Die Blinde



Fünftes Kapitel - Das italiensche Dampfboot.

Lucilla’s Tagebuch hat dem Leser alles das mitgetheilt, was Lucilla mitzutheilen im Stande war. Der Leser gestatte mir nun, meine Erzählung selbst wieder aufzunehmen. Soll ich, wie der beliebte englische Clown, der alljährlich in Eurer barbarischen englischen Pantomine wieder erscheint, sagen: »Da bin ich wieder! Wie geht es Euch?« Nein, das will ich lieber bleiben lassen. Euer Clown ist einer Eurer nationalen Institutionen und mit dieser geheimnißvollen Quelle englischer Belustigung soll kein Fremder sich einfallen lassen zu spaßen.

Ich kam in Marseille, wenn ich nicht irre, am 15. August an.

»Ich darf nicht auf die Sympathie des Lesers für meinen guten Papa rechnen. Ich will über Alles, was dieses ehrwürdige Opfer der liebenswürdigen Täuschungen des Herzens betrifft, so rasch hinweggehen, wie mein kindlicher Respect und meine Liebe es irgend gestatten. Das Duell, dessen der Leser sich hoffentlich noch erinnert, war ein Pistolenduell gewesen, und die Kugel, die meinen Vater getroffen hatte, war noch nicht herausgezogen, als ich an seinem Krankenbette eintraf. Er lag im Fieber und erkannte mich nicht. Zwei Tage später zog der behandelnde Arzt die Kugel heraus. Eine Weile befand sich mein Vater in Folge dessen besser, — dann trat ein Rückfall ein. Am 1. September durften wir wieder hoffen, ihn noch am Leben erhalten zu sehen. Erst an diesem Tage war ich endlich ruhig genug, um wieder an Lucilla zu denken und mich der freundlichen Bitte Frau Finch’s zu erinnern, ihr von Marseille aus zu schreiben.

Ich schrieb kurz und erzählte der feuchten Pfarrersfrau, nur etwas ausführlichen was ich hier eben mitgetheilt habe. Mein Hauptzweck dabei war, wie ich bekenne, durch Frau Finch Nachrichten von Lucilla zu erhalten. Nachdem ich den Brief auf die Post gebracht, ging ich an die Erfüllung einer anderen Pflicht, welche ich vernachlässigt hatte, so lange mein Vater in Lebensgefahr schwebte. Ich ging zu dem Mann, an welchen mein Advocat mich empfohlen hatte, um die Nachforschungen nach Oscar ins Werk zu setzen, welche ich anstellen zu lassen beschlossen hatte, als ich London verließ. Der Mann stand in Verbindung mit der Polizei in der Eigenschaft eines nicht officiell anerkannten, aber gleichwohl mit wichtigen Aufträgen betrauten geheimen Agenten.

Als er von mir hörte, wie viel Zeit verflossen sei, ohne daß die leiseste Spur des Entflohenen aufgefunden sei, machte er ein sehr bedenkliches Gesicht und erklärte mir geradeheraus, er zweifle, ob er mein in ihn gesetztes Vertrauen rechtfertigen und mir von dem geringsten Nutzen werde sein können. Als er aber sah, daß ich ernstlich entschlossen sei, keine Anstrengung zu scheuen richtete er eine letzte Frage in folgenden Ausdrücken an mich:

»Sie haben mir den Herrn noch nicht beschrieben. Will es vielleicht ein glücklicher Zufall, daß seine persönliche Erscheinung etwas Auffallendes hat?«

»Etwas sehr Auffallendes antwortete ich.

»Beschreiben Sie es mir gefälligst genau, Madame.«

Ich beschrieb Oscars Hautfarbe. Mein vortrefflicher geheimer Agent legte, während er mir zuhörte, ein ermuthigendes Interesse an den Tag. Er trug die ausgesuchteste Toilette und hatte die Manieren eines Prinzen. Es war eine besondere Gunst, wenn man zu einer persönlichen Besprechung zu ihm zugelassen wurde.

»Wenn der Vermißte mit einem so auffallenden Gesicht durch Frankreich gereist ist«, sagte er, »so haben wir alle Aussicht, seine Spur aufzufinden. Ich will vorläufige Nachforschungen an der Eisenbahnstation auf dem Bureau des Dampfschiffes und am Hafen anstellen lassen. Sie sollen morgen das Ergebniß hören.«

Ich kehrte vorläufig befriedigt an das Krankenbett meines guten Vaters zurück.

An dem nächsten Tage beehrte mich mein geheimer Agent mit einem Besuch.

»Bringen Sie mir Nachrichten?« fragte ich.

»Allerdings, Madame. Der Commis auf dem Bureau des Dampfboots erinnert sich sehr gut, ein Billet an einen Fremden mit einem schrecklichen blauen Gesicht verkauft zu haben. Unglücklicherweise erinnert er sich anderer Umstände nicht mehr. Er kann sich weder auf den genauen Namen des Fremden noch auf den Ort, wohin sich derselbe einschiffte, besinnen. Wir können nur soviel sagen, daß er sich nach einem italienischen oder nach einem orientalischen Hafen eingeschifft haben muß. Weiter wissen wir bis jetzt nichts.«

»Und was gedenken Sie demnächst zu thun?« fragte ich.

»Ich möchte, wenn Sie damit einverstanden sind, zunächst Telegramme mit einer personellen Beschreibung des Herrn nach den verschiedenen italienischen Hafenorten abschicken. Wenn uns das zu keiner Auskunft verhilft, müssen wir es demnächst mit den orientalischen Hafenorten versuchen. Das sind die Vorschläge, die ich Ihrer Erwägung zu unterbreiten die Ehre habe. Sind Sie damit einverstanden?«

Ich stimmte von ganzem Herzen zu, und wartete das Ergebniß mit aller mir zu Gebote stehenden Geduld ab.

Der nächste Tag ging vorüber, ohne daß sich irgend etwas ereignete. Mit meinem armen Vater ging es sehr langsam vorwärts. Das elende Weib, die das Unglück herbeigeführt hatte, und die mit seinem Gegner davon gelaufen war, beschäftigte seine Gedanken fortwährend, regte ihn auf und verzögerte seine Genesung. Warum darf ein nichtswürdiges Wesen dieser Art, ein erbarmungsloses, verrätherisches, gieriges Ungeheuer in weiblicher Gestalt frei in der Welt umher laufen. Man sperrt eine arme Tigerin die uns nur frißt, wenn sie hungrig ist und keine Nahrung für ihre Jungen hat, in einen Käfig und man läßt jene anderen viel gefährlicheren Bestien unter dem Schutz des Gesetzes frei umherlaufen. Das kommt auch davon, daß Männer die Gesetze machen. Aber einerlei, die Frauen brechen sich Bahn. Wartet nur ein wenig; die zweitbeinigen Tigerinnen werden schlimme Tage bekommen wenn wir erst im Parlament sitzen.

Am 4. September schrieb mir der geheime Agent. Er konnte schon weitere Nachrichten über Oscar mittheilen. Der Mann mit dem blauen Gesicht war in Genua gelandet, wo man seine Spur bis nach dem Bahnhof der Turiner Eisenbahn verfolgt hatte. In Folge dessen waren in Turin weitere Nachforschungen auf telegraphischem Wege angestellt worden. Inzwischen sollten für den möglichen Fall, daß der Vermißte über Marseille nach England zurückkehren würde, erfahrene mit seiner Personalbeschreibung desselben versehene Männer an verschiedenen öffentlichen Plätzen postirt und beauftragt werden alle zu Lande oder zu Wasser ankommenden Reisenden genau anzusehen und mir, falls der Betreffende ihnen vorkäme, sofort Bericht erstatten. Abermals unterbreitete mein geheimer Agent mit den vornehmen Manieren dieses Verfahren meiner Erwägung und Genehmigung, und erhielt dieselbe, und meine Bewunderung noch in den Kauf.

Die Tage vergingen und der Zustand unseres guten Papa war noch immer schwankend, bald besser, bald schlimmer.

Meine armen Schwestern vermochten die Angst und Sorge nicht zu ertragen. Die ganze Last fiel wie gewöhnlich mir zu. Tag für Tag schien meine Aussicht, nach England zurückzukehren, weiter in die Ferne gerückt zu werden. Keine Zeile Antwort erhielt ich von Frau Finch. Das machte mich schon an und für sich nervös und aufgeregt. Lucilla kam mir jetzt fast nie aus den Gedanken. Wieder und wieder fühlte ich mich durch meine Besorgniß gedrängt, es darauf zu wagen und ihr zu schreiben. Aber immer stellte sich mir dabei dasselbe Hinderniß in den Weg. Nach dem, was zwischen ans vorgefallen, war es unmöglich für mich, ihr direct zu schreiben, ohne mir vorher ihre Achtung wieder verschafft zu haben. Das aber konnte ich nur, wenn ich auf Einzelheiten einging, deren Enthüllung ich noch immer für grausam und gefährlich halten mußte.

An Fräulein Batchford mochte ich nicht wieder schreiben, nachdem ich schon vor meiner Abreise von England die Geduld der alten Dante durch einen Brief auf die Probe gestellt hatte. Wenn ich das jetzt noch einmal that, ohne bessere Entschuldigungen, als die mir meine Besorgnisse an die Hand gaben, so mußte ich fürchten, daß diese Royalistin vom reinsten Wasser meinen Brief in’s Feuer werfen, und die republikanische Briefstellerin durch verächtliches Schweigen für ihre Gesinnung strafen würde. Grosse war die dritte und letzte Person, von der ich hoffen durfte, Nachrichten zu erhalten. Aber — soll ich es bekennen? — ich konnte nicht wissen, was Lucilla ihm über unsere Entfremdung mitgetheilt haben mochte und mein Stolz — man vergesse nicht, daß ich eine blutarme Fremde bin — sträubte sich dagegen, mich einer möglichen Zurückweisung auszusetzen.

Gegen den zwölften September fing ich an, meine Ungewißheit so peinlich zu empfinden und von Zweifeln über dass was Nugent in meiner Abwesenheit unternehmen möchte, so entsetzlich gequält zu werden, daß ich beschloß, auf alle Gefahr hin an Grosse zu schreiben. Es war doch möglich und das Tagebuch zeigt, daß ich doch richtig vermuthete, daß Lucilla ihm nur von meiner traurigen Reise nach Marseille und nichts weiter erzählt hatte.

Ich hatte eben meinen Schreibtisch geöffnet, als der Arzt meines Vaters in’s Zimmer trat und mir die frohe Botschaft brachte, daß er jetzt endlich für die Herstellung unseres guten Papa einstehen könne.

»Kann ich nach England zurückreisen?« fragte ich eifrig.

»Noch nicht, Sie sind seine Lieblingswärterin; Sie müssen ihn allmählig an den Gedanken Ihres Fortgehens gewöhnen. Ihre plötzliche Abreise könnte einen Rückfall bewirken.«

»Ich werde nicht plötzlich abreisen. Nur sagen Sie mir, bitte, sobald ich beruhigt, vollkommen beruhigt fortgehen kann.«

»Nun, ich denke in acht Tagen.«

»Am achtzehnten?«

»Gewiß.«

Ich schloß meinen Schreibtisch. Ich durfte jetzt hoffen, in wenigen Tagen, so rasch wie ich Grosse’s Antwort in Marseille hätte erhalten können, wieder in England zu sein. Unter diesen Umständen erschien es mir richtiger, zu warten, bis ich meine Nachforschungen sicher und persönlich würde anstellen können. Eine Vergleichung der Daten zeigt, daß es, auch wenn ich an den deutschen Arzt geschrieben hätte, zu spät gewesen wäre. Wir schrieben den elften und Lucilla hatte Ramsgate mit Nugent am fünften verlassen.

Während dieser ganzen Zeit wurden unsere Nachforschungen nach Oscar nur durch eine sehr dürftige Nachricht belohnt und selbst diese dürftige Nachricht schien mir unglaubwürdig.

Es wurde behauptet, daß er in einem Milltärhospital, dem Alexanderhospital in Piemont gesehen worden sei, und zwar, hieß es glaube ich, als Krankenpfleger bei den in dem italienisch-französischen Feldzuge gegen Oesterreich Verwundeten. (Meine Erzählung spielt, wie man sich erinnern wird, im Jahre 1859. Die Beschäftigung als Krankenwärter in einem Hospital schien mir so durchaus nicht zu Oscar’s Wesen und Neigungen zu stimmen, daß ich diese Nachricht für entschieden falsch hielt.)

Am siebenzehnten September hatte ich meinen Paß in Ordnung bringen lassen, und hatte bereits den größten Theil meiner Sachen für die Reise nach England, die ich am nächsten Tage antreten wollte, gepackt.

Trotz meiner sorgfältigsten Bemühungen, meinen armen Vater an die Idee meiner Abreise zu gewöhnen, wollte er doch so durchaus nichts davon hören, mich von sich zu lassen, daß ich mich genöthigt sah, in eine Art Compromiß zu willigen. Ich versprach ihm, wenn mein Geschäft in England erledigt sein würde, wieder nach Marseille zu kommen und ihn dann, sobald er im Stande sein würde, die Reise zu unternehmen, nach Paris zurückzubringen. Unter dieser Bedingung erwirkte ich mir von ihm Erlaubniß abzureisen. Arm wie ich war, wollte ich mir doch unendlich viel lieber die Kosten der doppelten Reise machen, als noch länger ohne Nachrichten von dem sein, was je nach Umständen in Ramsgate oder in Dimchurch vorgehe. Ich weiß nicht, was mich jetzt, nachdem ich der Sorge für meinen Vater überhoben war, mehr quälte, mein Verlangen, mich mit meiner schwesterlichen Freundin wieder zu versöhnen, oder meine unbestimmte Furcht vor dem Unheil, das Nugent in meiner Abwesenheit angerichtet haben würde. Wieder und wieder fragte ich mich, ob Fräulein Batchford wohl meinen Brief Lucilla gezeigt habe. Wieder und wieder beschäftigte mich der Gedanke, ob es mir vergönnt gewesen sein werde, Nugent in seiner wahren Gestalt zu zeigen und Oscar doch schließlich für Lucilla zu erhalten.

Am siebenzehnten Nachmittags ging ich allein aus, um ein wenig frische Luft zu schöpfen und mir · die Läden in der Stadt anzusehen. Für eine Frau, gleichviel wer oder was sie ist, hoch oder niedrig, schön oder häßlich, jung oder alt, ist es immer eine Herzerquickung, in die Schaufenster der Läden zu sehen.

Ich war noch nicht fünf Minuten auf der Straße, als ich meinem vornehmen geheimen Agenten begegnete.

»Haben Sie etwas Neues für mich?« fragte ich.

»Noch nicht.«

»Noch nicht?« wiederholte ich. »Erwarten Sie denn Nachrichten?«

»Wir erwarten diesen Nachmittag die Ankunft eines italienischen Dampfers«, erwiderte der geheime Agent. »Wer weiß, was passirt.«

Er verneigte sich gegen mich und ging fort. Die durch seine Mittheilung eröffnete Aussicht gewährte mir nicht viel Trost. So viele Dampfer waren in Marseille eingetroffen, ohne irgend eine Nachricht von dem Vermißten zu überbringen, daß ich auf die Ankunft des italienischen Schiffes nicht sehr viel Werth legte. Indessen hatte ich nichts zu thun, wollte nur spazieren gehen und dachte, ich könne ebenso gut nach dem Hafen hinunterschlendern und das Schiff ankommen sehen. Das Schiff lief eben in den Hafen ein, als ich am Landungsplatz anlangte.

Ich fand den von mir angestellten Mann auf seinem Posten und damit beschäftigt, die ankommenden Reisenden genau in Augenschein zu nehmen. Seinem Einflusse gelang es, mir, allen Vorschriften des peinlichen französischen Reglements, welches alle Freiheit der Bewegung untersagt, zum Trotz einen Platz in dem Raum im Zollhause zu verschaffen, durch welches die mit dem Dampfboot ankommenden Reisenden passiren mußten. Ich nahm sein höfliches Anerbieten dankbar an, nur weil ich froh war, nach meinem Spaziergang sitzen und mich an einem ruhigen Platz ausruhen zu können, ohne es auch nur im Mindesten für möglich zu halten, daß mein Gang nach dem Hafen zu irgend etwas führen könne.

Nach einer langen Pause fingen die Passagiere an in den Raum zu strömen. Nachdem ich mir das erste halbe Dutzend Fremde, die kamen, gleichgültig angesehen hatte, fühlte ich mich plötzlich hinten an der Schulter berührt. Da stand unser Mann in einem Zustande unbeschreiblicher Aufregung und bat mich, mich zu beruhigen.

Da ich schon vollkommen beruhigt war, so sah ich ihn erstaunt an und fragte:

»Warum?«

»Er ist da, rief der Mann, »sehen Sie nur!’

Er deutete auf die noch massenweise in’s Zimmer eindringenden Fremden. Ich sah hin, verlor aber alsbald den Kopf und fuhr mit einem Schrei auf, der die Augen aller Anwesenden auf mich lenkte. Ja! da war das liebe, arme, entstellte Gesicht, da war Qscar selbst, auch seinerseits bei meinem Anblick wie vom Blitz getroffen.

Ich riß ihm die Schlüssel seines Koffers aus der Hand und gab dieselben unserm Mann, der es übernahm, den Koffer auf dem Zoll revidiren zu lassen und ihn nachher nach meiner Wohnung zu bringen. Ich ergriff Oscar’s Arm, bahnte mir mit ihm einen Weg durch die Menge, trat hinaus und rief einen am Hafengitter haltenden Fiaker an. Die Leute, die meine Aufregung bemerkten, flüsterten einander mitleidig zu: »Das ist die Mutter des blauen Mannes!’ Das dumme Volk! Sie hätten doch wohl sehen können, daß ich nach meinem Alter nur seine Schwester sein könne.

Als wir endlich im Wagen saßen, konnte ich wieder Athem schöpfen und Oscar für alle die Angst, die er mir bereitet hatte, durch einen Kuß belohnen. Ich hätte ihm tausend Küsse geben können. Von Staunen überwältigt, war er ein willenloses Geschöpf in meinen Händen. Er wiederholte nur mit schwacher Stimme immer wieder: »Was hat das zu bedeuten? Was hat das zu bedeuten?«

»Es hat zu bedeuten, Sie böser Mensch, daß Sie Freunde haben, die thöricht genug sind, Sie zu lieb zu haben, um Sie aufzugeben«, sagte ich. »Sie werden morgen mit mir nach England reisen, und selbst sehen, ob Lucilla nicht eine Andere geworden ist.«

Die Erwähnung Lucilla’s brachte ihn wieder zur Besinnung. Er fing an, die Fragen zu thun, die sich ihm unter den obwaltenden Umständen naturgemäß aufdrängen mußten. Da ich auch meinerseits eine Menge von Fragen an ihn zu richten hatte, erzählte ich ihm ganz kurz, was mich nach Marseille geführt und was ich während meines Aufenthalte in dieser Stadt gethan habe, um seinen Zufluchtsort zu ermitteln.

Als er mich dann nach einem Moment inneren Kampfes fragte. was ich ihm über Nugent und Lucilla mittheilen könne, zauderte ich, wie ich bekennen muß, mit der Antwort. Ein Moment der Erwägung genügte jedoch, mich für eine offene Erklärung zu entscheiden, aus dem einfachen Grunde, daß die kurze Erwägung mir die Sorgen und Unannehmlichkeiten vor die Seele führte, welche wir bereits dem Verheimlichen der Wahrheit zu verdanken hatten. Ich erzählte Oscar rückhaltslos Alles, was ich hier berichtet habe, von meiner abendlichen Zusammenkunft mit Nugent in Browndown bis zu den Vorsichtsmaßregelm die ich zum Schutz Lucilla’s für die Zeit, die sie unter der Obhut ihrer Tante leben würde, ergriffen hatte.

Es interessirte mich lebhaft, den Eindruck zu beobachten, den diese Euthüllungen auf Oscar hervorbrachten. Ich kam zu zwei Schlüssen: Erstens, daß Zeit und Abwesenheit an der Liebe des armen Jungen zu Lucilla nicht das mindeste geändert hatten, und zweitens, daß nur die bündigsten Beweise ihn von der Richtigkeit meines ungünstigen Urtheils über den Charakter seines Bruders überzeugen würden. Vergebens erklärte ich ihm, daß Nugent England mit dem feierlichen Versprechen verlassen habe, ihn aufzusuchen, und daß er es; wie der Verlauf der Dinge bewiesen, mir überlassen habe, ihn zu finden. Er gestand zu, daß er nichts von Nugent weder gesehen noch gehört habe. Nichtsdestoweniger ließ er sich in seinem Vertrauen zu seinem Bruder nicht erschüttern. »Nugent ist die Ehrenhaftigkeit selber«, wiederholte er immer wieder und warf mir dabei einen Blick zu, der mir zeigte, daß ich ihn durch meine offen ausgesprochene Ansicht über seinen Bruder verletzt und beleidigt habe.

Aber kaum hatte ich das bemerkt, als wir auch schon vor meiner Wohnung angelangt waren. Er schien keine Lust zu haben, mir in’s Haus zu folgen.

»Vermuthlich können Sie das von Nugent behauptete beweisen«, nahm er auf dem Hof vor dem Hotel stillschweigend wieder auf. »Haben Sie, seit Sie hier sind, nach England geschrieben und haben Sie eine Antwort erhalten?«

»Ich habe an Frau Finch geschrieben«, erwiderte ich, »und habe kein Wort Antwort erhalten.« »Haben Sie sonst an Niemanden geschrieben?«

Ich erklärte ihm mein Verhältniß zu Fräulein Batchford und warum ich gezögert hatte, an Grosse zu schreiben.

Der Unwille gegen mich, der von dem Augenblick an, wo ich von seinem Bruder und Lucilla gesprochen, in ihm gekommen hatte, loderte endlich auf.

»Ich bin durchaus nicht Ihrer Meinung«, brach er zornig aus. »Sie thun Lucilla und Nugent gleich Unrecht. Lucilla ist unfähig, etwas gegen Sie zu Grosse zu sagen, und Nugent ist ebenso unfähig, Lucilla in der Weise, wie Sie es annehmen, zu mißleiten. Welche entsetzliche Undankbarkeit geben Sie ihr Schuld und welcher niedrigen Gesinnung halten Sie ihn für fähig! Ich habe Ihnen so geduldig wie möglich zugehört und ich fühle mich Ihnen für das Interesse, das Sie mir bewiesen haben, zu aufrichtigem Danke verpflichtet; aber ich kann nicht länger in Ihrer Gesellschaft verweilen. Madame Pratolungo, Ihr Verdacht ist unmenschlich! Sie haben auch nicht den Schatten eines Beweises zur Begründung Ihres Verdachtes beigebracht. Ich werde, wenn Sie es erlauben, mein Gepäck von Ihnen abholen lassen, und will mit dem nächsten Zuge nach England abreisen. Nach dem, was Sie mir gesagt haben, läßt es mir keine Ruhe, bis ich selbst die Wahrheit herausgefunden habe.«

Das war mein Lohn für alle Mühe, die ich mir gegeben hatte, um Oscar wieder aufzufinden! Ich rede nicht von dem Gelde, das ich dafür ausgegeben hatte, ich bin nicht reich genug, um mir aus Geld etwas zu machen, ich rede nur von den damit verbundenen Beschwerlichkeiten. Ich glaube wahrhaftig, wenn ich ein Mann gewesen wäre, ich hätte ihn zu Boden geschlagen. Da ich nur eine Frau war, machte ich ihm nur einen leichten Knix und ließ ihn meine scharfe Zunge fühlen.

»Wie es Ihnen gefällig ist, Herr Dubourg«, sagte ich. »Ich habe mein Bestes gethan, um Ihnen zu dienen, und zum Dank dafür machen Sie mir Vorwürfe und verlassen mich. Gehen Sie, Sie sind nicht der erste Narr, der sich mit seinem besten Freunde überworfen hätte.

Entweder die Worte oder der Knix oder beides zusammen brachten ihn wieder zur Besinnung. Er entschuldigte sich bei mir und ich nahm seine Entschuldigung an. Dabei machte er eine sehr lächerliche Miene und brachte mich dadurch wieder in die beste Laune.

»Sie alberner Junge«, sagte ich, indem ich seinen Arm ergriff und ihn nach der Treppe führte. »Haben Sie bei unserer ersten Begegnung in Dimchurch in mir eine dumme oder eine unmenschliche Frau gefunden? Antworten Sie mir darauf!«

Seine Antwort lautete offen genug.

»Ich fand damals in Ihnen die beste und liebenswürdigste Frau. Und doch werden Sie es ganz natürlich finden, wenn ich wünsche, einige Bestätigung — —«.

Plötzlich hielt er inne und fing wieder von meinem Brief an Frau Finch an. Das Schweigen der Frau Pfarrerin beunruhigte ihn offenbar.

»Wie lange ist es her; daß Sie geschrieben haben?«

»Es war am ersten dieses Monats«, antwortete ich.

Er wurde nachdenklich. Schweigend gingen wir die nächste Treppe des Hotels zusammen hinauf. Auf dem Vorplatz hielt er mich zurück und fing wieder an. Mein unbeantworteter Brief lag ihm noch immer zumeist im Kopf.

»Frau Finch verliert, wie Sie wissen, fortwährend Alles«, sagte er. »Ist es nicht bei dieser ihrer Gewohnheit sehr wahrscheinlich, daß, nachdem sie ihre Antwort geschrieben hatte und sich nun nach Ihrem Brief umfah, um Ihre Adresse daraus zu ersehen, Ihr Brief und ihr Schnupftuch oder ihr Roman oder sonst etwas nicht zu finden war?«

Das war bei Frau Finch’s Art und Weise unleugbar sehr möglich, das mußte ich zugeben; aber ich war zu präoccupirt, um den sich daraus ergebenden Schluß zu ziehen. Erst bei Oscar’s folgenden Worten ging mir ein neues Licht auf.

»Haben Sie sich aus der Post erkundigt, ob nicht vielleicht ein Brief poste restante für Sie da ist?« fragte er.

Wie konnte mir das nicht eingefallen sein? Natürlich hatte sie meinen Brief verloren, war das ganze Haus in Bewegung gesetzt worden, um denselben zu suchen und hatte der Pfarrer dadurch den Aufruhr beschwichtigt, daß er seine Frau anwies, poste restante zu schreiben. Wie sonderbar hatten wir die Rollen vertauscht! Anstatt daß ich wie sonst mit meinem klaren Kopf für Oscar dachte, hatte dieses Mal Oscar’s Kopf für mich gedacht. Wenn aber dem Leser meine Dummheit ganz unglaublich scheinen sollte, so möge er doch geneigtest bedenken, welche Last von Sorgen und Angst ich zu tragen gehabt hatte, seit ich in Marseille war! Kann man an Alles denken, wenn man so traurig in Anspruch genommen ist, wie ich es war? Wenn nach Horaz selbst Homer bisweilen schläft, warum nicht auch Madame Pratolungo?

»Dann habe ich nie gedacht«, sagte ich zu Oscar.

»Haben Sie etwas dagegen, wenn wir wieder umkehren und uns gleich erkundigen?«

Er war ganz bereit. Wir gingen die Treppe wieder hinunter und auf die Straße. Auf unserem Wege nach der Post benutzte ich die erste sich darbieteude Gelegenheit, mir von Oscar einen Bericht über seine Erlebnisse geben zu lassen.

»Ich habe Ihre Neugierde so gut ich konnte befriedigt«, sagte ich, als wir Arm in Arm über die Straße gingen. »Wie wäre es, wenn Sie jetzt mir ein wenig erzählten. Die Nachricht, daß man Sie in einem italienischen Militärhospital gesehen habe, ist die einzige, die mir hier über Sie zu Ohren gekommen ist. Natürlich ist das nicht wahr?«

»Gewiß ist es wahr.«

»Sie als Krankenwärter verwundeter Soldaten in einem Hospital?«

»Allerdings.«

Mir fehlten die Worte für mein Erstaunen. Ich konnte nur stillstehen und ihn ansehen.

»War das die Beschäftigung, an die Sie dachten, als sie England verließen?« fragte ich.

»Ich hatte, als ich England verließ, keinen anderen Zweck im Auge, als den ich gegen Sie in meinem Briefe erwähnt habe. Nach dem was vorgefallen, war ich es Nugent und Lucilla schuldig, fortzugehen. Ich verließ England ohne irgend ein bestimmtes Ziel. Der Zug nach Lyon war zufällig der erste, der nach meiner Ankunft in Paris abging. In Lyon fiel mir zufällig eine französische Zeitung mit einem Bericht über die Leiden einiger der in der Schlacht bei Solferino schwerverwundeten, noch unverpflegten Soldaten in die Hände. Mein eigenes Elend trieb mich, diesen anderen Duldern in ihrem Elende zu Hilfe zu eilen. In jeder anderen Hinsicht war mein Leben ein verlorenes. Der einzig würdige Gebrauch, den ich noch davon machen konnte, war, Gutes zu thun. Und hier bot sich mir die Gelegenheit dazu. Ich verschaffte mir die nöthigen Empfehlungsbriefe für Turin. Mit diesen ausgerüstet konnte ich mich unter der Leitung der ordentlichen Aerzte und Heilgehilfen durch die Pflege der armen Verstümmelten nützlich machen, und bin später behilflich gewesen, denselben durch Geldspenden eine behagliche Existenz zu verschaffen.«

In diesen männlichen und einfachen Worten erzählte er mir seine Erlebnisse. Wieder sah ich, was ich schon früher erkannt hatte, daß der Charakter dieses jungen Menschen Kräfte barg, welche meiner oberflächlichen Beobachtung seines Wesens früher völlig entgangen waren. Bei der Wahl seiner Beschäftigung war er unzweifelhaft nur dem in solchen Fällen in unseren Tagen Gebräuchlichem gefolgt. Die Verzweiflung hat ihre Moden so gut wie die Toilette. Ehemals pflegten Verzweifelte, namentlich von der Art Oscar’s, Soldaten zu werden, oder in ein Kloster zu gehen. In unseren Tagen werden Verzweifelte Krankenwärter, verbinden Wunden, geben Medizin und werden je nach Umständen auf diesem häßlichen, aber nützlichen Wege von ihrer Verzweiflung geheilt oder nicht. Oscar hatte, wie gesagt, durchaus keinen neuen Weg betreten, sondern war nur der Mode gefolgt. Und dies bewies meines Erachtens die Art, wie er die Schwierigkeiten, die sich ihm in den Weg gestellt haben mußten, überwunden und wie er auf dem einmal betretenen Wege ausgeharrt hatte, Muth und Entschlossenheit. Nachdem ich damit angefangen hatte, mich mit ihm zu zanken, war ich jetzt auf dem besten Wege, Hochachtung für ihn zu empfinden. Wahrhaftig, dieser Mensch verdiente es, für Lucilla erhalten zu werden.

»Darf ich fragen, wohin Sie gehen wollten, als wir uns am Hafen begegneten«, fuhr ich fort. »Haben Sie Italien verlassen, weil es dort keine Verwundete mehr zu pflegen gab?

»In dem Hospitah dem ich attachirt war, gab es nichts mehr für mich zu thun«, sagte er. »Und einer Wirksamkeit bei der armen Bevölkerung außerhalb des Hospitals stellten sich für mich als Fremden und Protestanten gewisse Schwierigkeiten in den Weg. Ich hätte zwar diese Schwierigkeiten einer so von Grund aus gutmüthigen und liebenswürdigen Bevölkerung gegenüber, wie es die italienische ist, wenn ich gewollt hätte, gewiß ohne Mühe überwinden können. Aber es fiel mir ein, daß es doch meine Pflicht sei, mich vor allem meinen eigenen Landsleuten zu widmen. Das Elend in London ist größer, als in irgend einer Stadt Italiens. Als Sie mir begegneten, war ich im Begriff, nach London zu gehen, um dort meine geringen Dienste irgend einem Geistlichen in einer armen Gegend der Stadt anzubieten.« Er hielt einen Augenblick inne, zögerte und fügte dann im leiserem Ton hinzu: »Das war einer der Zwecke, die ich bei meiner Rückkehr nach England im Auge hatte. Wenn ich aufrichtig sein will, muß ich Ihnen bekennen, daß mich noch ein anderes Motiv leitete.«

»Ein Motiv, daß sich auf Lucilla und Ihren Bruder bezieht?« fragte ich.

»Ja! Aber mißverstehen Sie mich nicht! Ich kehre nicht nach England zurück; um mein Nugent gegebenes Wort zurückzunehmen. Ich überlasse es ihm auch jetzt noch, seine Sache persönlich bei Lucilla zu vertreten. Ich bin noch immer entschlossen, mich und sie nicht durch meine Rückkehr nach Dimchurch unglücklich zu machen. Aber ein unwiderstehliches Verlangen treibt mich, zu erfahren, wie die Sache mit den Beiden geendet hat. Verlangen Sie nicht, daß ich Ihnen noch mehr sagen soll! Trotz der langen Zeit, die nun schon verflossen ist, bricht es mir noch immer das Herz, von Lucilla zu reden. Ich hatte auf eine Begegnung mit Ihnen in London gerechnet, und gehofft, das, was ich mich zu erfahren sehne, aus Ihrem Munde zu vernehmen. Jetzt urtheilen Sie selbst, welche Hoffnungen mich belebten, als ich zuerst Ihrer ansichtig wurde und verzeihen Sie mir, wenn ich mich bitter enttäuscht fühlte, als ich fand, daß Sie mir in der That nichts Neues mitzutheilen hätten, und als Sie sich über Nugent äußerten, wie Sie es gethan haben.« Er stand still und drückte meinen Arm an sich und fügte dann hinzu: »Wie, wenn ich mit Frau Finch’s Briefe Recht hätte? Wie, wenn derselbe wirklich für Sie auf der Post läge?«

»Nun?«

»Der Brief kann möglicherweise die Nachricht enthalten, nach der ich das größte Verlangen trage.«

Ich unterbrach ihn. »Ich verstehe Sie nicht recht«, sagte ich. »Ich weiß nicht, nach welcher Nachricht Sie das größte Verlangen tragen.«

Ich sagte das absichtlich. Was konnte das für eine Nachricht sein, nach der es ihn verlangte? Trotz allem, was er gesagt hatte, antwortete mein weiblicher Instinkt: Die Nachricht, daß Lucilla noch unverheirathet ist. Der Zweck meiner Aeußerung war, ihn zu einer Antwort zu reizen, die mich in meiner Ansicht bestärken möchte. Er aber umging die Antwort. Bedurfte es einer weiteren Bestätigung? Ich glaube nicht.

»Wollen Sie mir sagen, was in dem Briefe steht?« fragte er, ohne von meiner Bemerkung weiter Notiz zu nehmen.

»Wenn Sie es wünschen, ja«, antwortete ich, nicht allzu angenehm von seinem Mangel an Vertrauen zu mir berührt.

»Was auch immer in dem Briefe stehen möge?« fragte er weiter und traute mir offenbar nicht recht.

Ich sagte noch einmal »Ja«, fügte aber diesem einen Wort nichts weiter hinzu.

»Es wäre wohl zu viel verlangt«, beharrte er, »wenn ich Sie bäte, mich den Brief selbst lesen zu lassen?« .

Mein Temperament ist, wie dem Leser jetzt wohl bekannt sein wird, nicht gerade das einer Heiligen.

Ich zog meinen Arm heftig aus dem seinigen und maß ihn mit einem Blick, den mein armer Pratolungo »meinen römischen Blick« zu nennen pflegte.

»Herr Oscar Dubourg, sagen Sie es doch gerade heraus, daß Sie mir mißtrauen.«

Er protestirte natürlich nachdrücklichst dagegen, ohne mir jedoch damit den mindesten Eindruck zu machen. Man vergegenwärtige sich nur einen Augenblick die Insulten, Beschwerden und Aengste, welche ich als Lohn für mein freundschaftliches Interesse an dem Wohlergehen dieses Mannes mir hatte gefallen lassen müssen. Oder wenn das dem Leser zu viel zumuthen heißt, so wolle er sich nur erinnern, daß auf den von Lucilla in Dimchurch für mich zurückgelassenen Abschiedsbrief jetzt der ebenso unfreundliche Ausdruck von Oscar’s Mißtrauen folgte, und das zu einer Zeit, wo ich selbst schwere Prüfungen am Krankenbett meines Vater zu bestehen hatte. Ich denke, man wird zugeben, daß unter solchen Umständen selbst ein sanfteres Temperament als das meinige wohl leicht etwas aus der Fassung hätte gebracht werden können.

Ich antwortete kein Wort auf Oscar’s Protest; ich suchte nur in leidenschaftlicher Ungeduld nach etwas in der Tasche meines Kleides.

»Hier«, sagte ich, indem ich mein Kartenetui öffnete, »ist meine Adresse in der Stadt, und hier«, fuhr ich fort, indem ich das Papier hervorzog, »ist mein Paß, wenn man ihn verlangen sollte.«

Ich zwang ihm Karte und Paß auf und er ließ sich Beides in sprachlosem Erstaunen aufdrängen.

»Was soll ich damit?« fragte er.

»Gehen Sie damit auf die Post. Wenn da ein Brief mit dem Dimchurcher Poststempel für mich ist, so autorisire ich Sie, denselben für mich zu öffnen. Lesen Sie ihn, bevor er in meine Hände gelangt, dann werden Sie sich vielleicht beruhigt fühlen.«

Er lehnte das entschieden ab und versuchte es, mir Karte und Paß wieder aufzudrängen.

»Thun Sie, was Sie wollen«, sagte ich. »Ich bin mit Ihnen und Ihren Angelegenheiten fertig. Frau Finch’s Brief ist mir völlig gleichgültig. Ich werde nicht einmal nachfragen, ob er etwa auf der Post für mich liegt. Was gehen mich Nachrichten über Lucilla an? Was liegt mir daran, ob sie verheirathet ist oder nicht? Ich kehre zu meinem Vater und meinen Schwestern zurück. Es steht also ganz bei Ihnen, ob Sie Frau Finch’s Briefe haben wollen oder nicht.«

Das gab den Ausschlag. Er ging mit meinen Papieren nach der Post und ich kehrte nach meiner Wohnung zurück. Auf meinem Zimmer angelangt, hielt ich noch an dem Entschluß fest, den ich gegen Oscar auf der Straße ausgesprochen hatte. Warum sollte ich meinen alten Vater verlassen, um nach England zurückzukehren und mich in Lucilla’s Angelegenheiten zu mischen? Hatte ich nach der Art, wie sie von mir Abschied genommen hatte, irgendwelche Aussicht, höflich empfangen zu werden? Oscar war im Begriff, nach England zurückzukehren, mochte er doch selbst für seine Angelegenheiten sorgen. Mochten sie alle Drei, Oscar, Nugent und Lucilla, die Sache mit einander abmachen. Was gingen mich, Pratolungo’s Wittwe, diese elenden Familiengeschichten an? Nichts. Es war für die Jahreszeit ein warmer Tag. Pratolungo’s Wittwe beschloß als eine kluge Frau, es sich bequem zu machen. Sie schloß ihren Koffer auf, sie zog ihren Schlafrock an und ging im Zimmer auf und ab, und ich hätte Niemanden rathen mögen, ihr in jenem Augenblick in die Quere zu kommen.

Aber was wird man von meiner Inconsequenz denken? Wie oft habe ich jetzt schon meine Meinung in Betreff Lucillais und Oscar’s geändert; von dem Moment an gerechnet, wo ich Dimchurch verließ, welches Bild von Widersprüchen bietet mein Verfahren dar! und wie unwahrscheinlich erscheint es, daß ich so unlogisch gehandelt habe. Ach, geneigter Leser, Du wechselst gewiß niemals in Deinen Meinungen und Beschlüssen. Nein, Du bist ein sogenannter consequenter Charakter. Und ich, o, ich bin nur ein Mensch, und ich bin mir schmerzlich bewußt, daß ich keinen Platz in meinem Buche verdiene.

Nach Verlauf etwa einer halben Stunde erschien die Magd mit einem kleinen in Papier gewickelten Paquet für mich. Dasselbe war von einem Fremden mit einem englischen Accent und einem schrecklichen Gesicht für mich abgegeben worden. Er hatte gesagt, er werde nachher selbst zu mir kommen. Die Magd, eine von Fett triefende Person, richtete ihre Botschoft zitternd aus und fragte mich, ob ich mit dem Mann mit dem schrecklichen Gesicht etwas vorgehabt habe.

Ich öffnete das Packet; es enthielt meinen Paß und — weiß Gott« Frau Finch’s Brief.

Hatte er denselben geöffnet? Ja, er hatte der Versuchung, ihn zu lesen, nicht widerstehen können. Noch mehr; er hatte folgende Zeilen mit Bleistift darauf geschrieben: »Sobald ich mich fähig fühle, Sie zu sehen, werde ich Sie um Verzeihung bitten. Ich darf es jetzt noch nicht wagen, Ihnen vor die Augen zu treten. Lesen Sie den Brief und Sie werden begreifen warum.«

Ich öffnete den Brief.

Er trug das Datum des fünften September.

Ich überflog sorglos die ersten Sätze. Dank für meinen Brief, Glückwünsche zu der beginnenden Genesung meines Vaters, Mittheilungen über Babys Zähne und die letzte Predigt des Pfarrers, fernere Mittheilungen über Jemand, die mich, wie Frau Finch schrieb, sicherlich im höchsten Grade interessiren und erfreuen würden Was!!! »Herr Oscar Dubourg ist wieder da und ist jetzt bei Lucilla in Ramsgate.«

Ich knitterte den Brief in meiner Hand zusammen, Nugent hatte meine schlimmsten Befürchtungen von dem, was er in meiner Abwesenheit thun würde, gerechtfertigt. Was dachte der wahre Oscar Dubourg jetzt, nachdem er diese Zeilen in Marseille gelesen hatte? Wir sind Alle sterblich und Alle boshaften Regungen unterworfen. Es ist furchtbar, aber es ist wahr, ich triumphirte einen Augenblick.

Als aber dieser Moment der Schadenfreude vorüber war, war ich wieder gut, das heißt, ich schämte mich meiner.

Ich glättete den Brief wieder und suchte eifrig nach Nachrichten über Lucilla’s Gesundheit. Wenn diese Nachrichten günstig lauteten, so mußte Fräulein Batchford meinen ihr anvertrauten Brief in diesem Augenblick schon Lucilla gezeigt haben, mußte dadurch Nugentts abscheulicher Versuch, sich für seinen Bruder auszugeben, enthüllt und mußte Lucilla Oscar erhalten sein. In diesem Fall würde, Dank meinen Bemühungen, wie meine liebe Lucilla selbst eingestehen müsse, Alles wieder gut sein.

Nach der Mittheilung dieser Nachricht aus Ramsgate kam Frau Finch in’s Schwatzen Sie hatte, gerade wie Oscar es vermuthete, eben entdeckt, daß sie meinen Brief verloren habe. Sie wolle in der Hoffnung, ihn noch wieder zu finden, ihren Brief bis zum nächsten Tage zurückhalten. Wenn es ihr nicht gelingen sollte, würde sie es versuchen, den Brief poste restante zu adressiren, nach dem Rath, nicht des Herrn Finch, darin hatte ich mich geirrt, sondern Zillahs, welche Verwandte im Auslande habe und auch wiederholt poste restante geschrieben habe. So rieselte Frau Finch in ihrer großen zerfahrenen Handschrift sachte bis an das Ende der dritten Seite fort. Ich drehete die Seite um. Die Handschrift wurde plötzlich noch immer zerfahrener; zwei große Tintenflecken verunzieren das Papier; der Styl wurde etwas hysterisch Guter Gott! was mußte ich da lesen, als ich die Schriftzüge endlich entzifferte Der Leser urtheile selbst: »Es ist einige Stunden her, seit ich die letzten Worte schrieb, es ist eben Theezeit, liebe Freundin; ich kann kaum die Feder halten, so zittere ich. Werden Sie es glauben?! Fräulein Batchford ist hier im Pfarrhause eingetroffen, sie bringt uns die schreckliche Nachricht, daß Lucilla mit Oscar davongelaufen ist. Wir wissen nicht warum, wir wissen nicht wohin; wir wissen nur, daß sie sich im Geheimen zusammen entfernt haben, so viel, aber nicht mehr, ergiebt sieh ans einem Briefe Oscar’s an Fräulein Batchford. O, bitte, kommen Sie so bald wie möglich zurück; mein Mann wäscht seine Hände in Unschuld und Fräulein Batchford hat das Haus in einem heftigen Wortwechsel mit ihm wieder verlassen. Ich bin in einer furchtbaren Aufregung und ich habe dieselbe, wie mein Mann sagt, Baby mitgetheilt, das sich schon ganz blau geschrieen hat.

Ihre treu ergebene

Amelie Finch.«

Alle Zornaufwallungen, die mich je in meinem Leben befallen hatten, waren nichts im Vergleich mit der rasenden Wuth, die mich ergriff, als ich diese vierte Seite von Frau Finch’s Brief gelesen hatte. Nugent war es gelungen, mich trotz meiner Vorsichtsmaßregeln zu überlisten! Nugent hatte völlig straflos in der schmählichsten Weise Lucilla seinem Bruder geraubt! Ich warf alle weiblichen Rücksichten weit von mir. Ich warf mich mit den Geberden eines Mannes in einen Stuhl, drängte die Hände tief in die Taschen meines Schlafrocks und weinte nicht etwa — nein, ganz unter uns sei es gesagt, ich fluchte!

Wie lange dieser Anfall dauerte, weiß ich nicht. Ich erinnere mich nur, daß ich durch ein Klopfen an meine Thür aufgeschreckt wurde.

Wüthend stieß ich die Thür auf und stand Oscar gegenüber.

In seinem Blick lag etwas, das mich auf der Stelle beruhigte. Und der Ton seiner Stimme entlockte mir plötzlich Thränen.

»Ich muß in zwei Stunden nach England abreisen«, sagte er. »Wollen Sie mir verzeihen und mich begleiten?«

Das war Alles, was er sagte, und wenn Ihr ihn dabei gesehen und gehört hättet, Ihr würdet wie ich bereit gewesen sein, mit ihm bis an’s Ende der Welt zu gehen und würdet es ihm, wie ich es that, gesagt haben.

Zwei Stunden später saßen wir auf der Eisenbahn, auf dem Wege nach England.


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