan unverdrossen, »daß es noch Mittel und Wege geben muß, Blackstone ohne Meineid zu überlisten, wenn man sie nur wüßte. Es ist dies eine Sache, die in die Jurisprudenz schlägt, und wir müssen Jemand von Fach consultiren. Vielleicht ist es riskant, aber wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Was meinst Du zum jungen Pedgift? Er ist ein grundguter Kerl. Ich bin überzeugt, daß wir dem jungen Pedgift unser Geheimniß anvertrauen dürften.«

»Nicht um die Welt!« rief Neelie aus. »Du bist vielleicht bereit, dem gewöhnlichen kleinen Geschöpf Deine Geheimnisse anzuvertrauen, aber die meinigen soll er nicht erfahren. Ich hasse ihn. Nein!« fuhr sie mit erhöhter Farbe und einem gebieterischen leisen Fußstampfen fort. »Ich Unterlage Dir entschieden, irgend Jemand von Thorpe-Ambrose in Dein Vertrauen zu ziehen. Ihr Verdacht würde augenblicklich auf mich fallen und die Geschichte dann in fünf Minuten im ganzen Orte bekannt sein. Meine Zuneigung mag eine unglückliche sein«, schloß Neelie mit dem Taschentuch vor den Augen, »und der Papa mag sie in der Blüte ersticken, aber ich will sie nicht durch Stadtklatsch entweiht sehen«

»Still! Still!« sagte Allan. »Ich will in Thorpe-Ambrose kein Wort davon verrathen, gewiß nicht!« Er schwieg und überlegte einen Augenblick. »Noch gibt es ein Mittel!« rief er plötzlich aus. »Wir haben die ganze Woche vor uns. Ich will Dir sagen, was ich thun will. Ich will nach London reisen!«

In dem Gebüsch hinter ihnen, in dem Miß Gwilt versteckt war, raschelte es plötzlich, was jedoch beide nicht hörten. Es schien, als ob abermals eine der Schwierigkeiten, die ihr im Wege lagen, die Schwierigkeit, Allan nach London zu bringen, durch Allan’s freiwilligen Entschluß aus dem Wege geräumt werden solle.

»Nach London?« wiederholte Neelie, indem sie erstaunt aufblickte.

»Nach London!« sagte Man. »Das ist doch sicherlich von Thorpe-Ambrose weit genug entfernt? Warte einen Augenblick und bedenke, daß es eine Rechtsfrage ist. Ganz gut! Ich kenne gewisse Advocaten in London, die meine ganzen Geschäfte leiteten, als ich dieses Vermögen erbte; sie sind die rechten Leute. Und wenn sie sich weigern, sich in die Sache einzulassen, so ist noch ihr erster Expedient da, einer der besten Kerle, die ich im ganzen Leben kennen gelernt habe. Ich erinnere mich, daß ich ihn zu einer Fahrt in meiner Yacht einlud, und obgleich er nicht kommen konnte, sagte er doch, daß er sich nichtsdestoweniger mir äußerst verbunden fühle. Er ist der Mann, der uns helfen kann. Blackstone ist ein Kind gegen ihn; Sage nicht, es sei lächerlich, sage nicht, dies sehe mir ganz ähnlich. Ich bitte Dich, laß mich zu Ende reden. Ich will Deinen Namen oder den Deines Vaters nicht aussprechen. Ich will Dich eine junge Dame, der ich innigst zugethan sei, nennen. Und wenn mein Freund, der Expedient, fragt, wo Du wohnst, so will ich sagen: im Norden von Schottland oder im Westen von Irland oder auf den Kanalinseln oder wo Du sonst willst. Mein Freund, der Expedient, kennt weder Thorpe-Ambrose noch irgend eine Seele in dem Orte, und das ist eine Empfehlung; und er wird mir in fünf Minuten sagen, was ich thun soll, und das ist die zweite. Wenn Du ihn nur kenntest! Er ist einer von jenen außerordentlichen Männern, wie sie nur ein oder zweimal in einem Jahrhundert vorkommen, der Schlag von einem Manne, der einen kein Versehen machen läßt, wie sehr man auch darauf versessen ist. Alles, was ich ihm zu sagen habe, ist kurz: »Mein lieber Junge, ich wünsche mich heimlich und ohne Meineid zu verheirathen.« Alles, was er mir zu sagen hat, ist kurz: »Sie müssen dies und das und das und dies thun und sich sorgfältig vor diesem und jenem hüten.« Ich brauche gar nichts weiter zu thun, als seinen Weisungen zu folgen, und Du hast nichts weiter zu thun als das, was die Braut gewöhnlich thut, wenn »der Bräutigam bereit ist und ihrer harrt!« Bei diesen Worten Umfaßte er Neelie sanft mit dem Arme und seine Lippen zogen mit jener stummen Beredtsamkeit, die stets so erfolgreich ist, die Frauen gegen ihren Willen zu überreden, die Moral seiner legten Rede.

Neelie’s zahlreiche vorher bedachte Einwendungen schmolzen alle zu einer einzigen kleinen Frage zusammen. »Und wenn ich Dich gehen ließe, Allan«, flüsterte sie, indem sie zitternd mit dem Knopfe an seinem Hemde spielte, »wirst Du lange wegbleiben?«

»Ich will heute mit dem Elf-Uhr-Zuge fahren«, sagte Allan, »und morgen will ich wieder hier sein, wenn mein Freund, der Expedient, und ich die Sache an einem Tage abmachen können. Wo nicht, so bin ich spätestens am Mittwoch zurück.«

»Du wirst doch jeden Tag an mich schreiben?« flehte Neelie, sich ein wenig näher an ihn schmiegend. »Ich werde vor Angst und Erwartung vergehen, wenn Du mir nicht jeden Tag schreibst.«

Allan versprach, wenn sie es wünsche, zweimal des Tags zu schreiben. Das Briefschreiben, das Andern so lästig sei, mache ihm keine Mühe.

»Und was die Leute in London Dir auch sagen mögen«, fuhr Neelie fort, »ich bestehe darauf, daß Du zu mir zurückkommst. Ich werde entschieden nicht mit Dir durchgehen, wenn Du mich nicht abzuholen versprichst.«

Abermals versprach Allan bei seinem heiligsten Ehrenworte und im vollsten Tone seiner Stimme. Aber Neelie war noch immer nicht zufrieden gestellt. Sie kehrte zum ersten Anfange zurück und wollte durchaus wissen, ob Allan sich vollkommen klar darüber sei, daß er sie liebe. Allan rief den Himmel zum Zeugen an, daß er sich darüber klar sei. Es nützte Alles nichts! Das unersättliche weibliche Verlangen nach zärtlichen Betheuerungen lechzte nach mehr. »Ich weiß, was eines Tages passieren wird«, fuhr Neelie fort. »Du wirst ein Mädchen sehen, das hübscher ist als ich, und wirst wünschen, daß Du sie statt meiner geheirathet hättest!«

Als Allan schließlich zu einem Strome von Betheuerungen die Lippen öffnete, ließ sich aus der Ferne das Schlagen der Stalluhr im Herrnhause hören. Neelie schrak schuldbewußt zusammen. Die Frühstücksstunde im Parkhäuschen war herangerückt und deshalb der Augenblick des Scheidens gekommen. Im letzten Augenblicke wandte ihr Herz sich ihrem Vater zu und ihr Haupt sank an Allans Brust, als sie diesem Lebewohl zu sagen versuchte. »Der Papa ist stets so gut gegen mich gewesen, Allan«, flüsterte sie, ihn zitternd festhaltend, als er sich abwandte, um sie zu verlassen. »Es scheint so garstig und herzlos«, ihn zu verlassen und mich heimlich zu verheirathen. O bitte, bitte, überlege wohl, ehe Du nach London fährst; gibt es gar kein Mittel, ihn ein wenig gerechter und gütiger gegen Dich zu stimmen?« Es war eine nutzlose Frage; Neelie gedachte der entschieden ungünstigen Aufnahme, die Allan’s Brief bei ihrem Vater gefunden, und diese Erinnerung antwortete ihr, ehe sie selbst noch die Lippen öffnete. Sie schob Allan, ehe er noch sprechen konnte, mit mädchenhafter Leidenschaftlichkeit von sich und hieß ihn ungeduldig gehen. Der Kampf der streitenden Gefühle, den sie bisher bemeistert hatte, machte sich, sowie Allan zum letzten Male die Hand zum Gruße geschwenkt und im Gebüsche verschwunden war, wider ihren Willen Luft. Als sie sich ihrerseits von der Stelle abwandte, strömten die lange verhaltenen Thränen unaufhaltsam über ihre Wangen.

Alsbald, nachdem sie den Platz verlassen, öffneten sich hinter ihr die Zweige und Miß Gwilt trat leise aus dem Gebüsch hervor. Sie stand triumphierend da, hoch aufgerichtet, schön, entschlossen. Ihr Gesicht erglühte, als sie Neelie’s entschwindender Gestalt nachblickte.

»Weine nur, Du kleine Närrin!« sagte sie mit ihrer ruhigen klaren Stimme und ihrem verachtungsvollen Lächeln »Weine, wie Du noch nie geweint hast! Du hast Deinen Geliebten zum letzten Mal gesehen.«



Kapiteltrenner

Zweites Kapitel.

Eine Stunde später war Miß Gwilt’s Hauswirthin vor Erstaunen außer sich, und die Zungen der Kinder befanden sich in einem Zustande zügellosen Aufruhrs Unvorhergesehene Umstände hatten die Inhaberin der ersten Etage genöthigt, plötzlich ihre Wohnung aufzugeben und noch an demselben Tage mit dem Elf-Uhr-Zuge nach London zu fahren.

»Bitte, lassen Sie den Fiaker halb zehn Uhr vor der Thür halten«, sagte Miß Gwilt, als die staunende Wirthin ihr die Treppe hinauf folgte. »Und entschuldigen Sie mich, meine gute Frau, wenn ich Sie dringend ersuche, mich bis dahin nicht zu stören.«

In ihrem Zimmer angelangt, verschloß sie sofort die Thür und öffnete ihr Schreibepult »Jetzt heißt es an den Major schreiben!« sagte sie. »Wie soll ich den Brief nur abfassen?«

Nach kurzer Ueberlegung schien sie ihren Entschluß gefaßt zu haben. Sie wählte unter ihren Federn die allerschlechteste aus, die sie finden konnte, und begann den Brief, indem sie auf einen beschmutzten Bogen Briefpapier das Datum schrieb - und zwar in krummen und schiefen, ungeschickten Buchstaben, die sie mit einem absichtlichen Klexe endete. Unter gelegentlichen Pausen zum Nachsinnen und zur Production fernerer Klexe mit dem oberen Ende der Feder faßte sie den Brief in folgenden Worten ab:

»Geehrter Herr! Es lastet mir auf dem Gewissen, Ihnen etwas mitzutheilen, womit Sie bekannt gemacht werden sollten. Sie sollten etwas davon wissen, wie Miß, Ihre Tochter, sich mit dem jungen Mister Armadale aufführt Ich möchte, daß Sie sich davon überzeugen und zwar, daß Sie es nicht lange aufschieben, ob sie, wenn sie vor dem Frühstück ihren Morgenspaziergang macht, auch den rechten Weg geht. Ich verabscheue es, Unheil anzustiften, wo auf beiden Seiten wahre Liebe obwaltet, aber ich glaube nicht, daß der junge Mann es redlich mit Miß meint. Ich glaube vielmehr, daß er sich nur zum Spaß mit Miß befaßt. Eine andere Person, die zwischen uns nicht genannt werden soll, besitzt in Wirklichkeit sein Herz. Bitte, verzeihen Sie, wenn ich mich nicht unterzeichne; ich bin nur eine arme, bescheidene Person und es könnte mir Unannehmlichkeiten zuziehen. Dies ist für jetzt Alles, werther Herr, von einer

Wohlmeinenden.«

»So!« sagte Miß Gwilt, den Brief zusammenlegend. »Ich hätte keinen natürlicheren Dienstmädchenbrief schreiben können, wäre ich ein Romanschreiber von Profession gewesen!« Sie schrieb die erforderliche Adresse, warf einen letzten bewundernden Blick auf die plumpe, ungeschickte Schrift, die ihre zarte Hand hervorgebracht hatte, und ging, den Brief selbst zur Post zu tragen, ehe sie sich an das ernste Geschäft des Einpackens machte. »Merkwürdig!« dachte sie, nachdem der Brief in den Briefkasten geworfen und sie wieder in ihrem Zimmer und mit ihren Reisezurüstungen beschäftigt war. »Da bin ich nun im Begriff, mich in eine fürchterliche Gefahr zu stürzen, und im ganzen Leben habe ich mich nie in besserer Stimmung befunden!«

Als der Fiaker vor der Thür hielt, waren die Koffer gepackt und Miß Gwilt, in ihrem hübschen Reisekleide nett wie immer, zur Abfahrt bereit. Der dichte Schleier, den sie in London zu tragen pflegte, erschien zum ersten Male auf ihrem ländlichen Strohhute. »Auf der Eisenbahn trifft man zuweilen so ungezogene Leute«, sagte sie zur Wirthin »Und obgleich ich mich so einfach kleide, ist doch mein Haar sehr auffallend.« Sie war ein wenig bleicher als gewöhnlich, aber noch nie war sie so freundlich und einnehmend, so anmuthend herzlich und freundschaftlich gewesen als jetzt, da der Augenblick des Scheidens gekommen war. Die einfachen Hausleute waren förmlich gerührt, als sie von ihr Abschied nahmen. Sie reichte dem Hauswirthe die Hand, sprach in der allerliebsten Weise zu ihm und strahlte ihn mit ihrem lieblichsten Lächeln an.

»Kommen Sie!« sagte sie zur Wirthin. »Sie sind so freundlich gegen mich gewesen, fast wie eine Mutter, daß Sie mir zum Abschiede einen Kuß geben müssen.« Sie umarmte die Kinder, halb scherzend, halb zärtlich, was reizend anzusehen war, alle mit einem Male und gab ihnen einen Schilling, um sich Kuchen dafür zu kaufen. »Wie froh würde ich sein, wenn ich reich genug wäre, um ihnen statt dessen einen Sovereign geben zu können!« flüsterte sie der Mutter zu. Der ungeschickte Laufjunge stand wartend an der Fiakerthür. Er war plump, er war mürrisch, er hatte einen offenen Mund und eine Stumpfnase, aber dennoch erstreckte sich Miß Gwilt’s bezaubernde Liebenswürdigkeit auch auf ihn. »Du lieber, schmutziger John«, sagte sie freundlich an der Wagenthür, »ich bin so arm, daß ich nur einen Sixpence für Dich habe und dazu meine besten Wünsche. Nimm meinen Rath an, Sohn, werde ein stattlicher Mann und suche Dir ein hübsches Liebchen. Danke tausendmal!« Sie streichelte ihm freundlich mit zwei ihrer behandschuhten Finger die Wange, lächelte, nickte und stieg ein.

»Jetzt also Armadale!« sagte sie, als der Fiaker abfuhr.

Allan’s Sorge, den Zug nicht zu verfehlen, hatte ihn zeitiger als gewöhnlich nach dem Bahnhofe getrieben. Nachdem er sein Billet gelöst und seinen Koffer dem Schaffner übergeben hatte, ging er auf dem Perron auf und ab und dachte an Neelie, als er hinter sich das Rauschen eines Frauenkleides hörte und, sich umwendend, Miß Gwilt gegenüberstand.

Diesmal konnte er ihr nicht entwischen. Die Mauer des Stationsgebäudes befand sich auf der einen und die Schienengleise auf der andern Seite von ihm; hinter ihm war ein Tunnel und vor ihm stand Miß Gwilt, die ihn mit ihrer süßesten Stimme fragte, ob er nach London fahre.

Vor Ueberraschung und Verdruß ward Allan dunkelroth. Da stand er, offenbar auf den Zug wartend, und dort war sein Mantelsack mit seinem Namen und dem Zettel für London versehen! Wie hätte er anders als der Wahrheit gemäß antworten können? Sollte er den Zug ohne sich abgehen lassen und so die kostbaren Stunden verlieren, die für ihn und Neelie von so großer Wichtigkeit waren? unmöglich! Verlegen bestätigte Allan die gedruckte Angabe auf seinem Mantelsacke und wünschte sich dabei ans andere Ende der Welt.

»Wie glücklich sich dies trifft!« erwiderte Miß Gwilt »Ich fahre auch nach London. Dürfte ich Sie bitten, Mr. Armadale, da Sie ganz allein zu reisen scheinen, mein Beschützer auf der Reise zu sein?«

Allan warf einen Blick auf die kleine Versammlung von Reisenden und ihrer sie begleitenden Freunde, die an der Thür des Billetbureau auf dem Perron umherstanden. Es waren lauter Thorpe-Ambroser. Er wie Miß Gwilt waren jedem von ihnen wahrscheinlich von Ansehen bekannt. Aus reiner Verzweiflung und verlegen stockend zog er seine Cigarrentasche heraus. »Es würde mir großes Vergnügen machen«, sagte er mit einer Verwirrung, die unter den Umständen fast Beleidigung war, »aber ich — ich bin ein Sklave des Rauchens wie die Leute es nennen, denen eine Cigarre Uebelkeit verursacht.«

»O, ich habe den Cigarrenrauch ganz gern!« rief Miß Gwilt mit unverminderter Heiterkeit und Gutmüthigkeit. »Es ist dies eins der Privilegien der Männer, um das ich sie stets beneidet habe. Ich fürchte, Mr. Armadale, Sie werden denken, daß ich mich Ihnen aufdränge. Allerdings hat es das Ansehen. Die Wahrheit zu gestehen, möchte ich gern ein Wort über Mr. Midwinter mit Ihnen sprechen.«

In diesem Augenblicke brauste der Zug heran. Selbst Midwinter ganz beiseite gesetzt, ließ die gewöhnlichste Höflichkeit Allan doch nichts Anderes übrig, als sich in sein Schicksal zu ergeben. Nachdem er schuld gewesen, daß sie ihre Stelle bei Major Milroy verloren, nachdem er ihr vor wenigen Tagen geradezu auf offener Straße ausgewichen, wäre es eine Brutalität gewesen, deren Allan unfähig war, hätte er sich geweigert, in demselben Waggon mit Miß Gwilt nach London zu fahren. »Hol? sie der Kukuk!« dachte Allan, indem er ihr vor allen, die auf dem Perron versammelt standen, beim Einsteigen in ein leeres Coupe behilflich war, das ihm diensteifrig der Schaffner zur Verfügung gestellt hatte. »Sie sollen nicht gestört werden, Sir«, flüsterte der Mann vertraulich lächelnd, indem er die Hand an den Hut legte. Allan hätte ihn mit dem größten Vergnügen zu Boden schlagen mögen. »Halt« rief er zum Fenster hinaus, »ich will das Coupe nicht« Es nützte nichts; der Schaffner war bereits außerhalb Hörweite; die Pfeife gellte und der Zug war auf dem Wege nach London.

Die ausgewählte Versammlung von Freunden der Abreisenden bildete augenblicklich einen Kreis, in dem der Bahnhofsinspector den Mittelpunkt einnahm.

Der Bahnhofsinspector, alias Mr. Mark, war in der ganzen Gegend sehr populär, Er besaß zwei Eigenschaften, die auf das englische Gemüth stets einen großen Eindruck zu machen pflegen: er war ein alter Soldat und ein Mann von wenig Worten. Das Conclave auf dem Perron mußte durchaus erst seine Ansicht hören, ehe es sich durch eine eigene Meinung compromittirte. Natürlich brach sofort von allen Seiten ein rasches Pelotonfeuer von Bemerkungen los, aber die Ansicht eines Jeden über den Gegenstand endete in einer Frage, die direct für die Ohren des Bahnhofsinspectors berechnet war.

»Jetzt hat sie ihn, nicht wahr?« —— »Sie wird als Mrs. Armadale zurückkommen, nicht wahr?« —— »Er hätte besser gethan, wenn er sich an Miß Milroy gehalten, wie?« — »Miß Milroy hielt sich an ihn. Sie machte ihm einen Besuch im Herrnhause nicht wahr?« — »Keineswegs. Es ist eine Schande, derart des Mädchens Ruf zu beschimpfen. Sie ward von einem Gewitter überrascht, als sie sich in der Nähe befand; er mußte ihr ein Obdach anbieten, und seitdem ist sie nie wieder dort gewesen. Miß Gwilt aber ist dort gewesen, wenn Sie wollen, und zwar, ohne von einem Gewitter dazu gezwungen worden zu sein, und Miß Gwilt ist mit ihm auf dem Wege nach London, und zwar allein in einem Coupe, nicht wahr, Mr. Mack?« —— »Ach, er ist ein schwacher Mensch, dieser Armadale! Sich bei all seinem Gelde mit einem rothhaarigen Frauenzimmer einzulassen, das gute acht oder zehn Jahre älter ist als er! Sie ist dreißig, so wahr sie einen Tag alt ist. Das sage ich, Mr. Mark. Was meinen Sie?« —— »Ob älter oder jünger, sie wird in Thorpe-Ambrose das Scepter schwingen; und ich sage, um des Ortes und des Geschäftes willen heißen wir’s gut, und Mr. Mark, der die Welt kennt, sieht die Sache in demselben Lichte wie ich. Nicht wahr, Sir?«

»Meine Herren«, sagte der Bahnhofsinspector in seinem kurzen militärischen Tone und mit seinem unergründlichen militärischen Wesen, »sie ist ein verdammt schönes Frauenzimmer, und ich bin der Meinung, daß sie zur Zeit, wo ich so jung war wie Mr. Armadale, wenn sie nur gewollt, mich selbst hätte heirathen können.«

Mit dieser Meinungsverkündigung schwenkte der Bahnhofsinspector rechts und verschanzte sich in der Feste seines Bureau.

Die Bürger von Thorpe-Ambrose sahen die verschlossene Thür an und schüttelten ernst die Köpfe. Mr. Mack hatte sie getäuscht. Keine Meinung, welche die Schwachheit der menschlichen Natur offen bekennt, wird von der Menschheit günstig aufgenommen. »Es ist so gut, als ob er sagte, daß jeder von uns sie hätte heirathen können, wären wir so jung gewesen wie Mr. Armadale!« Dies war der allgemeine Eindruck in der Versammlung, als diese auseinanderging und den Bahnhof verließ.

Der letzte der sich Entfernenden war ein langsamer alter Herr, der die Gewohnheit hatte, sich überall mit großer Gelassenheit umzusehen. An der Thür stehen bleibend, sah dieser beobachtende Mann den Perron hinauf und hinab und entdeckte in der letzteren Richtung hinter einem Winkel der Mauer einen ältlichen Mann in Schwarz, der bis dahin der Beachtung aller entgangen war. »Ei du meine Güte!« rief der alte Herr, sich neugierig Schritt für Schritt ihm nähernd, »doch nicht Mr. Bashwood?«

Dennoch war es Mr. Bashwood —— Mr. Bashwood, dessen constitutionelle Neugierde ihn heimlich nach dem Bahnhofe geführt hatte, hinter das Geheimniß von Allan’s plötzlicher Reise nach London zu kommen, Mr. Bashwood, der hinter seiner Mauerecke dasselbe gesehen und gehört, was alle Andern wahrgenommen hatten, und auf den dies keinen geringen Eindruck gemacht zu haben schien. Wie versteinert stand er steif an der Wand, die eine Hand an seinen unbedeckten Kopf drückend und in der andern seinen Hut haltend; mit einer matten Glut auf dem Gesichte, einem gegen standslosen Stieren in den Augen sah er gerade in den Schlund des Tunnels jenseits der Station hinein, als ob der Zug nach London erst diesen Augenblick darin verschwunden sei.

»Thut Ihnen der Kopf weh?« fragte der alte Herr. »Lassen Sie sich von mir rathen. Gehen Sie nach Hause und legen Sie sich nieder.«

Mit seiner gewohnten Aufmerksamkeit hörte ihn Mr. Bashwood mechanisch an und antwortete mit seiner gewohnten Höflichkeit ebenso mechanisch.

»Ja, Sir«, sagte er mit leiser, unklarer Stimme, gleich einem Manne, der halb träumt, halb wacht, »ich will nach Haufe gehen und mich niederlegen.«

»Das ist recht«, erwiderte der alte Herr, sich der Thür zuwendend. »Und nehmen Sie eine Pille ein, Mr. Bashwood, nehmen Sie eine Pille ein.«

Fünf Minuten später fand der Gepäckträger, der zugleich den Bahnhof zu schließen hatte, Mr. Bashwood, wie er sich noch immer mit unbedecktem Kopfe an die Mauer lehnte und noch immer stier in den schwarzen Schlund des Tunnels hineinblickte, als ob der Zug nach London erst in diesem Augenblicke darin verschwunden wäre.

»Kommen Sie, Sir!« sagte der Gepäckträger »Ich muß zuschließen, Sind Sie nicht wohl? Fehlt’s Ihnen vielleicht im Leibe? Versuchen Sie einen Bitteren.«

»Ja«, sagte Mr. Bashwood, dem Gepäckträger genau in derselben Weise antwortend, wie er dem alten Herrn geantwortet hatte. »Ich will einen Bitteren versuchen.«

Der Gepäckträger faßte ihn beim Arm und führte ihn hinaus. »Dort werden sie ihn bekommen«, sagte der Mann, indem er ihm eine Branntweinschenke zeigte, »und zwar einen guten.«

»Ich werde ihn dort bekommen«, sagte Mr. Bashwood, noch immer mechanisch die Worte wiederholend, die zu ihm gesprochen wurden, »und zwar einen gutem.«

Es schien, als ob sein Wille gelähmt sei; er that durchaus nur, was andere Leute ihm sagten. Er machte ein paar Schritte auf die Branntweinschenke zu, hielt inne, taumelte und klammerte sich an einen Laternenpfahl an. Der Gepäckträger, der ihm folgte, faßte ihn nochmals beim Arme.

»Ei, Sie haben ja schon getrunken« rief der Mann mit plötzlich belebtem Interesse für Mr. Bashwood’s Zustand. »Was war’s? Bier?«

In leifen, unsicheren Tönen wiederholte Mr. Bashwood das letzte Wort.

Es war nahezu Essenszeit für den Gepäckträger. Wenn indeß ein Mitglied der niederen Klassen« Englands einen Betrunkenen entdeckt zu haben glaubt, so ist dessen Theilnahme für diesen eine unbegrenzte. Der Gepäckträger überließ das Mittagsessen seinem Schicksal und half Mr. Bashwood rücksichtsvoll und behutsam nach der Schenke »Ein Bitterer wird Ihnen wieder auf die Beine helfen«, flüsterte der barmherzige Samariter.

Wäre Mr. Bashwood wirklich berauscht gewesen, so würde das Heilmittel des Gepäckträgers sich in der That als ein wunderbares erwiesen haben. Fast in demselben Augenblicke, wo das Glas geleert war, that das Stärkungsmittel schon seine Wirkung. Das lange geschwächte Nervensystem des Unterverwalters das momentan der erlittenen Erschütterung unterlegen war, raffte sich, gleich dem müden Pferde unter dem Sporn, wieder auf. Die matte Glut auf seinen Wangen wie das matte Stieren seiner Augen verschwanden gleichzeitig. Nach einer kurzen Anstrengung konnte er seine Gedanken wieder sammeln, um sich des Geschehenen zu erinnern, dem Gepäckträger zu danken und ihn ebenfalls zu einem Trunke aufzufordern. Unverzüglich nahm der würdige Mann eine Dosis seiner eigenen Medicin als Präservativ an und ging zum Essen, wie nur diejenigen zum Essen gehen «können, die physisch durch einen Bitteren und moralisch durch das Bewußtsein, eine gute That gethan zu haben, erwärmt sind.

Mr. Bashwood verließ seinerseits noch immer in einem seltsamen Zustande der Geistesabwesenheit, doch jetzt sich des Weges bewußt, den er wandelte, wenige Minuten später ebenfalls die schenke. In seinen elenden schwarzen Kleidern schritt er mechanisch weiter und bewegte sich wie ein dunkler Klex auf der weißen Ebene des sonnenbeschienenen Wegs dahin, wie Midwinter ihn erblickt, an jenem Tage, wo er zum ersten Male zu Thorpe-Ambrose mit ihm zusammengetroffen war. An der Stelle angelangt, wo er sich entweder für den Weg nach der Stadt oder dem nach dem Herrnhause entscheiden mußte, blieb er stehen, dem Anscheine nach unfähig und selbst gleichgültig, auch nur den Versuch zu machen. »Ich will mich an ihr rächen!« flüsterte, er, noch immer in seine eifersüchtige Wuth gegen das Weib versunken, das ihn hintergangen hatte, leise vor sich hin. »Ich will mich an ihr rächen«, wiederholte er in lauterem Tone, »und wenn es mich jeden Heller kostet, den ich noch besitze!«

Einige leichtfertige Frauenzimmer, die an ihm auf dem Wege nach der Stadt vorbeigingen, hörten ihn. »Ach Du alter Narr«, riefen sie ihm mit der maßlosen Frechheit ihres Schlages zu, »’s ist Dir schon recht geschehen, was sie Dir auch angethan hat!«

Die gemeinen Stimmen entrissen ihn seinem Brüten, obgleich es fraglich ist, ob er die Worte verstand. Um ferneren Störungen und Beleidigungen auszuweichen, wandte er sich ab und bog in den stilleren Weg ein, der nach dem Herrnhause führte.

An einer einsamen Stelle desselben blieb er stehen und setzte sich nieder. Er nahm seinen Hut ab, lüftete seine Perücke etwas und machte verzweifelte Anstrengungen, die eine unerschütterliche Ueberzeugung, die ihm wie Blei auf der Brust lag, die Ueberzeugung, daß Miß Gwilt ihn von Anfang an absichtlich hintergangen habe, loszuwerden Vergebens. Keine Anstrengung konnte ihn von diesem Eindrucke befreien, noch weniger von dem Gedanken, welche jener hervorgerufen hatte, dem Gedanken der Rache. Er stand wieder auf, setzte seinen Hut auf und ging schnell einige Schritte weiter, dann kehrte er, ohne zu wissen warum, abermals um. »Wenn ich mich nur ein wenig besser gekleidet hätte!« sagte das arme Geschöpf wie geistesabwesend. »Wäre ich nur ein wenig entschlossener gegen sie aufgetreten, so hätte sie vielleicht vergessen, daß ich ein alter Mann bin!« Von neuem packte ihn seine Wuth. Er ballte seine feuchten Hände und schüttelte sie heftig in der leeren Luft. »Ich will mich an ihr rächen!« wiederholte er. »Ich will mich an ihr rächen und wenn es mich jeden Heller kostet, den ich besitze!« Ein fürchterlicher Beweis ihrer Macht über ihn lag darin, daß sein rachsüchtiges Gefühl sich nicht so weit von ihr entfernen konnte, um den Mann zu erreichen, den er für seinen Nebenbuhler hielt. In seiner Wuth wie in seiner Liebe war er mit Leib und Seele nur bei Miß Gwilt.

Einen Augenblick später ward er durch das Geräusch von hinter ihm daher rollenden Rädern seinen Grübeleien entrissen. Er wandte und sah, sich um. Es war der ältere Mr. Pedgift, der ihn, wie schon einmal zuvor, als er unter den Fenstern des Herrnhauses gelauscht und der Advocat ihn geradezu der Neugierde in Bezug aus Miß Gwilt beschuldigt hatte, schnell in seinem Gig einholte.

Mit Blitzesschnelle schoß ihm die unvermeidliche Ideenverbindung durch den Kopf. Die Meinung, die der Advocat über Miß Gwilt ausgesprochen hatte, tauchte plötzlich neben Mr. Pedgift’s spöttischer Billigung aller Nachforschungen, die er aus Neugier unternehmen wolle, in seiner Erinnerung auf. »Ich kann ihr’s wohl noch heimzahlen«, dachte er, »wenn Mr. Pedgift mir helfen will! Halt, Sir!« rief er verzweifelt, als das Gig sich ihm näherte. »Bitte, ich möchte mit Ihnen sprechen, Sir.«

Ohne still zu halten, zog Pedgift die Zügel seines schnell trabenden Pferdes ein wenig an. »Kommen Sie in einer halben Stunde auf die Expedition«, sagte er; »jetzt habe ich Eile.« Ohne auf Antwort zu warten, ohne Mr. Bashwood’s Verbeugung zu beachten, ließ er dem Pferde die Zügel wieder schießen und war in der nächsten Minute verschwunden.

Abermals setzte sich Bashwood an einer schattigen Stelle am Wege nieder. Es war, als ob er außer der Kränkung, die ihm von Miß Gtvilt zugefügt worden, keine andere Beleidigung empfinden könne. Nicht nur fühlte er keine Entrüstung über die unceremoniöse Behandlung, die ihm von Mr. Pedgift zu Theil geworden war, sondern er suchte dieselbe sogar in einem günstigen Lichte zu sehen. »Eine halbe Stunde«, sagte er resigniert, »das ist Zeit genug, mich wieder ein wenig zu fassen, und ich brauche Zeit. Sehr gütig von Mr. Pedgift, obgleich er es vielleicht nicht so beabsichtigt hat.«

Das Gefühl des Druckes auf seinem Kopfe nöthigte ihn nochmals, seinen Hut abzunehmen. Er hielt ihn, tief in Gedanken versunken, auf dem Schooße; sein Gesicht war auf die Brust herabgeneigt und die zitternden Finger der einen Hand trommelten zerstreut auf seinem alten Filze. Hätte Mr. Pedgift nur etwas Vor sich in die Zukunft blicken können, so wäre die einförmig trommelnde Hand trotz ihrer Schwäche dennoch vielleicht stark genug gewesen, den Advocaten hier auf dem Wege zurückzuhalten. Es war die Hand eines elenden alten Mannes, trotzdem aber, um uns des eigenen Ausdrucks Mr. Pedgift’s beim Scheiden von Allan zu bedienen, die Hand, die jetzt Licht auf Miß Gwilt werfen sollte.«



Kapiteltrenner

Drittes Kapitel.

Als die halbe Stunde verstrichen, stellte sich Mr. Bashwood pünktlich auf die Minute in Mr. Pedgift’s Expedition ein, wo er angab, daß er speciell von Mr. Pedgift herbeschieden sei.

Mit verdrossener Miene sah der Advocat von seinen Papieren auf, als ihm der alte Mann gemeldet wurde. Er hatte die Begegnung auf der Landstraße schon völlig vergessen. »Sieh nach, was er will«, sagte der ältere zum jüngeren Pedgift, welcher in demselben Zimmer arbeitete. »Und ist es nichts von Wichtigkeit, so verschiebe es bis zu einer andern Gelegenheit.«

Mit großer Geschwindigkeit verschwand Pedgift’s Sohn und kehrte mit ebenso großer Geschwindigkeit wieder zurück.

»Nun?« fragte der Vater.

»Nun«, antwortete der Sohn, »er ist womöglich noch wackliger und unzusammenhängender als gewöhnlich. Ich kann ihn durchaus nicht verstehen, außer daß er Dich durchaus sehen will. Meine Ansicht«, fuhr der jüngere Pedgift mit seinem spöttischen Ernste fort, »ist die, daß er daran ist, einen Anfall zu haben, und gern Dir seine Erkenntlichkeit für Deine vielfache Freundlichkeit gegen ihn ausdrücken möchte.«

Pedgift begegnete gewöhnlich allen Leuten, seinen Sohn nicht ausgenommen, mit ihren eigenen Waffen. »Erinnere Dich gefälligst, Augustus«, erwiderte er, »daß mein Bureau kein Gerichtssaal ist. Ein schlechter Witz wird hier nicht allemal durch schallendes Gelächter belohnt. Laß Mr. Bashwood hereinkommen.«

Mr. Bashwood ward hereingeführt, und Pedgift der jüngere zog sich zurück. »Du mußt ihm nicht zur Ader lassen, Vater«, flüsterte der unverbesserliche Spaßmacher, als er hinter seinem Vater vorbei aus dem Zimmer ging. »Heiße Flaschen unter die Füße und ein Senfpflaster auf den Magen, das ist die neueste Behandlung.«

»Setzen Sie sich, Bashwood«, sagte Pedgift der ältere, sobald sie allein waren. »Und vergessen Sie nicht, daß Zeit Geld ist. Heraus damit, was es auch sei, und zwar so schnell und mit so wenig Worten wie möglich.«

Diese kurz, doch keineswegs unfreundlich gesprochenen vorläufigen Ermahnungen dienten eher dazu, die peinliche Aufregung, an der Mr. Bashwood litt, zu erhöhen, als zu beruhigen. Er stammelte verlegener und ununterbrochener als gewöhnlich, während er seine kleine Dankesrede hielt und mit der Entschuldigung schloß, daß er seinen Gönner während der Geschäftsstunden gestört habe.

»Jeder hier im Orte weiß, wie kostbar Ihre Zeit ist, Mr. Pedgift, Sir. O mein Himmel, ja, das versteht sich, ja, höchst kostbar, höchst kostbar! Verzeihen Sie, Sir, ich fange schon an. Ihre Güte oder vielmehr Ihre Geschäftsthätigkeit, nein, Ihre Güte gewährte mir eine halbe Stunde Zeit, und ich habe das, was ich zu sagen habe, wohl überlegt und vorbereitet und kurz gefaßt.« Hier angelangt, schwieg er plötzlich mit einem leidenden, verlegenen Gesichte. Sorgfältig hatte er sich die Sache in seinem Gedächtnisse zurechtgelegt und war nun, da der Augenblick gekommen, zu verwirrt, um sie zu finden. Und dort, stumm harrend, saß Mr. Pedgift, dessen Gesicht und Wesen deutlich jenes Bewußtsein von dem Werthe seiner Zeit ausdrückten, mit dem jeder Patient, der einen großen Arzt, oder jeder Client, der einen bedeutenden Rechtsgelehrten consultirt, so wohl bekannt ist.

»Haben Sie die Neuigkeit gehört, Sir?« stammelte Bashwood, sich verzweifelt Bahn brechend und die in seinem Geiste vorherrschende Idee entschlüpfen lassend, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil es die einzige Idee war, die er herausbringen konnte.

»Betrifft die Neuigkeit mich?« fragte Mr. Pedgift, mit unbarmherziger Kürze gerade aus die Sache losgehend.

»Sie betrifft eine Dame, Sir, nein, nicht eine Dame, ich sollte vielmehr sagen, einen jungen Mann, an dem Sie einst einiges Interesse nahmen. O Mr. Pedgift, was denken Sie wohl! Mr. Armadale und Miß Gwilt sind heute allein zusammen nach London gereist —— allein, Sir, allein in einem Coupe, das für sie beide reserviert worden war. Meinen Sie, daß er sie heirathen wird? Glauben Sie wirklich, was alle Welt sagt, daß er sie heirathen werde?«

Er that diese Frage mit plötzlich erglühendem Gesicht und plötzlich energischem Wesen. Obwohl er sich des Werthes, den die Zeit für den Advocaten hatte, und der Herablassung dieses letzteren bewußt war, wich doch dieses Gefühl sowohl als seine natürliche Schüchternheit und Aengstlichkeit der übermächtigen Begierde, Mr. Pedgift’s Antwort zu hören. Zum ersten Male in seinem Leben sprach er laut, als er diese Frage that.

»Nach meiner Erfahrung über Mr. Armadale«, sagte der Advocat mit augenblicklich härter werdendem Gesicht und Wesen, »halte ich ihn für verblendet genug, um Miß Gwilt ein Dutzendmal zu heirathen, wenn Miß Gwilt dies von ihm verlangte. Ihre Neuigkeit überrascht mich nicht im allergeringsten, Mr. Bashwood. Er thut mir leid. Ich kann dies in aller Aufrichtigkeit sagen, trotzdem daß er meinem Rathe geradezu entgegen gehandelt hat. Und ich fühle noch mehr«, fuhr er weicher fort, indem er seiner Unterredung mit Neelie unter den Bäumen des Parks gedachte, »für eine andere Person, die ich nicht nennen will. Aber was geht dies Alles Sie an, und was in aller Welt fehlt Ihnen?« sagte er, da er zum ersten Male den bodenlosen Jammer in Mr. Bashwood’s Wesen und die grenzenlose Verzweiflung in dessen Gesicht bemerkte, welche diese Antwort bewirkt hatte. »Sind Sie krank? Steckt etwa noch etwas Anderes dahinter, womit herauszukommen Sie sich fürchten? Ich verstehe es nicht. Sind Sie hierher gekommen, um mir während meiner Geschäftsstunden nichts weiter mitzutheilen, als daß der junge Armadale thöricht genug gewesen ist, auf Lebenszeit seine Aussichten zu ruinieren? Mein Gott, das habe ich Alles schon seit Wochen vorausgesehen, ja noch mehr, ich habe es ihm ziemlich deutlich zu verstehen gegeben, als ich mich zum letzten Mal mit ihm in seinem Hause unterhielt.«

Bei diesen letzten Worten raffte Mr. Bashwood sich plötzlich zusammen. Die flüchtige Erwähnung des Herrnhauses brachte ihn in einer Secunde auf den Zweck, der ihn hergeführt hatte.

»Das ist’s, Sir!« sagte er eifrig. »Davon wollte ich eben mit Ihnen sprechen, das ist es, was ich mir überlegt habe. Mr. Pedgift, als Sie das letzte Mal im Herrnhause gewesen, da —— da holten Sie mich auf dem Heimwege in ihrem Gig ein.«

»Sehr wohl möglich«, sagte Mr. Pedgift resigniert. »Mein Pferd ist zufällig etwas flinker auf den Beinen als Sie, Bashwood. Nur weiter, nur weiter, mit der Zeit werden wir wohl zu dem kommen worauf Sie hinauswollen.«

»Sie hielten still, Sir, und sprachen mit mir«, fuhr Mr. Bashwood, sich immer schneller seinem Ziele nähernd, fort. »Sie sagten, Sie hätten mich im Verdachte einiger Neugierde wegen Miß Gwilt, und Sie sagten mir —— ich erinnere mich genau der Worte, Sir —— Sie sagten mir, ich solle auf jeden Fall meine Neugierde zu befriedigen suchen, Sie hätten durchaus nichts dagegen.«

Pedgift der ältere begann plötzlich aufmerksamer auszusehen.

»Ich erinnere mich, etwas der Art gesagt zu haben«, erwiderte er; »und außerdem erinnere ich mich, es ziemlich auffallend gefunden zu haben, daß Sie sich zufälligerweise, wir wollen uns nicht beleidigender ausdrücken, gerade unter Mr. Armadale’s offenem Fenster befanden, während ich mit ihm sprach. Natürlich konnte dies Zufall sein, aber es hatte mehr das Ansehen von Neugierde. Ich konnte nur nach dem Scheine urtheilen«, schloß Mr. Pedgift, seinen bitteren Hohn durch eine Prise Schnupftabak bekräftigend; »und der Schein war entschieden gegen Sie, Bashwood.«

»Ich leugne es nicht, Sir. Ich erwähnte des Umstandes nur, weil ich gestehen möchte, daß ich hinsichtlich Miß Gwilt neugierig war und bin.«

»Warum?« fragte Mr. Pedgift, der hinter Mr. Bashwood’s Gesicht und Wesen etwas erblickte, aber noch völlig im Dunkeln war, was dieses Etwas sein könne.

Eine kurze Pause trat ein. Dann suchte Mr. Bashwood seine Zuflucht in dem, worin ängstliche Leute, wenn sie um eine Antwort verlegen sind, ihre Zuflucht zu suchen pflegen. Er wiederholte einfach seine vorherige Bemerkung. »Ich fühle«, sagte er mit einer seltsamen Mischung von Trotz und Schüchternheit, »einige Neugierde in Bezug aus Miß Gwilt.«

Eine abermalige Pause erfolgte. Trotz seiner Schlauheit und Menschenkenntniß war Mr. Pedgift noch immer ebenso sehr im Dunkeln wie zuvor. Mr. Bashwood’s Fall enthielt das menschliche Räthsel, das er am wenigsten lösen konnte. Die Ideenverbindung von Liebe mit Gebrechlichkeit und grauem Haar bewirkt einmal in der ganzen Welt keinen andern Gedanken als den der äußersten Unwahrscheinlichkeit und Abgeschmacktheit. Hätte die gegenwärtige Unterhaltung, anstatt in Mr. Pedgift’s Geschäftszimmer, an dessen Mittagstafel stattgefunden, nachdem der Wein ihn für humoristische Eindrücke empfänglich gemacht, so würde er wohl die Wahrheit geahnt haben. Aber in seinen Geschäftsstunden pflegte Mr. Pedgift die Beweggründe der Leute nur vom ernsten geschäftlichen Gesichtspunkte aufzufassen, und deshalb war es ihm geradezu unmöglich, auf eine so erstaunliche Unwahrscheinlichkeit, eine so ungeheure Abgeschmacktheit zu verfallen, wie das Factum, daß Wir. Bashwood verliebt sei.

»Nun«, sprach Pedgift weiter, »nehmen wir an, Sie fühlen Neugierde hinsichtlich Miß Gwilt’s. Was dann?«

Mr. Bashwood’s Hände begannen unter dem Einflusse seiner Aufregung zu transpirieren, wie damals, als er Midwinter im Herrnhause die Geschichte seiner Leiden erzählt hatte. Er knetete sein Taschentuch wieder zu einem Balle zusammen und nahm diesen sachte von einer Hand tn die andere.

»Darf ich fragen, Sir«, begann er, »ob ich Recht habe, wenn ich annehme, daß Sie eine sehr ungünstige Meinung von Miß Gwilt hegen? Sie sind, wenn ich nicht irre, völlig überzeugt ——«

»Mein guter Bashwood«, unterbrach ihn Mr. Pedgift, »Warum sollten Sie hierüber noch irgend einen Zweifel haben? Sie befanden sich, während ich mit Mr. Armadale sprach, unter dessen Fenster, und ich nehme an, daß Sie sich nicht gerade die Ohren zuhielten.«

Mr. Bashwood nahm keine Notiz von der Unterbrechung. Der kleine Stich ging spurlos in dem edlem Schmerze der Wunde unter, die Miß Gwilt ihm geschlagen hatte.

»Wenn ich nicht irre, sind Sie völlig überzeugt, Sir«, wiederholte er, »daß im frühem Leben dieser Dame Dinge vorgekommen sind, die ihr, würden sie jetzt bekannt, im höchsten Grade nachtheilig werden dürften.«

»Das Fenster im Herrnhause war offen, Bashwood, und Sie hielten sich jedenfalls nicht gerade die Ohren zu.«

Mr. Bashwood blieb, unempfindlich gegen den Stich, noch immer hartnäckig bei derselben Frage.

»Wenn ich nicht sehr irre«, sagte er, »so hat Ihre langjährige Erfahrung in dergleichen Dingen sogar den Verdacht in Ihnen erweckt, daß Miß Gwilt vielleicht der Polizei nicht unbekannt sein dürfte.«

Mr. Pedgift verlor die Geduld. »Sie sind jetzt über zehn Minuten hier in diesem Zimmer«, sagte er ungeduldig, »können Sie mir mit deutlichen Worten sagen, was Sie wollen, oder ist das Ihnen unmöglich?«

Unter dem Einflusse der Leidenschaft, die ihn verwandelt, der Leidenschaft, die, wie Miß Gwilt sich ausgedrückt, einen Mann aus ihm gemacht hatte, entsprach Bashwood dieser Aufforderung endlich mit deutlichen Worten, indem er sich- wie ein gehetztes Schaf gegen den Hund, gegen den Advocaten wandte.

»Ich möchte sagen, Sir«, antwortete er, »daß Ihre Ansicht über diese Sache auch die meinige ist. Ich glaube, daß in Miß Gwilt’s Vergangenheit etwas nicht ist, wie es sein soll, etwas, das sie vor aller Welt geheim hält, und ich wünsche der Mann zu sein, der dies entdeckt.«

Mr. Pedgift ersah sich seine Gelegenheit und kam augenblicklich auf seine Frage zurück.

»Warum?« fragte er zum zweiten Male.

Mr. Bashwood zögerte abermals. Konnte er bekennen, daß er toll genug gewesen war, sich in sie zu verlieben, und schwach genug, ihr als Spion zu dienen? Konnte er sagen: »Sie hat mich von Anfang an hintergangen, und jetzt, da sie ihren Zweck erreicht, hat sie mich im Stich gelassen. Nachdem sie mir mein Glück und meine Ehre, ja meine letzte Lebenshoffnung geraubt, hat sie mich aus immer verlassen, und mir bleibt nichts übrig als das brennende Verlangen, das Verlangen eines Greises, das langsam und listig, aber stark und unerschütterlich Rache fordert, eine Rache, die ich haben werde, wenn ich ihr Glück dadurch vergiften kann, daß ich ihre Fehltritte vor die Oeffentlichkeit bringe, eine Rache, die ich mir mit dem letzten Heller meiner Ersparnisse, mit dem letzten Tropfen meines Blutes erkaufen will, denn was ist mir Gold oder Leben werth!« Konnte er dies zu dem Manne sagen, der hier vor ihm saß und auf seine Antwort wartete? Nein, er konnte es nur in sich ersticken und schweigen.

Das Gesicht des Advocaten begann wieder einen harten Ausdruck anzunehmen.

»Einer von uns muß mit der Sprache heraus«, sagte er; »und da Sie es offenbar nicht wollen, so will ich’s thun. Ich kann mir diese Ihre außerordentliche Begierde, hinter Miß Gwilt’s Geheimnisse zu kommen, nur auf zweierlei Art erklären. Ihr Beweggrund ist entweder ein unbeschreiblich niedriger, ohne alle Beleidigung sei’s gesagt, Bashwood, ich setze nur den Fall, oder ein höchst edler. Nach meiner Kenntniß Ihres Charakters und nach Ihrer lobenswerthen Ausführung ist es nicht mehr als billig, wenn ich Sie sofort von dem niedrigen Beweggrunde freispreche. Ich halte Sie für ebenso unfähig, wie ich es selbst bin —— mehr kann ich unmöglich sagen —— die Entdeckungen, die Sie in Miß Gwilt’s Vergangenheit zu ihrem Nachtheile machen dürften, zu eigennützigen Zwecken zu heutigen. Soll ich noch weiter fortfahren, oder werden Sie es jetzt vorziehen, sich offen gegen mich auszusprechen?«

»Ich möchte Sie lieber nicht unterbrechen, Sir«, sagte Mr. Bashwood.

»Wie Sie wollen«, fuhr Mr. Pedgift fort. »Da ich Sie von dem niedrigen Beweggründe freigesprochen, komme ich zunächst auf den edlen. Möglich daß Sie ein ungewöhnlich dankbarer Mensch sind, und es unterliegt keinem Zweifel, daß Mr. Armadale ganz außerordentlich gütig gegen Sie gewesen ist. Nachdem er Sie unter Mr. Midwinter im Administrationsbureau angestellt, hat er Ihnen, als ihn sein Freund verlassen, ein hinlängliches Vertrauen auf Ihre Rechtlichkeit und Fähigkeit bewiesen, dadurch daß er seine Angelegenheit gänzlich und rückhaltlos in Ihre Hände gab. Meinen Erfahrungen nach liegt es nicht in der menschlichen Natur, ist aber dessen ungeachtet nicht unmöglich, daß Sie sich dieses Vertrauens so dankbar bewußt sind und ein so dankbares Interesse an dem Wohlergehen Ihres Brodherrn nehmen, daß Sie ihn in seiner gegenwärtigen freundlosen Lage nicht geradezu in seine Schande und sein Verderben rennen sehen können, ohne zu versuchen, ihn zu retten. Um mich kurz zu fassen, glauben ;Sie, daß Mr. Armadale, wenn er von Miß Gwilt’s wahrem Charakter unterrichtet würde, verhindert werden könnte, sie zu heirathen? Und möchten Sie der Mann sein, der ihm die Augen öffnet? Ist dies Fall ——«

Er hielt erstaunt in seiner Rede inne. Mr. Bashwood war, einem unbezwinglichen Impulse weichend, plötzlich aufgesprungen. Nach Athem ringend und mit beiden Händen flehentlich gestikulierend stand er vor dem Advocaten, und auf seinem verwelkten alten Gesicht strahlte ein eigenthümliches Licht, sodaß er wenigstens zwanzig Jahre jünger aussah.

»Sagen Sie’s noch einmal, Sir!« sagte er eifrig, nach Athem ringend, ehe; Mr. Pedgift sich noch von seinem Erstaunen erholt hatte. »Die Frage hinsichtlich Mr. Armadale’s, Sir! Nur noch einmal, Mr. Pedgift, bitte!«

Mr. Pedgift bedeutete ihn, scharf und argwöhnisch Bashwood’s Gesicht fixierend, sich wieder zu setzen, und wiederholte dann die Frage.

»Ob ich glaube«, sagte Mr. Bashwood, den Sinn, doch nicht die Worte derselben wiederholend, »daß Mr. Armadale von Miß Gwilt geschieden werden könnte, wenn sie ihm gezeigt würde, wie sie wirklich ist? Ja, Sir! Und ob ich der Mann sein möchte, der dies thut? Ja, Sir! Ja, Sir! Ja, Sir!«

»Einigermaßen seltsam«, bemerkte der Advocat, indem er ihn immer mißtrauischer anblickte, »daß Sie in eine so gewaltige Aufregung gerathen, blos weil ich zufällig das Rechte getroffen habe.«

Mr. Pedgift ließ sich wenig träumen, wie er mit seiner Frage das Rechte getroffen hatte. Sie befreite Mr. Bashwood’s Gemüth augenblicklich von dem Drucke des einen vorherrschenden Rachegedankens und hatte ihm in der Entdeckung von Miß Gwilt’s Geheimnissen ein Ziel gezeigt, an das er in diesem Augenblicke noch nicht gedacht hatte. Die Heirath, die ihm als unvermeidlich erschienen, konnte noch verhindert werden, nicht etwa in Allan’s Interesse, sondern in seinem eigenen, und das Weib, das er verloren zu haben geglaubt, konnte trotz aller entgegenstehenden Umstände noch gewonnen werden! Sein Gehirn wirbelte, als er daran dachte. Seine Entschlossenheit erschreckte ihn fast durch den fürchterlichen Abstand zwischen ihr und all seinen früheren Gewohnheiten und dem ganzen Verhalten während seines bisherigen Lebens.

Da seine letzte Bemerkung unbeantwortet blieb, überlegte Mr. Pedgift ein wenig, ehe er weiter sprach.

»Eins ist klar«, dachte der Advocat »Sein wahrer Beweggrund in dieser Angelegenheit ist der Art, daß er sich scheut, ihn zu verrathen. Meine Frage gab ihm offenbar eine Gelegenheit, mich irre zu leiten, und er benutzte diese augenblicklich. Das genügt mir. Wäre ich Mr. Armadale’s Anwalt, so dürfte es sich vielleicht der Mühe verlohnen, das Geheimniß zu ergründen. So aber hat es durchaus kein Interesse für mich, den Mann von einer Lüge zur andern zu hetzen, bis ich ihn endlich fange. Mich geht die Sache nichts an, ich werde ihm überlassen, in seiner eigenen weitschweifigen Weise seinen Zweck zu erreichen.«

Zu diesem Schlusse gelangt, schob Mr. Pedgift seinen Sessel zurück und stand rasch auf, um der Unterredung ein Ende zu machen.

»Erschrecken Sie nicht, Bashwood«, begann er. »Der Gegenstand unserer Unterhaltung ist. soweit er mich betrifft, erschöpft. Ich habe nur noch ein paar Worte hinzuzufügen, und wie Sie wissen, ist es meine Gewohnheit, meine letzten Worte stehend zu sprechen. Worüber ich auch sonst im Unklaren sein mag, eine Entdeckung habe ich jedenfalls gemacht. Ich bin endlich dahinter gekommen, was Sie eigentlich von mir wollen. Sie wollen, daß ich Ihnen helfe.«

»Wenn Sie die außerordentlich große Güte haben wollten, Sir?« stammelte Bashwood »Wenn Sie mir den großen Vortheil Ihrer Ansicht und Ihres Rathes ——«

»Warten Sie ein wenig, Bashwood. Wir wollen diese beiden Dinge von einander sondern, wenn’s beliebt. Ein Advocat darf ebenso gut wie jeder Andere eine Meinung aussprechen, aber wenn’s zum Rathen kommt, Sir, so wird die Geschichte zu einer Geschäftssache! Meine Ansicht von der Angelegenheit steht Ihnen gern zu Diensten; ich habe sie Niemand verhehlt. Ich glaube, daß in Miß Gwilt’s Carriere Dinge vorgekommen sind, die, wenn sie aufgedeckt werden könnten, selbst Mr. Armadale, trotz seiner Verblendung, von der bewußten Verbindung zurückschrecken dürften, vorausgesetzt, daß er sie wirklich heirathen will. Was aber die Mittel und Wege betrifft, um die Flecken auf dem Charakter dieses Frauenzimmers mit der Zeit ans Tageslicht zu bringen —— wenn es ihr beliebt, kann sie vermittelst eines Dispensscheines in vierzehn Tagen verheirathet sein so ist dies ein Theil der Frage, auf den ich entschieden nicht eingehen kann. Das hieße als Rechtsanwalt reden und Ihnen meinen amtlichen Rath geben, was ich zu thun geradezu ablehne.«

»O Sir, sagen Sie das nicht!« flehte Mr. Bashwood. »Versagen Sie mir nicht die große Gunst, den unschätzbaren Vortheil Ihres Rathes! Ich habe einen so schwachen Kopf, Mr. Pedgift! Ich bin so alt und so langsam, Sir, und ich werde so unsicher und verwirrt, wenn ich aus meiner gewohnten Weise herausgeworfen werde. Es ist sehr natürlich, daß Sie ein wenig ungeduldig sind, weil ich Ihre Zeit in Anspruch nehme; ich weiß, daß Zeit Geld ist für einen gescheidten Mann, wie Sie. Wollen Sie mir verzeihen, bitte, wollen Sie mir verzeihen, wenn ich zu erwähnen wage, daß ich eine Kleinigkeit, ein paar Pfund erspart habe, Sir, und da ich ganz allein in der Welt stehe und für Niemand als mich selbst zu sorgen habe, darf ich dies Geld doch gewiß ausgeben, wie mir’s beliebt?«

Gegen Alles blind, nur von dem Verlangen beseelt, Mr. Pedgift zu gewinnen, zog er ein schmutziges, zerrissenes kleines Taschenbuch hervor und suchte es mit zitternden Händen auf dem Arbeitstische des Advoeaten zu öffnen.

»Stecken Sie augenblicklich ihr Taschenbuch wieder ein«, sagte Mr. Pedgift. »Reichere Leute als Sie haben dieses Argument bei mir versucht und die Entdeckung gemacht, daß es nicht blos auf der Bühne Advocaten gibt, die sich nicht bestechen lassen. Unter den obwaltenden Umständen will ich nichts mit der Sache zu thun haben. Wollen Sie wissen warum, so lassen Sie sich sagen, daß ich an dem Tage, wo ich Mr. Armadale’s Rechtsanwalt zu sein aufhörte, alles geschäftliche Interesse für Miß Gwilt verlor. Außerdem könnte ich noch andere Gründe haben, die zu erwähnen ich nicht für nothwendig erachte. Der bereits angeführte Grund ist völlig ausreichend. Gehen Sie nach eigenem Ermessen zu Werke und laden Sie die Verantwortung auf Ihre eigenen Schultern. Vielleicht dürfen Sie sich innerhalb des Bereichs von Miß Gwilts Krallen wagen, ohne zerkratzt zu werden. Die Zeit wird’s lehren. Inzwischen wünsche ich Ihnen einen guten Morgen und gestehe zu meiner Schande, daß ich bis auf den heutigen Tag keine Ahnung davon hatte, welch ein Held Sie seien.«

Diesmal fühlte Mr. Bashwood den Stich. Ohne noch ein Wort der Gegenvorstellung oder der Bitte hinzuzufügen, ohne selbst nur den Gruß zu erwidern, ging er zur Thür, öffnete dieselbe leise und schritt hinaus.

Sein Gesichtsausdruck beim Hinausgehen und seine plötzliche Stille gingen nicht unbemerkt an Mr. Pedgift vorüber. »Bashwood wird ein schlechtes Ende nehmen«, sagte der Advocat, seine Papiere zurechtlegend und völlig unerschüttert zu seiner unterbrochenen Beschäftigung zurückkehrend.

Die Veränderung in Mr. Bashwood’s Gesicht und Wesens, in denen sich jetzt etwas Trotziges und Zuversichtliches verrieth, war so sehr seinem Charakter zuwider, daß sie sogar die Aufmerksamkeit des jüngeren Pedgift und der Schreiber erregte, als er durch das äußere Expeditionszimmer hinausging. Gewohnt, den alten Mann zur Zielscheibe ihrer Scherze zu machen, faßten sie die auffallende Veränderung in ihm mit lauter Heiterkeit vom komischen Gesichtspunkte auf. Völlig taub gegen die unbarmherzigen Neckereien, mit denen er von allen Seiten bestürmt wurde, blieb Bashwood vor dem jungen Pedgift stehen und sagte, ihm aufmerksam ins Gesicht blickend, ruhig zerstreut, wie ein laut Denkenden »Ob Sie mir wohl helfen würden?«

»Eröffnen Sie augenblicklich ein Conto auf Mr. Bashwood’s Namen«, sagte der jüngere Pedgift zu den Schreibern. »Geben. Sie Mr. Bashwood einen Sessel und einen Schemel daneben, für den Fall, daß er desselben bedürfte. Reichen Sie mir ein Buch extra feinen Briefpapiers und ein Gros Federn, damit ich mir Notizen über Mr. Bashwood’s Angelegenheit machen kann, und unterrichten Sie augenblicklich meinen Vater, daß ich von ihm abgehe und mich, auf Mr. Bashwood’s Gönnerschaft hin, auf eigene Hand etabliere. Nehmen Sie Platz, Sir, bitte, nehmen Sie Platz und machen Sie Ihren Gefühlen Luft.«

Mr. Bashwood wartete, noch immer gegen die Neckereien taub, deren Gegenstand er war, bis Pedgift der jüngere zu Ende war, und wandte sich dann ruhig ab.

»Ich hätte es besser wissen sollen«, sagte er mit demselben zerstreuten Wesen wie zuvor. »Er ist der echte Sohn seines Vaters; noch auf meinem Sterbebette würde er seinen Scherz mit mir treiben.« Einen Augenblick blieb er an der Thür stehen, glättete mit der Hand mechanisch seinen Hut und ging dann auf die Straße hinaus.

Der helle Sonnenschein blendete ihn, die vorüber kommenden Fuhrwerke und Fußgänger erschreckten und verwirrten ihn. Er drückte sich in eine Nebengasse und bedeckte die Augen mit der Hand.

»Besser wird es sein, ich gehe nach Hause«, dachte er, »wo ich mich einschließen und mir die Sache ungestört überlegen kann.«

Seine Wohnung befand sich in einem kleinen Häuschen im ärmlichsten Theile der Stadt. Das eine kleine Zimmer, welches er bewohnte, mahnte ihn überall, wohin er sich wandte, aufs grausamste an Miß Gwilt. Auf dem Kaminsimse standen die Blumen, die sie ihm bei verschiedenen Gelegenheiten gegeben, alle längst verwelkt, aber sorgfältig in einer kleinen porzellanenen Vase unter einer Glasglocke aufbewahrt. An der Wand hing ein jämmerliches buntes Gemälde von einer Dame, das er sauber hatte einrahmen lassen, weil etwas in dem Gesichte ihn an sie erinnerte. In seinem plumpen alten Mahagonischreibpulte lagen die wenigen kurzen und gebieterischen Briefe, die sie ihm damals geschrieben, als er ihr zu Liebe in Thorpe-Ambrose das niedrige Amt eines Spähers übernommen hatte. Und als er, diesen Gegenständen den Rücken wendend, sich müde aus sein altes Schlafsopha niedersetzte, hing dort über das eine Ende desselben das prachtvolle Halstuch von blauem Atlas, welches er gekauft, weil sie ihm gesagt hatte, sie liebe bunte Farben, und das er noch nie sich zu tragen getraut, obgleich er es einen Morgen wie den andern zu diesem Zwecke herausgenommen hatte. Wiewohl von Natur ruhig in seinen Handlungen und in seinen Ausdrücken gemäßigt, ergriff er doch jetzt diese Cravatte, als ob sie ein lebendes, mit Gefühl begabtes Wesen sei, und schleuderte sie mit einem Fluche in eine Ecke des Zimmers.

Die Zeit verging, und obschon sein Entschluß, sich zwischen Miß Gwilt und ihre Heirath zu stellen, noch so fest stand wie vorher, war er doch nach wie vor noch immer ebenso weit von den Mitteln entfernt, diesen seinen Zweck zu erreichen. Je mehr er darüber nachsann, um so dunkler lag die Zukunft vor ihm.

Er stand wieder auf, noch ebenso müde, wie er sich niedergesetzt hatte, und ging an seinen Schrank. »Ich fühle mich fiebernd und durstig«, sagte er; »eine Tasse Thee kann mir vielleicht gut thun!« Er öffnete die Theebüchse und maß seine kleine Portion weniger sorgfältig als gewöhnlich ab. »Selbst meine eigenen Hände versagen mir heute den Gehorsam!« dachte er, indem er die wenigen Theeblättchen zusammenstrich die er verschüttet hatte, und vorsichtig wieder in die Büchse that.

Bei dem schönen Sommerwetter brannte im Hause nur ein Feuer, das in der Küche. Er ging daher mit dem Theetopfe in der Hand hinunter, um kochendes Wasser aufzugießen.

Blos die Hauswirthin war in der Küche Sie war eine von jenen Frauen, deren Pfad durchs Leben ein Dornenpfad ist und die, sowie sich nur eine Gelegenheit dazu darbietet, ein trübseliges Vergnügen daran finden, die Füße ihrer irdischen Mitpilger ebenso zerkratzt und blutend wie die ihrigen zu erblicken. Ihr einziges Laster war geringerer Art, es war das der Neugier, und zu den vielen Tugenden, die demselben das Gegengewicht hielten, gehörte die einer großen Achtung für Mr. Bashwood, als einen Miethsmann, der regelmäßig seine Miethe zahlte und dessen Benehmen vom Anfang bis zum Ende des Jahres das eines gesetzten und höflichen Mannes blieb.

»Was belieben Sie zu wünschen, Sir?« fragte die Wirthin. »Kochendes Wasser, nicht wahr? Ist es Ihnen jemals vorgekommen, Mr. Bashwood, daß das Wasser gekocht hat, wenn Sie desselben bedurften? Haben Sie je ein widerspenstigeres Feuer gesehen als dies hier? Ich will ein paar Holzstücke unterlegen, wenn Sie ein Weilchen warten wollen. Du meine Güte, ich hoffe, Sie werden mir die Bemerkung verzeihen, Sir, aber Sie sehen heute außerordentlich elend aus!«

Der Druck auf Mr. Bashwood’s Gemüth begann auf ihn zu wirken. Die Hilflosigkeit, die sich auf dem Bahnhofe an ihm bemerkbar gemacht, verrieth sich abermals in seinem Gesicht und seinem Wesen, als er den Theetopf auf den Küchentisch stellte und sich niedersetzte.

»Ich habe Sorgen, Madame«, sagte er ruhig« »und finde, daß sich dieselben, je älter man wird, immer schwerer ertragen lassen.«

»Ah, das dürfen Sie wohl sagen!« stöhnte die Wirthin. »Ich halte mich gern für den Todtengräber bereit, Mr. Bashwood, wenn meine Zeit kommt. Sie leben zu einsam, Sir. Wenn man in Noth ist, so hilft es immer ein wenig, obgleich nicht viel, wenn man einen Theil derselben einem Andern zuschieben kann. Wäre nur Ihre liebe Frau jetzt noch am Leben, Sir, würde sie nicht ein großer Trost für Sie gewesen sein?«

Ein Ausdruck von Schmerz glitt über Mr. Bashwood’s Gesicht. Ohne es zu wissen, hatte ihn die Wirthin an die Leiden seines ehelichen Lebens erinnert. Längst hatte er ihre Neugier über seine Familienangelegenheiten befriedigen und ihr sagen müssen, daß er ein Wittwer wäre und daß seine häuslichen Verhältnisse keine glücklichen gewesen seien, weiter aber hatte er ihr keinen Zutritt zu seinem Vertrauen gestattet. Die traurige Geschichte, welche er Midwinter von seiner trunksüchtigen Frau erzählt, die ihr jämmerliches Leben in einem Irrenhause beschlossen, hatte er sich gescheut, dem geschwätzigen Weibe mitzutheilen, das sie unfehlbar jedem Inwohner des Hauses anvertraut haben würde.

»Wenn mein Mann traurig ist, Sir«, fuhr die Wirthin, das Sieden des Kessels beaufsichtigend, fort, »so sage ich ihm stets: »Was würdest Du jetzt wohl ohne mich angefangen haben, Sam?« Und wenn er dann nicht eben schlechter Laune ist —— es wird gleich kochen, Mr. Bashwood —— so antwortet er: »Elisabeth, ich wüßte nicht, was ich anfangen sollte? Wenn er sich aber von seiner üblen Laune fortreißen läßt, sagt er: »Ich würde es mit den Schnapsläden versuchen, Frau, und ich will es jetzt sogleich versuchen.« O, ich habe auch meine Noth! Einen Mann mit erwachsenen Söhnen und Töchtern, der in den Schenken umherliegt! Ich entsinne mich nicht, Mr. Bashwood, ob Sie jemals Söhne und Töchter hatten, und doch ist mir’s seht, wie ich daran denke, als ob Sie gesagt, Sie hätten welche. Töchter, nicht wahr, Sir? Und du mein Himmel, ja, ja, versteht sich, alle todt!«

»Ich hatte eine Tochter, Madame«, sagte Mr. Bashwood geduldig, »nur eine, und sie starb, ehe sie ein Jahr alt war.«

»Nur eine einzige!« wiederholte die Wirthin theilnehmend. »Es wird jetzt gleich kochen, Sir; geben Sie mir den Theetopf. Nur eine! Ah, es ist um so bitterer, wenn’s ein einzig Kind ist, nicht wahr? Sie sagten, es sei ein einziges Kind gewesen, wenn ich nicht irre, nicht wahr, Sir?«

Mr. Bashwood sah die Frau einen Augenblick mit leeren Blicken an, ehe er einen Versuch machte, ihr zu antworten. Hatte sie vorher ahnungslos die Erinnerung an das Weib, das ihn entehrt, in ihm wachgerufen, so that sie jetzt dasselbe mit der Erinnerung an den Sohn, der ihn zu Grunde gerichtet und im Stiche gelassen hatte. Zum ersten Male seit jener Unterhaltung im Herrnhause in welcher er Midwinter seine Geschichte erzählt hatte, dachte er an die bitteren Enttäuschungen und Leiden der Vergangenheit. Er gedachte jener Zeit, wo er für seinen Sohn gut gesagt und die Unehrlichkeit dieses Sohnes ihn gezwungen hatte, Alles zu verkaufen, was er besaß, um seiner Bürgschaft ledig zu werden.

»Ich habe einen Sohn, Madame«, sagte er, sich bewußt werdend. daß die Wirthin ihn mit stummem und traurigem Erstaunen ansah. »Ich habe mein Möglichstes gethan, ihm in der Welt fortzuhelfen, aber er hat sich sehr schlecht gegen mich benommen.«

»Was Sie sagen!« erwiderte die Wirthin mit der Miene der größten Theilnahme. »Benahm sich schlecht gegen Sie, brach Ihnen fast das Herz, nicht wahr? Ah, früher oder später wird’s ihm kommen. Fürchten Sie nichts! Du sollst Vater und Mutter ehren, war nicht um nichts und wieder nichts auf Moses Steintafeln geschrieben, Mr. Bashwood. Wo mag er wohl sein, und was treibt er jetzt, Sir?«

Die Frage war fast dieselbe, die Midwinter an ihn gerichtet, als ihm die Geschichte erzählt worden war, und Mr. Bashwood beantwortete sie fast mit denselben Worten wie damals.

»Mein Sohn ist in London, Madame, soviel ich weiß. Als ich zuletzt von ihm hörte, war er in nicht sehr ehrenvoller Weise beschäftigt, bei dem geheimen Nachfragecomptoir ——«

Bei diesen Worten hielt er plötzlich inne. Sein Gesicht erglühte, seine Augen leuchteten; er schob die Tasse von sich, die so eben für ihn gefüllt worden, und stand auf. Die Wirthin trat einen Schritt zurück. Im Gesichte ihres Miethsmannes lag etwas, was sie nie zuvor darin gesehen hatte.

»Ich hoffe, daß ich Sie nicht beleidigt habe, Sir«, sagte die Frau, ihre Fassung wiederfindend und mit einer Miene, als ob sie selbst auf den leisesten Wink bereit sei, sich beleidigt zu fühlen.

»Ganz im Gegentheil, Madame, ganz im Gegentheilt« erwiderte er mit eigenthümlicher Hast. »Ich habe so eben an etwas gedacht, etwas sehr Wichtiges. Ich muß hinaufgehen, ich habe einen Brief, ja, einen Brief zu schreiben. Ich werde dann wieder herunterkommen, um meinen Thee zu trinken, Madame. Verzeihen Sie, Madame, ich bin Ihnen sehr verbunden, Sie sind stets sehr gütig gegen mich gewesen, für jetzt will ich mich von Ihnen verabschieden, wenn Sie’s erlauben.« Und zum größten Erstaunen der Wirthin drückte er ihr herzlich die Hand und eilte zur Thür hinaus, Thee und Theetopf ihrem Schicksal überlassend.

Auf seinem Zimmer angelangt, schloß er sich dort ein. Eine kleine Weile blieb er, sich an dem Kaminsimse festhaltend, stehen, bis er wieder zu Athem kam. Sobald er sich wieder rühren konnte, öffnete er das auf dem Tische stehende Schreibpult. »So diel scher’ ich mich um Euch, Mr. Pedgift und Sohn!« sagte er, mit den Fingern ein Schnippchen schlagend. »Ich habe auch einen Sohn.«

An der Thür ließ sich ein Klopfen hören, ein leises, rücksichtsvolles, vertrauliches Klopfen. Die besorgte Wirthin wollte wissen, ob Mr. Bashwood krank sei, und drückte zum zweiten Male ihre ernstliche Hoffnung aus, daß sie ihn nicht beleidigt habe.

»Nein, nein!« rief er ihr durch die geschlossene Thür zu. »Ich befinde mich ganz wohl, ich schreibe, Madame, ich schreibe; bitte, entschuldigen Sie mich. Sie ist eine gute Frau, sie ist eine vortreffliche Frau«, dachte er, als die Wirthin sich wieder entfernt hatte. »Ich will ihr ein kleines Geschenk machen. Ich fühle mich so verstört, daß ich ohne sie nimmer daran gedacht haben würde. Ach wenn nur mein Sohn noch auf jenem Comptoir ist! Ach wenn ich ihm nur einen Brief schreiben kann, der sein Mitleid für mich erweckt!«

Er ergriff die Feder und saß lange ängstlich nachsinnend da, ehe er sie zum Schreiben ansetzte Langsam und unter vielen Pausen zu wiederholtem Nachsinnen und mit mehr als gewohnter Sorgfalt, seine Schrift klar und leserlich zu machen, schrieb er dann folgende Zeilen:

»Mein lieber James! Wie ich fürchte, wirst Du erstaunt sein, meine Handschrift zusehen. Bitte, denke nicht, daß ich Dich um Geld bitten oder Dir Vorwürfe machen will, daß Du mich um Haus und Hof gebracht hast, als ich meine Bürgschaft für Dich einlösen mußte. Ich bin bereit und willig, das Geschehene zu verzeihen und Vergangenes zu vergessen.

Wenn Du noch bei dem geheimen Nachfragecomptoir angestellt bist, liegt es in Deiner Macht, mir einen großen Dienst zu leisten. Ich bin in großer Sorge und Unruhe um eine Person, an der ich Interesse nehme. Es ist dies eine Dame. Bitte, spotte nicht, daß ich dies bekenne, wenn Du irgend umhin kannst. Hättest Du eine Vorstellung von dem, was ich leide, so würdest Du gewiß mich eher bemitleiden als verspotten.

Ich würde mich auf Einzelheiten einlassen, doch ich kenne Deine Ungeduld und fürchte sie zu erregen. Vielleicht wird es genügen, wenn ich sage, ich habe Grund zu glauben, daß die Vergangenheit der Dame keine sehr ehrenvolle gewesen ist, und daß ich ein großes, ein unbeschreiblich großes Interesse daran nehme, zu erfahren, welcher Art ihre Lebensweise in Wirklichkeit gewesen, daß ich auch diese Aufklärung innerhalb vierzehn Tagen zu erlangen wünsche.

Obgleich mir von der Geschäftspraxis in einem Comptoir wie dem Deinigen wenig oder nichts bekannt ist, kann ich doch leicht begreifen, daß ohne die gegenwärtige Adresse der Dame nichts auszurichten ist. Leider ist mir dieselbe noch nicht bekannt. Ich weiß nur, daß sie heute in Begleitung eines Herrn nach der Hauptstadt gereist ist, in dessen Diensten ich stehe und der, wie ich vermuthe, ehe noch viele Tage vergehen, um Geld an mich schreiben wird.

Ist dieser Umstand von einer Beschaffenheit, uns nützen zu können? Ich wage mich des Wortes »uns« zu bedienen, weil ich bereits aus Deinen freundlichen Rath und Beistand rechne, mein lieber Sohn. Laß Dich durch etwaige Kosten nicht abschrecken, ich habe ein Weniges erspart und das soll Dir ganz zur Verfügung stehen. Bitte, schreibe mir mit umgehender Post! Wenn Du nur Dein Möglichstes thun willst, um der fürchterlichen, Ungewißheit ein Ziel zu setzen, die mich jetzt quält, so wirst Du dadurch all den Kummer wieder gut machen, den Du mir in der Vergangenheit verursacht hast, und außerdem zu ewigem Danke verpflichten

Deinen Dich liebenden Vater

Felix Bashwood.«

Nach einer kleinen Pause, während welcher er sich die Augen getrocknet, fügte Mr. Bashwood seine Adresse und das Datum hinzu und adressirte den Brief an seinen Sohn auf dem »Geheimen Nachfragecomptoir, Shadyside-Place, London«. Darauf machte er sich sofort auf, den Brief selbst auf die Post zu tragen. Es war dies am Montag, und wurde die Antwort umgehend gesandt, so mußte sie am Mittwoch Morgen eintreffen.

Den dazwischenliegenden Tag, den Dienstag, brachte Mr Bashwood in seiner Expedition im Herrnhause zu. Er hatte einen doppelten Beweggrund, sich so sehr als möglich in die mannichfachen Beschäftigungen zu vertiefen, die mit der Gutsverwaltung in Verbindung standen. Erstens half unausgesetzte Beschäftigung ihm die verzehrende Ungeduld zügeln, mit der er dem folgenden Tage entgegensah, und zweitens würde er, je mehr er in den Verwaltungsgeschäften vorarbeitete, um so ungehinderter seinen Sohn in London aufsuchen können, ohne durch offene Vernachlässigung der ihm anvertrauten Interessen Verdacht auf sich zu lenken.

Am Dienstag, gegen Nachmittag, fanden unbestimmte Gerüchte daß sich im Parkhäuschen etwas ereignet habe, durch Major Milroy’s Leute den Weg zur Dienerschaft des Herrnhauses und suchten vermittelst dieses letzteren Kanals Mr. Bashwood’s Aufmerksamkeit zu erregen, die jedoch unerschütterlich auf andere Dinge gerichtet blieb. Der Major und Miß Neelie waren, so hieß es, zu geheimnißvoller Besprechung mit einander eingeschlossen gewesen, und Miß Neelie’s Gesicht hatte am Schlusse der Unterredung deutliche Spuren von Thränen gezeugt. Dies hatte sich am Montag Nachmittag begeben und am folgenden Tage, dem gegenwärtigen Dienstage, hatte der Major den ganzen Haushalt durch die kurze Ankündigung in Erstaunen gesetzt, daß seine Tochter der Seeluft bedürfe und er selbst sie mit dem nächsten Zuge nach Lowestoft zu begleiten gedenke. Sie waren zusammen abgereist, beide sehr ernst und schweigsam, dem Anscheine nach aber nichtsdestoweniger im besten Vernehmen mit einander. Die Meinung im Herrnhause schrieb diese häusliche Umwälzung den Gerüchten zu, die über Allan und Miß Gwilt im Umlauf waren. Das Publikum im Parkhäuschen verwarf aber diese Lösung des Geheimnisses aus praktischen Gründen. Miß Neelie war vom Montag Nachmittag bis zum Dienstag Morgen, wo ihr Vater mit ihr abreiste, allein in ihrem Zimmer eingeschlossen geblieben. Während dieser Zeit war der Major nicht aus dem Hause gegangen und hatte Niemand gesprochen. Und Mrs. Milroy hatte, sowie ihre neue Wärterin den Versuch gemacht, ihr den neuesten Stadtskandal mitzutheilen, bei der ersten Nennung von Miß Gwilt’s Namen der Dienerin die Lippen geschlossen, indem sie einen ihrer fürchterlichen Wuthanfälle bekommen hatte. Natürlich mußte etwas, vorgefallen sein, das Major Milroy veranlaßt, so plötzlich mit seiner Tochter abzureisen, aber dieses Etwas war sicherlich nicht Mr. Armadale’s empörendes Durchgehen mit Miß Gwilt.

Der Nachmittag verging, der Abend verging, und es geschah weiter nichts als das Familienereignis im Parkhäuschen. Nichts fiel vor, denn nach der Natur der Dinge konnte gar nichts der Art vorfallen, was die Täuschung auf die Miß Gwilt gerechnet hatte, die Täuschung, die jetzt ganz Thorpe-Ambrose mit Mr. Bashwood theilte, daß sie nämlich als Allan’s künftige Gattin heimlich mit Allan nach London gereist sei, hätte beseitigen können.

Am Mittwoch früh, als der Briefträger in die Straße einbog, in der Mr. Bashwood wohnte, begegnete er diesem selbst, der in seiner Begierde zu erfahren, ob ein Brief für ihn da sei, ohne seinen Hut aus dem Hause gekommen war. In der That war ein Brief für ihn da, der Brief, den er von seinem landstreicherischen Sohne ersehnt hatte.

Der jüngere Bashwood beantwortete seines Vaters Flehen um Hilfe, nachdem er zuvor seinen Vater lebenslänglich zu Grunde gerichtet hatte, in folgenden Ausdrücken:

»Shadyside-Place,
Dienstag den 29. Juli.

Mein lieber Alter! Wir haben auf unserm Comptoir einige Praxis in Geheimnissen, allein das Geheimniß Deines Briefes geht ganz über meine Begriffe. Speculirst Du etwa auf die interessanten verborgenen Schwächen eines reizenden Weibes? Oder gedenkst Du, nach Deinen ehelichen Erfahrungen, wirklich in Deinen Jahren noch daran, mich mit einer Stiefmutter zu beschenken? Was es auch sei, ich gebe Dir mein Wort, daß Dein Brief mich interessiert.

Ich scherze nicht, obwohl es nicht leicht ist, der Versuchung dazu zu widerstehen. Im Gegentheil, ich habe Dir bereits eine Viertelstunde meiner kostbaren Zeit geopfert. Der Ort, von dem Du Deinen Brief datierst, schien mir bekannt. Ich sah in unserm Memorandumbuche nach und fand, daß ich vor nicht langer Zeit nach Thorpe-Ambrose gesandt worden war, um heimliche Nachforschungen anzustellen. Meine Auftraggeberin war eine lebhafte alte Dame, die zu pfiffig war, um uns ihren richtigen Namen und Wohnort anzugeben. Wie sich’s von selbst verstand, machten wir uns unverzüglich ans Werk und erfuhren richtig, wer sie war. Sie heißt Mr. Oldershaw, und gedenkst Du sie zu meiner Stiefmutter zu machen, so rathe ich Dir aufrichtig, Dir’s noch einmal zu überlegen, ehe Du sie mit dem Namen Bashwood beglückst.

Ist es nicht Mrs. Oldershaw, so kann ich für jetzt nichts weiter thun, als Dir sagen, wie es Dir vielleicht gelingt, die Adresse der unbekannten Dame zu erfahren. Komme, sowie Du den erwarteten Brief von dem Herrn erhalten, mit dem sie fortgelaufen sein soll —— ich hoffe um Deinetwillen, daß er kein schöner junger Mann ist —— nach London und suche mich hier auf. Ich will Dir Jemand mitgeben, der Dir behilflich ist, sein Hotel oder seine Wohnung zu beobachten, und wenn er mit der Dame oder die Dame mit ihm irgendwie verkehrt, so magst Du Dich von dem Augenblicke an ihrer Adresse versichert halten. Laß mich sie nur einmal identificiren und wissen, wer sie ist, und Du sollst alle ihre charmanten kleinen Geheimnisse so klar und deutlich vor Dir sehen wie dieses Blatt Papier, auf dem Dein liebevoller Sohn jetzt an Dich schreibt.

Noch ein Wort in Bezug auf die Bedingungen. Ich bin ebenso sehr geneigt wie Du, wieder auf freundschaftlichem Fuße mit Dir zu stehen, doch kann ich, wiewohl ich zugebe, daß Du einst etwas durch mich verloren hast, unmöglich durch Dich verlieren. Es muß feststehen, daß Du für alle Ausgaben der Nachforschungen verantwortlich bist. Ist Deine Dame zu schlau oder zu hübsch, als daß man einen Mann gegen sie anwenden könnte, so müßten wir eine der zu diesem Comptoir gehörigen Frauen verwenden. Das wird Fiakerlohn, Briefmarken, Billets zu öffentlichen Vergnügungsorten, falls sie hierzu neigt, Schillinge für Kirchstuhlschließerinnen kosten, wenn sie in Frömmigkeit macht und unsere Leute mit in die Kirchen nimmt, um beliebte Prediger zu hören, und so weiter. Meine eigenen Dienste sollst Du gratis haben; aber außerdem kann ich nicht noch durch Dich verlieren. Behalte nur dies im Auge, und Du sollst haben, was Du verlangst. Das Geschehene sei geschehen und die Vergangenheit vergessen.

Dein zärtlicher Sohn

James Bashwood.«

In seinem Entzücken, endlich Hilfe nahe zu sehen, drückte der Vater den abscheulichen Brief des Sohnes an die Lippen. »Mein guter Junge!« murmelte er liebevoll. »Mein lieber, guter Junge!«

Er legte den Brief nieder und versank in neues Nachdenken. Die nächste Frage war die sehr ernstliche betreffs der Zeit. Mr. Pedgift hatte ihm gesagt, Miß Gwilt könne in vierzehn Tagen verheirathet sein. Ein Tag von diesen vierzehn war bereits verstrichen und ein zweiter dem Ende nahe. Ungeduldig schlug er mit der Hand auf den Tisch, indem er dachte, wie bald der Geldmangel Allan wohl von London an ihn zu schreiben nöthigen werde. »Morgen vielleicht?« fragte er sich. »Oder übermorgen?«

Der folgende Tag verging und es kam nichts. Der nächste Tag kam und brachte den Brief. Derselbe handelte von Geschäften, wie er erwartet hatte, und forderte Geld, wie er ebenfalls erwartete, und am Schlusse in einer Nachschrift war die Adresse hinzugefügt, worauf der Brief mit den Worten: »Sie mögen bis auf weitere Nachricht darauf rechnen, daß ich hier bleibe«, schloß.

Bashwood that einen tiefen Athemzug der Erleichterung und beschäftigte sich, obschon bis zum nächsten Zuge nach London noch zwei Stunden vergehen mußten, augenblicklich mit dem Einpacken seiner Reisetasche. Das Letzte, was er in diese hinein that, war die blaue Atlascravatte. »Sie liebt bunte Farben«, sagte er, »und sie soll mich doch noch darin zusehen bekommen!«



Kapiteltrenner

Viertes Kapitel.

»All-Saints-Terrace, New-Road, London.
Montag Abend, den 28. Juli.

Ich bin so müde, daß ich mich kaum aufrecht halten kann, aber in meiner kritischen Lage darf ich mich nicht auf mein Gedächtniß verlassen. Ehe ich mich schlafen lege, muß ich meinen gewohnten Bericht über die Ereignisse des Tages niederschreiben.

Bis hierher hat es den Anschein, als ob die Wendung, die das Schicksal zu meinen Gunsten genommen —— und es ließ sich Zeit, ehe es sich zu dieser Wendung entschloß! —— andauern wollte. Es gelang mir, Armadale dazu zu zwingen —— der Mensch war durch nichts Geringeres als Zwang zu bewegen —— mit mir allein in einem Wagen von Thorpe-Ambrose nach London zu reisen, und zwar angesichts all der Leute, die auf dem Perron standen. Eine förmliche Versammlung von Leuten; die in kleinlichem Klatsch machen, stand da beisammen, die uns grob anstierten und offenbar ihre Schlüsse zogen. Ich müßte mich sehr in Thorpe-Ambrose getäuscht haben, wenn der ganze Ort nicht in diesem Augenblicke von Mr. Armadale und Miß Gwilt voll ist.

Während der ersten halben Stunde unserer Fahrt hatte ich einige Noth mit ihm. Der Schaffner —— der vortreffliche Mann, ich war ihm so dankbar! —— hatte uns, offenbar in Erwartung eines Trinkgeldes am Ende der Reise, allein mit einander eingeschlossen. Armadale war argwöhnisch gegen mich und ließ dies deutlich merken. Nach und nach aber zähmte ich mein wildes Thier, theils indem ich keine Neugier über den Zweck seiner Reise nach der Stadt verrieth, theils indem ich sein Interesse für seinen Freund Midwinter erweckte, wobei ich namentlich die Gelegenheit hervorhob, die sich jetzt zu einer Versöhnung zwischen ihnen darböte. Bei diesem Gegenstande verweilte ich, bis es mir gelungen war, seine Zunge zu lösen, und er mich unterhalten mußte, wie es einem Herrn gebührt, der die Ehre genießt, eine Dame auf einer Eisenbahnfahrt zu begleiten.

Sein Kopf, der so wenig zu fassen vermag, war von seiner eigenen und Miß Milroy’s Angelegenheiten voll. Nicht mit Worten läßt sich beschreiben, welche Unbeholfenheit er zeigte, als er von sich selbst zu schwatzen suchte, ohne mich ins Vertrauen zu ziehen oder Miß Milroys Namen, auszusprechen Er unterrichtete mich, daß er in einer Angelegenheit von unbeschreiblicher Wichtigkeit für ihn nach London reise. Dieselbe sei für jetzt noch ein Geheimniß, doch hoffe er mir dasselbe bald vertrauen zu dürfen; diese Sache lasse ihn bereits die Verleumdungen, die in Thorpe-Ambrose über ihn in Umlauf gesetzt worden, von ganz anderer Seite betrachten; er sei zu glücklich, um sich darum zu kümmern, was die Klätscher jetzt von ihm sagten, und werde ihnen bald den Mund schließen, in einer neuen Rolle auftretend, die sie alle überraschen werde. In dieser Weise faselte er fort, fest überzeugt, daß ich vollkommen im Unklaren sei. Es war schwer, nicht zu lachen, als ich an meinen anonymen Brief dachte, Or an den Major unterwegs war; doch es gelang mir, wenngleich nur mit großer Mühe, mich zu bemeistern. Im Laufe der Fahrt überfiel mich eine fürchterliche Aufregung; ich glaube, die Sache wuchs mir über den Kopf. Da war ich nun mit ihm allein und plauderte aufs harmloseste und unbefangenste mit dem Menschen, dessen Leben ich, sobald der Augenblick dazu gekommen, aus meinem Pfade hinwegzuräumen gedenke, wie ich wohl einen Flecken aus einem Kleide vertilgen würde. Die Gemüthsbewegung machte mein Blut sieden und trieb es mir in die Wangen. Ein paarmal ertappte ich mich darauf, daß ich weit lauter lachte, als ich es hätte thun sollen, und lange, ehe wir in London anlangten, hielt ich es für gerathen, mein Gesicht hinter dem Schleier zu verstecken.

Als wir in London ausstiegen, hatte ich keine Mühe, ihn zu bewegen, mich im Fiaker nach dem Hotel zu begleiten, wo Midwinter logierte. Er war voller Begierde, sich mit seinem lieben Freunde auszusöhnen, namentlich, wie ich nicht bezweifle, weil er den Beistand dieses lieben Freundes zu seinem heimlichen davonlaufen mit Miß Milroy bedarf. Die wahre Schwierigkeit lag natürlich in Midwinter selbst. Meine unvorbereitete Abreise nach London hatte mir keine Zeit gelassen, an ihn zu schreiben und seine abergläubische Ueberzeugung zu bekämpfen, daß es besser sei, wenn er und sein Freund von einander geschieden blieben. Ich hielt es deshalb für gerathen, Armadale im Fiaker vor dem Hotel warten zu lassen und allein einzutreten, um Midwinter auf ihn vorzubereiten.

Dieser war glücklicherweise nicht aussgangen. Sein Jubel darüber, daß er mich schon einige Tage früher sah, als er erwartet, hatte, so muß ich annehmen, etwas Ansteckendes Bah! Meinem eigenen Tagebuche darf ich schon die Wahrheit bekennen! Aus einen Augenblick vergaß selbst ich ebenso vollständig wie er die ganze Welt außer uns beiden. Mir wars, als sei ich wieder sechzehn Jahre alt, bis ich mich plötzlich des Burschen unten im Fiaker erinnerte; da war ich auf der Stelle wieder fünfunddreißig.

Sein Gesicht veränderte sich, als er hörte, wer unten sei und was ich von ihm verlange; er sah nicht zornig, sondern vielmehr bekümmert aus. Doch gab er bald nicht etwa meinen Ueberzeugungsgründen, denn solche bot ich ihm gar nicht, sondern meinen Bitten nach. Seine alte Liebe zu seinem Freunde mochte möglicherweise dazu beitragen» daß er sich gegen seinen Willen überreden ließ; meine Ansicht ist indeß die, daß ihn hauptsächlich seine Liebe zu mir bestimmte.

Ich wartete in seinem Wohnzimmer, während er nach dem Fiaker hinunterging; deshalb weiß ich nichts von dem, was zwischen ihnen geschah, als sie einander wiedersahen. Aber welch ein Unterschied zwischen den Beiden, als sie zusammen zu mir hinaufkamen. Beide waren sie bewegt, doch in so verschiedener Weise! Der verhaßte Armadale so laut und plump und roh, der liebe, liebenswürdige Midwinter so blaß und ruhig, mit so sanfter Stimme, wenn er sprach, und solcher Zärtlichkeit im Blick, wenn dieser sich mir zuwandte. Armadale übersah mich so vollkommen, als ob ich gar nicht ins Zimmer gewesen wäre. Er dagegen wandte sich in der Unterhaltung fortwährend zu mir; er blickte, wie ich in meinem Winkel dasaß und sie beobachtete, beständig nach mir hin, um zu sehen, was ich dächte; er wollte mich durchaus nach meiner Wohnung begleiten, um mir alle Mühe mit dem Fiakerkutscher und dem Gepäck abzunehmen. Als ich dies dankend ausschlug, zeigte sich in Armadales Gesicht eine unverhohlene Zufriedenheit über die Aussicht, seinen Freund, sobald ich den Rücken gewendet, für sich haben zu können. Als ich fortging, saß er mit seinen weit vor sich auf dem Tische hingespreizten Armen da und schrieb einen Brief (ohne Zweifel an Miß Milroy) und schrie dem Kellner zu, daß er ein Schlafzimmer im Hotel zu haben wünsche. Natürlich hatte ich darauf gerechnet, daß er in demselben Gasthofe bleiben, in dem er seinen Freund finden würde. Es freute mich, meine Erwartungen sich erfüllen zu sehen und zu wissen, daß ich ihn jetzt so gut wie unter meiner Aufsicht habe.

Nachdem ich Midwinter versprochen, ihn wissen zu lassen, wo er mich morgen sehen könne, fuhr ich im Fiaker fort, um mir allein eine Wohnung zu suchen.

Nach einiger Mühe ist es mir geglückt, mir in diesem Hause, wo die Leute mir alle fremd sind, ein erträgliches Wohn- nebst Schlafzimmer zu verschaffen. Nachdem ich die Miethe auf eine Woche vorausbezahlt, denn ich zog dies natürlich etwaigen Erkundigungen über mich vor, finde ich, daß mir gerade noch drei Schillinge und neun Pence übrig bleiben. Unmöglich kann ich Midwinter um Geld bitten, da er schon Mrs. Oldershaw’s Wechsel gezahlt hat. Ich muß morgen meine Uhr und Kette versetzen; ich brauche ja nicht mehr, als was ich auf vierzehn Tage bedarf. Bis dahin oder schon früher wird Midwinter mich geheirathet haben.

Den 29. Juli. Zwei Uhr. Heute ganz früh ließ ich Midwinter durch eine Zeile wissen, daß er mich heute Nachmittag um drei Uhr hier treffen werde. Darauf widmete ich den Vormittag zwei Geschäften. Das erste verdient kaum erwähnt zu werden, es bestand nur im Versetzen meiner Uhr und Kette. Ich erhielt mehr dafür, als ich erwartet hatte, und mehr, selbst wenn ich mir inzwischen eine kleine wohlfeile Sommergarderobe kaufe, als ich aller Wahrscheinlichkeit nach bis zum Hochzeitstage werde ausgeben müssen.

Das zweite Geschäft war von weit ernsterer Beschaffenheit. Es führte mich nach einer Advocatenexpedition.

Ich wußte gestern Abend sehr wohl, obgleich ich zu müde war, es in meinem Tagebuche zu bemerken, daß ich Midwinter unmöglich heute Morgen werde sehen können, ohne in unserer gegenwärtigen Beziehung zu einander mir wenigstens den Anschein zu geben, als ob ich ihn über mich und meine Verhältnisse ins Vertrauen zöge. Einen einzigen Punkt ausgenommen, den ich ja nicht aus dem Auge verlieren darf, hindert mich durchaus nichts daran, meine Erfindungsgabe auszubeuten und ihm irgend eine beliebige Geschichte aufzutischen, denn bis jetzt habe ich noch Niemand irgend welche Geschichte erzählt. Was die Milroys betrifft, so konnte ich sie, da ich ihnen die übliche Empfehlung gebracht, glücklicherweise hinsichtlich aller Dinge, die sich ausschließlich auf mich bezogen, mir fern halten, und Midwinter begab sich nach London, ehe es möglich war, den Gegenstand zur Sprache zu bringen. Endlich, als ich auf der Rampe vor seinem Hause meine Aussöhnung mit Armadale bewerkstelligte, hatte dieser die wahnsinnige Großmuth, keinerlei Erklärung oder Vertheidigung meines Charakters von mir zu verlangen. Nachdem ich mein Bedauern darüber ausgedrückt, daß ich meine Selbstbeherrschung verloren und Miß Milroy gedroht, und dann seine Versicherung erhalten hatte, daß Milroy nie daran gedacht, mir ein Unrecht zuzufügen, war er viel zu großmüthig um ein Wort über meine eigenen Angelegenheiten anhören zu wollen. So, bin ich in keiner Weise durch frühere selbst gemachte Angaben gebunden und darf somit irgend eine mir beliebige Geschichte erfinden, mit Berücksichtigung des einen Punktes, dessen ich so eben gedacht. Die Rolle, in der ich in Thorpe-Ambrose auftrat, muß ich, welche sonstigen Erdichtungen ich mir auch gestatte, beibehalten, denn bei der Anrüchigkeit, die meinem andern Namen anhaftet, bleibt mir nichts Anderes übrig, als Midwinter unter meinem Mädchennamen Miß Gwilt zu heirathen.

Diese Erwägung führte mich zum Advocaten. Ich fühlte, daß ich mich, ehe ich Midwinter wiedersähe, darüber unterrichten müsse, welche unangenehmen Folgen es nach sich ziehen könne, wenn ich, eine Wittwe, mich verheirathete, ohne meinen Wittwennamen anzugeben.

Da mir kein anderer Sachwalter bekannt war, dem ich mich anvertrauen durfte, ging ich dreist zu dem Advocaten, der mein Interesse zu jener fürchterlichen Zeit meiner Vergangenheit vertreten hatte, an die zu denken ich mehr als je zu schaudern Grund habe. Er war erstaunt und, wie ich deutlich sehen konnte, nichts weniger als angenehm überrascht, mich zu sehen. Kaum hatte ich die Lippen geöffnet, als er schon sagte, er hoffe, ich sei nicht gekommen, um ihn nochmals (mit großem Nachdruck auf diesem Wort) für mich selbst zu Rathe zu ziehen. Ich benutzte den Wink und richtete die Frage, die mich zu ihm geführt, im Interesse jener bei solchen Gelegenheiten so bequemen Person einer abwesenden Freundin an ihn. Natürlich durchschaute dies der Advocat sofort, aber war schlau genug, sich meine Freundin seinerseits zu Nutze zu machen. Aus Höflichkeit für eine Dame, sagte er, die durch mich repräsentiert werde, wolle er die Frage beantworten; doch müsse er dabei die Bedingung stellen, daß diese Berathung mit ihm durch Stellvertretung nicht weiter bekannt gegeben würde.

Ich ging die Bedingung ein, denn ich achtete ihn wirklich um der schlauen Art und Weise willen, in der er mich fern zu halten wußte, ohne die gebührende Höflichkeit gegen eine Dame zu verlegen. In zwei Minuten hörte ich, was er zu sagen hatte, begriff es ohne Mühe und verließ ihn wieder.

So kurz sie gewesen, hatte die Besprechung doch hingereicht, mich von alledem zu unterrichten, was ich gern wissen wollte. Ich riskiere nichts, wenn ich Midwinter unter meinem Mädchennamen heirathe und meinen Wittwennamen verschweige. Die Heirath ist insofern völlig gültig, als sie nur ungültig gemacht werden kann, wenn mein Mann den Betrug entdeckt und noch während meiner Lebenszeit gerichtliche Schritte thut, die Heirath für null und nichtig zu erklären. So lautete die Antwort des Advocaten in seinen eigenen Worten. Sie befreit mich sofort, in dieser Beziehung wenigstens, von aller Sorge für die Zukunft. Der einzige Betrug, den mein Gatte je entdecken wird, und zwar nur dann, wenn er zufällig zur Stelle ist, ist der, welcher mir Stellung und Einkünfte von Armadale’s Wittwe verleiht, und bis dahin werde ich selbst seine Heirath für immer ungültig gemacht haben.

Halb drei! In einer halben Stunde wird Midwinter hier sein. Ich muß meinen Spiegel fragen, wie ich aussehe. Ich muß meine Erfindungsgabe auffrischen und meine kleine Familiengeschichte erdichten. Bin ich ängstlich dabei? Die Stelle, wo ehedem mein Herz zu sein pflegte, zittert mir etwas —— mit fünfunddreißig Jahren und nach einem Leben, wie das meinige gewesen ist!

Sechs Uhr. So eben ist er fortgegangen. Der Tag unserer Heirath ist bereits festgesetzt.

Ich habe zu ruhen und mich zu sammeln versucht, allein ich kann nicht ruhen. Ich kehre zu diesen Blättern zurück. Seit Midwinter hier war, ist Vieles passiert, was mich nahe angeht und deshalb hier verzeichnet werden muß.

Ich will mit dem anfangen, woran ich am wenigsten gern denken mag, um desto schneller darüber hinwegzukommen, mit dem erbärmlichen Lügengewebe, das ich ihm über meine häuslichen Leiden zurecht gemacht habe.

Was ist nur das Geheimniß der Macht, die dieser Mensch über mich besitzt? Wie kommt es, daß er mich so verändert, daß ich mich selbst nicht mehr kenne? Gestern im Eisenbahnwaggon mit Armadale war ich noch ganz ich selbst. Sicherlich war es doch etwas Schauerliches, während jener ganzen Reise mit jenem lebendigen Menschen zu plaudern und das beständige Bewußtsein zu haben, daß ich seine Wittwe werden will, und dennoch war ich nichts weiter als aufgeregt. Während der langen Stunden schauderte ich keinen Augenblick zurück, mit Armadale zu sprechen, und die erste erbärmliche kleine Unwahrheit, die ich Midwinter sagte, machte mich innerlich erstarren, als ich sah, daß er sie glaubte! Ich fühlte ein fürchterliches hysterisches Würgen im Halse, als er mich bat, nicht von meinen Leiden zu sprechen. Und einmal —— mir graust, wenn ich daran denke —— einmal, als er sagte: »Wenn es möglich wäre, daß ich Dich noch inniger lieben könnte, so würde ich dies jetzt thun«, war ich kein Haarbreit davon entfernt, mich selbst zu verrathen. Ich war auf dem Punkte, auszurufen: »Lügen! Nichts als Lügen! Ich bin ein Teufel in Frauengestalt! Heirathe das jämmerlichste Geschöpf, das in den Straßen umherschleicht, und Du wirst immer noch ein besseres Weib heirathen, als ich bin!« Ja, so erschütterte es mich, als ich seine Augen feucht werden sah und seine Stimme beben hörte, während ich ihn belog. Hunderte von schönem, Hunderte von gescheiteren Männern habe ich gesehen. Was kann dieser Mensch in mir erweckt haben? Ist es Liebe? Ich glaubte geliebt zu haben, um niemals wieder zu lieben. Oder liebt ein Weib etwa nicht, wenn es die Härte eines Mannes ins Wasser treibt? Zu solcher Verzweiflung hat mich einst ein Mann getrieben. Kam all mein damaliges Elend von etwas, das nicht Liebe war? Habe ich bis zu meinem fünfunddreißigsten Jahre gelebt, um erst jetzt zu erfahren, was wirklich Liebe ist? Jetzt, wo es zu spät ist? Lächerlich! Und wozu nützt übrigens das Fragen? Was weiß ich davon? Was weiß überhaupt je ein Weib davon? Je mehr wir darüber nachsinnen, desto mehr täuschen wir uns. Ich wollte, ich wäre als ein Thier in die Welt gekommen. Dann wäre meine Schönheit mir vielleicht von einigem Nutzen gewesen, sie hätte mir vielleicht einen guten Herrn verschafft.

Hier habe ich bereits eine ganze Seite in meinem Tagebuche beschrieben und noch kein Wort gesagt, das von der allermindesten Wichtigkeit für mich ist! Ich muß meine erbärmliche Erdichtung hier sogleich aufzeichnen, solange die Umstände derselben noch frisch in meinem Gedächtnisse leben, oder wie kann ich ihrer sonst später, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet, zutreffend erwähnen?

In meiner Erzählung war nichts Neues —— das gewöhnliche Leihbibliothekengewäsch. Ein verstorbener Vater, ein verlorenes Vermögen, ungerathene Brüder, die ich wiederzusehen mich fürchte, eine bettlägerige Mutter, welche sich allein auf meine Hilfe zu verlassen hat —— nein, ich kann’s nicht niederschreiben! Ich hasse mich, ich verachte mich, wenn ich bedenke, daß er es glaubte, weil ich es sagte, daß er sich darüber betrübte, weil er es für meine Geschichte hielt. Lieber will ich riskieren, mir zu widersprechen, ich will es aus Entdeckung und Verderben ankommen lassen, Alles lieber, als noch einen Augenblick bei jenen verächtlichen Lügen verweilen.

Endlich hörten sie wirklich auf. Und dann sprach er von sich selbst und von seinen Aussichten. O welche Erleichterung diese Wendung der Unterhaltung mit sich brachte! Welche Erleichterung sie mir jetzt gewährt!

Er hat das Anerbieten angenommen, wegen dessen er mir nach Thorpe-Ambrose schrieb, und ist jetzt als gelegentlicher auswärtiger Correspondent der neuen Zeitung angestellt. Sein erster Bestimmungsort ist Neapel. Ich wollte, es wäre ein anderer Ort gewesen, denn ich habe gewisse Beziehungen zu Neapel, deren Erneuerung mir durchaus nicht angenehm ist. Es ist bestimmt, daß er England nicht später als am elften nächsten Monats verlassen soll. Dann also muß ich, da ich ihn begleiten soll, als seine Gattin mit ihm gehen.

Mit der Heirath hat es nicht die allergeringste Schwierigkeit. Dieser ganze Theil meines Plans ist so leicht, daß ich Unglück zu fürchten beginne. Der Vorschlag, die Sache streng geheim zu halten, ein Vorschlag, den zu machen mich in Verlegenheit hätte setzen dürfen, kommt von ihm. Da er mich unter seinem wahren Namen heirathet, dem Namen, den er vor aller Welt außer mir und Mr. Brook geheim gehalten, ist es in seinem Interesse daß keine Seele bei der Ceremonie zugegen ist, am allerwenigsten aber sein Freund Armadale. Bereits ist er seit einer Woche in London. Nach Ablauf einer zweiten gedenkt er sich den Heirathsdispens zu verschaffen und sich in der Kirche des Sprengels, dem sein Hotel angehört, mit mir trauen zu lassen. Dies die einzigen nothwendigen Formalitäten. Ich hätte nur ja zu sagen, sprach er zu mir, und mich um die Zukunft weiter nicht zu sorgen. Ich sagte das Ja mit einer so verzehrenden Angst um die Zukunft, daß ich fürchtete, er werde es bemerken. Welche selige Minuten aber waren dann die wenigen nächsten, während er mir entzückende Worte ins Ohr flüsterte, als mein Gesicht auf seiner Brust ruhte.

Ich faßte mich zuerst wieder und brachte ihn auf Armadala da ich meine Gründe hatte zu erfahren, was sie gestern mit einander gesprochen, nachdem ich sie verlassen hatte.

Die Art und Weise, in der Midwinter mir antwortete, verrieth mir, daß er unter dem Zwange einer vertrauten Mittheilung von seinem Freunde spreche. Lange, bevor er geendet, entdeckte ich, worin das Geheimniß bestand. Ganz, wie ich erwartet, hatte ihn Armadale wegen seiner Entführungsheirath zu Rathe gezogen. Obwohl er ihm Vorstellungen dagegen gemacht zu haben scheint, das Mädchen heimlich aus ihrem Hause fortzunehmen, hat Midwinter dem Anscheine nach doch einiges Widerstreben gefühlt, sich zu entschieden über die Sache auszusprechen, sich erinnernd, daß er selbst eine heimliche Heirath im Sinne habe. Jedenfalls entnahm ich aus dem, was er sagte, so viel, daß seine Vorstellungen sehr geringen Eindruck gemacht und daß Armadale seine lächerliche Absicht, den ersten Schreiber in der Expedition seines Londoner Advocaten zu Rathe zu ziehen, bereits verwirklicht hat.

Bei diesem Punkte angelangt, that Midwinter dann die Frage, vor? der ich wußte, daß sie früher oder später kommen müsse. Er fragte, ob ich etwas dawider habe, daß unsere Verlobung unter dem Siegel der strengsten Verschwiegenheit seinem Freunde anvertraut werde.

»Ich selber stehe dafür«, sagt »daß Allan das ihm anzuvertrauende Geheimniß bewahren wird, und will, wenn die Zeit kommt, meinen Einfluß über ihn so benutzen, um seine Anwesenheit bei unserer Vermählung und die Entdeckung zu verhindern, daß mein Name derselbe ist, den auch er trägt. Kann ich ihm die Offenheit, mit der er sich über seine eigenen Angelegenheiten gegen mich ausgesprochen, meinerseits mit ähnlicher Offenheit vergelten, so wird mir das helfen, mich etwas kräftiger über die Angelegenheit zu äußern, die ihn nach London geführt hat.«

Es blieb mir nichts Anderes übrig, als die nöthige Erlaubniß zu geben, und ich that dies deshalb. Von der äußersten Wichtigkeit ist mirs, zu erfahren, welche Schritte Major Milroy nach dem Empfange meines anonymen Briefes hinsichtlich seiner Tochter und Armadale’s zu thun gedenkt, und gewinne ich nicht irgendwie Armadale’s Vertrauen, so darf ich fast sicher sein, daß ich darüber im Dunkeln bleiben werde. Ist’s ihm einmal anvertraut, daß ich Midwinter’s Gattin zu werden im Begriff stehe, so wird er Alles, was er seinem Freunde über seine Liebesangelegenheiten mittheilt, auch mir erzählen.

Darüber einig geworden, daß Armadale ins Vertrauen gezogen werde solle, begannen wir wieder von uns selbst zu Plaudern. Wie die Zeit entfloh! Welch süße Seligkeit es war, in seinen Armen Alles zu vergessen! Wie er mich liebt! Ah, der arme Junge, wie er mich liebt!

Ich habe versprochen, ihn morgen Vormittag in Regentspark zu treffen. Je weniger er hier gesehen wird, desto besser. Die Leute in diesem Hause sind mir allerdings fremd, aber es mag doch gerathen sein, noch immer, wie in Thorpe-Ambrose, den Schein zu bewahren und selbst diese Leute nicht ahnen zu lassen, daß ich mit Midwinter verlobt bin. Würden später, nachdem ich mein großes Wagniß ausgeführt, Nachforschungen angestellt, so dürfte das Zeugniß meiner Londoner Hauswirthin von Werth sein.

Jener scheußliche alte Bashwood! Das Wort Thorpe-Ambrose erinnert mich an ihn. Was wird er nur sagen, wenn die Stadtklatschereien ihn benachrichtigen, daß Armadale allein in einem Waggon mit mir nach London gefahren ist! Es ist wirklich zu lächerlich, wenn ein Mensch von Bashwood’s Alter und Aussehen verliebt sein will!

Den 30. Juli.Endlich eine Neuigkeit! Armadale hat von Miß Milroy gehört. Mein anonymer Brief hat gewirkt. Das Mädchen ist bereits aus Thorpe-Ambrose hinweggeschafft und der ganze Entführungsplan auf immer zu Wasser geworden. Dies war das Wesentlichste, was mir Midwinter zu erzählen hatte, als ich ihn im Parke traf. Ich stellte mich im höchsten Grade überrascht und erheuchelte die erforderliche weibliche Neugier wegen aller Einzelheiten. »Nicht etwa, daß ich meine Neugier befriedigt zu sehen hoffe«, fügte ich hinzu, »denn Mr. Armadale und ich sind im Ganzen doch nur oberflächliche Bekannte.«

»Du bist für Allan weit mehr als eine oberflächliche Bekanntschaft«, sagte Midwinter »Weil ich Deine Erlaubniß dazu hatte, habe ich ihm bereits gesagt, wie nahe Du mir stehst und wie theuer Du mir bist.«

Da ich dies hörte, schien es mir rathsam, ehe ich mich in Fragen über Miß Milroy einließe, meine Aufmerksamkeit zuvor meinen eigenen Angelegenheiten zu widmen und zu erfahren, welchen Eindruck die Ankündigung meiner bevorstehenden Verheirathung auf Armadale gemacht habe. Es war doch möglich, daß er noch immer Argwohn gegen mich hegte und ihm die Nachforschungen, die er auf Mrs. Milroy’s Eingebung in London über mich anstellte, noch im Sinne lagen.

»Schien Mr. Armadale überrascht zu sein«, fragte ich, »als Du ihm unsere Verlobung meldetest und als Du ihm sagtest, sie müsse geheim gehalten werden?«

»Er schien sehr überrascht, als er hörte, daß wir uns verheirathen würden«, erwiderte Midwinter. »Doch als ich ihm sagte, die Sache müsse geheim gehalten werden, erwiderte er blos, daß vermuthlich von Deiner Seite Familienrücksichten hierfür vorhanden seien.

»Was hast Du auf diese Bemerkung entgegnet?« fragte ich.

»Auf meiner Seite, sagte ich, seien die Familienrücksichten«, erwiderte Midwinter. Und ich hielt es, da ich mich erinnerte, wie Allan sich durch das dumme Mißtrauen in Thorpe-Ambrose gegen Dich hatte irre leiten lassen, nur für recht, hinzuzufügen, daß Du mir Deine ganze traurige Lebensgeschichte mitgetheilt und Dein Widerstreben, unter gewöhnlichen Verhältnissen von Deinen Familienangelegenheiten zu sprechen, völlig gerechtfertigt hättest?«

Ich athmete auf. Er hatte genau gesagt, was gesagt werden mußte, und ganz in der rechten Weise. »Ich danke Dir«, sagte ich, »daß Du mich Deinem Freunde im rechten Lichte dargestellt hast. Wünscht er mich zu sehen?« fragte ich, um wieder zu dem andern Gegenstande, zu Miß Milroy und der Entführung zurückzukommen.

»Er sehnt sich, Dich zu sehen«, sagte Midwinter.

Der arme Junge ist in großer Bekümmerniß; ich habe mein Möglichstes gethan, ihn zu trösten, glaube aber, daß die Theilnahme eines weiblichen Wesens dies weit wirksamer thun kann als die meinige.«

»Wo ist er jetzt?« fragte ich.

Er war im Gasthofe, und ich schlug deshalb augenblicklich vor, uns dorthin zu verfügen. Es ist dies ein stark besuchtes, geschäftiges Haus, und wenn ich meinen Schleier niederlasse, laufe ich dort weniger Gefahr, mich zu compromittiren, als in meiner stillen Wohnung. Außerdem ist es von der größten Wichtigkeit für mich, zu erfahren, was Armadale nach dieser gänzlichen Veränderung der Umstände zunächst vornimmt, denn ich muß sein Thun so weit in meine Gewalt bekommen, daß ich ihn womöglich aus England fortschaffe. Wir nahmen einen Fiaker. Meine Sehnsucht, dem untröstlichen Liebenden meine Theilnahme zu bezeugen, war so groß, daß wir einen Fiaker nahmen!

Etwas so Lächerliches wie Armadale’s Benehmen bei der zwiefachen Erschwerung, welche ihm die Doppelwunde verursacht, daß die junge Dame ihm entrückt und daß ich mich mit Midwinter verheirathen werde, ist mir im ganzen Leben noch nicht vorgekommen. Wollte ich ihn ein Kind nennen, so wäre dies eine Verleumdung aller Kinder, die nicht blödsinnig zur Welt gekommen sind. Er beglückwünschte mich wegen meiner bevorstehenden Vermählung und verwünschte das unbekannte Scheusal, das den anonymen Brief geschrieben, wobei er sich wenig träumen ließ, daß er in einem Athem von einer und derselben Person sprach. Einmal gab er unterwürfig zu, daß Major Milroy seine Rechte als Vater habe, und dann tobte er wieder über den Major, weil dieser für nichts Anderes fühlen könne, als für seine Uhr. In der einen Minute sprang er mit Thränen in den Augen auf und erklärte seine Herzens-Neelie für einen Engel, und in der nächsten saß er verdrossen da und meinte, daß ein Mädchen von ihrem Muthe wohl auf der Stelle hätte fliehen und ihn in London treffen können. Nachdem diese lächerliche Komödie eine halbe Stunde gewährt hatte, gelang es mir, ihn zu beruhigen, und dann erlangte ich vermittelst einiger theilnehmender Fragen das, was ich ausdrücklich sehen wollte, nämlich Miß Milroy’s Brief.

Derselbe war unerhört lang und unzusammenhängend, kurz der Brief einer Närrin. Ich mußte durch einen Haufen gemeiner Empfindsamkeit und Lamentation waten und Zeit wie Geduld über weinerlichen Zärtlichkeitsergüssen und widerlichen Küssen, die in Tintenkreise eingeschlossen waren, verlieren, bis ich endlich zu der Auskunft gelangte, die ich suchte und die in Folgendem besteht:

Es scheint, daß der Major unmittelbar nach Empfang meiner anonymen Warnung seine Tochter zu sich bescheiden ließ und ihr den Brief gezeigt hat. »Du weißt, Neelie, welch ein trauriges Leben ich mit Deiner Mutter führe, mache es nicht dadurch noch trauriger, daß Du mich hintergehst.« Mehr sagte der arme alte Herr nicht. Ich habe den Major stets gern gehabt und weiß, daß er mich ebenso gern hatte, obwohl er sich fürchtete, dies merken zu lassen. Seine Worte, falls man ihr glauben darf, schnitten seiner Tochter ins Herz. Sie brach in Thränen aus (man kann sich darauf verlassen, daß sie nie eine Gelegenheit zum Weinen vorübergehen läßt) und bekannte Alles.

Nachdem er ihr Zeit gelassen, sich wieder zu fassen —— es wäre zweckdienlicher gewesen, hätte er ihr eine Ohrfeige gegeben! —— scheint es, daß der Major ihr gewisse Fragen vorgelegt und gleich mir die Ueberzeugung gewonnen hat, daß seine Tochter wirklich in Armadale verliebt ist. Diese Entdeckung hat ihn offenbar ebenso sehr überrascht als betrübt. Scheinbar hat er gezögert und seine ungünstige Meinung über Miß Neelie’s Liebhaber eine geraume Weile beibehalten. Doch die Thränen und Bitten seiner Tochter haben ihn endlich Wanken gemacht (das sieht dem lieben schwachen alten Herrn so ähnlich!). Obgleich er sich entschieden weigerte, vor der Hand in eine Verlobung einzuwilligen, ließ er sich doch bewegen, die heimlichen Zusammenkünfte im Park zu verzeihen, und Armadale’s Tauglichkeit, sein Schwiegersohn zu werden, durch gewisse Bedingungen auf die Probe zu stellen.

Diese Bedingungen bestehen darin, daß aller Verkehr, der persönliche sowohl als der schriftliche, zwischen seiner Tochter und Armadale für die nächsten sechs Monate abgebrochen bleibt. Die Zwischenzeit soll der junge Herr nach Gefallen und die junge Dame zur Vollendung ihrer Erziehung verwenden. Sind sie nach Ablauf der sechs Monate noch beide desselben Sinnes, und ist Armadale’s Verhalten währenddessen der Art gewesen, um den Major zu einer bessern Meinung von ihm zu berechtigen, so darf er dann um Miß Neelie werben, und wenn während noch fernerer sechs Monate Alles gut geht, soll dann die Heirath stattfinden.

Ich möchte den lieben alten Major küssen, wenn ich ihn nur hier hätte! Selbst wenn ich ihm zur Seite gestanden und ihm selbst die Bedingungen dictirt hätte, hätte ich mir nichts Besseres wünschen können. Sechs Monate völliger Trennung zwischen Armadale und Miß Milroy! Ich müßte wahrhaftig Unglück haben, wenn ich nicht in der Hälfte dieser Zeit, während aller Verkehr zwischen ihnen abgebrochen ist, in den erforderlichen Trauerkleidern einhergehe und öffentlich als Armadale’s Wittwe anerkannt bin.

Aber ich vergesse ihren Brief. Sie gibt die Gründe ihres Vaters in dessen eigenen Worten an. Der Major scheint so vernünftig und so gefühlvoll gesprochen zu haben, daß er seiner Tochter wie Armadale keine andere schickliche Alternative gelassen, als sich zu ergeben. So gut ich mich erinnern kann, hat er sich ungefähr folgendermaßen gegen Miß Neelie ausgesprochen:

»Denke nicht, daß ich grausam gegen Dich bin, mein liebes Kind, ich verlange nur von Dir, daß Du Mr. Armadale aus die Probe stellst. Es ist nicht nur recht, sondern sogar durchaus nothwendig, daß Du auf einige Zeit keinen Verkehr mit ihm hast, und ich will Dir sagen, warum. Erstens würden die Regulative einer Schule, die um anderer Mädchen willen unerläßlich sind, Dir nicht gestatten, Mr. Armadale zu sehen oder Briefe von ihm zu erhalten; und bist Du wirklich dazu bestimmt, Herrin von Thorpe-Ambrose zu werden, so mußt Du noch in eine Pension kommen, denn Du würdest Dich schämen und ich gleichfalls, Dich in einer solchen Stellung zu sehen, ohne die zu derselben gehörige Bildung zu besitzen. Zweitens wünsche ich zu sehen, ob Mr. Armadale’s Zuneigung zu Dir ohne die Ermunterung persönlichen oder schriftlichen Verkehrs mit Dir unverändert dieselbe bleibt; habe ich Unrecht, wenn ich ihn für flüchtig und unzuverlässig halte, und stellt sich Deine Meinung von ihm als die richtige heraus, so ist dies keine unbillige Prüfung für den jungen Mann, denn eine wahre Liebe überlebt weit längere Trennungen als eine Trennung von sechs Monaten. Und wenn diese Zeit überstanden und glücklich überstanden ist, und wenn ich ihn dann noch sechs Monate unter meiner eigenen Beobachtung gehabt und eine ebenso gute Meinung von ihm gewonnen habe wie Du, selbst dann, mein liebes Kind, nach all diesem fürchterlichen Warten, wirst Du noch vor Deinem achtzehnten Jahre eine verheirathete Frau sein. Bedenke dies, Neelie, und beweise mir Deine Liebe und Dein Vertrauen dadurch, daß Du aus meinen Vorschlag eingehst. Ich selbst will keinerlei Verkehr mit Mr. Armadale unterhalten. Ich will es Dir überlassen, an ihn zu schreiben und ihn von dem Beschlossenen zu unterrichten. Er mag einmal, doch nur ein einziges Mal, zur Erwiderung an Dich schreiben, um Dich von seinem Entschlusse in Kenntniß zu setzen. Dann aber darf um Deines Rufes willen nichts weiter gesagt und nichts weiter unternommen werden, und die ganze Sache muß streng geheim gehalten werden, bis die sechs Monate verstrichen sind.«

So sprach der Major. Miß Milroys Brief aber ist außerordentlich dumm und langweilig. Nachdem sie feierlichst verkündet, daß sie sich den Wünschen ihres geliebten Vaters opfern will —— die Dreistigkeit, mit der sie sich nach dem Geschehenen als eine Märtyrin darzustellen sucht, übersteigt Alles, was ich je gehört oder gelesen habe! —— erwähnt Miß Neelie, daß der Major auf die wenigen Tage, die noch vergehen müssen, ehe sie nach der Pension reist, der Luftveränderung wegen mit ihr nach einem Seebade zu gehen gedenke. Armadale solle seine Antwort mit umgehender Post, an ihren Vater adressiert, nach Lowestoft senden. Hiermit und mit einem letzten Ausbruche zärtlicher Betheuerungen, die krumm und schief in eine Ecke der Seite hineingedrängt waren, endete der Brief. (NB. Der Zweck des Majors bei dieser Seereise ist klar genug. Er hegt noch immer ein heimliches Mißtrauen gegen Armadale und ist weislich entschlossen, ferneren verstohlenen Zusammenkünften im Park vorzubeugen.)

Als ich mit dem Briefe zu Ende war —— ich hatte um Erlaubniß gebeten, gewisse Stellen, die ich besonders schön fand, zum zweiten und dritten Male zu lesen! —— berathschlagten wir alle auf das freundschaftlichste, was Armadale thun solle.

Anfangs war er thöricht genug, gegen Major Milroy’s Bedingungen zu protestieren. Mit seinem unausstehlichen rothen Gesicht, das eine thierische Gesundheit verräth, erklärte er, daß er eine sechsmonatliche Trennung von seiner geliebten Neelie nimmermehr überleben werde. Wie leicht begreiflich, schien sich Midwinter seiner ein wenig zu schämen und vereinigte sich mit mir, um ihn zur Vernunft zu bringen. Wir machten ihm begreiflich, was Jedem, der nicht eben ein blödsinniger Tölpel, klar genug gewesen wäre, daß ihm keine andere ehrenvolle oder selbst nur schickliche Alternative übrig bleibe, als das Beispiel von Unterwürfigkeit nachzuahmen, welches ihm die junge Dame gegeben habe. »Warten Sie, und Sie werden sie zur Gattin bekommen«, sagte ich. »Warte, und Du wirst den Major zwingen, seine ungerechte Meinung von Dir zu ändern«, setzte Midwinter hinzu. Da zwei geschickte Leute dergestalt Vernunft in seinen Kopf hineinhämmerten, brauche ich kaum zu sagen, daß sein Kopf endlich nachgab und er sich darein fand.

Nachdem wir ihn bewogen hatten, die Bedingungen des Majors anzunehmen —— ich trug Sorge, ihn, ehe er an Miß Milroy schrieb, daran zu erinnern, wie meine Verlobung mit Midwinter ihr wie jedem Andern ein Geheimnis; bleiben müsse —— mußten wir zunächst eine Entscheidung hinsichtlich seiner Pläne für die Zukunft treffen. Ich hatte die nothwendigen Argumente in Bereitschaft, um ihn davon abzuhalten, nach Thorpe-Ambrose zurückzukehren, wenn er dies zu thun im Sinne gehabt hätte. Doch sagte er nichts hiervon, sondern erklärte im Gegentheil, nichts in der Welt könne ihn bewegen, dorthin zurückzukehren. An Ort und Menschen knüpften sich ihm die unangenehmsten Gedanken. Dort sei jetzt keine Miß Milroy, die er im Parke treffen. und kein Midwinter, der ihm im Herrnhause Gesellschaft leisten könne. »Lieber will ich Steine auf der Chaussee klopfen«, war seine verständige und heitere Bemerkung, »als jetzt nach Thorpe-Ambrose heimkehren.«

Hierauf kam der erste Vorschlag von Midwinter. Der listige alte Pfarrer, der mir und Mrs. Oldershaw so viel Noth machte, ist krank gewesen, wie es scheint, soll sich aber seit kurzem in der Genesung befinden, wie berichtet worden ist. »Warum nicht nach Sommersetshire reisen«, sagte Midwinter, »und unsern beiderseitigen guten Freund Mr. Brock besuchen?«

Bereitwillig genug ging Armadale auf diesen Vorschlag ein. Er sehnte sich erstens, »den lieben alten Brock« und zweitens seine Yacht zu sehen. Nachdem er noch ein paar Tage mit Midwinter in London zugebracht habe, wolle er mit Freuden nach Sommersetshire reisen. Doch was dann?

Hier ersah ich mir meine Gelegenheit. »Sie haben eine Pacht, Mr. Armadale«, sagte ich, »und wissen, daß Midwinter nach Italien reist. Warum nicht, wenn Sie Sommersetshires überdrüssig sind, eine Fahrt nach dem Mittelländischen Meere machen, um Ihren Freund und dessen Frau in Neapel zu besuchen?«

Ich machte die Anspielung auf die Frau des Freundes mit der aller kleidsamsten Bescheidenheit und Verwirrung. Armadale war entzückt. Ich hatte den besten Plan von der Welt erdacht, ihm über die lange Zeit hinwegzuhelfen. Er sprang aus und drückte mir in einer wahren Ekstase von Dankbarkeit die Hände. Wie verhaßt mir die Leute sind, welche ihre Gefühle nur dadurch auszudrücken vermögen, daß sie andern Leuten die Hände bis zum Wehthun drücken!

Midwinter war über meinen Vorschlag ebenso erfreut wie Armadale, doch sah er Schwierigkeiten für die Ausführung desselben voraus. Er hielt die Yacht für zu klein zu einer Fahrt nach dem Mittelländischen Meere und meinte, es werde besser sein, wenn Allan ein größeres Fahrzeug miethe. Sein Freund war anderer Ansicht. Bei diesem Streite ließ ich sie allein. Es genügte mir vollkommen, vor der Hand so viel erreicht zu haben, daß Armadale nicht nach Thorpe-Ambrose zurückkehrt und bewogen worden ist, eine Reise nach Italien zu machen. Meinestheils würde ich die kleine Yacht vorziehen, denn es scheint einige Aussicht vorhanden zu sein, daß sie mir den unschätzbaren Dienst leisten dürfte, ihn zu ertränken.

Fünf Uhr. Das Bewußtsein, daß ich Armadale’s künftiges Thun völlig in meiner Gewalt habe, machte mich so unruhig, daß ich, nach meiner Wohnung zurückgekehrt, wieder ausgehen und etwas unternehmen mußte. Da es mir an einem neuen Interesse für meine Gedanken fehlte, begab ich mich nach Pimlico, um mit der Mutter Oldershaw eine Lanze zu brechen.

Ich ging zu Fuße und kam unterwegs zu dem Entschlusse, mich mit ihr zu zanken. Da der eine meiner Wechsel bereits bezahlt ist und Midwinter die andern beiden einlösen will, sobald dieselben verfallen, so stehe ich gegenwärtig dem alten Geschöpfe so unabhängig gegenüber, wie ich mir nur wünschen kann. Kommt es zwischen uns zum Streite, so behalte ich stets die Oberhand und finde sie, sowie ich sie habe fühlen lassen, daß mein Wille der stärkere ist, außerordentlich höflich und gefällig In meiner derzeitigen Lage dürfte es mir in verschiedener Hinsicht von Nutzen sein, wenn ich mich ihres Beistandes versichern könnte, ohne ihr Geheimnisse anzuvertrauen, die ich jetzt mehr denn je für mich behalten will. Das waren meine Gedanken, während ich nach Pimlico wanderte. Der Mutter Oldershaw erst die Nerven zu erschüttern und sie dann um meinen kleinen Finger zu wickeln, erschien mir als eine interessante Beschäftigung für den Rest des Nachmittags.

Als ich in Pimlico anlangte, harrte meiner eine Ueberraschung. Das Haus war verschlossen, und zwar nicht nur auf Mrs. Oldershaw’s Seite, sondern auch auf der des Doctor Downward. Die Ladenthür war mit einem Vorlegeschloß versehen, und ein Mann ging auf der Lauer umher, der allerdings ein gewöhnlicher Bummler sein konnte, mir aber sehr das Ansehen eines verkleideten Polizeiers hatte.

Da ich weiß, welchen Gefahren sich der Doctor in seinem besonderen Zweige der Praxis aussetzt, vermuthete ich augenblicklich, daß etwas Ernstliches vorgefallen sei und daß selbst die pfiffige alte Mutter Oldershaw sich diesmal compromittirt habe. Darum rief ich, ohne stehen zu bleiben oder irgendwie mich zu erkundigen, den ersten Fiaker an, der an mir vorüberkam, und fuhr nach dem Postbureau, nach dem ich mir Briefe nachbestellt, wenn nach meiner Abreise von Thorpe-Ambrose noch solche in meiner dortigen Wohnung für mich einliefen.

Auf meine Anfrage ward mir ein Brief an Miß Gwilt eingehändigt. Er war in Mrsk Oldershaw’s Handschrift und theilte mir, ganz wie ich erwartet hatte, mit, daß der Doktor in ernstliche Ungelegenheiten gerathen, daß sie leider selbst mit in die Sache verwickelt sei und daß sie sich beide vor der Hand versteckt hielten. Der Brief schloß mit einigen ziemlich giftigen Redensarten über mein Verhalten in Thorpe-Ambrose und der Drohung, daß Mrs. Oldershaw noch nicht mit mir fertig sei. Dieser Ton ihres Briefes gewährte mir einige Erleichterung, denn hätte sie eine Ahnung von meinen wahren Plänen gehabt, so würde sie höflich und kriechend gewesen sein. Sobald man mir Licht heraufgebracht, verbrannte ich den Brief. Und damit haben die Beziehungen zwischen Mutter Jesabel und mir für jetzt ein Ende. Alle meine schmutzige Arbeit muß ich nun selbst verrichten und werde vielleicht um so sicherer sein, als ich mich nur auf meine eigenen Hände verlasse.

Den 31. Juli. Ich habe weitere nützliche Auskunft erhalten. Unter dem Vorwande, daß mein Ruf leiden könne, wenn er zu oft in meiner Wohnung gesehen würde, traf ich mit Midwinter wieder im Park zusammen und hörte die letzten Neuigkeiten von Armadale, die sich ereignet, seit ich gestern das Hotel verlassen.

Nachdem Armadale an Miß Milroy geschrieben hatte, ergriff Midwinter die Gelegenheit, von seinen häuslichen Angelegenheiten während seiner Abwesenheit vom Herrnhause mit ihm zu sprechen. Man beschloß, daß die Dienerschaft Kostgeld empfangen und Mr. Bashwood die Oberaufsicht erhalten solle. Dieses Wiederauftauchen von Mr. Bashwood in Verbindung mit meinen jetzigen Interessen gefällt mir eigentlich nicht, allein es läßt sich nicht ändern. Die nächste Frage, hinsichtlich des Geldes, ward sofort von Armadale selbst beseitigt. All sein baares Geld, das sich auf eine beträchtliche Summe belief, sollte von Mr. Bashwood in Armadale’s Namen in Coutts’ Bank deponiert werden. Dies, sagte er, werde ihm die Plackerei ferneren Briefwechsels mit seinem Verwalter ersparen und ihn in Stand setzen, sich, wenn er ins Ausland reise, ohne Verzug mit den erforderlichen Summen zu versehen. Da dieser Vorschlag unbedingt der einfachste und sicherste war, so ward er mit Midwinter’s vollster Zustimmung angenommen, und somit würde die geschäftliche Besprechung ein Ende gehabt haben, wenn nicht der ewige Mr. Bashwood wieder zum Vorschein gekommen wäre und die Unterhaltung verlängert hätte.

Bei weiterer Ueberlegung scheint es Midwinter eingefallen zu sein, daß man doch nicht die ganze Verantwortlichkeit für die Angelegenheiten von Thorpe-Ambrose auf Mr. Bashwood legen sollte. Ohne das geringste Mißtrauen gegen ihn zu hegen, fühlte Midwinter dennoch, daß er für den Nothfall Jemand haben müsse, bei dem er sich Raths erholen könne. Armadale hatte hiergegen nichts einzuwenden; er fragte blos, wer dieser Jemand sein solle.

Das war nicht leicht zu beantworten. Der eine oder der andere der beiden Rechtsanwälte von Thorpe-Ambrose hätte sich dazu geeignet, wenn Armadale nicht mit beiden auf gespanntem Fuße gestanden hätte. Eine Aussöhnung mit einem so bitteren Feinde, wie der ältere Advocat, Mr. Darch, war außer Frage, und eine Wiedereinsetzung Mr. Pedgift’s in seine vorige Stellung würde von Armadales Seite das Ansehen einer stillschweigenden Billigung des abscheulichen Benehmens des Alten gegen mich gehabt haben, die kaum mit der Achtung und Freundschaft in Einklang zu bringen gewesen wäre, die er für die Dame fühlte, welche so bald die Gattin seines Freundes werden sollte. Nach einiger fernerer Erwägung des Punktes kam Midwinter auf eine neue Idee, welche die Schwierigkeit zu beseitigen schien. Er schlug vor, Armadale möchte an einen achtbaren Rechtsanwalt in Norwich schreiben, ihm in allgemeinen Ausdrücken seine Lage schildern und ihn ersuchen, bei sich bietender Gelegenheit als Mr. Bashwoodss Rathgeber und Vorgesetzter zu fungieren. Da Norwich per Eisenbahn nur eine kurze Strecke von Thorpe-Ambrose entfernt ist, so hatte Armadale gegen diesen Vorschlag nichts einzuwenden und versprach an den Advocaten zu schreiben. In der Besorgniß, Armadale möchte, wenn er ohne Beistand schriebe, irgend ein Versehen machen, hatte Midwinter den nothwendigen Brief zur Abschrift für ihn aufgesetzt, und Armadale war eben beschäftigt, den Brief abzuschreiben und außerdem Mr. Bashwood seine Instructionen über die in Coutts’ Bank zu deponierende Summe zu ertheilen.

Diese Details sind an sich so trocken und uninteressant, daß ich anfangs nicht recht wußte, ob ich sie in mein Tagebuch eintragen solle. Allein ein wenig Nachsinnen hat mich überzeugt, daß sie doch zu wichtig sind, als daß ich sie übergehen dürfte. Von meinem Gesichtspunkte aus bedeuten dieselben, daß Armadale sich durch sein eigenes Thun von allem Verkehr mit Thorpe-Ambrose abschneidet, selbst vom schriftlichen. Für alle, die er dort zurückläßt, ist er bereits so gut wie todt. Die Ursachen, die zu einem solchen Resultate geführt haben, haben doch sicherlich aus den besten Platz Anspruch, den ich ihnen in diesen Memoiren geben kann.

Den l. August. Nichts zu berichten, außer daß ich einen langen, ruhigen, glücklichen Tag mit Midwinter zugebracht habe. Er miethete einen Wagen und wir fuhren nach Richmond und speisten dort zu Mittag. Nach meinem heutigen Zusammensein mit ihm kann ich mich nicht länger über mich selbst täuschen. Komme, was da wolle, ich liebe ihn.

Ich bin förmlich traurig, seit er mich verlassen hat. Es hat sich mir die Ueberzeugung aufgedrängt, daß der glückliche, glatte Verlauf meiner Angelegenheiten, seit ich in London bin, eben zu glatt und zu glücklich ist, als daß er fortdauern könnte. Etwas drückt mich heute Abend, das etwas Anderes ist als die dicke Londoner Luft.

Den 2. August, drei Uhr. Oft genug haben mich meine Vorgefühle getäuscht, wie Andere auch, aber ich fürchte fast, daß mein Vorgefühl von gestern Abend diesmal wirklich ein prophetisches war.

Nach dem Frühstück ging ich zu einer Schneiderin in der Nähe, um mir einige wohlfeile Sommerkleider zu bestellen, und dann nach Midwinter’s Hotel, um wieder einen Ausflug aufs Land mit ihm zu verabreden. Für den Weg zu der Schneiderin und nach dem Gasthofe, sowie für einen Theil des Rückwegs hatte ich einen Fiaker genommen, da mir aber der abscheuliche Geruch im Wagen zu sehr zuwider wurde —— wahrscheinlich hatte Jemand darin geraucht —— so stieg ich aus, um mich vollends zu Fuße nach Hause zu begeben. Ehe ich noch zwei Minuten auf dem Trottoir gegangen, ward ich gewahr, daß mir ein fremder Mann folgte.

Das hat vielleicht nichts weiter zu bedeuten, als daß irgend einem müßigen Menschen meine Gestalt und mein Aussehen überhaupt auffielen. Mein Gesicht konnte keinen Eindruck auf ihn gemacht haben, denn wie gewöhnlich war es hinter meinem Schleier verborgen. Ob er mir, natürlich in einem Fiaker, von der Schneiderin oder vom Gasthofe gefolgt war, kann ich« nicht sagen. Auch weiß ich nicht gewiß, ob er mir bis zu dieser Thür nachging. Ich weiß nur, daß ich ihn aus den Augen verlor, ehe ich hier anlangte. Da ist nun nichts zu machen, als zu warten, bis mich die weiteren Ereignisse aufklären. Steckt etwas Ernstliches dahinter, so werde ich es bald entdecken.

Fünf Uhr. In der That ist’s ernstlich. Vor zehn Minuten befand ich mich in meinem Schlafzimmer, das mit meiner Wohnstube in Verbindung steht. Eben wollte ich es verlassen, als ich draußen auf dem Treppenabsatze eine fremde Stimme hörte, eine Frauenstimme. Im nächsten Augenblick ward plötzlich meine Wohnstubenthür geöffnet, die Frauenstimme sagte: »Sind dies die Zimmer, die Sie zu vermiethen haben?« und obgleich die hinter ihr kommende Hauswirthin erwiderte: »Nein, Madame, eine Treppe höher«, kam die Person doch geraden Wegs nach meinem Schlafzimmer, als hätte sie jene nicht gehört. Ich hatte gerade noch Zeit, ihr die Thür vor der Nase zuzuwerfen, ehe sie mich erblickte. Darauf erfolgten die nothwendigen Erklärungen und Entschuldigungen zwischen der Wirthin und der Fremden im Wohnzimmer, und dann war ich wieder allein.

Ich habe keine Zeit, noch weiter zu schreiben. Es ist klar, daß es sich Jemand angelegen sein läßt, mich zu identificiren, und daß, wäre ich nicht zu schnell für sie gewesen, die Fremde diesen Zweck durch Ueberrumpelung erreicht hätte. Ich vermuthe, daß sie und der Mann, der mir auf der Straße folgte, mit einander im Bündnisse stehen, und ohne Zweifel steht Jemand im Hintergrunde, dessen Interesse sie dienen. Greift Mutter Oldershaw mich etwa im finsteren an? Oder wer kann es sonst sein? Einerlei, wer es ist, meine gegenwärtige Lage ist zu kritisch, als daß ich dergleichen leichtfertig ansehen dürfte. Heute Abend noch muß ich dies Haus verlassen und darf keine Spur zurücklassen, nach der man mir anderswohin folgen kann.

Den 3. August. Gary-Street, Tottenham-Court-Road. Noch gestern Abend, nachdem ich Midwinter um Entschuldigung gebeten, in der meine kranke Mutter als volIgültige Ursache meines Verschwindens figurierte, machte ich mich aus dem Staube und fand hier eine Zuflucht. Das hat einiges Geld gekostet, allein mein Zweck ist erreicht! Unmöglich kann mir Jemand von All-Saints-Terrace bis hierher gefolgt sein.

Nachdem ich meiner Wirthin die erforderliche Entschädigung gezahlt, weil ich sie ohne vorherige Kündigung verließ, verabredete ich mit ihrem Sohne, daß er meine Koffer in einem Fiaker nach dem Gepäckzimmer des nächsten Bahnhofs schaffen und den Empfangsschein über dasselbe in einem Briefe nach einem Postbureau schicken solle, wo ich mir denselben abholen werde. Während er mit dem Gepäck in der einen Richtung in einem Fiaker fortfuhr, schlug ich in einem zweiten Fiaker eine andere Richtung ein, nur einige Kleinigkeiten in einer Handtasche mit mir nehmend. Ich fuhr geraden Wegs nach dem Hause der Schneiderin wo ich gestern bemerkt hatte, daß der Laden einen Ausgang aus der Hinterseite habe, durch den die Arbeiterinnen aus und ein gingen. Alsbald ging ich hinein und ließ den Fiaker. Vor der Thür auf mich warten. »Ein Mann verfolgt mich«, sagte ich, »und ich möchte ihn loswerden. Hier ist der Fiakerlohn; warten Sie zehn Minuten, ehe Sie den Kutscher bezahlen, und lassen Sie mich sogleich zur Hinterthür hinaus.« In der nächsten Minute befand ich mich in der kleinen Stallgasse hinter dem Hause, in einer zweiten in der nächsten Straße, in einer dritten rief ich einen vorüberfahrenden Omnibus an und war wieder frei!

Nachdem ich jetzt allen Verkehr zwischen mir und meiner vorigen Wohnung abgeschnitten hatte, war, für den Fall, daß Midwinter und Armadale beobachtet würden, zunächst die Vorsichtsmaßregel zu treffen, daß ich, wenigstens auf einige Tage, auch allen Verkehr zwischen mir und dem Gasthofe abbrach. Ich habe an Midwinter geschrieben und, meine kranke Mutter abermals vorschützend, ihn benachrichtigt, daß ich durch meine Pflichten als Krankenwärterin gefesselt sei und wir vor der Hand nur brieflich mit einander verkehren könnten. Obgleich mir noch immer nicht klar, wer mein verborgener Feind ist, kann ich zu meiner Vertheidigung doch nichts weiter unternehmen, als was ich bereits gethan habe.

Den 4. August. Die Freunde im Hotel haben beide an mich geschrieben Midwinter spricht in den zärtlichsten Ausdrücken sein Bedauern über unsere Trennung aus. Armadale fleht mich in einer sehr fatalen Angelegenheit um Beistand an. Vom Herrnhause ist ihm ein Brief des Majors nachgesandt worden und er legt denselben seinem Schreiben an mich bei.

Aus jenem Briefe geht hervor, daß der Major, nachdem er das Seebad verlassen und seine Tochter in der ursprünglich für sie bestimmten Pension, in der Nähe von Ely, in Sicherheit gebracht hat, am Ende der Woche nach Thorpe-Ambrose zurückgekehrt ist und dort zuerst die Gerüchte über mich und Armadale gehört und augenblicklich an ihn geschrieben hat, ihn hiervon in Kenntniß zu setzen.

Der Brief ist streng und kurz. Major Milroy weist das Gerücht als völlig unglaubwürdig von sich, weil es ihm unmöglich ist, an eine so »kaltblütige Falschheit« zu glauben, wie dieses Gerücht documentiren würde, wenn es wahr wäre. Er schreibt nur, um Armadale anzukündigen daß, wenn er in Zukunft nicht vorsichtiger in seinen Handlungen sei, er alle Ansprüche auf Miß Milroy’s Hand aufzugeben habe.

»Ich erwarte auf diesen Brief keine Antwort; schließt das Schreiben, »denn ich verlange keine leeren Betheuerungen in bloßen Worten. Ihr Verhalten allein im Verlaufe der Zeit soll mir als Richtschnur dienen. Laffen Sie mich außerdem hinzufügen, daß ich Ihnen bestimmt verbiete, sich dieses Briefes als eines Vorwandes zu bedienen, um die von uns festgestellten Bedingungen zu brechen und an meine Tochter zu schreiben. Es ist nicht nöthig, daß Sie sich in ihren Augen rechtfertigen, denn zum Glücke hatte ich sie bereits mit mir aus Thorpe-Ambrose hinweggenommen, ehe dieses abscheuliche Gerücht bis zu ihr dringen konnte, und ich werde Sorge tragen, daß sie da, wo sie jetzt, ist, nicht durch dasselbe beunruhigt oder betrübt wird.

Armadale’s Bitte an mich unter diesen Umständen geht nun, da ich ja die unschuldige Ursache an diesem neuen Angriffe auf seinen Ruf sei, dahin, an den Major zu schreiben, um ihn von aller Indiscretion in der Sache freizusprechen und zu sagen, wie die gewöhnlichste Höflichkeit ihn gezwungen habe, mich nach London zu begleiten. In Anbetracht der Nachrichten, die er mir hiermit sendete, verzeihe ich ihm die Unverschämtheit einer solchen Bitte. Sicherlich gereicht mir der Umstand zum Vortheil, daß die Klatschereien von Thorpe-Ambrose nicht Miß Milroy zu Ohren kommen sollen. Bei ihrem Temperamente dürfte sie, wenn sie davon hörte, irgend etwas Verzweifeltes unternehmen, um sich ihres Geliebten zu versichern, und mich somit ernstlich compromittiren. Was mein Verfahren Armdale gegenüber anlangt, so ist dies klar genug. Ich werde ihn durch das Versprechen, an Major Milroy zu schreiben beruhigen, und in meinem eigenen persönlichen Interesse mir die Freiheit nehmen, nicht Wort zu halten.

Sonst hat sich heute nichts ereignet, das nur irgendwie verdächtig aussähe. Wer meine Feinde auch sind, sie haben meine Spur verloren und sollen mich bis zur Zeit, wo ich England verlasse, nicht mehr wiederfinden. Ich war auf dem Postbureau und habe dort den Gepäckschein in Empfang genommen, der, wie ich befohlen, in einen Brief von All-Saints-Terrace an mich eingeschlossen war. Das Gepäck selbst werde ich für jetzt noch im Gepäckzimmer verbleiben lassen, bis ich meinen Weg etwas klarer vor mir sehe, als dies bis jetzt der Fall ist.

Den 5. August. Wieder zwei Briefe vom Hotel. Midwinter schreibt, mich in der liebenswürdigsten Weise von der Welt daran zu erinnern, daß er morgen lange genug in dem Kirchsprengel gewohnt haben wird, um sich den bewußten Erlaubnißschein auswirken zu können, und daß er sich denselben in der üblichen Weise in Doctors’ Commons zu verschaffen gedenkt. Soll ich es je sagen, so ist jetzt der Augenblick, nein zu sagen. Ich kann nicht nein sagen. Das ist die reine Wahrheit, und damit ist die Sache abgemacht.

Armadale’s Schreiben ist ein Abschiedsbrief. Er dankt mir für meine Bereitwilligkeit, an den Major zu schreiben, und wünscht mir Lebewohl, bis wir einander in Neapel wiedersehen. Er sagt, er habe von seinem Freunde erfahren, daß gewisse Gründe ihm das Vergnügen versagen, bei unserer Heirath gegenwärtig zu sein. Unter diesen Umständen halte ihn nichts in London zurück. Alle seine Geschäftsangelegenheiten seien abgemacht, er reise heute mit dem Nachtzuge nach Sommersetshire und werde nach einem Besuche bei Mr. Brock trotz Midwinter’s Gegenvorstellungen in seiner eigenen Yacht vom Kanal von Bristol nach dem Mittelländischen Meere absegeln.

Den Brief begleitete ein Juwelenkästchen mit einem Ringe —— Armadales Hochzeitsgeschenk für mich. Es ist ein Rubin, doch nur ein kleiner und die Fassung im allerschlechtesten Geschmack. Miß Milroy würde er einen Ring von zehnmal so großem Werthe gegeben haben, hätte er ihr ein Hochzeitsgeschenk gemacht. Meiner Ansicht nach gibt es kein widerlicheres Geschöpf als einen geizigen jungen Mann. Ob er in seiner wackligen kleinen Yacht wohl ersaufen wird?

Ich bin so unruhig und aufgeregt, daß ich kaum weiß, was ich schreibe. Nicht etwa, daß ich vor dem Bevorstehenden zurück bebe, mir ist nur, als ob ich schneller vorwärts getrieben würde, als mir lieb ist. Geschieht nichts, es zu verhindern, so wird mich Midwinter, wie die Sachen jetzt stehen, am Ende dieser Woche bereits geheirathet haben. Und dann!

Den 6. August. Könnte mich jetzt irgend etwas erschrecken, so würde «es die Nachricht gethan haben, die ich heute erhalten.

Als Midwinter diesen Morgen, nachdem er sich den Heirathserlaubschein verschafft hatte, nach dem Gasthofe zurückkehrte, fand er dort eine telegraphische Depesche vor. Dieselbe enthielt die wichtige Nachricht von Armadale, daß Mr. Brock einen Rückfall gehabt und die Aerzte alle Hoffnung auf seine Genesung aufgegeben hätten. Auf den Wunsch des Sterbenden ist Midwinter zu ihm beschieden worden, um Abschied von ihm zu nehmen, und Armadale bittet aufs dringendste, keinen Augenblick zu verlieren, sondern mit dem nächsten Zuge abzureisen.

Das hastig geschriebene Billet, das mich hiervon in Kenntniß setzt, meldet mir zugleich, daß Midwinter in dem Augenblicke, wo dasselbe in meine Hände gelangt, sich bereits auf dem Wege nach Sommersetshire befindet. Sobald er Mr. Brock gesehen, will er mit der Abendpost ausführlicher an mich schreiben.

Diese Nachricht hat ein Interesse für mich, das Midwinter sich wenig träumen läßt. Außer mir lebt nur noch ein einziges menschliches Wesen, dem das Geheimniß seiner Geburt und seines Namens bekannt ist, und dies ist der alte Mann, der ihn jetzt aus dem Sterbelager erwartet. Was werden sie die letzten Augenblicke mit einander sprechen? Wird ein zufälliges Wort sie vielleicht in die Zeit zurückführen, wo ich auf Madeira in Mrs. Armadales Diensten war? Werden sie wohl von mir sprechen?

Den 7. August. Der versprochene Brief ist so eben angelangt. Sie haben keine Scheideworte mit einander ausgetauscht. Alles war bereits vorüber, ehe Midwinter noch in Sommersetshire ankam. Armadale kam ihm am Thore der Pfarrei mit der Nachricht entgegen, daß Mr. Brock todt sei.

Ich versuche dagegen zu kämpfen, aber nach der seltsamen Verwickelung von Umständen, die mich seit einigen Wochen immer enger umsponnen haben, liegt in diesem letzten Ereignisse etwas, was meine Nerven erschüttert. Gestern, als ich mein Tagebuch aufmachte, stand mir nur noch eine letzte Gefahr der Entdeckung im Wege. Wie ich das Buch heute öffne, ist diese Gefahr durch Mr. Brock’s Tod hinweggeräumt. Das hat etwas zu bedeuten, ich möchte wissen was.

Die Beerdigung soll Sonnabend Vormittag stattfinden. Midwinter wird mit Armadale derselben beiwohnen. Aber zuvor gedenkt er nach London zurückzukehren und sagt, daß er heute Abend, in der Hoffnung mich zu sehen, auf dem Wege vom Bahnhofe nach dem Gasthofe bei mir ein sprechen wird. Wie die Sachen jetzt stehen, würde ich ihn empfangen, selbst wenn Gefahr damit verbunden wäre. Doch ist keine Gefahr dabei, wenn er von der Eisenbahn hierher kommt, und nicht vom Hotel.

Fünf Uhr. Ich habe mich nicht in der Annahme getäuscht, daß meine Nerven heftig erschüttert seien. Kleinigkeiten, auf die ich zu andern Zeiten kaum achten würde, lasten mir jetzt schwer auf dem Herzen.

Vor zwei Stunden, als ich in Verzweiflung darüber war, wie ich den Tag hinbringen solle, erinnerte ich mich der Schneiderin, die mir meine Sommerkleider fertigt. Schon gestern hatte ich zu ihr gehen und Anprobe halten wollen, aber in der Aufregung über die Nachricht hinsichtlich Mr. Brocks war mir die Sache ganz entfallen. Deshalb ging ich, begierig, etwas zu thun, um mich selbst loszuwerden, heute Nachmittag zu ihr. Ich bin aber unruhiger und beklommener zurückgekehrt, als ich beim Ausgehen war, denn ich habe die Befürchtung mit mir heimgebracht, ich werde noch Ursache haben, zu bereuen, daß ich nicht mein unfertiges Kleid in den Händen der Schneiderin gelassen.

Auf der Straße begegnete mir diesmal nichts. Erst im Ankleidezimmer ward mein Argwohn rege, und dort kam es mir allerdings in den Sinn, daß der Versuch, mich aufzuspüren, den ich in All-Saints-Terrace vereitelt, noch nicht aufgegeben ist, und daß die Ladenjungfern, ja vielleicht ihre Herrin selbst, bestochen worden sind.

Kann ich mir für diesen Eindruck irgendeinen Grund angeben? Wollen einmal überlegen.

Allerdings bemerkte ich zweierlei, was unter den obwaltenden Umständen außerhalb der gewöhnlichen Praxis lag. Erstens waren zweimal so viel Ladenjungfern im Ankleidezimmer zugegen, als man brauchte. Das sah verdächtig aus, und dennoch hätte ich es mir in mehr als einer Weise erklären können. Ist nicht gegenwärtig eine stille Zeit? Und weiß ich nicht aus Erfahrung, daß ich zu der Art von Frauen gehöre, in Betreff deren andere Weiber stets eine boshafte Neugier hegen? Zweitens schien es mir, als ob eine der Ladenjungfern in sehr eigenthümlicher Art darauf bestände, mich in eine gewisse Richtung zu drehen, nämlich mit dem Gesichte der Glasthür zu, die nach dem Arbeitszimmer führt und auf der andern Seite mit einem Vorhange versehen ist. Bei alledem gab sie mir aber auf meine desfallsige Frage einen Grund dafür an. Sie sagte, es falle so das Licht besser auf mich, und als ich mich umsah, bemerkte ich allerdings das Fenster hinter mir, welches bewies, daß sie Recht hatte. Dennoch machten diese Kleinigkeiten einen solchen Eindruck auf mich, daß ich durchaus etwas an dem Kleide auszusetzen fand, um damit eine Entschuldigung eine abermalige Anprobe zu haben, ehe ich ihnen meine Adresse angab und es mir zuschicken ließ. Reine Einbildung vermuthlich, vielleicht selbst in diesem Augenblicke reine Einbildung. Einerlei, ich werde meinem Instinkte folgen und das Kleid aufgeben. Um mich noch deutlicher auszudrücken, ich werde nicht wieder in den Laden gehen.

Um Mitternacht. Midwinter kam seinem Versprechen gemäß zu mir. Eine Stunde ist vorüber, seit wir uns gute Nacht wünschten, und da sitze ich noch immer mit der Feder in der Hand und denke an ihn. Ich finde keine Worte, um zu schildern, was zwischen uns geschehen ist. Alles, was ich schreiben kann, ist, daß er meinen Entschluß erschüttert hat. Zum ersten Male, seit mir in Thorpe-Ambrose der Weg zu Armadale’s Tode so leicht erschien, ist mirs, als ob der Mann, den ich im Geiste verurtheilt, Aussicht habe, mir zu entrinnen.

Hat meine Liebe zu Midwinter mich etwa so verändert? Oder hat seine Liebe zu mir sich nicht nur alles dessen bemächtigt, was ich ihm geben, sondern auch dessen, was ich ihm vorenthalten möchte? Mir ist, als hätte ich mich selbst verloren, mich selbst in ihm verloren den ganzen Abend hindurch. Er war tief bewegt über die Vorgänge in Sonimersetshire und bewirkte, daß ich mich ebenso niedergeschlagen und unglücklich darüber fühlte wie er selbst. Obgleich er sich mit keiner Silbe darüber ausgesprochen, weiß ich doch, daß Mr. Brocks Tod ihn als eine böse Vorbedeutung für unsere Vermählung erschreckt hat; ich weiß dies, denn auch ich habe das Gefühl, als ob Mr. Brocks Tod ein böses Omen für uns sei. Der Aberglaube, sein Aberglaube erfaßte mich mit einer solchen Gewalt, daß, als wir ruhiger wurden und von der Zukunft sprachen, als er mir sagte, daß er entweder seine neue Anstellung aufgeben oder schuldigermaßen am nächsten Montag nach dem Continent müsse, ich vor dem Gedanken an unsere Heirath so unmittelbar nach Mr. Brocks Beerdigung förmlich zurückschauderte; im Drange des Augenblicks sagte ich zu ihm: »Geh und beginne Dein neues Leben allein! Geh und lasse mich hier auf glücklichere Zeiten warten.«

Er nahm mich in seine Arme, seufzte und küßte mich mit entzückender Zärtlichkeit. Er sagte —— o, so sanft und so traurig: »Getrennt von Dir habe ich jetzt kein Leben mehr.« Wie er diese Worte sprach, war es, als ob ein Gedanke in meinem Herzen gleich einem Echo erwiderte: »Warum sollte ich nicht die mir noch übrige Lebenszeit in einer solchen Liebe harmlos und glücklich verbringen?« Kann mir es nicht erklären, mir nicht Vergegenwärtigen. Das war der Gedanke, der in jenem Augenblicke in mir aufstieg, und dieser Gedanke lebt noch jetzt in mir. Während ich dies schreibe, sehe ich meine Hand an und frage mich: ist dies wirklich die Hand Lydia Gwilt’s?

Armadale ——

Nein! Ich will nie mehr von Armadale schreiben, nie mehr an Armadale denken.

Doch ja, noch einmal will ich an ihn denken, noch einmal von ihm schreiben, denn es beruhigt mich, zu wissen, daß er abreist, daß das Meer zwischen uns liegen wird, ehe ich mich verheirathe. Seine alte Heimat ist ihm nicht länger eine! Heimat, jetzt, da dem Verlust seiner Mutter der Verlust seines ersten und besten Freundes gefolgt ist. Er hat beschlossen, sobald die Beerdigung vorüber, noch am selben Tage nach dem fremden Meere abzusegeln. Vielleicht sehen wir uns in Neapel wieder, vielleicht nicht. Werde ich dann ein anderes Weib sein? Das möchte ich wissen! Das möchte ich wissen!

Den 8. August. Eine Zeile von Midwinter. Er ist nach Sommersetshire zurückgekehrt, um morgen zu rechter Zeit zum Begräbnisse dort zu sein, und wird, nachdem er von Armadale Abschied genommen hat, morgen Abend wieder hier sein.

Die letzten Förmlichkeiten, die unserer Heirath vorangehen müssen, sind alle überstanden. Nächsten Montag soll ich seine Gattin werden. Die Ceremonie darf nicht später als halb elf Uhr stattfinden; dies wird uns gerade Zeit geben, um von der Kirche nach der Eisenbahn zu fahren und noch an dem nämlichen Tage unsere Reise nach Neapel anzutreten.

Heute —— Sonnabend —— Sonntag! Ich fürchte mich nicht vor der Zeit, sie wird verstreichen. Ich fürchte mich nicht vor mir selbst, wenn ich nur alle Gedanken außer einem einzigen von mir fern halten kann. Ich liebe ihn! Tag und Nacht, bis der Montag da ist, will ich an nichts Anderes denken. Ich liebe ihn!

Vier Uhr. Wider meinen Willen drängen sich mir andere Gedanken auf. Mein gestriger Argwohn war keine bloße Einbildung; die Schneiderin ist in der That bestochen. Meine Thorheit, sie wieder aufzusuchen, hat zur Folge gehabt, daß man meiner Spur hierher gefolgt ist. Ich weiß ganz gewiß, daß ich der Frau meine Adresse nicht gegeben habe, und dennoch hat sie mir mein neues Kleid heute um zwei Uhr zugesandt.

Ein Mann überbrachte es mir mit der Rechnung und der höflichen Bestellung, daß man, da ich mich zur angesetzten Stunde nicht zum Wiederanprobiren eingestellt, das Kleid fertig gemacht habe und es mir hiermit zuschicke. Er traf mich im Gange, sodaß mir nichts Anderes übrig blieb, als ihm die Rechnung zu bezahlen und ihn fortzuschicken. Jedes andere Verfahren wäre bei der Wendung, welche die Dinge jetzt genommen, reine Thorheit gewesen. Der Bote, welcher nicht der Mann ist, der mir auf der Straße nachgegangen, sondern ohne allen Zweifel ein anderer Spion, den man ausgesandt hat, mich in Augenschein zu nehmen, würde, hätte ich etwas davon gesagt, erklärt haben, er wisse nichts von der Sache. Die Schneiderin aber würde mir gerade ins Gesicht sagen, ich hätte ihr meine Adresse gegeben. Das Einzige, was ich jetzt thun darf, ist, daß ich im Interesse meiner Sicherheit all meinen Verstand zusammennehme und, wenn mir dies möglich, aus der falschen Stellung heraustrete, in die mich meine eigene Unbesonnenheit gestürzt hat.

Sieben Uhr. Ich habe mich wieder von meinem Schrecken erholt. Ich glaube, ich bin bereits auf gutem Wege, mich aus der Klemme zu ziehen.

So eben bin ich von einer langen Fiakerfahrt heimgekehrt. Zuerst fuhr ich nach dem Gepäckzimmer der großen Westbahn, um mir das Gepäck abzuholen, das ich von All-Saints-Terrace dorthin gesandt hatte, dann nach dem Gepäckzimmer der Südostbahn, um dasselbe Gepäck mit Midwinter’s Namen versehen, dort abzugeben, bis ich Montag früh mit dem Zuge nach Folkestone abreise, darauf nach dem Hauptpostamt, um einen Brief an Midwinter auf die Post zu geben, den er morgen Vormittag erhalten wird, endlich nach diesem Hause zurück, das ich vor Montag nicht mehr verlassen werde.

Mein Brief an Midwinter wird ohne Zweifel die Vorsichtsmaßregeln unterstützen, die ich für meine Sicherheit treffe. Die kurze Zeit, die uns am Montag zur Verfügung steht, wird ihn nöthigen, im Gasthofe seine Rechnung zu bezahlen und sein Gepäck fortzuschaffen, ehe die Vermählung stattfindet. Alles, was ich ihn außerdem noch zu thun bitte, ist, daß er selbst sein Gepäck nach der Südostbahn bringt, um in dieser Weise etwaige Nachfragen die bei der Hoteldienerschaft angestellt werden dürften, zu vereiteln, und dann an, der Kirchenthür mit mir zusammentrifft, anstatt mich hier abzuholen. Das Andere geht nur mich allein an. Wahrhaftig, es muß unglücklich gehen, wenn es mir jetzt wo ich von allen Hindernissen befreit bin, nicht glückt, den Leuten, die mir auflauern, am Montag früh zum zweiten Male zu entwischen.

Es scheint überflüssig, daß ich heute an Midwinter geschrieben habe, da er ja schon morgen Abend zu mir, zurückkehrt. Aber es war unmöglich, ihn um das, was ich von ihm verlangte, zu bitten, ohne nochmals meine vorgeblichen Familienverhältnisse vorzuschützen, und die Wahrheit zu gestehen, schrieb ich deshalb, weil ich nach dem, was ich das letzte Mal dabei gelitten, ihm nie wieder gerade ins Gesicht lügen kann.

Den 9. August, zwei Uhr. Ich stand heute Morgen zeitig, doch in gedrückterer Stimmung als gewöhnlich auf. Der Wiederbeginn des Lebens hat sowie der Wiederbeginn jedes neuen Tages seit vielen Jahren stets etwas Trübes und Hoffnungsloses für mich gehabt. Dazu träumte ich die ganze Nacht, nicht etwa von Midwinter und meinem ehelichen Leben, wie ich gehofft hatte, sondern von dem abscheulichen Anschlage, mich zu entdecken, durch den ich, gleich einem gehetzten Thiere, von einem Orte zum andern gejagt werde. Indeß ist mir in meinem Schlafe keinerlei Offenbarung oder Aufklärung geworden. Das Einzige, was ich in meinem Traume errathen konnte, war, daß Mutter Oldershaw die Feindin ist, welche mich im finsteren angreift. Wer außer dem alten Bashwood, an den in einer so ernsten Sache wie diese zu denken geradezu lächerlich wäre, wer anders als Mutter Oldershaw könnte ein Interesse haben, sich jetzt in meine Angelegenheiten zu mischen?

Meine unruhige Nacht hat indessen einen erfreulichen. Erfolg gehabt. Sie hat mir die Theilnahme des Dienstmädchens hier verschafft, das mir allen Beistand, der in seiner Macht liegt, leisten. wird, wenn der Augenblick meines Entrinnens da ist.

Das Mädchen bemerkte heute Morgen, daß ich blaß und sorgenvoll aussehe. Ich zog sie ins Vertrauen, insofern als ich ihr sagte, daß ich im Begriffe stehe, mich heimlich zu verheirathen, und Feinde habe, die mich von meinem Verlobten zu trennen suchten. Das erweckte augenblicklich ihre Theilnahme, und ein Geschenk von einem halben Sovereign für ihre Aufmerksamkeit gegen mich that das Weitere. Den ganzen Morgen ist sie bei mir aus und ein gegangen, und ich habe unter Anderem die Entdeckung gemacht, daß ihr Schatz ein Soldat in der Garde ist und daß sie ihn morgen zu sehen hofft. Wie wenig es auch ist, doch habe ich noch Geld genug übrig, um jedem Soldaten in der britischen Armee den Kopf zu verdrehen, und ist die mit meiner Bewachung beauftragte Person morgen ein Mann, so scheint es mir eben möglich, daß er im Verlauf des Abends seine Aufmerksamkeit in ziemlich unangenehmer Weise von Miß Gwilt abgezogen sehen wird.

Als Midwinter das letzte Mal von der Eisenbahn hierher kam, war es um halb neun Uhr. Wie soll ich von jetzt an bis zum Abend über die langen, langen Stunden hinwegkommen? Ich will mein Schlafzimmer dunkel machen und mir durch meine Tropfen selige Vergessenheit verschaffen.

Elf Uhr. Zum letzten Male sind wir vor dem Tage von einander geschieden, der uns zu Mann und Frau machen soll.

Er hat mich Verlassen, indem er, wie schon zuvor, alles andere Interesse in mir in den Hintergrund gedrängt hat. Sowie er ins Zimmer trat, bemerkte ich eine Veränderung an ihm. Als er mir von der Beerdigung und von seinem Abschied von Armadale am Bord der Yacht erzählte, sprach er, obgleich mit tiefbewegtem Gefühle, doch mit einer Selbstbeherrschung, wie ich sie bisher noch nicht an ihm wahrgenommen. Ebenso war es, als unsere Unterhaltung dann auf unsere eigenen Hoffnungen und Aussichten fiel. Sichtlich war er unangenehm berührt, als er hörte, wie meine Familienangelegenheiten es verhinderten, daß wir einander morgen sähen, und sichtlich unruhig über den Gedanken, mich am Montag ganz allein nach der Kirche gehen zu lassen. Aber durch alles dies ging ein gewisses hoffnungsvolles und ruhiges Wesen, welches einen so großen Eindruck auf mich machte, daß ich nicht umhin konnte, es zu erwähnen. »Du weißt, welch merkwürdige Einfälle ich zuweilen habe«, sagte ich. »Soll ich Dir sagen, welche Idee sich jetzt meiner bemächtigt hat? Ich kann nicht anders als glauben, daß, seit wir einander zuletzt sahen, etwas vorgefallen ist, was Du mir noch nicht mitgetheilt hast.«

In der That hat sich etwas ereignet«, erwiderte er, »und zwar etwas, was Du wissen solltest.«

Mit diesen Worten nahm er sein Notizbuch aus der Tasche und aus diesem zwei beschriebene Papiere heraus. Das eine betrachtete er und legte es dann wieder zurück. Das andere legte er vor mich auf den Tisch. Einen Augenblick es mit seiner Hand bedeckend, nahm er von neuem das Wort.

»Ehe ich Dir sage, was das hier ist und wie es in meinen Besitz gelangte«, sagte er, muß ich etwas bekennen, was ich Dir verhehlt habe. Es ist kein geringeres Bekenntniß als das meiner Schwäche.«

Er gestand mir dann, daß seine erneute Freundschaft mit Armadale während der ganzen Zeit ihres Zusammenseins in London durch seine eigenen abergläubischen Befürchtungen getrübt gewesen sei. jedes mal, wo sie mit einander allein, waren ihm die fürchterlichen Worte seines sterbenden Vaters und die ebenso fürchterliche Bestätigung derselben durch den warnenden Traum gegenwärtig. Die Ueberzeugung, daß die Erneuerung ihrer Freundschaft und mein Antheil an der Wiederherstellung derselben unglückliche Folgen für Armadale herbeiführen würde, hatte mit jedem Tage einen größeren Einfluß auf ihn ausgeübt. Er war dem Rufe, der ihn an das Sterbelager des Pfarrers beschied, in der festen Absicht gefolgt, Mr. Brock seine Ahnungen von drohendem Unheile anzuvertrauen, und hatte sich in seinem Aberglauben doppelt bestärkt gefühlt, als er sah, wie der Tod vor ihm in das Haus eingezogen und sie in dieser Welt auf immer von einander geschieden waren. Mit einem heimlichen Gefühle der Erleichterung über die Aussicht, von Armadale zu scheiden, war er zur Beerdigung zurückgereist und hatte im Stillen den Entschluß gefaßt, daß das verabredete spätere Zusammentreffen in Neapel niemals stattfinden solle. Mit diesem Entschlusse im Herzen war er allein in das für ihn in der Pfarrei hergerichtete Zimmer hinaufgegangen und hatte dort einen Brief auf dem Tische gefunden. Der Brief war erst an demselben Tage unter dem Bette gefunden worden, auf dem Mr. Brock gestorben war, und wahrscheinlich von diesem heruntergefallen und fortgestoßen worden. Von Anfang bis zu Ende war er in der Handschrift des Pfarrers und an Midwinter adressiert.

Nachdem er mir dies in fast denselben Worten mitgetheilt, deren ich mich hier bedient habe, nahm er die Hand von dem beschriebenen Papiere weg, welches zwischen uns lag.

»Lies den Brief«, sagte er; »es wird dann unnöthig sein, Dir zu wiederholen, daß mein Gemüth wieder ruhig ist und daß ich Allan’s Hand beim Scheiden mit einer Herzlichkeit drücken konnte, die Allan’s Liebe würdiger war.«

Ich las den Brief. Kein Aberglaube lebte in meinem Gemüthe keine alte Dankbarkeit gegen Allan in meinem Herzen, und dennoch ward der Eindruck, den der Brief auf Midwinter gemacht, wie ich fest glaube, durch den, welchen er auf mich hervorbrachte, noch übertroffen.

Meine Bitte, mir ihn dazulassen, damit ich ihn, sobald ich allein wäre, noch einmal lesen könne, war eine vergebliche. Er ist entschlossen, den Brief nicht aus den Händen zu geben, sondern ihn neben jenem andern Blatte, das die Erzählung von Armadale’s Traum enthält, an sich zu behalten. Das Einzige was ich erlangte, war die übrigens bereitwillig gegebene Erlaubniß, den Brief abschreiben zu dürfen. Ich that dies in seiner Gegenwart und legte den Brief hier in mein Tagebuch ein, um einen denkwürdigen Tag meines Lebens zu bezeichnen.

»Pfarrei zu Boscombe.
Den 2. August.

Mein lieber Midwinter! Gestern fühlte ich mich zum ersten Male seit meiner Krankheit kräftig genug, um die für mich eingelaufenen Briefe zu lesen. Unter ihnen ist einer von Allan, der seit zehn Tagen uneröffnet auf meinem Tische gelegen hat. Er schreibt mir in großer Bekümmerniß daß Differenzen zwischen Ihnen beiden eingetreten sind und daß Sie ihn verlassen haben. »Wenn Sie noch eine Erinnerung an das bewahren, was sich zwischen uns begab, als Sie mir zum ersten Male auf der Insel Man Ihr Herz öffneten, so werden Sie leicht begreifen, wie ich diese traurige Nachricht in sehr ernste Erwägung gezogen habe, und nicht erstaunt sein, daß ich mich heute Morgen aufgerafft habe, um an Sie zu schreiben. Obgleich weit entfernt, zu verzweifeln, darf ich mich doch in meinem Alter keiner zu großen Hoffnung auf Genesung hingeben. Deshalb muß ich die Zeit, die ich noch mein nennen darf, in Ihrem und Allan’s Interesse benutzen.

Ich verlange keine Erklärung der Umstände, die Sie von Ihrem Freunde getrennt haben. Ist meine Meinung von Ihrem Charakter nicht grundfalsch, so ist der einzige Einfluß, der Ihre Trennung von Allan herbeigeführt haben kann, der jenes bösen Geistes des Aberglaubens, welchen ich bereits einmal aus Ihrem Herzen gerissen habe und den ich, so Gott will, noch einmal überwinden will, wenn ich die Kraft besitze, Ihnen in diesem Briefe meine Ansicht darzulegen.

Ich will Ihren Glauben, daß die Sterblichen auf ihrer Pilgerfahrt durch diese Welt oft Gegenstand übernatürlichen Einschreitens seien, nicht bekämpfen, ich kann nicht beweisen, daß Sie Unrecht haben. Und vom biblischen Standpunkte aus muß ich sogar noch weiter gehen und zugeben, daß Sie für Ihren Glauben eine noch höhere als blos menschliche Bürgschaft besitzen, Das Einzige, was ich gar gern erreichen möchte, ist, Sie zu bewegen, daß Sie sich von dem lähmenden Fatalismus des Heiden oder Wilden frei zu machen suchen und die Geheimnisse, die Sie verwirren, sowie die Gefahren, die Sie erschrecken, vom rein christlichen Standpunkte auffassen. Gelingt mir dies, so werde ich Ihr Gemüth von den schauerlichen Zweifeln befreien, die es jetzt bedrücken, und, Sie wieder mit Ihrem Freunde vereinen, um sich nie mehr von ihm zu trennen.

Ich habe keine Gelegenheit, Sie zu sehen und zu befragen, und kann diesen Brief nur an Allan einlegen, damit er ihn Ihnen zusendet, sobald er Ihren gegenwärtigen Aufenthalt erfährt. In der Stellung, in der ich mich Ihnen gegenüber befinde, ist es meine Pflicht, die Sache in dem für Sie günstigsten Lichte zu sehen. Ich will es für ausgemacht annehmen, daß entweder Ihnen oder Allan etwas geschehen ist, was Sie nicht nur in der fatalistischen Ueberzeugung bestärkt, in der Ihr Vater starb, sondern der Warnung, die er Ihnen in seinem Sterbebriefe gesandt, noch eine neue und fürchterlichere Bedeutung beigelegt hat.

Auf diesem gemeinschaftlichen Boden begegne ich Ihnen, indem ich an Ihre höhere Natur und Ihr besseres Urtheil appelliere.

Behalten Sie Ihre gegenwärtige Ueberzeugung, daß die statt gehabten Ereignisse, welcher Art sie auch sein mögen, nicht mit den gewöhnlichen Naturgesetzen zu vereinbaren sind, und fassen Sie Ihre eigene Lage bei dem besten und klarsten Lichte ins Auge, das Ihr Aberglaube darauf werfen kann. Was sind Sie? Ein hilfloses Werkzeug in den Händen des Schicksals. Ohne eine Möglichkeit des Widerstandes sind Sie dazu verdammt, mit verbundenen Augen Elend und Verderben auf einen Mann herabzurufen, mit dem Sie sich in harmloser und dankbarer Weise durch Bande brüderlicher Liebe verbunden haben. Alle moralische Festigkeit Ihres Willens und alle moralische Reinheit Ihrer Bestrebungen vermögen nichts wider den erblichen Drang zum Bösen in Ihnen, welcher durch ein Verbrechen entstanden ist, das Ihr Vater beging, ehe Sie geboren waren. Worin endet dieser Glaube? In der Finsternis, in der Sie jetzt verloren sind, in den Widersprüchen, die Sie jetzt verwirren, in der starrsinnigen Verzweiflung, durch die der Mensch seine Seele entweiht und zu den Thieren herabsinkt, die da sterben müssen.

Aufgeblickt, mein armer duldender Bruder, aufgeblickt, mein schwer geprüfter, viel geliebter Freund, erheben Sie die Blicke höher! Begegnen Sie den Zweifeln, die Sie jetzt bestürmen, auf dem gesegneten Felde christlichen Muthes und christlicher Hoffnung, und dann wird Ihr Herz sich wieder Allan zuwenden und Ihr Gemüth wieder Frieden finden. Was auch kommen möge, Gott ist allgütig, Gott ist allweise; natürlich oder übernatürlich Alles kommt durch ihn. Das Geheimnis; des Bösen, das unsere schwachen Geister trübt, der Kummer und Jammer, die uns in diesem armseligen Leben quälen, können die eine große Wahrheit nicht erschüttern, daß das Schicksal des Menschen in den Händen, des Schöpfers ruht, und daß Gottes lieber Sohn starb, um uns Gottes würdiger zu machen. Es gibt nichts Böses, aus dem nach seinen Gesetzen nicht Gutes entstehen kann. Bleiben Sie dem getreu, was Christus Ihnen als die Wahrheit gezeigt hat. Kräftigen Sie in Ihrem Herzen, was auch geschehen mag, die Tugenden der Liebe, der Dankbarkeit, der Geduld und Nachsicht gegen Ihre Mitmenschen und überlassen Sie alles Andere demüthig und vertrauensvoll dem Gotte, der Sie geschaffen, und dem Heilande, der Sie mehr geliebt hat als sein eigenes Leben.

Das ist der Glaube, in dem ich durch Gottes Hilfe und Gnade von meiner Jugend an gelebt habe. Ich bitte Sie inständigst, ich bitte Sie zuversichtlich, machen auch Sie sich ihn zu eigen. Er ist die Triebfeder alles Guten, was ich je gethan, alles Glücks, daß ich je gekannt habe; er erhellt meine Dunkelheit und belebt meine Hoffnung; er tröstet und beruhigt mich auf diesem Lager, auf dem ich entweder Leben oder Tod finden soll, ich weiß nicht, was von beiden. Lassen auch Sie sich durch ihn aufrichten, trösten und erleuchten; er wird Ihnen in Ihrer größten Noth beistehen, wie er mir in meiner Noth beigestanden hat, und wird Ihnen in den Ereignissen, die Sie mit Allan zusammengeführt haben, einen andern Endzweck zeigen als den, welchen Ihr schuldbeladener Vater voraussah. Ich leugne nicht, daß Ihnen schon wunderbare Dinge begegnet sind, und leicht können sich noch wunderbarere ereignen, die ich vielleicht nicht mehr erlebe. Erinnern Sie sich, wenn diese Zeit kommt, daß ich in der entschiedenen Ueberzeugung gestorben, daß Ihr Einfluß aus Allan kein anderer als ein guter ist. Das große göttliche Sühneopfer hat selbst in dieser Welt seine Nachahmer. Ist Allan je von Gefahr bedroht, so werden Sie, dessen Vater seinem Vater das Leben raubte, Sie und kein Anderer der Mann sein, den Gottes Vorsehung dazu ausersehen, ihn zu retten.

Kommen Sie zu mir, wenn ich am Leben bleibe. Kehren Sie zu dem Freunde zurück, der Sie liebt, ob ich lebe oder sterbe. Bis zum Ende aufrichtig der Ihre

Decimus Brock.«

»Sie und kein Anderer werden der Mann sein, den Gottes Vorsehung dazu ausersehen, ihn zu retten!«

Dies die Worte, die mir die innerste Seele erschüttert haben. Dies die Worte, welche mir ein Gefühl verursachen, als ob der Todte sein Grab verlassen habe und seine Hand auf jene Stelle in meinem Herzen legte, wo mein fürchterliches Geheimniß vor allen menschlichen Blicken außer den meinigen verborgen liegt. Ein Theil des Briefes ist bereits in Erfüllung gegangen. Die Gefahr, die er voraussieht, bedroht Armadale schon in diesem Augenblicke, und zwar durch mich!

Wenn die günstigen Umstände, die mich bis hierher getrieben, mich bis zum Ende forttreiben und wenn die letzte irdische Ueberzeugung des alten Mannes eine wahre Prophezeiung ist, so wird Armadale mir entwischen, was ich auch anfangen mag. Und Midwinter wird geopfert werden, damit sein Leben gerettet werde.

Es ist fürchterlich! Es ist unmöglich! Es soll nimmer geschehen! Bei dem bloßen Gedanken daran bebt mir die Hand und sinkt mir das Herz. Ich segne dies Beben, das mich schwach macht! Ich segne das Sinken des Herzens, das mich ohnmächtig macht! Ich segne die Worte in dem Briefe, welche mir jene weichen Gedanken wiedererweckt haben, die mir vor zwei Tagen kamen! Ist es schwer, jetzt, da die Ereignisse mich glatt und sicher immer näher und näher dem Ziele zuführen, die Versuchung zum Weitergehen zu überwinden? Nein! Ist nur eine Möglichkeit vorhanden, daß Midwinter Unheil droht, so reicht die Furcht vor dieser Möglichkeit hin, mich zu bestimmen, um seinetwillen der Versuchung zu widerstehen. Ich habe ihn noch nie so sehr geliebt wie jetzt.

Sonntag, den 10. August. Der Tag vor meiner Hochzeit! Ich schließe und verschließe dieses Buch, um nie wieder darein zu schreiben und es nie wieder zu öffnen.

Ich habe den großen Sieg errungen; ich habe meine eigene Schlechtigkeit zu Boden geworfen. Ich bin unschuldig, ich bin wieder glücklich. Mein Leben! Mein Engel! Wenn Du morgen mein wirst, werde ich in meinem Herzen keinen Gedanken hegen, der nicht auch der Deinige ist!«



Kapiteltrenner

Fünftes Kapitel.

Die Stunde war neun Uhr früh, der Schauplatz ein Privatzimmer in einem der altmodischen Wirthshäuser, wie man sie noch immer auf der Boroughseite jenseits der Themse findet, das Datum Montag, den 11. August und die Person Mr. Bashwood, der auf eine Aufforderung seines Sohnes nach London gekommen und tags zuvor in dem Wirthshause eingekehrt war.

Noch nie hatte er so jämmerlich alt und hilflos ausgesehen wie jetzt. Das Wechselfieber von Hoffnung und Verzweiflung hatte ihn bis zum Schemen abgezehrt. Die scharfen Ecken seiner Gestalt waren noch schärfer geworden. Die Umrisse seines Gesichts waren zusammengeschrumpft. Sein Anzug wies mit traurigem und auffallendem Nachdruck auf die mit ihm vorgegangene Veränderung hin. In seinem ganzen Leben, selbst in seiner Jugend, hatte er sich nicht gekleidet wie jetzt. Mit einem verzweifelten Entschlusse, nichts unversucht zu lassen, wodurch er einen Eindruck auf Miß Gwilt machen könnte, hatte er seine trübseligen schwarzen Kleider abgelegt und sogar den Muth gefunden, sich mit seiner blauen Atlascravatte zu schmücken. Sein Rock war ein Reitrock von hellgrauem Tuch. Mit rachsüchtiger Schlauheit hatte er ihn nach dem Muster eines Rockes bestellt, den er Allan hatte tragen sehen. Seine Weste war weiß und seine Beinkleider von großgewürfeltem hellem Sommerzeuge. Seine Perücke war geölt und parfümiert und auf jeder Seite nach vorn gebürstet, um die Runzeln seiner Schläfe zu verbergen. Er war ein Gegenstand, über den man hätte lachen, über den man hätte weinen mögen. Selbst seine Feinde, wenn ein so elendes Geschöpf überhaupt Feinde haben könnte, würden ihm verziehen haben, hätten sie ihn in seinem neuen Anzuge gesehen. Seine Freunde, wenn ihm noch solche geblieben waren, würden weniger um ihn getrauert haben, hätten sie ihn in seinem Sarge gesehen, anstatt in der Verfassung, in welcher er sich jetzt zeigte. Unablässig, ruhelos wanderte er im Zimmer auf und ab. Bald sah er nach seiner Uhr, bald aus dem Fenster, bald auf den wohlbesetzten Frühstückstisch, immer mit dem gleichen erwartungsvollem unruhig fragenden Ausdruck in seinen Blicken. Der Kellner, der die Theemaschine brachte, hörte zum fünfzigsten Male die eine Redeformel, die der unglückselige Mensch heute Morgen aussprechen zu können schien: »Mein Sohn kommt zum Frühstück. Mein Sohn ist sehr eigen. Ich wünsche Alles vom Besten, warme Speisen und kalte Speisen und Thee und Kaffee und alle Zuthaten, Kellner, alle Zuthaten.« Zum fünfzigsten Male wiederholte er jetzt diese Worte, und zum fünfzigsten Male hatte so eben der unerschütterliche Kellner seine begütigende Antwort wiederholt; »Schon gut, Sir; Sie dürfen sich auf mich verlassen«, als sich auf der Treppe gemächliche Schritte vernehmen ließen, die Thür geöffnet ward und der langersehnte Sohn, eine saubere, schwarzlederne Tasche in der Hand, mit der sorglosesten Miene ins Zimmer geschlendert kam.

»Bravo, alter Herr!« sagte Bashwood der Jüngere, indem er mit einem höhnischen Lächeln der Ermuthigung das väterliche Costüm betrachtete. »Du kannst jeden Augenblick mit Miß Gwilt Hochzeit halten!«

Der Vater faßte die Hand des Sohnes und suchte auch zu lachen.

»Du bist so munter, Jemmy«, sagte er, sich wie in alten glücklicheren Zeiten des vertraulichen Namens bedienend. »Du warst von Kindheit an immer ein munterer Knabe, mein lieber Sohn. Komm und setze Dich; ich habe Dir ein hübsches Frühstück bestellt. Alles vom Besten! Alles vom Besten! Welch eine Freude es ist, Dich zu sehen! O du meine Güte, welch eine Freude, Dich zu sehen!« Er schwieg und setzte sich am Tische nieder; sein Gesicht glühte von der Anstrengung, die Ungeduld zu bemeistern, die ihn verzehrte. »Erzähle mir Alles von ihr!« sprudelte er heraus, plötzlich jeden Versuch der Selbstbeherrschung aufgebend. »Ich werde sterben, Jemmy, wenn ich noch länger darauf warten muß. Erzähle, erzähle!«

»Alles zu seiner Zeit«, sagte Bashwood der Jüngere, durch die väterliche Ungeduld nicht im mindesten gerührt. »Erst wollen wir das Frühstück und dann die Dame vornehmen. Immer sachte, alter Herr, immer sachte!«

Er legte seine Ledertasche aus einen Stuhl und nahm dann gelassen und lächelnd und ein Liedchen summend seinem Vater gegenüber Platz.

Einem gewöhnlichen Beobachter würde es nicht gelungen sein, den Charakter des jüngeren Bashwood in dessen Gesichte zu lesen. Sein jugendliches Aussehen, das durch sein helles Haar und sein rundes, bartloses Gesicht noch erhöht wurde, sein unbefangenes Wesen und stets bereites Lächeln, seine Augen, die den Augen derer, die mit ihm sprachen, stets furchtlos begegneten, Alles trug dazu bei, daß er im Allgemeinen einen günstigen Eindruck machte. Unter zehntausenden wäre es vielleicht nur einem charakterlesenden Auge gelungen, die glatte falsche Außenseite dieses Mannes zu durchdringen und ihn als das zu erkennen, was er wirklich war, als das niedrige Geschöpf, welches das noch niedrigere Bedürfniß der Gesellschaft zu seinem Dienste ausgebildet hatte. Da saß er, der geheime Spion unserer Tage, dessen Beschäftigung und dessen geheime Nachfragecomptoirs beständig im Zunehmen sind. Da saß er, der nothwendige Spürhund, wie er dem Fortschritt unserer nationalen Civilisation angehört; ein Mann, der in diesem Falle wenigstens das rechtmäßige und verständliche Produkt des Berufs war, der ihn beschäftigte; ein Mann, der in diesem Berufe auf den leisesten Verdacht hin, wenn dieser leiseste Verdacht ihn nur bezahlte, unter unsere Betten gekrochen wäre, durch Löcher gespäht hätte, die er in unsere Thüren gebohrt; ein Mann, der seinem Herrn nutzlos gewesen, hätte er in Gegenwart seines Vaters die mindeste Regung menschlicher Theilnahme empfinden können, und der verdientermaßen seine Stelle verloren haben würde, wenn er sich unter irgend welchen Verhältnissen einem Gefühle des Mitleids oder der Scham zugänglich erwiesen hätte.

»Immer sachte, alter Herr«, wiederholte er, indem er rings um den Tisch. herum die Schüsseldeckel abhob und unter dieselben sah. »Immer sachte!«

»Werde mir nicht böse, Jemmy«, bat der Vater. »Suche, wenn es Dir möglich, Dir eine Vorstellung von meiner Spannung zu machen. Ich erhielt Deinen Brief schon gestern Morgen. Nachdem er mich benachrichtigt, daß Du entdeckt habest, wer sie sei, und Du dann weiter nichts hinzufügst, habe ich die ganze Reise von Thorpe-Ambrose hierher machen und den ganzen langen fürchterlichen Abend und die ganze lange fürchterliche Nacht in dieser Erwartung durchleben müssen. Die Ungewißheit ist für Leute von meinen Jahren sehr schwer zu ertragen. Was hat Dich abgehalten, gestern Abend, nach meiner Ankunft, zu mir zu kommen, mein Sohn?«

»Ein kleines Diner in Richmond«, sagte der jüngere Bashwood. »Gib mir eine Tasse Thee.«

Mr. Bashwood versuchte der Forderung Folge zu leisten, aber die Hand, mit der er die Theekanne aufhob, zitterte so heftig, daß er fehl goß und den Thee aufs Tischtuch verschüttete. »Es thut mir sehr leid, aber ich kann mich des Zitterns nicht erwehren, wenn ich in großer Aufregung bin«, sagte der alte Mann, als sein Sohn ihm die Theekanne aus der Hand nahm. »Ich fürchte, Jemmy, Du trägst mir das bei meinem letzten Besuch in London Geschehene noch immer nach. Ich gebe zu, daß ich in meiner Weigerung, nach Thorpe-Ambrose zurückzukehren, halsstarrig und unvernünftig war. Jetzt aber bin ich verständiger. Du hattest vollkommen Recht, die Sache ganz auf Dich zu nehmen, sowie ich Dir die verschleierte Dame zeigte, die wir aus dem Hotel kommen sahen, und ebenso Recht, als Du mich zu meinen Geschäften in Thorpe-Ambrose zurückschicktest.« Er beobachtete die Wirkung dieser Zugeständnisse auf seinen Sohn und wagte dann zagend abermals eine Bitte. »Wenn Du mir eben jetzt weiter nichts sagen willst«, sprach er mit schwacher Stimme, »so —— so sage mir wenigstens, wie Du sie gefunden hast. Bitte, Jemmy, bitte!«

Bashwood der Jüngere blickte von seinem Teller auf. »Das will ich Dir sagen«, erwiderte er. »Die Geschichte mit Miß Gwilt hat mehr Zeit und Geld gekostet, als ich erwartet hatte, und je eher wir diesen Theil des Geschäfts abmachen, desto eher können wir dann zu dem kommen, was Du zu wissen wünschest.«

Ohne ein Wort der Gegenrede legte der Vater sein schmutziges altes Taschenbuch und seine Börse vor seinem Sohne auf den Tisch. Bashwood der Jüngere sah in die Börse, bemerkte mit verachtungsvollem Stirnrunzeln, daß sie nicht mehr als einen Sovereign und etwas Silbergeld enthielt, und gab sie unberührt wieder zurück. In dem Taschenbuche, das er dann zunächst öffnete, befanden sich vier Fünfpfundnoten. Bashwood der Jüngere nahm drei derselben unter seine eigene persönliche Obhut und überreichte dann mit einer Verbeugung spöttischer Dankbarkeit und Achtung seinem Vater das Taschenbuch.

»Tausend Dank«, sagte er. »Ein Theil davon kommt den Leuten auf unserm Comptoir zu und der Ueberschuß ist für mich. Eine der wenigen Dummheiten, mein werther Herr Vater, die ich in meinem Leben begangen, war die, daß ich, als Du mich zu Rathe zogst, erwiderte, meine Dienste könntest Du gratis haben. Wie Du siehst, beeile ich mich, diesen Irrthum wieder gut zu machen. Eine Stunde hier und dort war ich gern bereit, Dir zu opfern. Aber diese Geschichte hat Tage in Anspruch genommen und andere Geschäfte in den Hintergrund gedrängt. Ich sagte Dir, ich könne durch Dich nicht verlieren, ich schrieb Dir? in meinem Briefe so deutlich, wie Worte es nur auszudrücken vermögen.«

»Ja, ja, Jemmy. Ich beklage mich nicht, mein Sohn, ich beklage mich nicht. Sprich nicht von dem Gelde, erzähle mir, wie Du sie fandest.«

»Außerdem«, fuhr Bashwood der Jüngere unerschütterlich in seiner Rechtfertigung fort, »habe ich Dir den Vortheil meiner Erfahrung zukommen lassen, ich habe es wohlfeil ausgerichtet. Hätte ein Anderer die Sache in die Hand genommen, so würde es Dich das Doppelte gekostet haben. Ein Anderer würde Mr. Armadale ebenso wohl als Miß Gwilt beobachtet haben. Diese Ausgabe habe ich Dir erspart. Du hast die Gewißheit, daß Mr. Armadale entschlossen ist, sie zu heirathen. Sehr gut. In diesem Falle wissen wir, solange wir sie im Auge behalten, in aller Wirklichkeit auch, wo er zu finden ist. Sobald man weiß, wo die Dame steckt, weiß man auch, daß der Herr nicht fern sein kann.«

»Sehr wahr, Jemmy. Aber wie kam es, daß Miß Gwilt Euch so viel Mühe machte?«

»Sie ist ein verwünscht schlaues Frauenzimmer«, sagte der jüngere Bashwood; »das war der Grund. Sie entschlüpfte uns in einem Modegeschäft. Wir kamen mit der Schneiderin überein und verließen uns darauf, daß sie wiederkommen werde, um das Kleid anzuprobieren, welches sie dort bestellt hatte. In neun Fällen von zehn verlieren selbst die pfiffigsten Weiber den Kopf, wenn sich’s um ein Kleid handelt, und selbst Miß Gwilt war unvorsichtig genug, wiederzukommen. Dies war Alles, was wir wollten. Eins der Frauenzimmer von unserm Comptoir half beim Anprobieren des neuen Kleides und brachte sie dabei in die richtige Stellung, daß sie von einem unserer Leute hinter der Glasthür gesehen werden konnte. Nach dein, was ihm über sie mitgetheilt worden war, schloß er augenblicklich, wer sie sei, denn sie ist in ihrer Art eine berühmte Person. Darauf verließen wir uns aber natürlich nicht. Wir folgten ihr nach ihrer neuen Wohnung und ließen einen Mann von Scotland-Yard [In Scotland-Yard befindet sich das Hauptquartier der Polizei von London. Anm. d. Uebers.] kommen, der sie erkennen mußte, wenn unser Mann hinsichtlich ihrer Identität Recht hatte. Der Mann von Scotland-Yard verwandelte sich für diese Gelegenheit in den Kleiderausträger der Schneiderin und brachte ihr das Kleid. Er sah sie im Gange und erkannte sie auf der Stelle. Du hast Glück, denn ich sage Dir, Miß Gwilt ist ein öffentlicher Charakter. Hätten wir es mit einem weniger bekannten Frauenzimmer zu thun gehabt, so dürfte es uns wochenlange Nachforschungen und Dich Hunderte von Pfunden gekostet haben. Bei Miß Gwilt war ein Tag ausreichend, und ein zweiter Tag lieferte mir ihre ganze Lebensgeschichte Schwarz auf Weiß in die Hände. Da liegt sie jetzt in meiner schwarzen Handtasche, alter Herr.«

Bashwood’s Vater eilte mit gierigen Augen und ausgestreckten Händen auf die Tasche zu. Der Sohn nahm einen kleinen Schlüssel aus der Westentasche, blinzte mit den Augen, schüttelte den Kopf und steckte den Schlüssel wieder ein.

»Ich bin noch nicht mit dem Frühstück fertig«, sagte er. »Immer sachte, mein werther Herr, immer sachte!«

»Ich kann nicht warten!« rief der alte Mann mit vergeblichem Ringen nach Selbstbeherrschung. »Schon neun Uhr vorbei! Heute sind es vierzehn Tage, seit sie mit Mr. Armadale nach London fuhr! Sie kann in vierzehn Tagen mit ihm verheirathet sein! Vielleicht verheirathet sie sich heute Morgen mit ihm! Ich kann, nicht warten!«

»Man weiß nie, was man kann, bis man’s versucht«, erwiderte Bashwood der Jüngere. »Versuch’s, und Du wirst finden, daß Du dennoch warten kannst. Was ist aus Deiner Neugierde geworden?« fuhr er das Feuer schürend fort. »Warum fragst Du mich nicht, was ich damit sagen will, wenn ich behaupte, daß Miß Gwilt ein öffentlicher Charakter ist? Warum drückst Du mir nicht Deine Verwunderung darüber aus, daß ich ihrer Lebensgeschichte Schwarz auf Weiß habhaft geworden? Wenn Du Dich wieder niedersetzen willst, sollst Du’s erfahren. Wo nicht, so will ich mich ausschließlich meinem Frühstück widmen.«

Mr. Bashwood seufzte tief und kehrte an seinen Platz zurück.

»Ich wollte, Du scherztest nicht so gern, Jemmy«, sagte er; »ich wollte, mein lieber Sohn, Du wärest kein solcher Spaßvogel.«

»Scherzen?« wiederholte der Sohn. »Ich kann Dir sagen, daß manche Leute die Sache ernst genug finden würden. Miß Gwilt ist im Verhör gewesen, wo es sich um ihr Leben handelte, und die Papiere in der schwarzen Tasche da enthalten die Instructionen des Anwalts für die Vertheidigung. Nennst Du das etwa einen Scherz?«

Der Vater sprang auf und blickte dem Sohne mit einem frohlockenden Lächeln ins Gesicht, das schauerlich anzusehen war.

»Sie ist auf Leben und Tod in Untersuchung gewesen!« rief er mit einem tiefen Athemzuge der Zufriedenheit aus. »Auf Leben und Tod in Untersuchung!« Er brach in ein langes Gelächter aus und schlug frohlockend mit den Fingern ein Schnippchen. »Ha, ha, ha! Darin ist allerdings etwas, das Mr. Armadale stutzig machen dürfte!«

Obgleich ein ausgefeimter Schurke, war doch der Sohn über diesen Ausbruch verhaltener Leidenschaft fast erschrocken.

»Rege Dich nicht aus«, sagte er nicht mehr spöttisch, sondern mürrisch.

Mr. Bashwood setzte sich wieder nieder und fuhr sich mit dem Taschentuche über die Stirn. »Nein«, sagte er, seinem Sohne zunickend und zulächelnd, »nein, nein, keine Aufregung, wie Du sagst, ich kann jetzt warten, Jemmy, ich kann warten.«

Er wartete mit unerschütterlicher Geduld; Von Zeit zu Zeit nickte er und lächelte und flüsterte vor sich hin: »Darin ist allerdings etwas, das Mr. Armadale stutzig machen kann!« Aber weder durch Worte noch Mienen oder Gebärden machte er einen weiteren Versuch, seinen Sohn zur Eile anzutreiben.

Bashwood der Jüngere beendete sein Frühstück aus reiner Großthuerei langsam, brannte eine Cigarre an und beobachtete seinen Vater. Endlich öffnete er, da er den alten Mann noch immer geduldig warten sah, die schwarze Ledertasche und legte die Papiere auf dem Tische auseinander.

»Wie willst Du’s hören?« fragte er. »Lang oder kurz? Ich habe ihre ganze Lebensgeschichte hier. Der Anwalt, der sie beim Verhör vertheidigte, war instruiert, das Mitleid der Geschworenen zu bearbeiten; er stürzte sich kopfüber in das Elend ihrer frühem Laufbahn und erfüllte durch seine Kunst alle Anwesenden mit Schauder. Soll ich es ebenso machen? Willst Du Alles von ihr hören, von der Zeit an, wo sie kurze Kleidchen und Höschen trug? Oder ziehst Du es vor, sie sogleich als Angeklagte vor den Schranken zu erblicken?«

»Alles will ich von ihr wissen«, sagte der Vater eifrig. »Das Schlimmste und das Beste, namentlich aber das Schlimmste. Schone mich nicht, Jemmy! Darf ich mir die Papiere nicht selbst ansehen?«

Nein, das kannst Du nicht. Sie würden für Dich lauter Griechisch und Hebräisch sein. Danke Du den Sternen, daß Du einen gescheidten Sohn hast, der diesen Papieren das Mark entnehmen und es dann richtig gewürzt zu servieren versteht. Keine zehn Personen gibt’s in England, welche Dir die Geschichte dieses Frauenzimmers so erzählen könnten, wie ich Dir dieselbe erzählen kann. Das ist ein Talent, alter Herr, wie es nur Wenigen zu Theil wird, und es wohnt hier.«

Er klopfte sich hierbei keck an die Stirn und wandte sich mit unverstelltem Triumph über die Aussicht, seine Klugheit produciren zu können, was beiläufig der erste Ausdruck von Gefühl war, den er bisher verrathen, zur ersten Seite des vor ihm liegenden Manuscripts.

»Mit? Gwilt’s Lebensgeschichte«, hob Bashwood der Jüngere an, »beginnt auf dem Marktplatze von Thorpei-Ambrose. Vor etwa einem Vierteljahrhundert kam eines Tages ein fahrender Quacksalber, der; sowohl mit wohlriechenden Wassern als mit Medicin handelte, mit seinem Karren in der Stadt an und stellte als ein lebendiges Beispiel der Vortrefflichkeit seines Haaröls und dergleichen ein hübsches kleines Mädchen mit wundervollem Haar und einer blendenden Hautfarbe vor. Sein Name war Oldershow. Er hatte eine Frau, die ihm im Parfümeriezweige des Geschäfts assistierte und dieses nach seinem Tode allein fortsetzte Sie hat sich seitdem in der Welt emporgeschwungen und ist dieselbe schlaue alte Dame, die sich vor kurzem meiner in meiner amtlichen Eigenschaft bediente. Was das hübsche kleine Mädchen anlangt, so weißt Du ebenso gut wie ich, wer dasselbe war. Während der Wunderdoctor dem Volke Reden hielt und ihm das Haar des Kindes zeigte, kam eine junge Dame über den Marktplatz gefahren; sie ließ halten, um zu erfahren, was es dort gebe, und faßte augenblicklich eine große Vorliebe für das kleine Mädchen Diese junge Dame war die Tochter von Mr. Blanchard auf Thorpe-Ambrose. Sie fuhr heim und erweckte das Interesse ihres Vaters für das unschuldige kleine Opfer des Quacksalbers. Am nämlichen Abende wurden die Oldershaws nach dem Herrnhause beschieden und über das Kind befragt. Sie erklärten sich für dessen Onkel und Tante, was natürlich eine Lüge war, und waren mit Vergnügen bereit, das Mädchen die Dorfschule besuchen zu lassen, solange sie sich in Thorpe-Ambrose aufhielten. Das wurde denn auch schon am folgenden Tagen ins Werk gesetzt, und tags darauf waren die Oldershaws verschwunden und hatten das Kind der Obhut des Squire überlassen! Offenbar hatte die Kleine in ihrer Eigenschaft als lebendige Reclame ihren Erwartungen nicht entsprochen, und sie entschlossen sich darum, sie auf diese Art zu versorgen. Da hast Du den ersten Act der Komödie! Bis hierher klar genug, nicht wahr?«

»Klar genug, Jemmy, für gescheidte Leute. Aber ich bin alt und langsam im Begreifen. Eins verstehe ich nicht. «Wessen Kind war sie?«

»Eine sehr verständige Frage. Bedaure aber, Dir sagen zu müssen, daß Niemand, Miß Gwilt selbst mit eingeschlossen, diese Frage beantworten kann. Die Instructionen, auf die ich mich hier beziehe, sind natürlich auf ihre eigenen Angaben begründet und von ihrem Anwalte gesichtet worden. Alles, dessen sie sich zu erinnern vermochte, war, daß sie irgendwo auf dem Lande bei einer Frau, welche Kinder zur Pflege aufnahm, gehungert hatte und geprügelt worden war. Diese Frau besaß eine Karte, auf welcher angegeben war, daß das Mädchen Lydia Gwilt heiße, und erhielt durch die Vermittelung eines Advocaten alljährlich eine Summe Geldes für die Erziehung des Kindes, bis dieses acht Jahre alt war. Dann hörte die Zahlung plötzlich auf; der Advocat konnte dafür keinerlei Erklärung geben; Niemand kam, sich nach dem Mädchen umzusehen, und kein Mensch bekümmerte sich auch schriftlich um sie. Die Oldershaws sahen sie und meinten, sie dürfe sich wohl zu einer Reclame für sie eignen; die Frau überließ sie ihnen um eine Kleinigkeit, und Oldershaws ihrerseits überließen sie ganz und gar dem Blanchard. Dies die Geschichte ihrer Geburt, Herkunft und Erziehung! Sie kann ebenso gut die Tochter eines Herzogs wie die Tochter eines Trödlers sein. Entweder sind die Verhältnisse dabei höchst romantisch oder höchst alltäglich. Denke Dir, was Du willst, und thue Deiner Phantasie keinen Zwang an. Bist Du aber mit Deinen Phantasien fertig, so sprich, damit ich dann umblättere und fortfahre.«

»Bitte, fahre fort, Jemmy!«

»Miß Gwilt’s nächstes Auftreten«, fuhr Bashwood der Jüngere fort, indem er in seinen Papieren blätterte, »gewährt einen Blick in ein Familiengeheimniß. Das verlassene Kind hatte endlich Glück gehabt. Es hatte die Gunst einer liebenswürdigen jungen Dame mit einem reichen Vater gewonnen und ward in der Eigenschaft von Miß Blanchard’s neuem Spielzeuge im Herrnhause gehätschelt. Nicht lange darauf reiste Mr. Blanchard mit seiner Tochter ins Ausland und letztere nahm das kleine Mädchen als ihre Kammerjungfer mit. Als sie wieder heimkehrten, war die Tochter inzwischen Gattin und Wittwe geworden, und das hübsche kleine Mädchen taucht, anstatt ihre Gebieterin nach Thorpe-Ambrose zu begleiten, plötzlich ganz allein als Zögling einer Pensionsanstalt in Frankreich auf. Dort war sie in einem Pensionat ersten Ranges, wo für ihren Unterhalt und ihre Erziehung gesorgt wurde, bis sie sich verheirathen oder anderweitig im Leben etablieren würde, indeß unter der Bedingung, daß sie niemals nach England zurückkehre. Dies waren alle Details, welche sie dem Advocaten geben wollte, welcher diese Mittheilungen aufsetzte. Sie wollte durchaus nicht sagen, was auf dem Continent geschehen war, wollte nach all den Jahren, die inzwischen verstrichen, nicht einmal den Namen des Gatten ihrer Herrin angeben. Natürlich ist vollkommen klar, daß sie im Besitz irgend eines Familiengeheimnisses war, und daß die Blanchards für ihre Erziehung im Auslande bezahlten, um sie fern zu halten. Ebenso ist klar, daß sie dieses Geheimniß nicht bewahrt haben würde, wie sie es that, hätte sie nicht eingesehen, daß sie künftig einmal damit schachern könne. Ein schlaues Weib, wie ich Dir bereits gesagt habe! Ein verwünscht schlaues Weib, das sich nicht umsonst in der Welt herumgeschlagen und daheim wie im Auslande mit den Licht- und Schattenseiten des Lebens vertraut geworden ist!«

»Ja, ja, Jemmy, sehr wahr. Wie lange ist sie in jener Schule in Frankreich geblieben?«

Bashwood der Jüngere wandte sich zu seinen Papieren.

»Sie blieb in der französischen Schule«, erwiderte er, »bis zu ihrem siebzehnten Jahre. Um jene Zeit begab sich etwas in der Schule, was hier gelind als etwas Unangenehmes bezeichnet wird. Die einfache Thatsache aber war die, daß der Musiklehrer der Pension sich heftig in Miß Gwilt verliebte. Er war ein repectabler Mann in mittleren Jahren mit Frau und Kindern, und da er sah, daß die Sache für ihn völlig hoffnungslos war, nahm er eine Pistole und versuchte, in der übermüthigen Voraussetzung daß er Gehirn im Kopfe trage, dies durch eine Kugel zu vernichten. Die Aerzte retteten ihm jedoch das Leben, nicht aber seine Vernunft, und er endete, wo er eigentlich hätte anfangen sollen, im Irrenhause. Da Miß Gwilt’s Schönheit zu diesem skandalösen Ereigniß den Anlaß gegeben hatte, war es, obgleich es sich herausstellte, daß sie bei der ganzen Geschichte durchaus kein Tadel traf, natürlich unmöglich, sie nach dem Vorfall noch länger in dem Pensionat zu lassen. Man schrieb an ihre Gönner, die Blanchards, und diese versetzten sie nach einem andern Pensionat, diesmal in Brüssel. Worüber seufzest Du? Wo fehlt Dir’s jetzt?«

»Ich kann nicht umhin, für den armen Musiklehrer zu fühlen, Jemmy. Fahre fort!«

»Nach ihrer eigenen Angabe scheint Miß Gwilt auch für ihn gefühlt zu haben, Väterchen. Sie wandte sich einer ernsten Richtung zu und ward von der Dame, unter deren Obhut man sie gestellt hatte, bis sie nach Brüssel gehen sollte, bekehrt, wie man’s nennt. Der Pfaffe in dem belgischen Pensionat scheint ein Mann von einigem Verstande gewesen zu sein und gesehen zu haben, daß die Gefühle des Mädchens sich in einem gefährlich aufgeregten Zustande befanden. Ehe es ihm jedoch gelang, sie zu beruhigen, ward er krank, und ein anderer Pfaffe, ein Fanatiker trat an seine Stelle. Das Interesse, das er an dem Mädchen nahm, und die Art und Weise, in der er auf dessen Gefühle einwirkte, wirft Du begreifen, wenn ich Dir sage, daß sie, nachdem sie fast zwei Jahre in dem Pensionat zugebracht hatte, ihren Entschluß ankündigte, ins Kloster zu gehen! Mache immer große Augen! Miß Gwilt in der Rolle einer Nonne ist eine Art weiblichen Phänomens, wie man es nicht oft sieht. Die Weiber sind wunderbare Geschöpfe.«

»Ist sie ins Kloster gegangen?« fragte Mr. Bashwood. »Ließ man sie, die so freundlos und so jung war und Niemand hatte, der ihr guten Rath geben konnte, ins Kloster gehen?«

»Der Form wegen wurden Blanchards zu Rathe gezogen«, fuhr Bashwood der Jüngere fort. »Sie hatten, wie Du leicht begreifen wirst, nichts dagegen einzuwenden, daß sie sich in ein Kloster einsperrte. Ich stehe dafür, der angenehmste Brief, den sie je von ihr erhielten, war der, in dem sie auf immer in dieser Welt feierlich von ihnen Abschied nahm. Die Klosterleute waren so vorsichtig wie immer, sie compromittirten sich nicht. Ihre Vorschriften gestatteten nicht, daß Miß Gwilt den Schleier nähme, bis sie das Leben bei ihnen zuvor auf ein Jahr und dann, wenn sie noch irgend welche Zweifel hätte, auf ein zweites Jahr versucht hätte. Demnach versuchte sie es auf ein Jahr und —— zweifelte. Sie versuchte es ein zweites Jahr und war dann gescheidt genug geworden, ohne ferneres Zögern davon abzustehen. Wieder in Freiheit, sah sie sich in ziemlich unangenehmer Lage. Die Schwestern im Kloster hatten ihr Interesse für sie verloren; die Oberlehrerin wollte sie nicht als Gehilfin annehmen, weil sie zu hübsch für die Stelle sei; der Pfaffe aber erklärte sie als vom Teufel besessen. So blieb nichts weiter übrig, als nochmals an Blanchards zu schreiben und sie zu bitten, sie noch einmal als Privatmusiklehrerin zu etablieren. Ihre frühere Herrin hatte an der Aufrichtigkeit ihres Entschlusses, Nonne zu werden, offenbar von vornherein gezweifelt, und die Gelegenheit, die sich durch jenen Abschiedsbrief von vor drei Jahren bot, benutzt, allen Verkehr mit ihrer ehemaligen Kammerjungfer abzubrechen. Miß Gwilt erhielt ihren Brief durch die Post zurückgesandt. Sie zog Erkundigungen ein und erfuhr, daß Mr. Blanchard todt sei und seine Tochter das Herrnhaus verlassen habe, um sich an einen unbekannten Ort zurückzuziehen. Ihr nächstes unternehmen war nun ein Schreiben an den Erben, welcher die Güter besaß. Dieser Brief ward von dessen Sachwalter beantwortet und enthielt die Meldung, daß er beauftragt sei, gerichtlich gegen sie einzuschreiten, sowie sie versuche, von irgend einem Mitgliede der Familie zu Thorpe-Ambrose Geld zu erpressen. Ihre letzte Hoffnung bestand darin, den Namen des Ortes zu erfahren, wo ihre ehemalige Herrin in Zurückgezogenheit lebte. Der Banquier der Familie, an den sie deshalb schrieb, erwiderte ihr, er habe die Weisung erhalten, Niemand die Adresse der Dame zu geben, wenn er nicht zuvor von der Dame selbst dazu ermächtigt worden sei. Dieser letzte Brief machte der Sache ein Ende, Miß Gwilt konnte nichts weiter thun. Hätte ihr Geld zu Gebote gestanden, so hätte sie nach England reisen und Blanchards zu verstehen geben können, wie wenig rathsam es für sie sei, die Sache zu weit zu treiben. Da sie’ aber über keinen Heller zu verfügen hatte, war sie hilflos Du wirst Dich vielleicht wundern, wie sie, ohne Geld und ohne Freunde, während dieser Correspondenzen existieren konnte. Sie fand ihren Unterhalt dadurch, daß sie in einem Concertsaale niederer Sorte in Brüssel Klavier spielte. Natürlich belagerten sie die Männer von allen Seiten, aber sie war unempfindlich wie Diamant. Einer dieser abgewiesenen Herren war ein Russe, und dieser machte sie mit einer seiner Landsmänninnen bekannt, deren Namen fremden Lippen unaussprechlich ist. Geben wir ihr ihren Titel und nennen sie die Baronin. Beide Frauen gefielen einander, als sie sich vorgestellt wurden, und ein neues Leben erschloß sich Miß Gwilt. Sie ward die Vorleserin und Gesellschafterin der Baronin. Aus der Oberfläche war Alles glatt und eben, darunter Alles faul und häßlich.«

»Wie so, Jemmy? Bitte, warte einen Augenblick und sage mir, wie so?«

»Folgendermaßen. Die Baronin liebte das Reisen und hatte einen ausgewählten Kreis von Freunden um sich, die diesen ihren Geschmack theilten. Man reiste von einer Stadt des Continents nach der andern und als charmante Leute fand man überall neue Bekanntschaften. Die Bekanntschaften wurden zu den Gesellschaften der Baronin eingeladen, unter deren Möbeln der Kartentisch niemals fehlte. Begreifst Du jetzt, oder muß ich Dir im strengsten Vertrauen erzählen, daß das Kartenspiel in diesen Gesellschaften nicht als sündlich galt und daß es sich am Schlusse jedes Abends herausstellte, wie das Glück auf der Seite der Baronin und ihrer Freunde gewesen war? Allesamt waren sie Schwindler, und was Du auch darüber denkst, ich zweifle nicht im mindesten, daß Miß Gwilt’s Aussehen und Wesen sie zu einem schätzbaren Lockvogel für die Gesellschaft machten. Ihrer eigenen Angabe nach befand sie sich in völliger Unwissenheit über das, was in Wirklichkeit vorging; sie hatte ganz und gar keine Kenntniß vom Kartenspielen, besaß in der ganzen Welt keine einzige achtbare Bekanntschaft und fühlte eine wirkliche Zuneigung zur Baronin, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil die Baronin von Anfang bis zu Ende ihr eine wirklich gute Freundin war. Du kannst dies glauben oder nicht, ganz wie Dir’s beliebt. Fünf Jahre reiste sie mit diesen Gaunern auf dem ganzen Continente umher und gehörte vielleicht noch jetzt ihrer Gesellschaft an, wäre in Neapel die Baronin nicht an den unrechten Mann gerathen, an einen reichen reisenden Engländer Namens Waldron. Aha! Der Name überrascht Dich, nicht wahr? Wie alle Welt hast Du den Proceß der berüchtigten Mrs. Waldron gelesen? Und nunmehr weißt Du, auch ohne daß ich es Dir sage, wer Miß Gwilt ist?«

Er schwieg und betrachtete seinen Vater mit plötzlichem Erstaunen. Weit entfernt, durch die ihm so eben gemachte Mittheilung niedergeschmettert zu scheinen, wandte Mr. Baswoood sich nach der ersten Ueberraschung mit einer Ruhe zu seinem Sohne, die unter den Umständen ans Wunderbare grenzte. Seine Augen glänzten mit neuer Klarheit, neue Farbe glühte auf seinen Wangen. Wäre so etwas bei einem Manne in seiner Lage denkbar gewesen, so hätte man fast annehmen können, daß das so eben Gehörte, anstatt ihn niederzudrücken, ihn vielmehr erhoben hätte. »Fahre fort, Jemmy«, sagte er ruhig, »ich bin einer von den Wenigen, die von jenem Proceß nichts lasen, sondern nur davon hörten.«

Bashwood der Jüngere bemeisterte seine innerliche Verwunderung und fuhr fort:

»Du bist immer hinter Deiner Zeit zurückgeblieben und wirst es ewig bleiben. Wenn wir zu dem Proceß kommen, kann ich Dir davon erzählen, was Du zu wissen brauchst. Inzwischen müssen wir zur Baronin und Mr. Waldron zurückkehren. Einige Abende ließ der Engländer den Schwindlern freies Spiel, mit andern Worten, er bezahlte für das Privilegium, sich bei Miß Gwilt angenehm zu machen. Als er den nothwendigen Eindruck auf sie gemacht zu haben glaubte, stellte er die ganze Schwindlerbande ohne Barmherzigkeit an den Pranger. Die Polizei legte sich ins Mittel, die Baronin sah sich im Gefängniß, und Miß Gwilt hatte zu wählen, ob sie Mr. Waldron? Schutz annehmen oder sich wieder in die Welt hinausgestoßen sehen wollte. Sie war erstaunlich tugendhaft oder erstaunlich schlau, wie Du es eben nehmen willst. Zu Mr. Waldron’s Erstaunen erklärte sie ihm, daß die Aussicht, wieder in die Welt hinausgestoßen zu werden, sie nicht erschrecke, und daß er sich ihr entweder mit ehrenvollen Absichten nahen oder sie auf immer verlassen müsse Das Ende davon war, was es immer sein wird, wenn ein Mann verliebt und ein Weib entschlossen ist. Zur großen Entrüstung seiner Familie und all seiner Angehörigen machte Mr. Waldron aus der Noth eine Tugend und heirathete sie.«

»Wie alt war er?« fragte Bashwood der Aeltere begierig.

Bashwood der Jüngere lachte laut auf. »Er war ungefähr alt genug, Papachen, um Dein Sohn sein zu können, und reich genug, um Dein kostbares Taschenbuch von Tausendpfundnoten bersten zu lassen. Hänge nicht den Kopf! Trotz seiner Jugend und seines Reichthums war die Ehe indeß keineswegs glücklich. Sie lebten im Auslande und wurden anfangs ziemlich gut mit einander fertig. Natürlich machte er, sowie er sich verheirathete, unter dem Einflusse der Flitterwochenzärtlichkeit ein neues Testament. Aber gleich andern Dingen verlieren die Frauen mit der Zeit den Reiz, welchen die Neuheit ihnen verlieh, und Mr. Waldron erwachte eines schönen Morgens mit dem Gedanken, ob er nicht ein Narr gewesen sei. Er war ein Mann von häßlichem Temperamente, er war mit stch selbst unzufrieden und ließ feine Frau dies natürlich fühlen. Nachdem er damit begonnen, sich mit ihr zu zanken, kam er allmälig dahin, sie zu beargwöhnen, und ward wüthend eifersüchtig auf jedes männliche Wesen, das sich im Hause blicken ließ. Hindernisse in der Gestalt von Kindern standen ihnen nicht im Wege, sodaß sie von einem Orte zum andern ziehen konnten, wie seine Eifersucht es ihm eben eingab, bis sie endlich, nachdem sie nahezu vier Jahre verheirathet gewesen, nach England zurückkehrten. Er besaß auf den Haiden von Yorkshire ein einsames altes Landhaus und dort sperrte er sich mit seiner Frau ein, von allem Verkehr, außer dem mit seiner Dienerschaft und seinen Hunden, völlig abgeschnitten. Diese Behandlung einer lebhaften jungen Frau konnte nur ein Resultat haben. Sei es Verhängniß oder sei es Zufall, aber wenn je ein Weib verzweifelt, ist sicherlich ein Mann zur Hand, der es benutzt. Der Mann in unserm Falle war ein dunkles Roß, wie man auf der Rennbahn spricht. Es war ein gewisser Kapitän Manuel, aus Cuba zu Hause und seiner eigenen Angabe nach ehemals Offizier in der spanischen Marine. Er hatte die Bekanntschaft von Mr. Waldron’s schöner Gattin auf ihrer Heimreise nach England gemacht; es war ihm gelungen, trotz der Eifersucht ihres Gatten ihr zu nahen, und er war ihr nach dem Orte ihrer Gefangenschaft in Mr. Waldron’s altem Hause auf der Haide gefolgt. Der Kapitän wird als ein gescheidter, entschlossener Mann dargestellt, als einer vom verwegenen Piratenschlage mit einem Anfluge vom Geheimnißvollen, der den Weibern gefällt ——«

»Sie gleicht den andern Frauen nicht!« sagte Mr. Bashwood plötzlich seinen Sohn unterbrechend »Fand sie ———« Seine Stimme versagte ihm den Dienst und er brach ab, ohne seine Frage zu vollenden. »Fand sie Gefallen an dem Kapitän?« ergänzte Bashwood der Jüngere, abermals laut auflachend. »«Nach ihrer eigenen Angabe vergötterte sie ihn. Zugleich aber war ihr Verhalten, wie sie es selbst darstellt, vollkommen unschuldig. Wenn man bedenkt, wie sorgfältig ihr Gemahl sie bewachte, so muß man, wie unglaublich dies auch scheinen mag, fast annehmen, daß diese ihre Angabe wahr war. Etwa sechs Wochen lang begnügten sie sich mit einem heimlichen Briefwechsel, da es dem Kapitän gelungen war, eins der Dienstmädchen des Hauses zur Zwischenträgerin zu machen. Wir brauchen uns nicht mit Muthmaßungen darüber aufzuhalten, wie die Geschichte hätte enden können —— Mr. Waldron führte selbst die Katastrophe herbei. Ob ihm von dem heimlichen Briefwechsel etwas zu Ohren kam, läßt sich mit Gewißheit nicht entnehmen. So viel steht aber fest, daß er eines Tages wüthender als gewöhnlich von seinem Spazierritt nach Hause kam, daß seine Gattin ihm von dem Uebermuthe eine Probe gab, den er in ihr nicht erdrücken konnte, und daß er ihr schließlich mit der Reitpeitsche ins Gesicht schlug. Ein ungentlemännisches Benehmen, wie ich leider zugeben muß, indeß allem äußern Anscheine nach brachte die Reitpeitsche eine erstaunliche Wirkung hervor. Von jenem Augenblicke an war die Dame so unterwürfig, wie man sie früher nie gesehen hatte. Vierzehn Tage lang that Waldron, was ihm beliebte, und sie widersetzte sich ihm nie; er sagte, was ihm gefiel, und sie äußerte kein Wort der Gegenrede. Wohl Manche hätten geargwöhnt, daß sich unter dieser plötzlichen Besserung etwas Gefährliches verstecke. Ob Mr. Waldron dies that, kann ich nicht sagen. Alles, was man darüber weiß, ist, daß er, ehe noch die Schwielen im Gesichte seiner Frau verheilt waren, erkrankte und zwei Tage darauf starb. Was sagst Du dazu?«

»Ich sage, daß er es verdiente!« erwiderte Mr. Bashwood, in höchster Aufregung mit der Hand auf den Tisch schlagend, als sein Sohn in seiner Erzählung innehielt und ihn ansah.

»Der Arzt, der den Sterbenden behandelte, war nicht Deiner Ansicht«, bemerkte Bashwood der Jüngere trocken. »Er berief noch zwei andere Aerzte und alle drei weigerten sich einen Todtenschein zu geben. Die übliche gerichtliche Untersuchung erfolgte. Das Zeugnis der Aerzte und das der Dienstboten wies unwiderstehlich auf einen und denselben Punkt und Mrs. Waldron ward auf die Anklage, ihren Mann durch Gift getödtet zu haben, Verhaftet. Ein Rechtsanwalt ersten Ranges wurde aus London herbeibeschieden, um die Vertheidigung der Gefangenen zu leiten, und diese Instructionen gestalteten sich demgemäß. Was gibt’s? Was willst Du jetzt?«

Mr. Bashwood hatte sich plötzlich erhoben, die Arme über den Tisch hingestreckt und suchte seinem Sohne die Papiere wegzunehmen. »Ich möchte sie sehen«, rief er begierig. »Ich möchte sehen, was über den Kapitän aus Cuba darin steht. Verlaß Dich darauf, Jemmy, daß er die Geschichte angezettelt hatte. Ich wollte darauf schwören!«

»Das bezweifelte Niemand, der damals den Fall kannte«, erwiderte sein Sohn. »Aber Niemand konnte es beweisen. Setze Dich wieder, mein Alter, und fasse Dich. Ueber Kapitän Manuel steht hier nichts weiter als die Verdachtsgründe des Advocaten in Betreff seiner, nach denen der Anwalt nach Belieben verfahren konnte. Mrs. Waldron hat den Kapitän von Anfang bis zu Ende vertheidigt. Gleich anfangs machte sie freiwillig zwei Angaben, welche ihr Anwalt beide für unwahr hielt. Erstens erklärte sie sich für unschuldig an dem Verbrechen; darüber war er natürlich nicht erstaunt, denn in dieser Beziehung pflegten seine Clienten ihn meistens zu hintergehen. Zweitens behauptete sie, während sie ihren Briefwechsel mit dem Kapitän zugab, daß dieser sich einzig und allein auf eine von ihm beabsichtigte Entführung bezogen, in die sie infolge der barbarischen Behandlung ihres Gatten zu willigen geneigt gewesen sei. Natürlich verlangte der Advocat die Briefe zu sehen. »Er hat alle meine Briefe verbrannt, wie ich die seinigen«, war die einzige Antwort, die er erlangen konnte. Es war sehr wohl möglich, daß Kapitän Manuel, als er gehört, daß eine Leichenschau in ihrem Hause stattgefunden habe, ihre Briefe verbrannt hatte. Allein der Rechtsanwalt hatte die Erfahrung gemacht, die auch ich gemacht habe, daß ein Weib, das einen Mann liebt, in neunundneunzig Fällen unter hundert seine Briefe aufbewahrt, mag dies nun gefährlich für sie sein oder nicht. Nachdem einmal so sein Argwohn rege geworden war, zog er heimlich Erkundigungen über den fremden Kapitän ein und brachte heraus, daß dieser sich in der allergrößten Geldverlegenheit befand. Zu gleicher Zeit fragte er seine Clientin wegen ihrer Erbschaftserwartungen von ihrem verstorbenen Gemahl. In größter Entrüstung antwortete sie ihm, daß sich unter den Papieren ihres Gatten ein wenige Tage vor seinem Tode heimlich aufgesetztes Testament befunden habe, demzufolge ihr von seinem ganzen ungeheuren Vermögen nur fünftausend Pfund zufallen sollten! »War etwa ein älteres Testament vorhanden«, fragte der Advocat, »das durch das neue widerrufen worden ist?« Allerdings, ein Testament, das er ihrem eigenen Gewahrsam anvertraut habe und das kurz nach ihrer Verheirathung abgefaßt worden sei. »In dem er seine Wittwe wohl versorgte?« —— »In dem er ihr gerade zehnmal so viel vermachte als in dem zweiten« —— »Hatte sie jenes ersten, jetzt widerrufenen Testaments jemals gegen Kapitän Manuel Erwähnung gethan?« Sie sah die Schlinge, die man ihr mit dieser Frage legte, und antwortete, ohne einen Augenblick zu zögern: »Nein, niemals!« Diese Antwort bestärkte den Advocaten in seinem Verdachte. Er suchte sie durch die Versicherung zu erschrecken, daß sie möglicherweise mit dem Leben dafür zu büßen haben könne, wenn sie ihn hinterginge, allein mit weiblicher Hartnäckigkeit blieb sie bei ihrer Behauptung. Der Kapitän benahm sich seinerseits musterhaft. Er gestand das Entführungsproject, erklärte, aus Rücksicht für den Ruf der Dame alle ihre Briefe verbrannt zu haben, blieb in der Nachbarschaft und erbot sich, vor Gericht zu erscheinen. Nichts wurde entdeckt, wonach er gesetzlicherweise mit dem Verbrechen in Verbindung gebracht oder am Tage des Verhörs in einer andern Eigenschaft als der eines Zeugen vor Gericht beschieden werden konnte. Ich selbst bin der Ansicht, kein moralischer Zweifel kann darüber obwalten, daß Manuel von dem Testamente wußte, welches seiner Geliebten fünfzigtausend Pfund vermachte, und daß er dieses Umstandes wegen vollkommen bereit war, sie nach Mr. Waldron’s Tode zu heirathen. Wenn irgend ein Mensch sie dazu verleitete, sich ihre Freiheit zu verschaffen indem sie sich selbst zur Wittwe machte, so kann dies nur der Kapitän gewesen sein. Und wenn es ihr bei der Bewachung und Beobachtung, die sie umgaben, nicht möglich war, sich das Gift selbst zu verschaffen, so muß dieses ihr in einem Briefe von dem Kapitän zugegangen sein.«

»Ich glaube nicht, daß sie Gebrauch von dem Gifte gemacht, selbst wenn es ihr zugeschickt worden wäre!« rief Mr. Bashwood. »Ich glaube, daß der Kapitän selbst ihren Gatten vergiftet hat!«

Ohne auf die Unterbrechung zu achten, legte Bashwood der Jüngere die Vertheidigungsacten zusammen, die jetzt ihrem Zwecke gedient hatten, that sie wieder in die Handtasche und nahm statt ihrer eine gedruckte Flugschrift heraus.

»Hier ist einer der über den Proceß veröffentlichten Berichte«, sagte er, »den Du lesen kannst, wenn Du Zeit dazu hast. Es ist unnöthig, uns jetzt bei den Einzelheiten aufzuhalten. Ich habe Dir bereits gesagt, wie geschickt ihr Anwalt diese Anklage des Mordes als eine Complication der mannichfachen Leiden behandelte, die ein unschuldiges Weib betroffen. Die beiden Punkte, auf die (nach diesem vorläufigen Trompetenstoß) die Vertheidigung sich stützte, waren: erstens, daß kein Beweis existierte, daß sie im Besitze von Gift gewesen sei; zweitens, daß die ärztlichen Zeugen, während sie entschieden erklärten, ihr Gatte sei durch Gift getödtet worden, in ihrer Ansicht über das specielle Gift, an dem er gestorben, von einander abwichen. Beides gute Punkte, die zugleich beide aufs beste benutzt wurden; allein das Zeugniß der andern Seite warf Alles um. Es ward bewiesen, daß die Gefangene nicht weniger als drei vortreffliche Beweggründe gehabt habe, ihren Gatten zu tödten. Er hatte sie mit fast beispielloser Grausamkeit behandelt, er hatte sie in einem, soviel ihr bekannt, nicht widerrufenen Testamente zur Erbin eines beträchtlichen Vermögens eingesetzt und sie, ihrer eigenen Angabe nach, von einem andern Manne sich entführen lassen wollen. Nachdem der Kronanwalt diese Beweggründe geltend gemacht hatte, führte er zunächst den Beweis, der in keiner Weise auch nur einen Augenblick angegriffen wurde, daß die einzige Person im Hause, welche dem Verstorbenen möglicherweise das Gift beigebracht haben könne, die Gefangene vor den Schranken sei. Was konnten Richter und Geschworene bei solchem Zeugnisse thun? Das Verdict lautete: »Schuldig«, wie sich dies von selbst verstand, und der Richter erklärte, daß er mit demselben übereinstimme Der weibliche Theil der im Saale Versammelten verfiel fast in Krämpfe, und mit dem männlichen war es wenig besser. Der Richter schluchzte und die Herren Juristen schauderten. Inmitten einer Scene, wie man sie noch nie in einem englischen Gerichtshofe erlebt hatte, ward sie zum Tode verurtheilt. Und sie ist in diesem Augenblicke munter und gesund am Leben, frei, um jedes ihr beliebige Unheil anzustiften und nach Bequemlichkeit jeden Mann, jedes Weib oder Kind zu vergiften, die ihr etwa im Wege sind. Ein höchst interessantes Frauenzimmer! Sieh zu, daß Du in freundschaftlichen Beziehungen mit ihr bleibst, mein werther Alter, denn das Gesetz hat mit den deutlichsten Worten zu ihr gesagt: »Meine bezaubernde Freundin, ich habe keine Schrecken für Dich!«

»Wie kam es, daß sie begnadigt wurde?« fragte Mr. Bashwood athemlos. »Ich habe es damals gehört, aber es ist mir entfallen. Ist sie durch den Minister des Innern begnadigt worden? Dann achte ich den Minister des Innern, dann erkläre ich den Minister des Innern für einen Mann, der seiner Stellung würdig ist.«

»Ganz recht, alter Herr!« erwiderte Bashwood der Jüngere. »Der Minister des Innern war der gehorsame, ergebene Diener einer aufgeklärten, freien Presse und in der That seiner Stelle würdig. Ist es möglich, daß Du nicht weißt, wie sie den Galgen um sein Recht betrog? Dann muß ich es Dir erzählen. Am Abende nach dem Verhör gingen zwei oder drei von den literarischen jungen Buccaniern nach zwei oder drei Zeitungsbureaur und schrieben ein paar herzzerreißende Leitartikel über das Verfahren des Gerichtshofs. Am nächsten Morgen fing das Publikum Feuer wie Zunder, und die Gefangene ward in den Zeitungsspalten von einem Dilettantengerichte zum zweiten Male vernommen. Alle Leute, die in der Sache keine persönliche Erfahrung hatten, ergriffen die Feder und warfen sich mit gütiger Erlaubniß der Redacteure auf die Presse. Aerzte, die den Kranken nicht behandelt hatten und bei der Untersuchung des Leichnams nicht zugegen gewesen waren, erklärten zu Dutzenden, er sei eines natürlichen Todes gestorben. Advoeaten ohne Clienten, die das Zeugniß nicht gehört hatten, griffen die Geschworenen an, welche es deutlich vernommen, und richteten den Richter, der schon zu Gericht gesessen hatte, ehe viele von ihnen noch geboren waren. Das große Publikum folgte dem Beispiele der Advocaten und der Aerzte und der jungen Buccanier, welche die Sache in Gang gebracht. Das Gesetz, das sie alle bezahlten, damit es sie beschütze, war wirklich in schrecklichem Ernste auf dem Punkte, seine Schuldigkeit zu thun! Gräßlich! Gräßlich! Das britische Publikum erhob sich in Masse gegen die Thätigkeit seiner eigenen Maschine, und der Minister des Innern begab sich in einem Zustande der Verzweiflung zum Richter. Der Richter blieb fest. Er habe damals gesagt, das Verdict sei gerecht, und er sage dies noch jetzt. »Aber gesetzt«, sprach der Minister des Innern, »die Anklage hätte andere Mittel und Wege gewählt, um sie schuldig zu finden, was würden Sie und die Geschworenen dann gethan haben?« Dies konnte natürlich der Richter nicht sagen. Sofort war dies ein Trost für den Minister des Innern. Und als er danach die Zustimmung des Richters erlangte, das streitige ärztliche Zeugniß einem einzigen großen Arzte zur Prüfung vorzulegen, und als dieser eine große Arzt die Sache vom Standpunkte des Mitleids auffaßte, nachdem er zuvor ausdrücklich zu verstehen gegeben hatte, daß er factisch gar nichts von der Sachlage wisse, da war der Minister des Innern vollkommen zufrieden gestellt. Das Todesurtheil spazierte in den Papierkorb, das Urtheil des Gesetzes ward allgemeiner Bestimmung zufolge umgestoßen, und das der Zeitungen behielt den Sieg. Aber das Beste kommt noch. Du erinnerst Dich, was geschah, als das Volk den Lieblingsgegenstand seiner Theilnahme plötzlich freigelassen sah? Allgemein herrschte die Ansicht, daß sie doch eigentlich nicht unschuldig genug sei, um sofort aus dem Gefängnisse entlassen werden zu können. »Strafen Sie sie etwas«, meinte das Volk, »Herr Minister, strafen Sie sie etwas, der Sittlichkeit wegen. Eine milde gerichtlich-medicinische Behandlung, wenn Sie uns den Gefallen thun wollen, und dann werden wir uns für immer über die Sache beruhigt fühlen«

»Scherze nicht darüber!« rief sein Vater. »Ich bitte Dich, Jemmy, scherze nicht darüber! Ward sie einem zweiten Verhöre unterworfen? Das konnten sie nicht, das durften sie nicht wagen! Niemand kann zweimal wegen ein und desselben Vergebens vernommen werden!«

»Bah, bah! Sie konnte sehr wohl zum zweiten Male für ein und dasselbe Vergehen vernommen werden«, entgegnete Bashwood der Jüngere, »und sie ward es. Zum Glück hatte sie zur Beruhigung des Publikums nach Frauenweise eilig das ihr angethane Unrecht selbst wieder gut zu machen gesucht, als sie fand, daß ihr Gatte sie durch einen Federstrich von einer Erbschaft von fünfzigtausend Pfund auf fünftausend reducirt hatte. Am Tage vor der Leichenschau ward die Entdeckung gemacht, daß eine verschlossene Schublade in Mr. Waldrons Schreibtische, in der sich kostbare Juwelen befunden, erbrochen und geleert worden war, und als die Wittwe Verhaftet wurde, fand man die kostbaren Steine, aus ihrer Fassung gebrochen, in ihr Corset eingenäht. Die Dame betrachtete dies als eine rechtmäßige Selbstentschädigung. Das Gesetz erklärte es für einen Raub an den Administratoren des Verstorbenen. Das geringere Vergehen, welches bei einer Anklage wie der des Mordes gegen sie außer Betracht gezogen worden, war gerade das, was in den Augen des Publikums den Schein retten konnte. Bei dem einen Proceß hatte man den Gang der Gerechtigkeit gehemmt, jetzt lag nun Alles daran, bei diesem zweiten Processe der Gerechtigkeit ihren Lauf zu lassen. Vom Morde freigesprochen, wurde die Dame wegen Raubes angeklagt. Und noch mehr, wenn ihre Schönheit und ihr Unglück nicht einen tiefen Eindruck auf ihren Advocaten gemacht hätten, würde sie nicht nur noch eine zweite Untersuchung zu bestehen gehabt haben, sondern auch durch die Krone der fünftausend Pfund beraubt worden sein, zu denen sie nach dem zweiten Testamente berechtigt war.«

Ich achte ihren Advocaten, ich bewundere ihren Advocaten!« rief Mr. Bashwood »Ich möchte ihn die Hand drücken und ihm dies sagen.«

»Er würde Dir dafür nicht danken« , bemerkte Bashwood der Jüngere. »Er lebt in dem gemüthlichen Wahne, daß außer ihm selbst kein Mensch weiß, wie er Mrs. Waldron das Legat rettete.«

»Ich bitte um Vergebung, Jemmy«, unterbrach ihn sein Vater, aber nenne sie nicht Mrs. Waldron. Sprich von ihr wie von dem unschuldigen jungen Mädchen, das sie war, als sie die Schule besuchte. Würde es Dir etwas verschlagen, sie mir zu Liebe Miß Gwilt zu nennen?«

»Durchaus nicht! Es verschlägt mir gar nichts, welchen Namen ich ihr gebe. Zum Henker mit Deinen Gefühlen! Laß uns mit den Thatsachen weitergehen. Ehe die zweite Untersuchung stattfand, that der Advocat Folgendes Er sagte ihr, ganz sicherlich werde sie zum zweiten Male schuldig befunden werden. »Und diesmal«, meinte er, »wird das Publikum das Gesetz seinen Lauf nehmen lassen. Haben Sie irgend einen alten Freund, in den Sie volles Vertrauen setzen können?« In der ganzen Welt hatte sie keinen solchen alten Freund. »Sehr gut«, sagte der Advocat, »dann müssen Sie mir vertrauen. unterschreiben Sie dieses Papier; es ist ein fingierter Verkauf all Ihres Eigenthums an mich. Wenn der rechte Augenblick kommt, werde ich zuerst aufs vorsichtigste mit den Executoren Ihres Gatten abschließen und dann das Geld wieder auf Sie übertragen und es, für den Fall, daß Sie sich jemals wieder verheiratheten, ausschließlich Ihnen sichern. Die Krone gibt in derartigen Angelegenheiten häufig ihr Recht auf, die Gültigkeit des Verkaufs zu bestreiten, und verfährt sie nicht härter gegen Sie als gegen andere Leute, so werden Sie, wenn Sie das Gefängniß verlass en, Ihre fünftausend Pfund haben, um das Leben von neuem beginnen zu können!« Sehr niedlich von dem Advocaten, ihr, da sie eben wegen Raubes an den Executoren in Untersuchung genommen werden sollte, den Weg zu zeigen, um die Krone zu betrügen, nicht wahr? Ha, ha, hat Welch eine Welt!«

Dieser letzte Spott blieb von dem Vater unbeachtet. »Im Gefängnisse!« sprach er vor sich hin. »O mein Gott, nach all dem Elend nochmals im Gefängnisse!«

»Ja«, sagte Bashwood der Jüngere, indem er aufstand und sich dehnte und streckte, »so endete die Sache. Der Richtspruch lautete: »Schuldig« und das Urtheil war zweijährige Gefangenschaft. Sie diente ihre Zeit ab und kam, so gut ich es zu berechnen vermag, vor etwa drei Jahren aus der Gefangenschaft. Willst Du wissen, was sie that, als sie ihre Freiheit wiedererlangte und wie sie darauf lebte, so kann ich Dir ein andermal, vielleicht wenn Du wieder ein paar Banknoten in der Tasche hast, wohl etwas davon erzählen. Für jetzt weißt Du alles, was Du zu wissen brauchst. Es unterliegt nicht dem geringsten Zweifel, daß diese bezaubernde Dame den doppelten Schimpf an sich trägt, des Mordes schuldig befunden und wegen Diebstahls eingesperrt gewesen zu sein. Da hast Du Dein Aequivalent für Dein Geld und meine wunderbare Geschicklichkeit, eine Sache klar darzulegen, noch mit in den Kauf. Hast Du nur eine Spur von Dankbarkeit in Dir, so solltest Du eines Tages etwas Ansehnliches für Deinen Sohn thun. Ich will Dir sagen, was Du gethan hättest, wenn Du mich nicht gehabt, alter Herr. Du würdest, hättest Du gekonnt, wie Du wolltest, Miß Gwilt geheirathet haben.«

Mr. Bashwood stand auf und sah seinem Sohne fest ins Gesicht.

»Wenn ich könnte, wie ich wollte«, sagte er, »so würde ich sie jetzt heirathen.«

Bashwood der Jüngere trat einen Schritt zurück. »Nach alledem, was ich Dir erzählt habe?« fragte er in äußerstem Erstaunen.

»Noch alledem, was Du mir erzählt hast.«

»Mit der Aussicht, das erste Mal, daß Du sie beleidigt hättest, vergiftet zu werden?«

»Mit der Aussicht«, erwiderte Mr. Bashwood, »nach vierundzwanzig Stunden vergiftet zu werden.«

Der Spion des geheimen Nachforschungscomptoirs sank, von den Worten und den Blicken seines Vaters überwältigt, in seinen Sessel zurück.

»Verrückt!« sprach er für sich. »Toll und verrückt, beim Teufel!«

Mr. Bashwood sah nach seiner Uhr und nahm eiligst seinen Hut von einem Nebentische.

»Ich möchte auch noch das Weitere hören«, sagte er; »ich möchte jedes Wort von dem hören, was Du mir noch von ihr erzählen kannst. Aber die Zeit, die schrecklich galoppiren Zeit verstreicht. Soviel ich weiß, können sie schon in diesem Augenblicke auf dem Wege sein, ihre Heirath zu vollziehen!«

»Was hast Du vor?« fragte Bashwood der Jüngere, sich zwischen seinem Vater und der Thür aufstellend.

»Ich will mich nach dem Gasthofe begeben«, sagte der Vater, indem er an ihm vorbeizukommen versuchte. »Ich will Mr. Armadale aussuchen.«

»Wozu?«

»Um ihm Alles mitzutheilen, was Du mir erzählt hast.« Das fürchterliche Lächeln des Triumphes, das sich schon einmal in seinem Gesichte gezeigt, umspielte abermals seine Lippen. »Mr. Armadale ist jung; er hat noch sein ganzes Leben vor sich«, flüsterte er pfiffig, indem seine zitternden Finger den Arm seines Sohnes umkrallten. »Das, was für mich keine Schrecken hat, wird ihn erschrecken!«

»Warte einen »Augenblick«, sagte Bashwood der Jüngere. »Bist Du noch immer ganz sicher, daß Armadale der Mann ist?«

»Welcher Mann?«

»Der Mann, der sie zu heirathen im Begriff steht.« »Ja, ja, ja! Laß mich gehen, Jemmy, laß mich gehen!«

Der Spion lehnte sich mit dem Rücken gegen die Thür und überlegte einen Augenblick. Mr. Armadale war reich. Mr. Armadale, wenn er nicht auch toll und verrückt war, mochte dazu zu bewegen sein, daß er einer Auskunft, die ihn vor der Schande bewahrte, Miß Gwilt zu heirathen den rechten Geldwerth beilegte. »Wenn ich selbst handle, kann mir die Sache hundert Pfund eintragen«, dachte Bashwood der Jüngere. »Und keinen Heller, wenn ich es meinem Vater überlasse.« Er nahm seinen Hut und seine Ledertasche. »Kannst Du das Alles in Deinem eigenen verdrehten alten Kopfe allein tragen, Väterchen?« fragte er mit seiner unbefangensten Frechheit. »Ganz gewiß nicht! Ich will mit Dir gehen und Dir helfen. Was meinst Du dazu?«

Voll Entzücken umschlang der Vater seinen Sohn. »Ich kann mir nicht helfen, Jemmy«, sagte er mit gebrochener Stimme. »Du bist so gut gegen mich. Nimm die andere Banknote, mein Sohn, ich will schon ohne sie fertig werden! Nimm die andere Banknote!«

Der Sohn stieß die Thür mit einem Schwunge auf und wandte der dargebotenen Banknote großmuthsvoll den Rücken. »Zum Henker, alter Herr! So habsüchtig bin ich doch nicht«, sagte er mit einer Miene des tiefsten Gefühls. »Stecke Dein Taschenbuch ein und laß uns machen, daß wir fortkommen. Wie kann ich wissen«, dachte er bei sich, während sie die Treppe hinuntergingen, »ob er nicht, nähme ich ihm jetzt seine letzte Fünfpfundnote, die Hälfte verlangt, wenn er Mr. Armadale’s Geld sieht? Komm, Alter!« fuhr er laut fort. »Wir wollen einen Fiaker nehmen und den glücklichen Bräutigam abfangen, ehe er nach der Kirche fährt!«

Sie riefen auf der Straße einen Fiaker an und fuhren nach dem Gasthofe, in dem Midwinter und Allan während ihres Aufenthalts in London logiert hatten. Sowie sich die Wagenthür hinter ihnen geschlossen hatte, nahm Mr. Bashwood die Unterhaltung über Miß Gwilt wieder auf.

»Erzähle mir das Weitere«, sagte er, die Hand seines Sohnes fassend und sie zärtlich streichelnd »Laß uns während der ganzen Fahrt nach dem Hotel von ihr sprechen. Hilf mir über die Zeit hinweg, Jemmy, hilf mir über die Zeit hinweg.«

Bashwood der Jüngere war durch die Aussicht, mit Mr. Armadales Gelde Bekanntschaft zu machen, in der vortrefflichsten Laune. Bis zuletzt spielte er mit seines Vaters sorgenvoller Aufregung.

»Laß sehen, ob Du Dich des Dir schon Erzählten noch erinnerst«, begann er. »In der Geschichte ist eine Persönlichkeit, die aus derselben ganz und unerklärt verschwunden ist. Nun, kannst Du mir sagen, wer das ist?«

Er hatte darauf gerechnet, daß sein Vater dies nicht beantworten könne. Aber Mr. Bashwood’s Gedächtniß war über Alles, was mit Miß Gwilt in Verbindung stand, ebenso scharf und klar wie das seines Sohnes. »Der ausländische Schurke«, sagte er, ohne einen Augenblick zu zaudern, »der sie in die Versuchung führte und sich dann mit Gefahr ihres Lebens von ihr schützen ließ. Sprich nicht von ihm, Jemmy, sprich nicht wieder von ihm!«

»Ich muß von ihm sprechen«, erwiderte der Andere. »Du möchtest wissen, was aus Miß Gwilt ward, nachdem sie das Gefängniß verlassen, nicht wahr? Sehr gut, ich bin in der Lage, Dir dies zu erzählen. Sie ward Mrs. Manuel. Es nützt gar nichts, daß Du mich so anstierst, alter Herr. Ich weiß dies officiell. Zu Ende des vorigen Jahres kam eine ausländische Dame mit Zeugnissen auf unser Comptoir, um zu beweisen, daß sie sich früher, als er zum ersten Male in London gewesen, gesetzlich mit Kapitän Manuel verheirathet hätte. Sie hatte erst kürzlich die Entdeckung gemacht, daß er sich abermals in diesem Lande aufgehalten, und hatte Grund zu glauben, daß er sich in Schottland mit einer andern Frau verheirathet habe. Unsere Leute mußten die erforderlichen Erkundigungen einziehen. Ein Vergleich der Daten ergab, daß die schottische Verbindung, wenn es überhaupt eine Heirath und nicht ein Betrug war, genau um die Zeit stattgefunden hatte, wo Miß Gwilt ihre Freiheit wiedererlangt, und einige weitere Nachforschung lehrte uns, daß die zweite Mrs. Manuel Niemand anders war als die Heldin des berüchtigten Criminalfalls, von der wir damals nicht wußten, wohl aber jetzt, daß sie mit Deiner bezaubernden Freundin Miß Gwilt eine und dieselbe Person ist.«

Mr. Bashwood ließ das Haupt auf die Brust sinken. Er preßte seine zitternden Hände fest zusammen und wartete schweigend auf das Ende der Erzählung.

»Muth gefaßt!« fuhr sein Sohn fort. »Sie war ebenso wenig mit dem Kapitän verheirathet wie Du, und was noch mehr, der Kapitän selbst ist Dir jetzt aus dem Wege geräumt. Seit sie das Gefängniß verlassen ein Zeitraum von zwei bis drei Jahren —— hatte er Mrs. Manuel’s ganzes Vermögen von fünftausend Pfund vergeudet, und das einzige Erstaunliche blieb nur, woher er das Geld zu den Reisekosten genommen. Es erwies sich, daß er es von der zweiten Mrs. Manuel selbst erhalten hatte. Sie hatte seine Taschen gefüllt und wartete dann geduldig in einer erbärmlichen Londoner möblierten Wohnung, bis sie von ihm hören werde, daß er sich sicher im Auslande niedergelassen habe und sie zu ihm kommen solle. Du wirst die ziemlich natürliche Frage thun, wo sie das Geld herbekommen? Dies konnte damals Niemand sagen. Meine Ansicht ist jetzt die, daß sich ihre ehemalige Herrin noch am Leben befand und sie endlich im Stande war, aus ihrer Kenntniß des Blanchard’schen Familiengeheimnisses Geld zu machen. Dies ist natürlich eine bloße Vermuthung, aber ein Umstand steht damit in Verbindung, der dieselbe meiner Ansicht nach zu einer ziemlich begründeten macht. Sie hatte damals eine ältliche Freundin, die gerade die Person dazu war, die Adresse ihrer ehemaligen Herrin auszukundschaften. Kannst Du den Namen dieser ältlichen Freundin errathen? Ganz gewiß nicht! Nun, sie heißt Mrs. Oldershaw!«

Mr. Bashwood blickte plötzlich auf. »Warum wäre sie wohl zu dem Weibe zurückgekehrt, das sie in der Kindheit verlassen hatte?« fragte er.

»Das kann ich nicht sagen«, erwiderte der Sohn, »es sei denn, daß sie im Interesse ihres prachtvollen Haares zu ihr gegangen. Ich brauche Dir nicht zu sagen, daß die Gefängnißscheere mit Miß Gwilt’s Locken sehr energisch verfahren war, und Mrs. Oldershaw, erlaube ich mir zu bemerken, ist die ausgezeichnetste Wiederherstellerin von alternden weiblichen Köpfen und Gesichtern in ganz England. Rechne zweimal zwei zusammen und dann wirst Du mir in diesem Falle vielleicht beistimmen, daß dies vier macht.«

»Ja, ja, zweimal zwei macht vier«, wiederholte sein Vater ungeduldig. »Aber ich möchte noch eins wissen. Hat sie wieder von ihm gehört? Ließ er sie zu sich kommen, nachdem er ins Ausland gegangen war?«

»Der Kapitän? Ei, woran denkst Du! Hatte er nicht jeden Heller ihres Geldes durchgebracht, und befand er sich auf dem Festlande nicht außer ihrem Bereiche? Ich glaube wohl, daß sie von ihm zu hören hoffte, denn sie glaubte an ihn. Aber ich will jede beliebige Wette mit Dir eingehen, daß sie seine Handschrift niemals wiedersah. Wir thaten im Comptoir unser Möglichstes, ihr die Augen zu öffnen, wir sagten ihr geradezu, daß seine erste Frau am Leben sei und sie keine Spur von einem Anrechte an ihn besitze Sie wollte uns nicht glauben, wiewohl wir ihr die Beweise vorlegten. Halsstarrig, verdammt halsstarrig! Ich möchte behaupten, daß sie Monate lang wartete, ehe sie die Hoffnung aufgab, ihn wiederzusehen.«

Mr. Bashwood sah schnell seitwärts aus dem Wagenfenster hinaus. »Wo konnte sie nur zunächst eine Zuflucht suchen?« sagte er, nicht zu seinem Sohne, sondern für sich. »Was in aller Welt konnte sie anfangen?«

»Nach meiner Erfahrung in der Frauenwelt«, sagte der Sohn, der ihn gehört, »möchte ich zu behaupten wagen, daß sie versuchte, sich zu ertränken. Allein das ist eine bloße Vermuthung, ja in diesem Theile ihrer Geschichte ist Alles nur Vermuthung. Kommst Du zu Miß Gwilt’s Thun und Treiben während des Frühlings und Sommers des laufenden Jahres, Väterchen, so siehst Du mich am Ende meiner Kenntniß. Vielleicht ist sie verzweifelt genug gewesen, um einen Selbstmordversuch zu machen, oder auch nicht, und vielleicht war sie bei jenen Nachforschungen betheiligt, die ich für Mrs. Oldershaw anstellte. Du wirst sie heute Morgen wahrscheinlich sehen und, wenn Du Deinen Einfluß zu benutzen verstehst, vielleicht bewegen können, daß sie ihre Geschichte selbst vollends erzählt«

Noch immer aus dem Fenster sehend, legte Mr. Bashwood plötzlich die Hand auf den Arm seines Sohnes.

»Still! Still!« rief er in heftiger Aufregung. »Wir sind endlich angelangt. O,Jemmy, fühle nur, wie mir das Herz schlägt! Hier ist der Gasthof.«

»Der Henker hol’ Dein. Herz«, sagte Bashwood der Jüngere. »Warte hier, während ich Erkundigungen einziehe.«

»Ich will mit Dir gehen!« rief sein Vater. »Ich kann nicht warten! Ich sage Dir, ich kann nicht warten!«

Sie traten zusammen in den Gasthof und fragten nach Mr. Armadale.

Die Antwort lautete nach einigem Zögern und Verziehen, daß Mr. Armadale vor sechs Tagen abgereist sei. Ein zweiter Kellner fügte hinzu, daß Mr. Armadale’s Freund, Mr. Midwinter, erst diesen Morgen fortgegangen sei. Wo Mr. Armadale hingereist sei? Irgendwohin aufs Land. Wo Mr. Midwinter hingereist sei? Das wisse Niemand.

Mit sprachlosem Schrecken sah Bashwood seinen Sohn an.

»Unsinn!« sagte der jüngere Bashwood, seinen Vater wieder in den Fiaker schiebend. »Er ist uns sicher genug. Wir werden ihn bei Miß Gwilt finden.«

Der alte Mann faßte die Hand seines Sohnes und küßte sie. »Ich danke Dir, mein Sohn«, sagte er, »ich danke Dir für den Trost, den Du mir gibst.«

Der Fiaker fuhr darauf nach der Wohnung, die Miß Gwilt in der Nähe von Tottenham-Court-Road innegehabt.

»Bleibe hier«, sagte der Spion, seinen Vater im Wagen einsperrend. »Ich denke diesen Theil unseres Geschäfts allein abzumachen.«

Er klopfte an die Hausthür. »Ich habe einen Brief für Miß Gwilt«, sagte er, sowie die Thür sich öffnete, in den Gang eintretend.

»Die ist fort «, sagte das Dienstmädchen. »Sie ist gestern Abend abgereist.«

Bashwood der Jüngere vergeudete kein Wort weiter an das Dienstmädchen. Er verlangte ihre Herrin zu sehen. Die Herrin bestätigte die Angabe hinsichtlich Miß Gwilt’s gestern Abend geschehener Abreise. Wo sie hingereist? Das könne sie nicht sagen. Wie sie fortgegangen? Zu Fuße. Um welche Zeit? Zwischen neun und zehn Uhr. Was sie mit ihrem Gepäck angefangen? Sie habe kein Gepäck gehabt. Ob sie gestern ein Herr besucht? Von keiner Seele habe Miß Gwilt Besuch erhalten.

Das Gesicht des Vaters sah bleich und verstört zum Wagenfenster heraus, als der Sohn wieder die Stufen herabkam.

»Ist sie nicht da, Jemmy?« fragte er mit matter Stimme.

»Halte Dein Maul«, rief der Spion, dessen angeborene Rohheit endlich hervorbrach. »Noch bin ich mit meinen Nachforschungen nicht zu Ende.«

Er ging über die Straße und trat in ein Kaffeehaus, das dem so eben verlassenen Hause gerade gegenüber lag.

In dem Verschlag am Fenster befanden sich zwei Männer, die eifrig mit einander sprachen.

»Wer von Euch hatte gestern Abend zwischen neun und zehn Uhr den Dienst?« fragte Bashwood der Jüngere, plötzlich zu ihnen tretend, mit einem schnellen, gebieterischen Flüstern.

»Ich, Sir«, sagte einer der Männer zögernd.

»Habt Ihr das Haus aus den Augen gelassen? Ja! Ich sehe es Euch an.«

»Nur auf einen Augenblick, Sir. Ein Verdammter Halunke von einem Soldaten kam hier herein ——«

»Genug«, sagte Bashwood der Jüngere. »Ich weiß, was der Soldat that und wer ihn dies thun hieß. Sie ist uns abermals entschlüpft. Ihr seid der größte Esel, den es gibt. Ihr könnt Euch als entlassen betrachten.« Mit diesen Worten und einem Fluche, um denselben Nachdruck zu verleihen, verließ er das Kaffeehaus und kehrte zum Fiaker zurück.

»Sie ist fort!« rief der Vater. »O Jemmy, Jemmy, ich sehe es Deinem Gesichte an!« Er sank mit einem jammervollen Schrei in eine Ecke des Wagens zurück. »Sie sind verheirathet,« stöhnte er vor sich hin, indem seine Hände machtlos auf seine Kniee sanken und der Hut ihm vom Kopfe fiel. »Thut ihnen Einhalt!« rief er, sich plötzlich aufraffend und seinen Sohn wüthend am Rockkragen packend.

»Fahrt zum Gasthofe zurück«, schrie Bashwood der Jüngere dem Kutscher zu. »Laß Dein Geschrei!« fügte er barsch zu seinem Vater gewendet hinzu. »Ich muß nachsinnen.«

Der glatte Firniß war jetzt ganz von ihm gewichen. Seine Leidenschaft war erregt. Sein Stolz —— selbst ein solcher Mensch besitzt seinen Stolz! —— war aufs tiefste verletzt Zweimal hatte er seine Schlauheit mit der eines Weibes gemessen, und zweimal war er von dem Weibe überlistet worden!

Als sie zum zweiten Male vor dem Gasthofe hielten, stieg er aus und suchte heimlich die Dienstboten zu bestechen. Der Erfolg dieses Experiments überzeugte ihn, daß sie diesmal in aller Wirklichkeit keinerlei Auskunft zu verkaufen hatten. Nach kurzem Nachsinnen blieb er stehen, ehe er den Gasthof verließ, und erkundigte sich nach dem Wege zur Kirche des Sprengels. »Es verlohnt sich vielleicht der Mühe, dies zu versuchen«, dachte er bei sich, während er dem Kutscher die Adresse angab. »Schneller!« rief er, nach seiner Uhr und dann seinen Vater ansehend. »Die Minuten sind heute Morgen kostbar und der Alte beginnt schwach zu werden.«

Dies war der Fall. Obgleich noch zu hören und zu verstehen fähig, war der ältere Bashwood doch jetzt außer Stande zu sprechen. Er klammerte sich mit beiden Händen an den Widerstrebenden Arm seines Sohnes und ließ den Kopf auf dessen Schulter sinken.

Die Kirche des Sprengels stand von der Straße etwas zurück auf einem freien Platze, der von einem Eisengitter umgeben war und dessen Eingang ein eisernes Thor bildete. Der jüngere Bashwood machte sich von seinem Vater frei und ging geradeswegs in die Sakristei. Als er eintrat und bat, das Trauungsregister des Tages sehen zu dürfen, war Niemand zugegen als der Küster, der eben die Kirchenbücher verschließen wollte, und sein Gehilfe, der den Priesterrock aufhing.

Der Küster öffnete ernst das Buch und trat von dem Pulte zurück, auf dem dasselbe lag.

In dem Tagesregister standen drei Heirathen verzeichnet und die beiden ersten Namen auf der Seite waren: Allan Armadale —— Lydia Gwilt.

Selbst der Spion, obwohl er nichts von der Wahrheit ahnte, oder von den fürchterlichen Folgen, zu denen das an diesem Morgen Stattgefundene führen konnte, selbst der Spion fuhr erschrocken zurück, als sein Auge auf das Geschriebene fiel. Es war geschehen! Was auch danach kommen mochte —— es war geschehen. Da stand Schwarz auf Weiß die Heirath verzeichnet, die an sich eine Wahrheit, in den Schlußfolgerungen aber, zu denen sie Anlaß gab, eine Lüge war. Da stand durch die unglückselige Namensgleichheit in Midwinter’s eigener Handschrift der Beweis, der Jeden überzeugen mußte, daß nicht etwa Midwinter, sondern Allan Armadale Miß Gwilt’s Gatte sei.

Bashwood der Jüngere machte das Buch zu und gab es dem Küster zurück. Die Hände ärgerlich in die Taschen steckend und in seiner Selbstachtung ernstlich erschüttert, stieg er die Stufen der Sakristei hinab.

An der Kirchenmauer traf er den Kirchendiener. Einen Augenblick überlegte er, ob es einen Schilling werth wäre, den Mann auszufragen, dann entschied er sich dafür. Konnte man ihre Spur finden und sie einholen, so war noch immer eine Möglichkeit vorhanden, mit Mr. Armadale’s Geld Bekanntschaft zu machen.

»Wie lange ist es her«, fragte er, »seit ds erste Paar, das hier heute Morgen getraut worden ist, die Kirche verlassen hat?«

»Ungefähr eine Stunde«, sagte der Kirchendiener.

»Wie verließen sie die Kirche?«

Der Kirchendiener verschob die Antwort auf diese Frage, bis er sein Honorar in die Tasche gesteckt hatte. »Sie werden ihre Spur von hier nicht verfolgen können, Sir«, sagte er, sowie er seinen Schilling erhalten. »Sie gingen zu Fuße fort.«

»Und mehr wissen Sie nicht?«

»Das ist Alles, Sir, was ich darüber weiß.«

Als er allein war, zauderte selbst der Spion des geheimen Nachforschungscomptoirs einen Augenblick, bevor er zu seinem vor dem Thore wartenden Vater zurückkehrte. Diesem Zögern ward er durch das plötzliche Erscheinen des Fiakerkutschers innerhalb des Kirchengitters entrissen.

»Ich fürchte, der alte Herr wird krank, Sir«, sagte der Mann.

Bashwood der Jüngere runzelte zornig die Stirn und ging nach dem Wagen. Als er die Wagenthür öffnete, sah er seinen Vater vorwärts gebeugt und mit sprachlos sich bewegenden Lippen dasitzen, während auf seinem Gesichte eine bleiche Ruhe lag.

»Sie hat uns überlistet «, sagte der Spion.

»Sie haben sich heute Morgen hier trauen lassen.«

Der Körper des alten Mannes schwankte einen Augenblick von einer Seite zur andern, im nächsten schlossen sich seine Augen und sein Kopf sank auf den Vordersitz des Wagens. »Fahrt nach dem Hospital!« rief der Sohn. »Er hat eine Ohnmacht. Das habe ich dafür, daß ich meinem Vater zu Gefallen aus meinem Wege gehe«, murmelte er, indem er verdrießlich Mr. Bashwood’s Kopf aufrichtete und seine Cravatte löste. »Ein hübscher Morgen, fürwahr, ein hübscher Morgen!«

Das Hospital war in der Nähe und der Hausarzt auf seinem Posten.

»Wird er sich erholen?« fragte Bashwood der Jüngere barsch.

»Wer sind Sie?« fragte seinerseits der Arzt.

»Ich bin sein Sohn.«

»Das hätte man kaum glauben sollen«, erwiderte der Arzt, indem er die Belebungsmittel von der Wärterin entgegennahm und sich mit einer Miene der Erleichterung, die er sich nicht zu verbergen bemühte, vom Sohne ab und dem Vater zuwandte. »Ja«, sagte er nach ein paar Minuten, »diesmal wird sich Ihr Vater noch erholen.«

»Wann kann er von hier fortgeschafft werden?«

»In etwa zwei Stunden kann er das Hospital verlassen.«

Der Spion legte eine Karte auf den Tisch. »Ich will wiederkommen, um ihn abzuholen oder ihn abholen lassen«, sagte er. »Ich kann wohl jetzt gehen, wenn ich meinen Namen und meine Adresse hier lasse?« Mit diesen Worten setzte er seinen Hut auf und ging hinaus.

»Ein Ungeheuer!« sagte die Wärterin. »Nein«, sagte der Arzt gelassen, »ein Mensch.«

Zwischen neun und zehn Uhr abends erwachte Mr. Bashwood in seinem Bette im Gasthofe des Borough. Seit er vom Hospital zurückgebracht worden war, hatte er einige Stunden geschlafen und Geist und Körper begannen sich allmälig gleichzeitig zu erholen.

Auf dem Tischchen am Bette stand eine brennende Kerze und neben derselben lag für ihn ein Brief bereit, sobald er erwachte. Derselbe war in der Handschrift seines Sohnes und enthielt folgende Worte:

»Mein lieber Alter! Da ich Dich sicher aus dem Hospital nach Deinem Gasthofe zurückgeschafft habe, denke ich billigerweise behaupten zu dürfen, daß ich meine Pflicht an Dir gethan habe und jetzt meinen eigenen Angelegenheiten nachgehen kann. Geschäfte verhindern mich, Dich heute Abend zu besuchen, und es scheint mir durchaus nicht wahrscheinlich, daß ich mich morgen Vormittag in Deiner Gegend befinde. Mein Rath an Dich geht dahin, daß Du nach Thorpe-Ambrose zurückkehrst und Dich Deinen dortigen Geschäften widmest. Wo Mr. Armadale sich auch aufhält, früher oder später muß er in Geschäftssachen an Dich schreiben. Ich wasche —— das laß Dir gesagt sein —— von diesem Augenblicke an bezüglich der ganzen Geschichte meine Hände in Unschuld. Doch willst Du darin weitergehen, so ist meine amtliche Meinung die, daß Du, obwohl Du die Heirath nicht zu verhindern vermocht hast, ihn doch von seiner Frau trennen kannst.

Bitte, nimm Deine Gesundheit in Acht.
Dein Dich liebender Sohn

James Bashwood.«

Der Brief fiel dem schwachen alten Manne aus der Hand. »Ich wollte, Jemmy hätte heute Abend zu mir kommen können«, dachte er. »Aber es ist immer sehr freundlich von ihm, mir seinen Rath zu geben.«

Müde drehte er sich auf seinem Kissen um und las den Brief zum zweiten Male. »Ja«, sagte er, »nichts weiter bleibt mir übrig, als zurückzukehren. Ich bin zu arm und zu alt, um ihnen ganz allein nachzujagen« Er schloß die Augen und Thränen rannen über seine gefurchten alten Wangen. »Ich bin Jemmy zur Last gefallen«, murmelte er matt; »ich fürchte, ich bin dem armen Jemmy sehr zur Last gefallen.« Eine Minute später übermannte ihn seine Schwäche und er schlief wieder ein.

Vom nahen Kirchthurme schlug es zehn Uhr. Als die Schläge ertönten, näherte sich der Zug, auf dem sich Midwinter und seine Gattin als Passagiere befanden, rasch Paris. Um dieselbe Zeit hatte die Wache auf Allan’s absegelnder Yacht den Leuchtthurm auf der Höhe von Landsend erspäht und den Curs des Schiffes nach Ushant und Finisterre gerichtet.



Kapiteltrenner

Sechstes Kapitel.

»Neapel, den 10. October. Es sind heute zwei Monate verstrichen, seit ich erklärte, ich wolle mein Tagebuch schließen, um es nie wieder zu öffnen.

Warum habe ich meinen Vorsatz gebrochen? Warum bin ich zu diesem geheimen Freunde meiner elendesten und gottlosesten Stunden zurückgekehrt? Weil ich mich freundloser fühle als je, einsamer als je, obgleich mein Gatte im anstoßenden Zimmer sitzt und schreibt. Mein Elend ist das eines Weibes und es muß sich Luft machen, lieber hier als nirgendwo, gegen mein zweites Ich, dieses Buch, da ich sonst Niemand habe, der mich anhören will.

Wie glücklich war ich in den ersten Tagen nach unserer Heirath und wie glücklich machte ich ihn! Erst zwei Monate sind verstrichen und schon gehört jene Zeit der Vergangenheit an! Ich suche mich zu erinnern, ob ich irgend etwas Unrechtes gesagt oder gethan oder er irgend etwas Unrechtes gesagt oder gethan hat, und ich kann mich an nichts erinnern, was meines Gatten oder meiner selbst unwürdig gewesen wäre. Selbst den Tag kann ich nicht bestimmen, an dem zuerst diese Wolke zwischen uns aufstieg.

Wenn ich ihn weniger innig liebte, könnte ich’s ertragen. Ich könnte den Jammer unserer Entfremdung tragen, verriethe er die in ihm vorgegangene Veränderung in derselben brutalen Weise wie andere Männer.

Aber das ist nie geschehen und wird nie geschehen. Es liegt nicht in seiner Natur, Andern wehe zu thun. Kein hartes Wort entschlüpft ihm, kein unfreundlicher Blick. Nur in der Nacht, wenn ich ihn im Schlafe seufzen höre, und zuweilen, wenn ich ihn in den Morgenstunden träumen sehe, erkenne ich, wie hoffnungslos ich die Liebe verliere, die er einst für mich fühlte. Am Tage sucht er aus Schonung für mich dies zu verbergen. Er ist lauter Sanftmuth und Güte, aber sein Herz ist nicht auf seinen Lippen, wenn er mich küßt; seine Hand sagt mir nichts, wenn sie die meine berührt. Die Stunden, die er auf sein verhaßtes Schreiben verwendet, werden mit jedem Tage länger, und in den Stunden, die er mir schenkt, wird er täglich schweigsamer.

Und in alledem ist nichts, worüber ich mich beklagen kann, nichts in dem Grade Ausfälliges, daß ich davon Notiz nehmen könnte. Seine Enttäuschung weicht vor jedem offenen Bekenntnisse zurück; seine Ergebung nimmt so allmälig zu, daß selbst meine Wachsamkeit nicht das Wachsen derselben wahrnehmen kann. Wohl fünfzigmal des Tages sehne ich mich, ihm meine Arme um den Nacken zu legen und zu sagen: »Ich bitte Dich um Gotteswillen, Alles Andere lieber als diese Behandlung!« und jedes mal werden mir die Worte durch sein grausam rücksichtsvolles Wesen, das mir keine Entschuldigung für sie bietet, wieder ins Herz zurückgedrängt. Ich glaubte den bittersten Schmerz empfunden zu haben, den ich überhaupt fühlen könnte, als mir mein erster Gatte mit der Reitpeitsche ins Gesicht schlug. Ich glaubte das Schlimmste erfahren zu haben, was die Verzweiflung vermag, als ich erkannte, daß der andere Schurke, der noch niedrigere Schurke, mich verlassen hatte. Allein wir leben und lernen. Einen bitterem Schmerz gibt es als den, welchen Waldron’s Peitsche mir verursachte, es gibt eine tiefere Verzweiflung als die, welche ich fühlte, als Manuel mich verlassen hatte.

Bin ich etwa zu alt für ihn? Sicherlich noch nicht! Habe ich meine Schönheit verloren? Kein Mann geht auf der Straße an mir vorüber, dessen Augen mir nicht sagen, daß ich noch so schön bin wie immer.

Ach, nein, nein! Das Geheimniß liegt tiefer! Ich habe darüber nachgesonnen und gegrübelt, bis ein grausiger Gedanke sich meiner bemächtigt hat. Er ist während seines vergangenen Lebens edel und gut gewesen, während ich schlecht und schuldbefleckt war. Wer weiß, ob dies nicht eine fürchterliche Kluft zwischen ihm und mir gerissen hat, von der wir beide nichts ahnen. Es ist thöricht, es ist Wahnsinn, aber wenn ich in der Finsternis an seiner Seite ruhe, frage ich mich oft, ob mir vielleicht in der innigen Vertraulichkeit, die uns jetzt vereint, unbewußterweise eine Enthüllung der Wahrheit entschlüpft. Klebt mir etwa noch immer ein unerklärliches Etwas von dem Grausen meines vergangenen Lebens an? Und fühlt er etwa, ohne es zu begreifen, den Einfluß desselben? O Himmel! Hat denn eine Liebe wie die meinige keine Macht der Reinigung? Ist mein Herz durch meine frühere Schlechtigkeit so fürchterlich befleckt, daß keine Reue es je rein zu waschen vermag? Wer weiß! Ich weiß nur, daß in unserm ehelichen Leben etwas nicht ist, wie es sein soll. Ein feindlicher Einfluß, dessen Spur weder er noch ich erkennen kann, entfernt uns täglich immer weiter von einander. Nun, mit der Zeit werde ich wohl härter werden und es ertragen lernen.

So eben fuhr ein offener Wagen an meinem Fenster vorbei, in dem eine hübsch gekleidete Dame saß. Ihr Gatte saß an ihrer Seite und ihre Kinder ihr gegenüber. In dem Augenblicke, wo ich sie erblickte, lachte und plauderte sie mit großer Fröhlichkeit; ein heiteres, leichtherziges, glückliches Weib. Ah, Mylady, wärest Du gleich mir in Deiner Jugend in die Welt hinausgestoßen und Dir selbst überlassen gewesen ——

Den 11. October. Der elfte war der Tag des Monats, an dem wir uns vor zwei Monaten verheiratheten. Weder er noch ich erwähnten hiervon ein Wort, als wir erwachten. Aber ich dachte, ich wolle beim Frühstück die Gelegenheit ergreifen, sein Herz wiederzugewinnen.

Ich glaube, ich habe noch nie eine so sorgfältige Toilette gemacht oder schöner ausgesehen, als da ich heute Morgen herunterkam. Er hatte allein gefrühstückt und ich fand ein Zettelchen auf dem Tische, das seine geschriebene Entschuldigung enthielt. Er sagte, heute gehe die Post nach England ab und er müsse seinen Brief für die Zeitung zum Schlusse bringen. Ich hätte an seiner Stelle lieber fünfzigmal die Post abgehen lassen, ehe ich an diesem Tage allein gefrühstückt hätte! Ich ging in fein Zimmer. Da saß er, bis über die Ohren in seine abscheuliche Schreiberei vergraben! »Kannst Du mir heute Morgen nicht ein wenig von Deiner Zeit schenken?« fragte ich. Er sprang schnell auf. »Gewiß, wenn Du es wünschest.« Er sah mich nicht einmal an, während er sprach. Der Klang seiner Stimme genügte allein, mir zu sagen, daß sein ganzes Interesse sich auf die Feder concentrire, die er so eben niedergelegt hatte. »Ich sehe, Du bist beschäftigt«, sagte ich; »ich wünsche es nicht.« Ehe ich noch die Thür geschlossen, saß er schon wieder an seinem Pulte. Oft habe ich gehört, daß die Frauen von Schriftstellern meistens unglücklich waren. Jetzt weiß ich warum.

Ich meinte gestern, ich würde es ertragen lernen. (Beiläufig, welchen Unsinn ich gestern geschrieben habe! Wie ich mich schämen würde, wenn irgend Jemand außer mir es sähe!) Ich hoffe, das bettelhafte Journal, für das er schreibt, hat keinen Erfolg! Ich hoffe, sein unausstehlicher Brief wird, sowie er im Druck erscheint, von den andern Zeitungen recht gründlich lächerlich gemacht werden!

Was soll ich den ganzen Morgen beginnen? Ich kann nicht ausgehen, denn es regnet. Oeffne ich das Klavier, so störe ich den fleißigen Journalisten, der im nächsten Zimmer scribelt. Mein Himmel! In meiner Wohnung in Thorpe-Ambrose war es schon einsam genug, hier aber ist es noch weit, weit einsamer. Soll ich lesen? Nein; Bücher interessieren mich nicht; ich hasse die ganze Schriftstellerbande. Ich denke, ich will in diesem Tagebuche zurückblättern und mein Leben wieder durchleben, da ich noch intriguirte und Pläne schmiedete und mir mit jeder Tagesstunde eine neue Aufregung schuf.

Er hätte mich wohl ansehen können, wenn er auch noch so emsig mit seinem Briefe beschäftigt war. Wohl hätte er sagen können: »Wie hübsch Du heute Morgen gekleidet bist!« Er hätte sich erinnern können —— doch einerlei! Er denkt an nichts als an seine Zeitung.

Zwölf Uhr. Ich habe etwas gelesen und nachgedacht und bin mit Hilfe meines Tagebuchs über eine Stunde hinweggekommen.

Welch eine Zeit, welch ein Leben in Thorpe-Ambrose! Mich wundert nur, daß ich meinen Verstand behielt. Es macht mein Herz klopfen, es treibt mir das Blut ins Gesicht, wenn ich jetzt nur davon lese!

Noch immer regnet es und der Journalist scribelt noch immer fort. Es ist mir nicht darum zu thun, die Gedanken der vergangenen Zeit wieder durchzudenken —— doch was soll ich anfangen?

Gesetzt —— ich will blos den Fall setzen —— ich hätte jetzt dasselbe Gefühl wie damals, als ich in Armadale’s Begleitung nach London reiste und meinen Weg zu seinem Leben so deutlich vor mir sah, wie ich ihn selbst während der ganzen Fahrt mit den Augen erblickte?

Ich will lieber aus dem Fenster sehen. Ich will die Vorübergehenden zählen.

Ein Leichenzug kam vorüber, mit den Büßenden in ihren schwarzen Kutten; die Wachskerzen knisterten im Regen, das kleine Glöckchen läutete und die Priester summten ihren eintönigen Gesang. Ein angenehmes Schauspiel für mich, sowie ich ans Fenster trat! Ich kehre darum zu meinem Tagebuche zurück.

Gesetzt, ich wäre nicht das veränderte Weib, das ich bin —— ich sage blos, gesetzt —— wie würde die große Gefahr, die ich einst zu laufen im Sinne hatte, sich jetzt anlassen? Ich habe Midwinter unter dem Namen geheirathet, der wirklich der seinige ist. Und damit habe ich den ersten jener drei Schritte gethan, die mir über Armadales Leben hinweg zu Armadale’s Vermögen und der Stellung von Armadales Wittwe verhelfen sollten. Wie unschuldig meine Absichten an meinem Hochzeitstage auch waren —— und sie waren allerdings unschuldig —— das ist eins der unabänderlichen Ergebnisse meiner Heirath. Nun, da ich also, ob ich nun wollte oder nicht, den ersten Schritt gethan habe, wie —— gesetzt, ich wollte den zweiten Schritt thun, was ich nicht will —— wie würden sich jetzt die Verhältnisse für mich anlassen? Würden sie mich mahnen abzustehen oder ermuthigen weiter zu gehen?

Es wird mich unterhalten, die Chancen zu berechnen, und hat die Aussicht etwas gar Verlockendes, so kann ich ja leicht das Blatt herausreißen und verbrennen.

Wir wohnen hier —— der Sparsamkeit wegen —— weit von dem kostspieligen englischen Stadttheile entfernt in einer der Vorstädte, auf der Seite von Portici. Wir haben keine Reisebekanntschaften unter unsern Landsleuten gemacht. Unsere Armuth steht dem entgegen, nicht minder Midwinter’s Zurückhaltung und, was die Frauen betrifft, meine persönliche Erscheinung. Die Männer, von denen mein Mann die Neuigkeiten für seine Zeitungsbriefe erlangt, treffen im Cafe mit ihm zusammen und kommen nie hierher. Ich rathe ihm ab, mir Fremde zuzuführen, denn obgleich seit meinem letzten Aufenthalte in Neapel Jahre vergangen sind, bin ich doch nicht ganz sicher, ob nicht von den vielen Leuten, die ich damals hier kannte, noch einige leben. Die Moral von alledem, wie es in den Geschichtenbüchern heißt, ist, daß kein einziger Zeuge in dieses Haus gekommen ist, der, sollten später in England Nachforschungen angestellt werden, behaupten könnte, daß Midwinter und ich hier als Eheleute mit einander gelebt haben. Soviel von den gegenwärtigen Verhältnissen, soweit dieselben mich afficiren.

Dann kommt Armadale. Hat sich etwa irgend etwas ereignet, das ihn bewogen, sich mit Thorpe-Ambrose in Verbindung zu setzen? Hat er die Bedingungen gebrochen, welche der Major ihm aufgelegt und hat er sich, seit ich ihn zuletzt sah, in der Rolle von Miß Milroy’s Verlobtem behauptet?

Nichts von alledem ist passiert Kein unvorhergesehener Zufall hat seine Stellung, seine verlockende Stellung mir gegenüber verändert. Ich weiß Alles, was ihm begegnet ist, seit er England verlassen, und zwar aus den Briefen, die er an Midwinter schreibt und die Midwinter mir zeigt.

Erstens hat er Schiffbruch gelitten. Seine bettelhafte kleine Yacht hat ihn wirklich dem Wellentode nahe gebracht, und dennoch ist ihr’s nicht gelungen! Wie Midwinter es ihm von einem so kleinen Fahrzeuge vorausgesagt hatte, passierte die Geschichte in einem plötzlichen Sturme. Sie wurden an der Küste von Portugal ans Land getrieben. Die Yacht ward in Stücke zerschellt, allein sämtliche Menschenleben, Papiere und dergleichen wurden gerettet. Die Mannschaft ist mit guten Empfehlungen von ihrem Herrn nach Bristol zurückgesandt worden, Empfehlungen, welche ihr bereits Aufnahme auf einem nach auswärts bestimmten Fahrzeuge verschafft haben. Der Herr selbst befindet sich nachdem er sich zuerst in Lissabon und dann in Gibraltar aufgehalten und sich an beiden Orten, jedoch vergeblich, nach einem neuen Schiffe umgesehen hat, auf der Reise hierher. Er denkt in Neapel einen dritten Versuch zu machen, da hier eine englische Yacht zum Verkauf oder zur Vermiethung ausgeboten ist. Er hat seit dem Schiffbruche nicht nach Hause zu schreiben gebraucht, da er die ganze bedeutende Summe, die für ihn bei Coutts deponiert lag, in Creditbriefen mitgenommen hat. Und er verspürt keine Lust, nach England zurückzukehren, denn da Mr. Brock todt, Miß Milroy in der Pensionsschule und Midwinter hier ist, hat er in der ganzen Welt keine Seele, die sich um ihn bekümmern und ihn willkommen heißen würde, wenn er heimkehrte. Sein einziger Zweck geht dahin, die neue Yacht zu sehen und uns zu besuchen. Midwinter erwartet ihn schon seit einer Woche und jeden Augenblick kann er in dieses Zimmer treten, in dem ich schreibe.

Dies sind verlockende Umstände bei all dem Unrechte, das mir von ihm und seiner Mutter widerfahren ist und das mir frisch im Gedächtnisse lebt, während Miß Milroy zuversichtlich ihren Platz an der Spitze seines Haushalts einzunehmen hofft, während mein Traum von einem glücklichen und schuldlosen Leben in Midwinter’s Liebe auf immer zerstört ist und mir an dessen Statt nichts mehr bleibt, was mir gegen mich selbst beistehen könnte. Ich wollte, es regnete nicht; ich wollte ich könnte ausgehen.

Vielleicht geschieht etwas, was Armadale nach Neapel zu kommen abhält! Als er zuletzt schrieb, wartete er auf ein englisches Dampfschiff, das ihn hierher bringen sollte. Vielleicht wird er des Wartens müde, ehe das Dampfschiff anlangt, oder hört etwas von einer Yacht an irgend einem andern Orte. Ein kleiner Vogel flüstert mir ins Ohr, es dürfte vielleicht das Gescheidteste für ihn sein, was er noch in seinem ganzen Leben gethan, wenn er sein Versprechen, uns in Neapel zu besuchen, bräche.

Soll ich das Blatt herausreißen, auf dem alle diese entsetzlichen Dinge geschrieben stehen? Nein. Mein Tagebuch ist so hübsch gebunden, daß es wahrhaft barbarisch wäre, ein Blatt herauszureißen. Ich will mich harmlos mit etwas Anderem beschäftigen. Was soll es sein? Mein Toilettenkästchen —— ich will mein Toilettenkästchen ordnen und die wenigen kleinen Schmucksachen putzen, die noch in meinem Besitze geblieben sind.

Ich habe das Schmuckkästchen wieder verschlossen. Der erste Gegenstand, den ich darin fand, war Armadale’s armseliges Hochzeitsgeschenk an mich, der bettelhafte kleine Rubinring. Dies reizte mich sogleich. Das Zweite, was meinen Fingern begegnete, war mein Fläschchen mit den Tropfen. Ich ertappte mich daraus, wie ich die Dosen mit dem Auge abmaß und berechnete, wie viele davon erforderlich sein würden, einen Lebendigen über die Grenze zu führen, die den Schlaf vom Tode scheidet. Warum ich, noch bevor die Berechnung vollendet war, in großem Schrecken das Schmuckkästchen verschloß, weiß ich nicht, jedenfalls aber that ich es. Und da bin ich wieder bei meinem Tagebuche, ohne das Allergeringste darein verzeichnen zu können. O der lange, lange Tag! Will sich denn gar nichts ereignen, was mir an diesem kläglichen Orte ein wenig Aufregung verschaffen könnte?

Den 12. October. Midwinters gewichtiger Brief an die Zeitung ist mit der gestrigen Abendpost abgegangen. Ich war so thöricht, zu hoffen, daß er mich heute mit einem kleinen Theile seiner Mußezeit beehren werde. Nicht im geringsten. Nach dem vielen Schreiben hatte er eine unruhige Nacht und stand mit Kopfschmerzen und in furchtbar gedrückter Stimmung auf. Wenn er in diesem Zustande ist, so bleibt sein Lieblingsheilmittel, daß er zu seinen alten Vagabundengewohnheiten zurückkehrt und ganz allein umherwandert, Niemand weiß, wohin. Er erbot sich heute Morgen pro forma —— denn er weiß, daß ich kein Reitkleid besitze —— mir ein stolperndes kleines Vieh von einem Pony zu miethen, wenn ich ihn begleiten wollte. Ich zog es vor, zu Hause zu bleiben. Entweder will ich ein schönes Pferd und ein schönes Reitkleid haben, oder gar nicht reiten. Er ging, ohne einen Versuch zu machen, mich umzustimmen, fort. Natürlich wäre ich bei meiner Weigerung geblieben, aber er hätte es doch wohl versuchen können.

In seiner Abwesenheit kann ich das Klavier öffnen —— das ist wenigstens ein Trost. Und ich bin in der schönsten Laune zum Spielen —— das ist ein zweiter. Es gibt eine Sonate von Beethoven —— ich vergesse die Nummer —— die mich stets an die Verzweiflung gemarterter Seelen im Fegefeuer erinnert. Also kommt, meine Finger, und führt mich heute Morgen unter die gemarterten Seelen!

Den 13. October. Unsere Fenster gewähren die Aussicht aufs Meer. Heute Mittag sahen wir ein Dampfschiff mit flatternder englischer Flagge hereinsegeln. Midwinter ist nach dem Hafen gegangen, in der Hoffnung, daß dies vielleicht das Schiff von Gibraltar mit Armadale am Bord ist.

Zwei Uhr. Wirklich ist es das Schiff von Gibraltar. Zu der langen Liste seiner Mißgriffe hat Armadale noch einen hinzugefügt, indem er sein Versprechen, uns in Neapel zu besuchen, hält.

Wie wird es jetzt werden?

Wer weißt«



Kapiteltrenner

Siebentes Kapitel.

»Den 16. October. Zwei Tage nichts eingetragen in dies Buch! Warum, kann ich selbst kaum sagen, vielleicht weil mich Mr. Armadale über alle Begriffe ärgert. Sein bloßer Anblick versetzt mich nach Thorpe-Ambrose zurück. Ich bilde mir ein, ich muß mich vor dem gefürchtet haben, was ich im Laufe der letzten beiden Tage hätte verzeichnen können, wenn ich mir das gefährliche Vergnügen gemacht hätte, diese Seiten auszuschlagen.

Heute Morgen fürchte ich mich vor nichts und nehme demgemäß meine Feder zur Hand.

Hat die brutale Albernheit mancher Männer eine Grenze? Das möchte ich wohl wissen. Ich glaubte an Mr. Armadale diese Grenze entdeckt zu haben, als ich in Thorpe-Ambrose seine Nachbarin war, allein meine späteren neapolitanischen Erfahrungen beweisen mir, daß ich mich irrte. Er ist in unaufhörlicher Bewegung nach und von unserer Wohnung —— im Boote von dem Hotel in Santa-Lucia übersetzend, wo er Quartier genommen hat —— und hat genau gerechnet zwei Gesprächsthemata, die im Hafen zum Verkaufe liegende Yacht und Miß Milroy. Ja, mich erklärt er zur Vertrauten seiner inbrünstigen Neigung zur Majorstochter! «Es ist so hübsch, einer Frau davon zu erzählen«, so lautet seine ganze Entschuldigung, daß er es für nothwendig erachtet, fünfzigmal des Tags an meine Sympathien —— meine Sympathien! —— für seine »süße Neelie« zu appellieren. Offenbar lebt er der Ueberzeugung —— wenn er überhaupt daran denkt —— daß ich so vollständig wie er Alles vergessen habe, was während der ersten Zeit meines Aufenthalts zu Thorpe-Ambrose zwischen uns vorgefallen ist. Solch ein völliger Mangel an dem gewöhnlichsten Zartgefühl und dem gewöhnlichsten Takte an einem Geschöpfe, das mit einer Menschenhaut und nicht mit einem Thierfell begabt ist und, wenn mich meine Ohren nicht gänzlich trügen, spricht und nicht blökt, ist durchaus unglaublich, wenn man es nicht selbst erlebt hat. Allein trotz alledem ist es doch wahr. Gestern Abend fragte er mich, fragte mich wirklich, wie viel hundert Pfund jährlich die Frau eines reichen Mannes auf ihre Toilette verwenden könnte. »Setzen Sie die Summe nicht zu niedrig an«, fügte der Dummkopf mit seinem unerträglichen Feixen hinzu. Neelie soll eine der elegantest gekleideten Damen in ganz England sein, wenn ich sie dereinst geheirathet Und das sagte er zu mir, nachdem ich ihn zu meinen Füßen habe liegen sehen und später durch Miß Milroy verloren habe! Das zu mir mit meinem Alpacakleide und einem Gatten, dessen Einkommen eine Zeitung auf die Beine helfen muß.

Besser, ich verweile bei dem Gegenstande nicht länger; besser, ich denke und schreibe Anderes!

Also zur Yacht! Als eine Befreiung von dem ewigen Reden von Miß Milroy erkläre ich die im Hafen liegende Yacht für einen ganz interessanten Gegenstand! Sie ist ein wunderschönes Muster von einem Fahrzeug, und ihre Topseiten, mag das nun sein, was es will, zeichnen sich dadurch besonders aus, daß sie von Mahagoni sind. Bei allen diesen Vorzügen hat sie indeß den Fehler, daß sie alt ist, natürlich ein schlimmes Gebrechen, und daß Bootsmeister und Mannschaft abgelohnt und nach England zurückgesandt worden sind. Kann jedoch hier eine neue Mannschaft samt einem neuen Bootsmeister aufgetrieben werden, so ist solch ein wunderschönes Ding mit allen seinen Mängeln nicht zu verachten. Es dürfe immerhin zweckmäßig sein, sie zu einer kleinen Seefahrt zu miethen und zu sehen, wie sie sich dabei aufführt. (Ist sie meiner Gesinnung, so dürfte ihre Ausführung ihren neuen Herrn einigermaßen in Erstaunen setzen.) Die Seefahrt wird zu Tage bringen, welche Fehler sie hat und welcher Reparaturen sie zufolge des unglücklichen Umstandes ihres Alters wirklich bedarf. Dann erst wird es Zeit sein, sich zu entscheiden, sie zu kaufen oder den Handel aufzugeben. Darum bewegt sich Armadale’s Gespräch, wenn er mich nicht von seiner süßen Neelie unterhält. Und Midwinter, der für seine Frau seiner Journalistenarbeit nicht eine Minute Zeit abstehlen kann, er findet Stunden für seinen Freund und kann sie rückhaltlos meiner unwiderstehlichen Rivalin, der Yacht, widmen.

Ich werde heute nicht mehr schreiben. Könnte eine so damenhafte Person, wie ich bin, überhaupt in allen ihren Gliedern bis in die Fingerspitzen hinab ein tigerartiges Zucken empfinden, dann dürfte ich im gegenwärtigen Augenblick fast in einem solchen Zustande sein. Allein bei meinen Manieren und meiner feinen Bildung ist so etwas natürlich außer Frage. Wir alle wissen ja, daß eine Dame keine Leidenschaften hat.

Den 17. October. Diesen Morgen kam an Midwinter ein Brief von seinen Sklavenhaltern, ich meine die Zeitungsleute in London, der ihn fester an den Schreibtisch fesselt als je. Zum Frühstück ein Besuch von Armadale und ein zweiter zum Mittagsessen. Gespräch beim Frühstück die Yacht, Gespräch beim Diner Miß Milroy. Mit Rücksicht auf diese junge Dame hat mich Armadale mit der Einladung beehrt, morgen mit ihm den Toledo zu besuchen und ihm beim Einkauf von allerhand Geschenken für seine Herzallerliebste behilflich zu sein. Ich fiel nicht über ihn her, ich entschuldigte mich blos. Sind Worte im Stande, die Verwunderung auszudrücken, die ich über meine eigene Geduld empfinde? Nein, Worte vermögen das nicht.

Den 18. October. Heute Morgen kam Armadale zum ersten Frühstück, um Midwinter’s habhaft zu werden, ehe sich dieser an die Arbeit setzte.

Gespräch ganz dasselbe wie gestern beim Frühstück. Armadale hat mit dem Agenten wegen miethweiser Ueberlassung der Yacht abgeschlossen. Der Agent, dem Armadale’s gänzliche Sprachunkenntniß leid that, hat wohl einen Dolmetscher aufgetrieben, eine Mannschaft aber kann er nicht schaffen. Der Dolmetscher ist höflich und willfährig, doch vom Meere versteht er ganz und gar nichts. Midwinter’s Beistand ist also unentbehrlich, und Midwinter wird ersucht —— er willigt auch ein! —— jetzt so viel als möglich von seiner Arbeit hinter sich zu bringen, damit er dann Zeit hat, seinem Freunde behilflich zu sein. Sobald eine Mannschaft gefunden ist, sollen Mängel und Vorzüge des Schiffs auf einem Ausfluge nach Sicilien erprobt werden, mit Midwinter am Bord, um sein competentes Urtheil abzugeben. Endlich, wenn ich mich zu Hause zu einsam fühlen sollte, wird die Damenkajüte Midwinter’s Gattin auf das verbindlichste zur Disposition gestellt. Das Alles wurde am Frühstückstische abgemacht und endete mit einem an mich gerichteten, zierlich gefaßten Complimente a la Armadale: Wenn ich verheirathet bin, denke ich, soll Neelie mit mir zu Schiffe gehen. Und Sie haben so guten Geschmack, Sie werden mir mithin angeben können, was Alles in der Damenkajüte jetzt noch fehlt?

Wenn Frauen solche Männer zur Welt bringen, sollten sie dieselben leben lassen? Es ist eine Meinungssache; ich meinerseits sage: Nein.

Was mich ganz rasend macht, ist, daß ich sehen muß, daß Midwinter in Armadale’s Gesellschaft und in Armadale’s neuer Yacht eine Zuflucht vor mir findet. Wenn Armadale bei uns ist, hat Midwinter immer bessere Laune. Mich vergißt er über Armadale fast so vollkommen, wie er mich über seiner Arbeit vergißt. Und ich —— ertrage es! Was für ein Muster von einer Frau, was für eine ausgezeichnete Christin ich bin!

Den 19. October. Nichts Neues, nichts als eine Wiederholung des gestrigen Tages.

Den 20. October. Etwas Neues. Midwinter leidet an nervösem Kopfschmerz und trotzdem sitzt er rastlos an seinem Schreibtische um für die Lustpartie mit seinem Freunde Zeit zu gewinnen.

Den 21. October. Mit Midwinter geht es schlechter. Er ist ärgerlich, verstört und unnahbar nach zwei schlimmen Nächten und zwei ununterbrochen am Sehreibtisch verbrachten Tagen. Unter allen andern Umständen würde er sich warnen lassen und die Arbeit zeitweilig einstellen. Jetzt aber läßt er sich von nichts warnen. Um Armadale’s willen arbeitet er, ohne sich umzusehen, nach wie vor. Wie lange wird meine Geduld noch währen?

Den 22. October. Letzte Nacht Symptome, daß Midwinter seinen Kopf über alles menschliche Maß hinaus anstrengt. Als er endlich einschlief, war er zum Erschrecken unruhig; er stöhnte, sprach und klapperte mit den Zähnen. Nach den wenigen Worten, die ich verstehen konnte, schien mir’s einmal, als träumte er von seinen Knabentagen, von damals, wo er mit den tanzenden Hunden im Lande umherzog. Ein andermal war er mit Armadale wieder die ganze Nacht auf dem Wrack eingesperrt. Gegen Morgen wurde er ruhiger. Ich schlief auch ein, und als ich nach kurzer Zeit erwachte, fand ich mich allein. Sowie ich mich umsah, bemerkte ich, daß in Midwinter’s Ankleidezimmer Licht brannte. Ich stand leise auf, um nach ihm zu sehen.

Er saß in dem großen, häßlichen, altmodischen Lehnstuhl, den ich, als wir hierher zogen, sofort aus dem Wohn- in das Ankleidezimmer hatte schaffen lassen. Sein Kopf war zurückgesunken, und eine seiner Hände hing starr über den Arm des Stuhls herab. Die andere Hand ruhte auf seinem Schooße. Leise schlich ich etwas näher und gewahrte, daß die Erschöpfung ihn beim Lesen oder Schreiben übermannt hatte, denn auf dem Tische vor ihm befanden sich Bücher, Federn, Tinte und Papier. Ich sah mir die Papiere genauer an. Alle waren sauber zusammengefaltet, wie er sie stets zu halten pflegt, nur eins lag offen da —— es war der Brief an Mr. Brock.

Nach dieser Entdeckung sah ich mich noch weiter im Zimmer um und bemerkte nun ein anderes Papier, welches unter der auf seinem Schooße ruhenden Hand lag. Ohne zu riskieren, daß ich ihn aufweckte konnte ich es nicht hervorziehen, indeß war ein Theil des Papieres nicht von seiner Hand bedeckt. Ich sah darauf, um zu entdecken, was er so verstohlen gelesen hatte, und fand so viel heraus, daß es die Erzählung von Armadale’s Traum war.

Diese zweite Entdeckung trieb mich sofort wieder ins Bett, mit sehr ernsten Gedanken.

Auf unserer Reise durch Frankreich sah sich Midwinter’s eigenthümliche Menschenscheu einmal von einem sehr angenehmen Manne, einem irischen Arzt, besiegt, den wir im Eisenbahncoups trafen und der während der ganzen Tagesfahrt auf das freundlichste und geselligste mit uns verkehrte. Als er hörte, daß Midwinter literarische Bestrebungen verfolgte, warnte ihn unser Reisegefährte ernstlich davor, zu viele Stunden nach einander am Schreibtische zuzubringen. »Ihr Gesicht sagt mir mehr, als Sie vielleicht glauben«, sprach der Doctor. »Wenn Sie sich je verleiten lassen, Ihren Kopf zu sehr anzustrengen, so werden Sie das eher empfinden als viele andere Männer. Finden Sie, daß Ihre Nerven Ihnen Streiche spielen wollen, so achten Sie ja auf diese Warnung und legen die Feder hin.«

Nach meiner letzten Entdeckung im Ankleidezimmer sieht es mir aus, als ob Midwinter’s Nerven bereits den Ausspruch des irischen Arztes bestätigen wollten. Besteht einer der Streiche, die sie ihm spielen, darin, daß sie ihn mit abergläubischer Furcht quälen, so wird, ehe lange Zeit vergeht, in unserm Leben eine Veränderung eintreten. Ich bin begierig zu sehen, ob die Idee, daß wir beide bestimmt sind, Armadale Gefahr und Unheil zu bringen, von neuem sich in Midwinter’s Geiste festsetzt. Ist dies der Fall, dann weiß ich, was geschieht. Er wird dann keinen Schritt thun, seinem Freunde bei Beschaffung einer Mannschaft für die Yacht behilflich zu sein, und sicherlich ablehnen, sich mit Armadale an der Lustfahrt zu betheiligen oder mich mit ihm segeln zu lassen.

Den 23. October. Offenbar hat Mr. Brock’s Brief seinen Einfluß noch nicht verloren. Heute sitzt Midwinter wieder an seinem Journalartikel und kann die Tage, die er mit seinem Freunde auf der See zuzubringen hofft, kaum erwarten.

Zwei Uhr. Armadale hier wie gewöhnlich; er möchte gern wissen, wann Midwinter ihm zu Diensten steht. Noch keine bestimmte Antwort zu geben, da Alles davon abhängt, ob Midwinter im Stande sein wird, an seinem Pulte auszuhalten. Armadale saß sehr enttäuscht da; er gähnte und steckte seine dicken, großen Hände in die Tasche. Ich nahm ein Buch zur Hand. Der Tölpel verstand nicht, daß ich gern allein sein wollte. Von neuem kam er auf sein unerträgliches Thema von Miß Milroy und von all den schönen Dingen, die sie haben sollte, sobald er sie heirathen würde. Ihr eigenes Reitpferd, ihren eigenen Ponywagen, ihr eigenes schönes Boudoir oben in der ersten Etage des Herrnhauses und so weiter. Alles, was ich einst hätte haben können, soll nun Miß Milroy bekommen —— wenn ich es zulasse!

Sechs Uhr. Immer wieder von dem unvermeidlichen Armadale! Vor einer halben Stunde kam Midwinter von seiner Schreiberei zu mir, schwindlig und erschöpft. Den ganzen Tag hatte ich mich nach etwas Musik gesehnt; ich wußte, daß Norma im Theater gegeben wurde und der Gedanke kam mir, daß ein paar Stunden in der Oper Midwinter sowohl als mir gut thun würden. Ich sagte daher: »Warum nehmen wir für heute Abend keine Loge in San-Carlo?« Düster und gleichgültig antwortete er, daß wir nicht reich genug wären, eine Loge zu nehmen. Armadale war zugegen und flunkerte mit seiner wohlgefüllten Börse in seiner gewohnten unausstehlichen Manier. »Ich bin reich genug, alter Junge, und das kommt auf, eins heraus? Mit diesen Worten nahm er seinen Hut und strampelte mit seinen großen Elephantenfüßen fort, die Loge zu besorgen. Ich sah ihm aus dem Fenster nach, wie er die Straße hinabging. »Deine Wittwe mit ihren jährlichen zwölfhundert Pfund«, dachte ich bei mir, »könnte sich jederzeit eine Loge in San-Carlo nehmen, wenn sie Lust hätte, ohne irgendwem dafür Dank schuldig zu sein.« Der strohköpfige Tölpel pfiff, während er seinen Weg zum Theater einschlug, und warf großartig jedem Bettler, der ihm nachlief, seine Silbermünzen zu.

Mitternacht. Endlich bin ich allein. Bin ich stark genug, die Geschichte dieses entsetzlichen Abends zu schreiben, wie sie sich begeben hat? Unter allen Umständen bin ich stark genug, ein neues Blatt umzuschlagen und den Versuch zu machen.



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