Die Blinde



Siebentes Kapitel - Auf dem Wege zum Ende - Zweites Stadium.

So früh ich auch ausgestanden war, war mir Oscar doch noch zuvorgekommen. Er war ausgegangen und hatte Herrn Gootheridge in seinem Morgenschlaf gestört, um sieh den Schlüssel von Browndown von ihm zu erbitten.«

Bei seiner Rückkehr in’s Pfarrhaus sagte er nur, daß er nach dem leeren Hause gegangen sei, um nach verschiedenen feiner dort noch befindlichen Sachen zu sehen. Sein Aussehen und sein Wesen bei dieser Erklärung mißfielen mir mehr, als je. Ich sagte nichts und knöpfte ihm seinen leichten Reiserock, der über der Brust schief zugeknöpft war, wieder zurecht. Bei dieser Gelegenheit berührte meine Hand seine Brusttasche. Er fuhr plötzlich zusammen als ob er etwas in der Tasche habe, wovon er nicht wünschte, daß ich es merke. War es etwas, das er von Browndown mitgebracht hatte.

Wir reisten nachdem sich uns der »Ehrwürdige« Finch, der darauf bestand, Oscar zu begleiten angeschlossen hatte, mit dem ersten Schnellzuge direkt nach London. Ein Blick auf den Fahrplan bei unserer Ankunft zeigte mir, daß ich bis zur Wiederabfahrt des Zuges nach Sydenham Zeit genug haben werde, Grosse einen kurzen Besuch zu machen. Da ich Oscar von den schlimmen Nachrichten über Lucilla’s Augen nichts sagen wollte, bis ich Grosse gesprochen haben würde, fuhr ich unter einem möglichst plausiblen Vorwand davon und ließ die beiden Herren im Wartezimmer des Bahnhofsgebäudes.

Ich fand Grosse auf seinem Lehnstuhl, seinen gichtischen Fuß in kalte Kohlblätter gewickelt. Seine Schmerzen und seine Sorge um Lucilla machten seine Augen nur noch wilder und seine eigenthümliche Redeweise nur noch komischer als gewöhnlich. Als ich mich an seiner Schwelle blicken ließ und ihm guten Morgen sagte, ballte er in seiner wahnsinnigen Ungeduld die Faust gegen mich.

»Zum Teufel noch Mal, guten Morgen«, brüllte er mir entgegen. »Wo, wo, wo ist die kleine Finch?«

Ich theilte ihm mit, wo wir glaubten daß Lucilla sich aufhalte. Jetzt drehte er den Kopf nach einer auf dem Kaminsims stehenden Flasche um, und ballte die Faust gegen diese.

»Nehmen Sie die Flasche da vom Kamin und das daneben stehende Augenbad. Halten Sie sich mit Ihrem müßigen Geschwätz hier nicht auf. Gehen Sie, retten Sie ihre Augen. Sehen Sie her, was Sie zu thun haben. Sie legen ihr den Kopf hintenüber, so!« Er machte mir die Stellung mit seinem eigenen Kopf so deutlich vor, daß sein gichtischer Fuß aus seiner Ruhe gebracht wurde und er vor Schmerz aufschrie. Aber er ließ sich dadurch nicht irre machen. Durch seine Brillengläser hindurch glotzte er mich furchtbar an, knirschte wüthend mit dem Schnurrbart zwischen seinen Zähnen: »Legen Sie ihr den Kopf hintenüber. Füllen Sie das Augenbad;gießen Sie dasselbe ganz über ihre Augen aus. Ertränken Sie sie förmlich in meinem Wasser. Ertränken Sie sie, sag’ ich, und wenn sie kreischt, kehren Sie sich nicht daran. Dann bringen Sie sie zu mir. Und wenn Sie ihr Hände und Füße binden müßten bringen Sie sie zu mir. Nun was stehen Sie noch da? Gehen Sie, fort mit Ihnen!«

»Ich möchte Sie gern noch etwas in Betreff Oscar’s fragen«, sagte ich.

Er ergriff das Kissen das er unter dem Kopfe hatte, offenbar in der Absicht, damit nach mir zu werfen und mein Fortgehen dadurch zu beschleunigen. Ich zog den Fahrplan als die beste mir zu Gebote stehende Waffe hervor.

»Sehen Sie selbst«, sagte ich, »und überzeugen Sie sich, daß ich auf dem Bahnhofe warten muß, wenn ich hier nicht warten darf.«

Nicht ohne Schwierigkeit überzeugte ich ihn daß es unmöglich sei, vor einer bestimmten Stunde nach Sydenham zu fahren und daß ich wenigstens noch zehn Minuten Zeit habe, die ich ebensogut damit zubringen könne, ihn zu consultiren. Ganz erschöpft durch seinen leidenschaftlichen Ausbruch, schloß er seine Glotzaugen und lehnte seinen Kopf zurück. »Das weiß man ja schon, die Frauen müssen schwatzen mag geschehen was da wolle. Meinetwegen schwatzen Sie.«

»Ich befinde mich in einer sehr schwierigen Lage«, fing ich an. »Oscar begiebt sich mit mir zu Lucilla. Ich werde natürlich zunächst dafür sorgen, daß er und Nugent nicht anders als in meiner Gegenwart zusammentreffen. Nicht ganz so sicher aber fühle ich mich in Betreff dessen, was ich Lucilla gegenüber zuthun habe? Soll ich sie getrennt halten bis ich Lucilla erst auf das Wiedersehen mit Oscar vorbereitet habe?«

»Lassen Sie sie meinetwegen den Teufel sehe«, brummte Grosse, »wenn Sie sie nur unmittelbar darauf zu mir herbringen Sie thun ganz genug, wenn Sie Oscar vorbereiten. Sie bedarf keiner Vorbereitungen Sie ist schon hinreichend über ihn enttäuscht.«

»Uber ihn enttäuscht?« wiederholte ich. »Ich verstehe Sie nicht.«

Matt rückte er sich in seinem Lehnstuhl zurecht und berichtete mir in einem sanften traurigen Ton über die Unterhaltung, die er mit Lucilla in Ramsgate gehabt und von der bereits im Tagebuch die Rede gewesen ist. Zum ersten Mal erfuhr ich hier etwas von jenen Veränderungen in ihren Empfindungen und Anschauungen durch welche sie sich so viele Sorgen gemacht hatte; zum ersten Mal hörte ich, wie schmerzlich sie ihr früheres Entzücken bei der Berührung ihrer Hand durch Nugent vermißt habe, wie bitter enttäuscht sie sich gefühlt habe, bei genauer Betrachtung seiner Züge und seiner ganzen Erscheinung im Vergleiche mit dem reizenden Ideal ihres Geliebten wie es ihr in den Tagen ihrer Blindheit, jenen glücklicheren Tagen wie sie sie nannte, wo sie noch das »arme Fräulein Finch« hieß, vorgeschwebt hatte.

»Glauben Sie nicht auch«, fragte ich, »daß sich alle ihre alten Empfindungen wieder bei ihr einstellen werden wenn sie Oscar wiedersieht?«

»Nein diese Gefühle werden sich nie wieder bei ihr einstellen und wenn sie fünfzig Oscars zu sehen bekäme.«

Er fing an, mich, ich weiß nicht, soll ich sagen zu erschrecken oder zu reizen. Ich weiß nur, daß ich meine Ansicht hartnäckig gegen ihn vertrat. »Meinen Sie«, fing ich an, »sie werde beim Anblicke des rechten Mannes dieselbe Enttäuschung empfinden?«

Ich konnte nicht weiter reden, er unterbrach mich ohne Umstände mit den Worten: »Sie Närrin sie wird eine noch viel größere Enttäuschung empfinden. Ich habe Ihnen ja schon gesagt, wie ungeheuer ihre Enttäuschung bei dem Anblicke des hübschen Bruders mit dem schönen Teint war. Und nun fragen Sie sich selbst, was sie bei dem Anblicke des häßlichen Bruders mit dem blauen Gesicht empfinden wird. Ich sage Ihnen im Voraus, sie wird den rechten Mann für den schlimmeren Betrüger halten.«

Dem widersprach ich mit Entrüstung »Sein Gesicht wird ihr vielleicht eine Enttäuschung bereiten«, sagte ich, »das gebe ich zu. Aber das wird auch Alles sein. An dem Drucke seiner Hand wird sie erkennen daß kein Betrüger vor ihr steht.«

»An seinem Händedruck wird sie nichts erkennen. Ich konnte es nicht über das Herz bringen es ihr selbst zu sagen als sie mich fragte; aber Ihnen kann ich es sagen. Schweigen Sie und hören Sie zu. Alle die entzückenden Empfindungen die sie einst bei seiner Berührung durchrieselten gehören einer anderen Zeit an, jener vergangenen Zeit, wo sie mit den Fingern und nicht mit den Augen sah. Diese feinen, überfeinen Empfindungen der Zeit ihrer Blindheit sind der Preis, mit dem sie das große neue Recht, die Welt mit ihren Augen zu betrachten erkaufen mußte. Und das ist kein verächtlicher Preis! Verstehen Sie mich? Es handelt sich hier um eine Art von Tauschhandel zwischen der Natur und unserem armen Kinde. Die Natur sagt: Ich nehme Dir Deine Augen und gebe Dir dafür Deinen feinen Tastsinn. Das ist doch klar, nicht wahr?«

Ich fühlte mich zu unglücklich, um ihm zu antworten. Bei allen unseren Widerwärtigkeiten hatte ich dem Wiedererscheinen Oscars als der einzigen für die Wiederherstellung von Lucilla’s Glück nöthigen Bedingung so vertrauensvoll entgegengesehen. Wie stand es aber jetzt um diese meine Hoffnung? Schweigend saß ich da und starrte in dumpfer Niedergeschlagenheit das Teppichmuster an. Grosse zog seine Uhr aus der Tasche.

»Zehn Minuten sind verflossen«, sagte er.

Ich hörte nicht auf ihn und rührte mich nicht. Seine wilden Augen fingen wieder an, hinter den ungeheuren Brillengläfern zu funkeln.

»Fort mit Ihnen!« schrie er mir entgegen als ob ich taub wäre, »ihre Augen, ihre Augen! Während Sie hier Ihre Zeit verschwatzen sind ihre Augen in Gefahr. Mit ihrem Grämen und ihrem Weinen und ihrer verfluchten dummen Liebe war ihre Sehkraft — das schwöre ich Ihnen — schon vor vierzehn Tagen, als ich sie zuletzt sah, in Gefahr. Soll ich Ihnen mein großes Kissen da an den Kopf werfen? Nein? So machen Sie, daß Sie fortkommen sonst fliegt es Ihnen eins, zwei, drei an den Kopf! Fort mit Ihnen und bringen Sie sie mir noch vor Abend her!«

Ich ging wieder nach der Eisenbahn. Schwerlich hatte wohl von all’ den Frauen die mir auf den gedrängt vollen Straßen begegneten eine einzige an jenem Morgen ein schwereres Herz als ich.

Um die Sache noch schlimmer zu machen nahmen meine beiden Reisegefährten von denen der eine sich in der Restauration aufhielt, und der andere auf dem Perron auf- und abging, meinen Bericht über meine Zusammenkunft mit Grosse in einer Weise auf, die mich ernsthaft desappointirte und entmuthigte. Herr Finch in seiner unglaublichen Eitelkeit betrachtete meinen traurigen Bericht über den Zustand der Augen seiner Tochter nur als eine Art von schmeichelhafter, Anerkennung seiner Voraussicht.

»Sie erinnern sich, Madame Pratolungo, daß ich von Anfang an diese ganze Angelegenheit aus einem höheren Gesichtspunkte betrachtete. Ich protestirte gegen das Verfahren dieses Grosse, als eine rein weltiche Einmischung in die Wege einer unerforschlichen Vorsehung. Aber was erreichte ich damit? Meinem väterlichen Bedenken wurde kein Einfluß gestattet; mein moralisches Gewicht wurde, so zu sagen, bei Seite geschoben. Und jetzt sehen Sie die Folgen. Lassen Sie sich gesagt sein, lassen Sie es sich eine Warnung sein, liebe Freundin.« Er seufzte mit gewichtiger Selbstgefälligkeit und wandte sich von mir zu der Schenkmamsell hinter dem Buffet. »Geben Sie mir noch eine Tasse Three.«

Auch die Art, wie Oscar aus dem Perron meine Mittheilung über Lucilla’s kritischen Zustand aufnahm, war mehr als entmuthigend. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, daß sein Benehmen geradezu beunruhigend war.

»Ein neuer Posten in Nugent’s »Schuldregister«, sagte er. Dieser Ausdruck der Rachsucht war Alles, was er sagte: Kein Wort der Sympathie oder des Kummers kam über seine Lippen.

Wir fuhren nach Sydenham.

Von Zeit zu Zeit sah ich Oscar, der mir gegenüber saß, darauf an, ob wohl, während wir dem Orte, wo Lucilla wohnte, immer näher kamen, eine Veränderung an ihm bemerklich werde. Nein! Noch immer beobachtete er dasselbe bedeutungsvolle Schweigen, verharrte er in derselben unnatürlichen, gezwungenen Ruhe. Mit einziger Ausnahme des kurzen Ausbruchs am vorigen Abend, als Herr Finch ihm Nugent’s Brief überreicht hatte, war ihm, seit wir Marseille verlassen hatten, nicht das leisestes Zeichen dessen, was wirklich, in seinem Innern vorging, entfahren. Er, der sonst über jede ihm widerfahrene Unbill weinen konnte wie ein Weib, hatte seit jenem verhängnißvollen Tage, wo er entdeckt hatte, daß sein Bruder, dieser Bruder, der sein angebeteter Gott, der geheiligte Gegenstand seiner Dankbarkeit und seiner Liebe gewesen war, ihn betrogen habe, keine Thräne vergessen. Wenn ein Mann von Oscar’s Temperament sich Tage lang nur mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt und sich in ein unheimliches Schweigen hüllt, wenn er keine Theilnahme verlangt und kein Wort der Klage äußert, so ist das ein bedenkliches Symptom. Geheime Gewalten, die er in sich verschlossen hält, müssen dann unwiderstehlich, sei es zum Guten, sei es zum Bösen losbrechen. Wie ich Oscar so hinter meinem Schleier beobachtete, gewann ich die feste Ueberzeugung, daß er in dem schrecklichen Drama, das unserer harrte, eine entscheidende Rolle spielen würde.

Wir langten in Sydenham an und gingen in das nächste Hotel. Auf der Eisenbahn mit anderen Reisenden im Waggon war es unmöglich gewesen, über die sicherste Art, zu Lucilla zu gelangen, Rath zu pflegen Diese ernste Frage drängte jetzt zu sofortiger Entscheidung. Wir schritten in dem Zimmer, das wir uns im Hotel hatten geben lassen, sofort darüber zu einer Berathung.


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