Die Frau in Weiß

Fortsetzung der Aussage Walter Hartrights

I.

Im Frühsommer des Jahres 1850 verließen ich und die noch überlebenden meiner Gefährten die Wüsten und Wälder von Central-Amerika und traten unsere Heimkehr an. An der Küste angelangt, schifften wir uns nach Europa ein. Das Schiff scheiterte im Golf von Mexiko, und ich war einer der wenigen Geretteten. Es war dies meine dritte Rettung aus Todesgefahr. Tod durch Krankheit, Tod durch die Wilden, Tod durch Ertrinken – allen dreien war ich nah gewesen, und allen dreien entgangen.

Die aus dem Schiffbruche Geretteten wurden von einem amerikanischen Schiffe aufgenommen, das nach Liverpool bestimmt war. Dasselbe erreichte den Hafen am 3. October im Jahre 1850. Wir stiegen spät am Nachmittage ans Land, und ich kam noch selbigen Abends in London an.

Diese Blätter sind nicht dazu bestimmt, über meine Wanderungen und Gefahren in der Fremde zu berichten. Man kennt bereits die Beweggründe, aus denen ich meine Heimath und meine Angehörigen verließ und eine neue Welt der Abenteuer und Gefahren aufsuchte. Aus dieser selbstauferlegten Verbannung kehrte ich zurück, wie ich zurückzukehren gehofft, gebetet und geglaubt hatte – als ein veränderter Mann. In den Wässern eines neuen Lebens hatte ich meine Natur erneuert und gekräftigt. In der strengen Schule der Gefahren und der äußersten Noth hatte mein Wille gelernt, fest, mein Herz, entschlossen zu sein, und mein Geist, sich selbst zu vertrauen. Ich ging fort, um meiner Zukunft zu entweichen. Ich kehrte zurück, Um ihr wie ein Mann entgegenzutreten.

Ich war entschlossen, ihr mit einer unvermeidlichen Selbstunterdrückung entgegenzutreten, wie ich wußte, daß sie mir zukam. Ich hatte die schlimmste Bitterkeit der Vergangenheit überwunden, nicht aber die Herzenserinnerung an den Schmerz und die Liebe jener unvergeßlichen Zeit. Ich hatte nicht aufgehört, das unverbesserliche Mißgeschick meines Lebens zu fühlen – ich hatte nur gelernt, es zu ertragen. Laura Fairlie füllte mein ganzes Herz, war mein einziger Gedanke, als das Schiff mich davontrug, und meine letzten Blicke auf England fielen – und als ich heimkehrte und das Morgenlicht mir die befreundeten Gestade zeigte, war mein einziger Gedanke wiederum Laura Fairlie.

Meine Feder schreibt die alten Buchstaben, so wie mein Herz zu seiner alten Liebe zurückkehrt. Ich nenne sie noch immer Laura Fairlie. Es ist so bitter, unter ihres Mannes Namen an sie zu denken oder von ihr zu sprechen.

Ich habe, da ich jetzt zum zweiten Male in diesen Blättern auftrete, keine weiteren Erklärungen hinzuzufügen, und kann daher, falls ich Kraft und Muth genug dazu habe, die Erzählung wieder aufnehmen und zu Ende führen.

Meine ersten Gedanken und Hoffnungen, als der Morgen, kam, richteten sich auf meine Mutter und meine Schwester. Ich fühlte die Nothwendigkeit, sie nach einer Abwesenheit, während welcher es mir monatelang unmöglich gewesen, ihnen Nachrichten von mir zu geben, auf die Freude und Ueberraschung meiner Heimkehr vorzubereiten. Früh am Morgen schickte ich ein Billet nach dem Häuschen in Hampstead und folgte selbst eine Stunde später.

Als unsere ersten Begrüßungen vorüber waren und die Ruhe und Fassung früherer Zeit sich allmälig wieder zwischen uns herzustellen begann, sah ich in den Zügen meiner Mutter Etwas, das mir sagte, daß ein geheimer Druck auf ihrem Herzen laste. Es lag mehr als Liebe – es lag Kummer in den besorgten Blicken, die so zärtlich auf mir ruhten. Es lag Mitleid in dem langsamen, liebenden Drucke der Hand, welche die meinige hielt. Wir hatten einander nie etwas verhehlt. Sie wußte, woran die Hoffnungen meines Lebens gescheitert – wußte, weshalb ich sie verlassen hatte.

Ich hatte es auf der Zunge, so gelassen wie mir dies möglich, zu fragen, ob Briefe von Miß Halcombe für mich angekommen – ob man Nachrichten über ihre Schwester habe, welche ich hören dürfe. Als ich aber meiner Mutter ins Auge blickte, verlor ich den Muth, die Frage, selbst auf diese behutsame Weise, zu thun. Ich konnte bloß mit zweifelnder, gezwungener Stimme sagen:

»Du hast mir Etwas mitzutheilen.«

Meine Schwester, welche uns gegenüber gesessen hatte, stand plötzlich auf, ohne ein Wort zu sagen – und verließ das Zimmer.

Meine Mutter setzte sich auf dem Sopha näher zu mir heran und schlang ihre Arme um meinen Nacken. Die treuen Arme zitterten und Thränen stürzten über das liebevolle Antlitz.

»Walter!« flüsterte sie, »mein Herzensliebling! Mein Herz ist schwer für Dich. O, mein Sohn! mein Sohn! Versuche, Dich zu erinnern, daß wenigstens ich Dir noch bleibe!«

Mein Haupt sank auf ihre Brust. Sie hatte mir mit diesen Worten Alles gesagt.

 

II.

Es war der Morgen des dritten Tages seit meiner Rückkehr – der Morgen des sechzehnten Oktobers.

Ich war bei ihnen in Hampstead geblieben, hatte mein Möglichstes gethan, um ihnen das Glück meiner Heimkehr nicht zu verbittern, wie es mir verbittert war. Ich hatte Alles aufgeboten, was in der Macht eines Mannes liegt, um mich unter dem Schlage zu erheben und mein Leben in Ergebung anzunehmen – um diesen großen Schmerz in Liebe in meinem Herzen aufzunehmen und nicht in Verzweiflung Es war nutzlos und hoffnungslos. Keine Thränen kamen in meine brennenden Augen; die Theilnahme meiner Schwester und die Liebe meiner Mutter brachten mir keinen Trost.

An diesem dritten Morgen öffnete ich ihnen mein Herz. Endlich konnte ich die Worte aussprechen, die ich schon an dem Tage, an welchem meine Mutter mir von ihrem Tode erzählt, mich zu sagen gesehnt hatte.

»Laßt mich eine Weile allein fortgehen,« sagte ich, »ich werde es allein besser zu ertragen im Stande sein, wenn ich noch einmal die Stelle sehe, an der ich sie zuerst erblickt – wenn ich an dem Grabe gekniet und gebetet haben werde, in welchem man sie zur Ruhe gelegt hat.«

Ich trat meine Reise an – meine Reise zu Laura Fairlie’s Grabe.

Es war an einem stillen Herbstnachmittage, als ich auf der einsamen Station abstieg und allein, zu Fuße, den wohlbekannten Weg hinabging. Die erblassende Sonne leuchtete matt durch die dünnen weißen Wolken hindurch; die Luft war lau und stille; der Frieden der einsamen Landschaft erhielt einen traurigen Schatten durch den Einfluß des schwindenden Jahres.

Ich erreichte die Haide; ich stand wieder auf dem Gipfel des Hügels; ich schaute hinaus – den Pfad hinab, und da, in der Entfernung standen die bekannten Gartenbäume, der deutliche, gewundene Halbzirkel des Fahrweges, die hohen, weißen Mauern von Limmeridge House. Die Unfälle und Wechsel, die Wanderschaften und Gefahren vieler Monate schwanden plötzlich aus meinem Geiste, als ob sie nie stattgehabt. Mir war, als ob erst gestern meine Füße über diesen duftigen Haideboden gewandert! Mir war, als müsse ich sie mir entgegenkommen sehen, mit dem runden Strohhütchen, der ihr Gesicht beschattete, ihrem einfachen Kleide, das im Winde flatterte und ihrem wohlgefüllten Zeichenbuche in der Hand.

O Tod, du hast deinen Stachel. O Grab, du hast deinen Sieg!

Ich wandte mich um, und da unter mir lag die einsame graue Kirche; da war das Wohnhäuschen, in welchem ich die Frau in Weiß erwartet hatte; rings die Hügel, welche den stillen Begräbnißplatz umzogen; der Bach, welcher über sein kaltes Steinbette dahin rieselte. Da endlich stand das Marmorkreuz, hoch und weiß am Hauptende des Grabes – des Grabes, das jetzt sowohl Mutter als Tochter bedeckte.

Ich näherte mich dem Grabe. Ich überstieg nochmals die steinernen Stufen und entblößte das Haupt, als ich den geweihten Boden betrat: – der Lieblichkeit und Herzensgüte, der Ehrfurcht und dem Schmerz geweiht.

Ich stand vor dem Postamente stille, aus dem sich das Kreuz erhob. Auf der einen Seite desselben – auf der Seite, die mir am nächsten – begegnete die neu gravirte Inschrift meinen Blicken: die harten, deutlichen, grausamen Buchstaben, welche die Geschichte ihres Lebens und ihres Todes erzählten. Ich versuchte sie zu lesen, und las, bis ich an den Namen kam. »Zur Erinnerung an LAURA –.« Die lieben blauen Augen von Thränen trübe; das schöne Haupt, das matt herabgesunken; die unschuldigen Scheideworte, mit denen sie mich anflehte, sie zu verlassen – o Gott, was hätte ich nicht um eine glücklichere letzte Erinnerung an sie gegeben, als die, welche ich mit mir fortgenommen und wieder mit mir an ihr Grab zurückbrachte!

Ich versuchte zum zweiten Male, die Inschrift zu lesen. Ich sah am Schlusse das Datum ihres Todes; und darüber –

Darüber standen Zeilen auf dem Marmor – es war ein Name unter ihnen, der meine Gedanken an sie störte. Ich ging nach der andern Seite des Grabes herum, wo Nichts zu lesen war – wo Nichts von irdischer Schlechtigkeit sich zwischen ihren Geist und den meinigen drängte.

Ich kniete nieder am Grabe. Ich legte meine Hände und mein Haupt auf den großen weißen Stein und schloß meine müden Augen vor dem Licht des Himmels und der Erde Trauer. Ich rief sie zurück zu mir. O, mein Lieb! mein Lieb! jetzt darf mein Herz zu Dir sprechen! Es ist wieder gestern, da wir schieden – gestern, da Deine liebe Hand in der meinen ruhte – gestern, da meine Augen Dich zuletzt erblickten. O, mein Lieb! mein Lieb!

* * *

Die Zeit verging, und über sie hin hatten sich Stille und dichte Nacht gezogen.

Der erste Laut, welcher der himmlischen Ruhe folgte, war ein leichtes Rauschen, wie von einem vorüberziehenden Lüftchen, im Grase des Begräbnißplatzes. Ich hörte es mir langsam näher kommen, bis es meinem Ohre verändert schien – wie Fußtritte, welche näher kamen – dann stille standen.

Ich blickte auf.

Es war nahe Sonnenuntergang. Die Wolken hatten sich zertheilt; die schrägen Strahlen der scheidenden Sonne ergossen sich mit einem milden Lichte über die Hügel. Das Ende des Tages war kalt und klar und ruhevoll in diesem stillen Thale der Todten.

Weiter abwärts in dem Friedhofe sah ich zwei Frauengestalten in der kalten Klarheit des unteren Lichtes stehen. Ihre Blicke waren auf das Grab – auf mich gerichtet.

Zwei.

Sie kamen ein wenig näher – und standen wieder stille. Ihre Schleier verbargen mir ihre Züge. Als sie stille standen, erhob die Eine ihren Schleier. In dem stillen Abendlichte erkannte ich Marianne Halcombe.

Verändert, o, verändert, als ob viele Jahre indessen vergangen gewesen! Die Augen waren groß und wild und blickten mit einem seltsamen Entsetzen auf mich hin. Das Gesicht war bleich und abgefallen. Wehe, Angst und Kummer standen darin geschrieben, wie mit feurigen Buchstaben.

Ich that einen Schritt vom Grabe näher zu ihr hin. Sie rührte sich nicht – sie sprach nicht. Die verschleierte Frauengestalt neben ihr stieß einen matten Schrei aus. Ich stand stille. Mein Lebensquell schien zu erstarren; und ein Schaudern wie von unsäglicher Furcht durchrieselte mich vom Kopf bis zu den Füßen.

Die Verschleierte verließ ihre Gefährtin und kam langsam auf mich zu. Als Marianne Halcombe allein stand, begann sie zu sprechen. Es war die Stimme, deren ich mich erinnerte – nicht verändert, wie die geängstigten Augen und das abgemagerte Gesicht.

»Mein Traum! mein Traum!« In der tiefen Stille hörte ich sie leise diese Worte ausrufen. Sie sank auf ihre Knie und erhob die gefalteten Hände zum Himmel. »Vater! stärke ihn. Vater! stehe ihm bei! hilf ihm in seiner Stunde der Noth.«

Die verschleierte Gestalt kam näher – langsam und schweigend immer näher. Ich sah sie an – und von diesem Augenblicke an nur sie und Nichts weiter.

Die Stimme, welche für mich betete, erzitterte und erstarb – dann plötzlich erhob sie sich und rief mir voll Angst und Verzweiflung zu, hinwegzukommen.

Aber die Verschleierte hielt mich an Leib und Seele gefesselt. Sie war auf der einen Seite des Grabes angelangt. Wir standen einander gegenüber, und zwischen uns der Grabstein. Sie stand dicht an der Inschrift auf dem Postamente; ihr Kleid berührte die schwarzen Buchstaben.

Die Stimme kam näher und erhob sich immer leidenschaftlicher. »Bedecken Sie Ihr Gesicht! Sehen Sie sie nicht an! O, um Gotteswillen, schone ihn! –«

Die Gestalt lüftete ihren Schleier

Zur Erinnerung

an

LAURA

    Lady Glyde …

Laura, Lady Glyde stand neben der Inschrift und blickte über das Grab zu mir hinüber –!

Dritter Band.

 

Zweite Abtheilung.

Fortsetzung der Aussage Hartright’s.

 

I.

Ich fange ein neues Blatt an und nehme meine Erzählung um eine Woche später wieder auf.

Die Geschichte der Tage, welche ich auf diese Weise übergehe, wird unberichtet bleiben. Mein Herz beginnt zu stocken, und mein Geist versinkt in Finsterniß und Verwirrung, wenn ich daran denke. Dies darf nicht sein, wenn ich, der ich schreibe, Euch, die Ihr leset, ein deutlicher Berichterstatter sein, wenn der Faden, welcher sich durch die Schleichwege dieser Erzählung zieht, von Anfang bis zu Ende unverwirrt in meinen Händen bleiben soll. Ein Leben, das plötzlich verändert – dessen ganzes Ziel ein neuerschaffenes, dessen Hoffnungen und Befürchtungen, Kämpfe, Interessen und Opfer alle auf einmal und auf immer eine neue Richtung erhalten – dies ist die Aussicht, welche sich plötzlich vor mir öffnete, wie die Fernsicht von Bergeshöhe, wenn die Sonne rings die Wolkenschleier zerreißt.«

Ich brach meine Erzählung in den stillen Schatten der Kirche zu Limmeridge ab, eine Woche später nehme ich sie in dem Gewoge und Getümmel einer Straße von London wieder auf.

Es ist eine Straße in einem armen, bevölkerten Stadttheile. Das Erdgeschoß eines der Häuser desselben wird von einem Zeitungshändler bewohnt, und die erste und zweite Etage werden als meublirte Wohnungen der anspruchslosesten Art vermiethet.

Ich habe diese beiden Etagen unter einem angenommenen Namen gemiethet. In der obern wohne ich; sie besteht aus einem Schlafzimmer und einem Arbeitszimmer. In der unteren Etage wohnen – ebenfalls unter angenommenen Namen – zwei Frauen, welche für meine Schwestern gelten. Ich erwerbe mir meinen Lebensunterhalt, indem ich für eine der billigen Zeitschriften Zeichnungen und Holzschnitte anfertige. Meine Schwestern helfen mir, wie es heißt, durch Handarbeit. Unser ärmlicher Wohnort, unsere bescheidene Beschäftigung, unsere vorgebliche Verwandtschaft und angenommenen Namen dienen uns Allen als Mittel, uns in dem Häuserwalde zu verstecken. Wir gehören nicht mehr zu den Leuten, deren Leben offen und bekannt sind. Ich bin ein obscurer, unbemerkter Mann ohne Beschützer oder Freund, der mir Hülfe leistete. Marianne Halcombe ist jetzt nichts weiter als meine älteste Schwester, die durch ihrer Hände Arbeit unsern Haushaltbedürfnissen nachkommt. Beide sind wir die Opfer und zugleich die Ausüber eines verwegenen Betruges. Wir sind die Mitschuldigen der wahnsinnigen Anna Catherick, welche den Namen, die Stellung und das Eigenthum der verstorbenen Lady Glyde beansprucht.

Dies ist unsere Stellung. Dies ist der veränderte Charakter, in welchem wir Drei von jetzt an viele Blätter hindurch in dieser Erzählung erscheinen müssen.

Vor Vernunft und Gesetz, vor der Meinung der Verwandten und Angehörigen, sowie jeder herkömmlichen Auffassung der Gesellschaft nach, lag »Laura, Lady Glyde« bei ihrer Mutter im Grabe auf dem Friedhofe zu Limmeridge Bei Lebzeiten aus dem Leben gerissen, durfte die Tochter von Philipp Fairlie und die Gemahlin von Percival Glyde allenfalls für ihre Schwester und für mich noch existiren, aber für die ganze übrige Welt war sie todt. Todt für ihren Onkel, der sie verleugnet – todt für die Diener des Hauses, die sie nicht erkannt hatten – todt für die Obrigkeit, welche ihr Vermögen ihrem Manne und ihrer Tante übergeben – todt für meine Mutter und meine Schwester, welche mich für das Opfer einer Abenteuerin und eines Betruges hielten – gesetzlich, gesellschaftlich und moralisch todt.

Und doch am Leben. – In Armuth und im Versteck am Leben. Am Leben und unter dem Schutze eines armen Zeichenlehrers, der ihr ihren Platz unter den Lebenden wieder erkämpfen und erringen wollte!

Regte sich, da ich selbst von der Aehnlichkeit zwischen ihr und Anna Catherick Zeuge gewesen, kein Argwohn in mir, als sie mir zuerst ihr Gesicht enthüllte? Nein, auch nicht der Schatten eines Argwohns von dem Augenblicke an, wo sie, neben der Grabschrift stehend, die ihren Tod verkündete, den Schleier erhob.

Ehe noch an jenem Tage die Sonne untergegangen, ehe noch die Heimath, welche ihre Thore gegen sie verschlossen, unseren Blicken entschwunden, hatten wir Beide der Abschiedsworte gedacht, die ich bei unserm Scheiden in Limmeridge House gesprochen; ich hatte sie ausgesprochen, und sie erkannte sie: »Falls je eine Zeit kommen sollte, wo die Hingebung meines ganzen Herzens, meiner ganzen Seele und all meiner Kräfte Ihnen einen Augenblick des Glückes geben oder einen Augenblick des Kummers ersparen kann, wollen Sie sich des armen Zeichenlehrers erinnern, der Ihnen Unterricht gab?« Sie, die sich jetzt so wenig von den Schrecken und Sorgen der letztvergangenen Zeit zu erinnern im Stande war, erinnerte sich doch jener Worte und legte ihr armes Haupt unschuldig und vertrauensvoll auf die Brust des Mannes, der sie gesprochen.

In diesem Augenblicke, wo sie mich bei meinem Namen nannte, indem sie sagte: »Sie haben versucht, mich Alles vergessen zu machen, Walter; aber ich erinnere mich Mariannens und erinnere mich Deiner –« in diesem Augenblicke gab ich, der ich ihr längst meine ganze Liebe gegeben, ihr mein Leben und dankte Gott, daß er es mir dazu gelassen.

Ja! die Zeit war gekommen. Aus einer Entfernung von Tausenden von Meilen, durch Wälder und Wüsteneien, wo Gefährten, die kräftiger als ich, gefallen waren – durch dreimal erneute und dreimal entgangenen Todesgefahren hindurch hatte die Hand, welche die Menschen auf die dunklen Pfade der Zukunft leitet, mich dieser Zeit entgegengeführt. Da sie jetzt verlassen und verleugnet, bitter geprüft und traurig verändert, ihre Schönheit verblichen, ihr Geist umwölkt; da sie ihrer Stellung in der Welt, ihres Platzes unter den Lebenden beraubt war, durfte ich sonder Tadel die Hingebung meines ganzen Herzens, meiner ganzen Seele und all meiner Kräfte zu jenen lieben Füßen niederlegen. Durch ihre große Trübsal und Verlassenheit war sie endlich mein mit Recht! Mein, um sie zu beschützen, aufzurichten, zu verehren und wiederherzustellen. Mein, um sie als Vater und Bruder zugleich zu lieben und zu ehren. Mein, um sie durch alle Gefahren und Opfer – durch hoffnungsloses Kämpfen gegen Rang und Macht, durch den langen Streit mit bewaffnetem Truge und befestigtem Glücke, durch den Verlust meines Rufes und meiner Angehörigen, durch das Wagniß meines Lebens hindurch wieder in ihre Stelle einzusetzen.


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