Ein tiefes Geheimnis



Achtes Kapitel

Mistreß Jazeph

Wenn die Haushälterin anstatt zu vermuten, daß ein zweiter Todesfall Mr. und Mistreß Franklands Ankunft in Porthgenna im Wege stünde, diesmal der Abwechslung wegen geglaubt hätte, daß ein Geburtsfall das Hindernis sei, welches diese Ankunft verzögerte, so hätte sie zufällig das Richtige getroffen und sich dadurch den Ruf einer klugen Frau erworben.

Ihr Herr und ihre Herrin waren nämlich am 9. Mai von London aufgebrochen und hatten den größten Teil ihrer Eisenbahnreise zurückgelegt, als sie plötzlich, Mistreß Franklands wegen, an der Station einer kleinen Stadt in Somersetshire Halt machen mußten.

Der kleine Gast, welcher bestimmt war, die häuslichen Pflichten des jungen Ehepaares zu vermehren, hatte eigensinnigerweise sich in den Kopf gesetzt, die Bühne der Welt in der Rolle eines muntern, derben Knaben einen Monat früher zu betreten, als man ihn erwartet, und es bescheiden vorgezogen, sein erstes Debüt lieber in einem kleinen Gasthofe in Somersetshire zu machen, als zu warten, bis er mit großen Zeremonien in dem Schlosse Porthgenna begrüßt würde, welches er einst erben sollte.

Sehr wenig Ereignisse hatten jemals größere Sensation in der Stadt West Winston hervorgerufen, als das eine kleine Ereignis der unerwarteten Unterbrechung von Mr. und Mistreß Franklands Reise an diesem Orte. Niemals seit der letzten Parlamentswahl waren der Wirt und die Wirtin des Hotels zum Tigerkopfe in so fieberhafter Aufregung im Hause herumgerannt, wie sich ihrer bemächtigte, als Mr. Franklands Diener und Mistreß Franklands Zofe in einer Chaise von der Eisenbahnstation vorfuhren, um zu melden, daß ihr Herr und ihre Herrin nachkämen und daß die größten und ruhigsten Zimmer in dem Hotel sofort unter den unerwartetsten und interessantesten Umständen gebraucht würden.

Niemals, seitdem er triumphierend sein Examen bestanden, hatte der junge Doktor Orridge, der seinem Vorgänger die Kundschaft von West Winston abgekauft, sich von einem solchen Schauer angenehmer Aufregung vom Kopf bis zum Fuße durchrieselt gefühlt, als da er hörte, daß die Gattin eines reichen blinden Herrn auf der Eisenbahnreise von London nach Devonshire auf der West Winston Station unwohl geworden sei und ohne einen Augenblick Verzug alles bedürfe, was seine Geschicklichkeit und Aufmerksamkeit für sie tun könnte.

Noch niemals seit dem letzten Vogelschießen und Maskenball hatten die Damen der Stadt sich mit einem so alles andere absorbierenden Thema für die Konversation beschenkt gesehen, wie ihnen jetzt durch Mistreß Franklands Unfall geliefert ward.

Fabelhafte Gerüchte von der Schönheit der jungen Frau und dem Reichtum des Gatten entströmten der Urquelle des Tigerkopfes und ergossen sich druch die Haupt- und Nebengassen der kleinen Stadt. Es kursierten ein Dutzend verschiedene Gerüchte, von welchen eins immer ausgesuchter falsch war als das andere, über Mr. Franklands Blindheit und die Ursache derselben; über den beklagenswerten Zustand, in welchem seine junge Gattin in dem Hotel angelangt war, und über das peinliche Gefühl von Verantwortlichkeit, welches den unerfahrenen Doktor Orridge von dem ersten Augenblick an entmutigt, wo er seine vornehme und liebenswürdige Patientin zu Gesicht bekommen.

Erst um acht Uhr abends ward die allgemeine Erwartung durch die Meldung beruhigt, daß das Kind zur Welt geboren sei und lustig schreie; daß die Mutter sich in Anbetracht aller Umstände ausgezeichnet wohl befinde und daß Doktor Orridge nicht bloß wieder Mut gefaßt, sondern sich auch durch die Geschicklichkeit, Zartheit und Aufmerksamkeit, womit er seine Pflichten erfüllt, mit Ruhm bedeckt habe.

Am nächsten Tage und am dritten und eine Woche lang nach diesem lauteten die Berichte immer noch günstig. Am zehnten Tage jedoch ward eine Katastrophe gemeldet. Die Wärterin, welche Mistreß Frankland pflegte, war plötzlich krank geworden und sah sich für wenigstens diese Woche, ja vielleicht auf noch viel längere Zeit hinaus, außer Stande, fernere Dienste zu leisten.

In einer großen Stadt wäre diesem Übelstande sehr schnell abzuhelfen gewesen, an einem Orte wie West Winston aber war es nicht so leicht, den Verlust einer erfahrenen Wärterin binnen wenigen Stunden zu ersetzen.

Als Doktor Orridge in dieser neuen Bedrängnis zu Rate gezogen ward, gestand er offen, daß er einiger Bedenkzeit bedürfe, ehe er sich anheischig machen könne, eine andere gediegene Wärterin, welche Ruf und Erfahrung genug besäße, um eine Dame wie Mistreß Frankland zu bedienen, ausfindig zu machen.

Mr. Frankland schlug vor, an einen befreundeten Arzt in London deswegen zu telegraphieren, der Doktor war aber aus vielen Gründen abgeneigt, von diesem Auskunftsmittel anders als höchstens im äußersten Falle Gebrauch zu machen. Er meinte, es werde immer einige Zeit nötig sein, um die rechte Person zu finden und nach West Winston zu schicken und überdies wolle er viel lieber eine Frau engagiert sehen, deren Charakter und Fähigkeiten er selbst genau kenne.

Deshalb schlug er vor, daß Mistreß Frankland für einige Stunden der Obhut ihrer Zofe unter Oberaufsicht der Wirtin des Tigerkopfs anvertraut werde, während er selbst in der Umgegend Erkundigungen einzöge. Wenn diese Erkundigungen kein genügendes Resultat lieferten, so wäre er, wenn er abends wieder käme, dann bereit, Mr. Franklands Vorschlage, wegen einer Wärterin nach London zu telegraphieren, beizutreten.

Als Doktor Orridge demgemäß seine Nachforschungen begann, waren dieselben, trotzdem daß er keine Mühe sparte, von keinem Erfolge begleitet. Er fand wohl eine Menge Weiber, die sich zu dem Amte einer Krankenwärterin erboten; aber es waren lauter Bäuerinnen mit rauhen Stimmen, plumpen Händen und schweren Füßen, wohl gutherzig und bereitwillig, dabei aber viel zu unbeholfen und ungeschickt, um an das Bett einer solchen Dame, wie Mistreß Frankland, gestellt zu werden.

Die Morgenstunden vergingen und der Nachmittag kam, aber immer noch hatte Doktor Orridge für die erkrankte Wärterin keine Substitution gefunden, die er wagen konnte zu engagieren.

Um zwei Uhr hatte er eine halbstündige Fahrt nach einem Landhause vor sich, wo er ein krankes Kind zu besuchen hatte.

„Vielleicht fällt mir auf dem Hin- oder Herwege eine passende Person ein“, dachte Doktor Orridge, als er in seine Chaise stieg. „Ich habe ja bis zur Zeit meines Abendbesuchs in dem Hotel noch einige Stunden vor mir.“

Mit der besten Absicht von der Welt, den ganzen Weg nach dem Landhause entlang sich den Kopf zerbrechend, erreichte Doktor Orridge das Ziel seiner Bestimmung, ohne zu einem anderen Schlusse gekommen zu sein, als daß er ja auch Mistreß Norbury, die Dame, deren krankes Kind er zu besuchen im Begriff stand, von seiner Verlegenheit in Kenntnis setzen und um Rat fragen könne.

Er hatte sie besucht, als er die Kundschaft von West Winston gekauft und in ihr eine jener offenen, gutmütigen, in mittlern Lebensjahren stehenden Frauen gefunden, die man gewöhnlich mit dem Prädikat „mütterlich“ bezeichnet. Ihr Gatte war ein Landedelmann, bekannt wegen seiner alten Politik, seiner alten Witze und seines alten Weins. Er hatte den herzlichen Empfang, den seine Frau dem neuen Doktor angedeihen ließ, mit all den gewöhnlichen scherzhaften Redensarten unterstützt, welchen zufolge er ihm niemals Beschäftigung geben und nie andere Flaschen in sein Haus bringen lassen wolle, als solche, welche in den Keller hinuntergeschafft würden.

Doktor Orridge lachte über ihn, während er seine Gattin liebgewinnen lernte, und er meinte deshalb jetzt, es könne nichts schaden, wenn er, ehe er alle Hoffnung aufgäbe, eine passende Wärterin zu finden, Mistreß Norbury als eine alte Bewohnerin der Umgegend von West Winston um ihren Rat fragte.

Nachdem er demgemäß das Kind gesehen und erklärt, daß an dem kleinen Patienten keinerlei beunruhigende Symptome wahrzunehmen wären, bahnte er den Weg für die Darlegung der Verlegenheit, in der er sich befand, dadurch, daß er Mistreß Norbury fragte, ob sie schon von dem „interessanten Vorfall“ gehört, welcher sich in dem Tigerkopf ereignet habe.

„Sie meinen“, antwortete Mistreß Norbury, die eine offene, biedere Frau war und stets ohne alle Umstände sprach, „Sie meinen, ob ich von der armen unglücklichen Dame gehört habe, die auf ihrer Reise unwohl ward und in dem Gasthause von einem Kinde entbunden worden ist ? Das haben wir allerdings gehört, aber weiter nichts, denn wir leben hier, Gott sei Dank, abgesondert von allem Stadtklatsch. Wie befindet sich denn die arme junge Dame ? Wer ist sie denn ? Ist das Kind munter ? Kann ich ihr etwas schicken oder sonst etwas für sie tun ?“

„Ja, Sie könnten ihr einen großen Dienst leisten und dadurch auch zugleich mir einen großen Gefallen tun“, entgegnete Doktor Orridge, „wenn Sie mir nämlich eine achtbare solide Frau in dieser Umgegend nachweisen könnten, welche die Stelle einer Wärterin bei ihr vertreten könnte.“

„Wie ? Hat denn die arme Frau nicht einmal eine Wärterin !“ rief Mistreß Norbury.

„O, sie hatte die allerbeste Wärterin in West Winston“, entgegnete Doktor Orridge, „unglücklicherweise aber ward diese heute morgen krank und mußte nach Hause gehen. Nun weiß ich meines Leibes keinen Rat, wo ich eine andere herbekommen soll. Mistreß Frankland ist daran gewöhnt, gut abgewartet zu werden, und ich weiß nun nicht, wo ich eine Person finden soll, von der sich voraussetzen läßt, daß sie diesen Ansprüchen genügen werde.“

„Frankland, sagten Sie, ist ihr Name ?“ fragte Mistreß Norbury.

„Ja, sie ist, wie ich höre, eine Tochter jenes Kapitän Treverton, der vor einem Jahre in Westindien mit seinem Schiffe verunglückte. Vielleicht entsinnen Sie sich, den Bericht von diesem Unglücksfalle in den Zeitungen gelesen zu haben.“

„Jawohl entsinne ich mich, und ich entsinne mich auch des Kapitäns selbst. Ich war mit ihm in Portsmouth bekannt, als er noch ein junger Mann war. Seine Tochter und ich dürfen einander nicht als Fremde betrachten, besonders nicht unter den Umständen, in welchen das arme Wesen sich jetzt befindet. Ich werde sie in dem Hotel besuchen, lieber Doktor, sobald Sie mir erlauben, mich ihr vorzustellen. Was ist aber mittlerweile in dieser Verlegenheit wegen der Wärterin zu tun ? Wer ist jetzt bei Mistreß Frankland ?“

„Ihr Kammermädchen; diese ist aber eine sehr junge Person und versteht nichts von Krankenpflege. Die Wirtin des Gasthofs ist allerdings bereit zu helfen, wo sie kann, wird aber zu sehr von ihren häuslichen Verrichtungen in Anspruch genommen. Wahrscheinlich werden wir nach London telegraphieren und jemanden auf der Eisenbahn hierher schicken lassen.“

„Und darüber wird natürlich Zeit vergeben und die neue Wärterin ist vielleicht, wenn Sie sie da haben, eine Säuferin, oder eine Diebin, oder beides“, sagte die mit der Sprache gerade herausgehende Mistreß Norbury. „Mein Himmel, könnten wir denn da nichts Besseres tun ? Ich bin gern bereit, mich jeder Mühe zu unterziehen und jedes Opfer zu bringen, wenn ich mich Mistreß Frankland dadurch nützlich machen kann. Wissen Sie, lieber Doktor, ich glaube, es wäre gut, wenn wir meine Haushälterin, Mistreß Jazeph, zu Rate zögen. Sie ist eine sonderbare Frau mit einem sonderbaren Namen, werden Sie sagen. Aber sie ist nun über fünf Jahre hier bei uns und kennt vielleicht jemanden hier in der Nähe, der Ihnen paßt.“

Mit diesen Worten zog Mistreß Norbury die Klingel und befahl dem hierauf eintretenden Diener, Mistreß Jazeph zu sagen, daß sie sogleich heraufkommen solle.

Nach Verlauf von einigen Minuten ward leise an die Tür gepocht und die Haushälterin trat in das Zimmer.

Doktor Orridge betrachtete sie in dem Augenblick, wo sie erschien, mit einem Interesse und einer Neugierde, die er sich nicht erklären konnte. Er schätzte auf den ersten flüchtigen Blick ihr Alter auf ungefähr fünfzig Jahre. Gleichzeitig entdeckte sein ärztliches Auge, daß ein Teil der verwickelten Maschinerie des Nervensystems bei Mistreß Jazeph in Unordnung geraten sein müsse. Er bemerkte das schmerzliche Arbeiten der Muskeln ihres Gesichts und die hektische Röte, die ihr in die Wangen stieg, als sie in das Zimmer trat und den Fremden hier antraf. Er bemerkte ferner einen seltsamen scheuen Blick in ihren Augen und daß dieser sie auch nicht verließ, obschon ihr übriges Gesicht allmählich den Ausdruck der Fassung gewann.

„Dieses Weib hat mit einem furchtbaren Schrecken oder mit einem großen Kummer, oder mit einer abzehrenden Krankheit zu kämpfen gehabt“, dachte er bei sich selbst. „Ich möchte wissen, was von diesen dreien es gewesen ist.“

„Das ist der Herr Doktor Orridge, der sich seit einiger Zeit in West Winston niedergelassen hat“, sagte Mistreß Norbury zu der Haushälterin. „Er hat eine Dame zu behandeln, welche auf ihrer Reise nach dem Westen an unserer Station hat Halt machen müssen und jetzt im Tigerkopf wohnt. Ihr habt wohl schon davon gehört, Mistreß Jazeph, wie ?“

Mistreß Jazeph, die dicht an der Schwelle stehen geblieben war, sah den Doktor ehrerbietig an und antwortete bejahend. Obschon sie bloß die beiden gewöhnlichen Worte „Ja, Madame“, in ruhiger, teilnahmloser Weise sagte, so ward Doktor Orridge doch von dem sanften Wohllaut ihrer Stimme betroffen. Hätte er sie nicht angesehen, so würde er geglaubt haben, es sei die Stimme eines jungen Frauenzimmers. Seine Augen blieben, nachdem sie gesprochen, auf sie geheftet, obschon er fühlte, daß er ihre Herrin hätte ansehen sollen. Er, der sonst auf dergleichen Dinge gar nicht achtete, musterte ihren Anzug, sodaß er sich noch lange nachher der Form der makellosen Musselinhaube, welche sauber ihr glattes graues Haar bedeckte, sowie der ruhigen braunen Farbe des seidenen Kleides erinnerte, welches so nett paßte und in so spärlichen, sittsamen Falten um sie herumhing.

Die Verlegenheit, welche sie offenbar empfand, als sie sah, daß sie der Gegenstand der Aufmerksamkeit des Doktors war, verleitete sie doch nicht zu der geringsten Unbeholfenheit in ihren Gebärden oder ihrem Benehmen. Wenn es, physisch gesprochen, eine Grazie der Zurückhaltung geben kann, so war dies die Grazie, welche Mistreß Jazeph in ihren geringsten Bewegungen zu leiten schien, die sie bewog, ihren Fuß leicht über den Teppich hinweggleiten zu lassen, als sie nähertrat, während ihre Herrin sie wieder anredete; welche die Bewegung ihrer hagern rechten Hand beherrschte, als dieselbe leicht auf einem Tische ruhte, während sie stehen blieb, um die nächste an sie gerichtete Frage zu hören.

„Nun wohl“, fuhr Mistreß Norbury fort, „diese arme Dame war so ziemlich gut versorgt, als die Wärterin, die mit ihrer Pflege beauftragt war, heute Morgen krank ward, und nun liegt sie an einem fremden Orte zum ersten Male als Wöchnerin ohne geeignete Abwartung – ohne eine bejahrte erfahrene Frau zu ihrem Beistand zu haben. Wir suchen deshalb jemand, der geeignet ist, jene zarte Dame, welche die rauhe Seite des Lebens nie kennengelernt hat, zu bedienen. Doktor Orridge weiß nicht sogleich innerhalb eines Tages jemanden zu finden und ich kann ihm auch niemanden nennen. Könnt Ihr uns vielleicht beistehen, Mistreß Jazeph ? Gibt es vielleicht unten im Dorfe oder unter Mr. Norburys Pächtern Frauen, welche etwas von Krankenpflege verstehen und außerdem noch den nötigen Grad von Takt und Zartgefühl besitzen ?“

Mistreß Jazeph dachte eine kleine Weile nach und sagte dann sehr ehrerbietig, aber auch sehr kurz und immer noch ohne sich, wie es schien, für die Sache zu interessieren, sie kenne niemanden, den sie empfehlen könnte.

„Erklärt dies nicht allzu bestimmt, so lange Ihr nicht noch ein wenig länger nachgedacht habt“, sagte Mistreß Norbury. „Ich habe ein ganz besonderes Interesse, dieser Dame zu dienen, denn der Doktor sagte mir gerade ehe Ihr eintratet, es sei die Tochter des Kapitäns Treverton, dessen Schiffbruch –“

In dem Augenblick, wo diese Worte gesprochen wurden, drehte sich Mistreß Jazeph plötzlich herum und sah den Doktor an. Sie schien zu vergessen, daß ihre rechte Hand auf dem Tische ruhte und bewegte dieselbe so plötzlich, daß sie damit an die bronzene Statuette des Hundes stieß, die auf einigen Schreibmaterialien stand. Die Statuette fiel auf den Fußboden herab und Mistreß Jazeph bückte sich, um sie aufzuheben mit einem Schreckensruf, der im Vergleich mit der geringfügigen Ursache des Unfalls seltsam übertrieben zu sein schien.

„Nun was erschreckt Ihr denn so ?“ rief Mistreß Norbury. „Der Hund ist nicht zerbrochen – setzt ihn nur wieder hin ! Das ist das erste Mal, Mistreß Jazeph, daß ich von Euch eine ungeschickte Bewegung sehe. Ihr könnt dies, glaube ich, als ein Kompliment betrachten. Also, wie ich sagte, diese Dame ist die Tochter des Kapitäns Treverton, dessen furchtbarer Schiffbruch in den Zeitungen berichtet ward. Ich war in meiner Jugend mit ihrem Vater bekannt und aus diesem Grunde liegt mir doppelt daran, ihr jetzt behilflich zu sein. Überlegt es Euch noch einmal. Ist wirklich niemand hier in der Nähe, dem man ihre Abwartung anvertrauen könnte ?“

Der Doktor, welcher Mistreß Jazeph immer noch mit jenem geheimen ärztlichen Interesse beobachtete, hatte sie, als sie zusammenfuhr und nach ihm hinschaute, so totenbleich werden sehen, daß er sich nicht gewundert hätte, wenn sie auf der Stelle ohnmächtig geworden wäre. Jetzt bemerkte er, daß sie, als ihre Herrin aufhörte zu sprechen, abermals die Farbe wechselte. Die hektische Röte erzeugte auf ihren Wangen abermals zwei helle Flecken. Ihre schüchternen Augen schweiften ruhig im Zimmer umher und ihre Finger flochten sich, während sie die Hände faltete, mechanisch ineinander.

„Es wäre das ein sehr interessanter Fall, wenn man ihn zu behandeln hätte“, dachte der Doktor, während er jede nervöse Bewegung der Hände der Haushälterin mit wachsamen Augen beobachtete.

„Überlegt es Euch noch einmal“, wiederholte Mistreß Norbury. „Es liegt mir gar so viel daran, dieser armen Dame aus ihrer Verlegenheit zu helfen.“

„Es tut mir sehr leid“, sagte Mistreß Jazeph in leisem, zitterndem Tone, aber immer noch mit demselben Wohlklang in ihrer Stimme, „es tut mir sehr leid, daß ich mich auf niemanden besinnen kann, der sich dazu eignete, aber –“

Sie stockte. Kein schüchternes Kind hätte bei seiner ersten Einführung in die Gesellschaft von Fremden befangener aussehen können, als sie jetzt aussah. Ihre Augen hafteten auf dem Boden, ihre Farbe ward dunkler und die Finger ihrer gefalteten Hände arbeiteten jeden Augenblick schneller und schneller.

„Aber was ?“ fragte Mistreß Norbury.

„Ich wollte eben sagen, Madame“, antwortete Mistreß Jazeph, indem sie mit der größten Mühe und Befangenheit sprach und ohne ihre Augen zu dem Gesicht ihrer Herrin zu erheben, „damit es dieser Dame nicht an einer Wärterin fehle, würde ich – da Sie sich einmal so sehr für sie interessieren – wenn Sie glaubten, mich entbehren zu können –“

„Wie, Ihr wollt selbst die Stelle einer Wärterin bei Ihr übernehmen ?“ rief Mistreß Norbury. „In der Tat, obschon Ihr einen langen Umweg eingeschlagen habt, so seid Ihr doch endlich auf eine Weise zur Sache gekommen, die Eurem guten Herzen und Eurer Bereitwilligkeit, Euch nützlich zu machen, zur großen Ehre gereicht. Was die Frage, ob ich Euch entbehren könne, betrifft, so bin ich natürlich unter den obwaltenden Umständen nicht so egoistisch, daß ich mich an die Unbequemlichkeit, meine Haushälterin einzubüßen, stoßen sollte. Die Frage ist aber: seid Ihr auch ebenso fähig als bereitwillig ? Habt Ihr jemals Erfahrung in der Krankenpflege gehabt ?“

„Ja, Madame“, antwortete Mistreß Jazeph, immer noch ohne die Augen vom Boden zu erheben. „Kurz nach meiner Verheiratung“ – die Röte verschwand und ihr Gesicht ward wieder bleich, indem sie diese Worte sagte – „beschäftigte ich mich mit Krankenpflege und fuhr mit einigen Unterbrechungen damit fort bis zur Zeit des Todes meines Mannes. Ich erbiete mich bloß“, fuhr sie fort, indem sie sich zu dem Doktor wendete und in ihrem Wesen gefaßter ward, „ich erbiete mich bloß mit Erlaubnis meiner Herrin zur Stellvertreterin einer Wärterin, bis man eine besser geeignete Person finden kann.“

„Was meinen Sie, Doktor ?“ fragte Mistreß Norbury. Die Reihe des Stutzigwerdens war an den Doktor gekommen, als er hörte, daß Mistreß Jazeph sich selbst zu dem Amte einer Wärterin erbot. Er zögerte, ehe er Mistreß Norburys Frage beantwortete, dann sagte er:

„Ich kann in Bezug auf die Angemessenheit, Mistreß Jazephs Anerbieten dankbar anzunehmen, nur einen Zweifel haben.“

Mistreß Jazephs schüchterne Augen sahen ihn ängstlich und verlegen an, während er sprach. Mistreß Norbury fragte in ihrer offenen, kurz angebundenen Weise sofort, was für ein Zweifel dies sei.

„Ich weiß nicht“, entgegnete der Doktor, „ob Mistreß Jazeph – sie wird es mir als Arzt nicht übelnehmen, daß ich es erwähne – ob Mistreß Jazeph kräftig genug ist und ob sie ihre Nerven hinreichend in der Gewalt hat, um die Pflichten zu erfüllen, welche sie so freundlich sich bereit erklärt, zu übernehmen.“

Trotz der Höflichkeit dieser Erklärung ward Mistreß Jazeph augenscheinlich aus der Fassung gebracht und in Verlegenheit gesetzt. Eine gewisse stille, resignierte Wehmut, die sehr rührend zu sehen war, sprach sich auf ihrem Gesicht aus, während sie sich, ohne weiter ein Wort zu sagen, abwendete und langsam nach der Tür ging.

„Geht noch nicht !“ rief Mistreß Norbury freundlich, „oder wenigstens, wenn Ihr geht, so kommt in fünf Minuten wieder. Ich bin überzeugt, daß wir Euch dann etwas Weiteres zu sagen haben werden.“

Mistreß Jazephs Augen sprachen ihren Dank durch einen einzigen erkenntlichen Blick aus. Sie sahen, während sie auf dem Gesicht ihrer Herrin ruhten, so viel heller als gewöhnlich, daß Mistreß Norbury zu bemerken glaubte, es stünden Tränen darin. Ehe sie aber noch einmal hinsehen konnte, hatte Mistreß Jazeph sich gegen den Doktor verneigt und geräuschlos das Zimmer verlassen.

„Jetzt, wo wir allein sind, Doktor“, sagte Mistreß Norbury, „kann ich Ihnen mit aller Achtung vor Ihrem ärztlichen Urteil sagen, daß Sie Mistreß Jazephs Nervenschwäche ein wenig überschätzen. Sie sieht allerdings sehr kränklich aus, das gestehe ich; nachdem ich sie aber fünf Jahre bei mir gehabt, kann ich Ihnen sagen, daß sie weit kräftiger ist als sie aussieht, und ich glaube aufrichtig, daß Sie Mistreß Frankland einen guten Dienst erzeigen, wenn Sie unsere freiwillige Wärterin wenigstens ein paar Tage auf Probe nehmen. Sie ist das sanfteste, zarteste Geschöpf, welches ich jemals kennengelernt und bei Erfüllung jeder Pflicht, die sie übernimmt, fast übertrieben gewissenhaft. Auf mich brauchen Sie durchaus keine Rücksicht zu nehmen. Ich habe erst vorige Woche eine Tischgesellschaft gegeben und werde es nicht sobald wieder tun, sodaß ich meine Haushälterin zu keiner Zeit leichter hätte entbehren können als gerade jetzt.“

„Ich sage Ihnen Dank, sowohl in Mistreß Franklands Namen als in meinem eigenen“, entgegnete Doktor Orridge. „Nach dem, was Sie gesagt haben, wäre es undankbar und unhöflich, wenn man Ihren Rat nicht befolgen wollte. Sie werden mich indessen entschuldigen, wenn ich noch eine einzige Frage tue. Hörten Sie vielleicht, daß Mistreß Jazeph irgendwelchen körperlichen Zufällen unterworfen ist ?“

„Niemals, seitdem sie in diesem Hause ist.“

„Sie überraschen mich; es liegt in ihrem Blick und Wesen etwas –“

„Ja, ja; jedermann bemerkt dies anfangs, aber es hat weiter nichts zu bedeuten, als daß ihre Gesundheit nicht die beste ist und daß sie in ihren jüngern Jahren, wie ich vermute, kein sehr glückliches Leben gehabt hat. Die Dame, von welcher sie mit einem ganz vortrefflichen Zeugnis zu mir kam, erzählte mir, sie habe sich, während sie sich in einem traurigen, schutzlosen Zustande befunden, unglücklich verheiratet. Sie selbst spricht niemals von ihrem ehelichen Leide, ich glaube aber, ihr Mann hat sie nicht gut behandelt. Indessen glaube ich, daß dies uns weiter nichts angeht. Ich kann Ihnen bloß nochmals sagen, daß sie während der letztvergangenen fünf Jahre hier ganz vortreffliche Dienste geleistet hat und daß ich an Ihrer Stelle, so schwächlich sie auch aussieht, sie als die beste Wärterin betrachten würde, welche Mistreß Frankland unter den obwaltenden Umständen möglicherweise wünschen kann. Ich brauche wohl nichts weiter zu sagen. Nehmen Sie Mistreß Jazeph oder telegraphieren Sie nach London und lassen Sie eine Fremde kommen – die Entscheidung steht bei Ihnen.“

Doktor Orridge glaubte in Mistreß Norburys letzten Worten einen leichten Anflug von Reizbarkeit zu entdecken. Er war ein kluger Mann und unterdrückte lieber alle Zweifel, die er vielleicht in Bezug auf Mistreß Jazephs körperliche Befähigung zur Krankenwärterin noch hegte, als daß er es auf die Gefahr ankommen lassen wollte, die angesehenste Dame in der Umgegend gleich beim Beginn seiner ärztlichen Praxis in West Winston zu beleidigen.

„Nach dem, was Sie die Güte gehabt, mir zu sagen, kann ich keinen Augenblick länger zögern“, sagte er. „Ich erlaube mir daher, Ihre Güte und das Anerbieten Ihrer Haushälterin dankbar anzunehmen.“

Mistreß Norbury zog die Klingel. Auf den Ruf derselben erschien sofort die Haushälterin selbst wieder. Der Doktor fragte sich, ob sie vielleicht an der Tür gehorcht, und fand es, wenn sie dies getan, sehr seltsam, daß sie so begierig war, seine Entscheidung zu erfahren.

„Der Doktor nimmt Euer Anerbieten mit Dank an“, sagte Mistreß Norbury, indem sie Mistreß Jazeph winkte, näher zu treten. „Ich habe ihn überredet, daß Ihr nicht so schwach und kränklich seid, wie Ihr ausseht.“

Ein Schimmer freudiger Überraschung verklärte das Gesicht der Haushälterin. Es sah plötzlich um viele Jahre jünger, während sie lächelte und ihren Dank für das Vertrauen aussprach, welches man im Begriff stand in sie zu setzen. Zum ersten Male auch seitdem der Doktor sie gesehen, wagte sie zu sprechen, ehe sie angeredet ward.

„Wann wird meine Gegenwart verlangt werden, Sir ?“ fragte sie.

„Sobald als möglich“, entgegnete der Doktor.

Wie rasch und hell schienen ihre trüben Augen sich aufzuklären, als sie diese Antwort hörte ! Wie weit hastiger als ihre gewöhnlichen Bewegungen war die, mit welcher sie sich jetzt herumdrehte und ihre Herrin bittend ansah.

„Geht sobald der Doktor es wünscht“, sagte Mistreß Norbury. „Ich weiß, daß Eure Wirtschaftsbücher stets in Ordnung sind und Eure Schlüssel stets an den geeigneten Orten hängen; Ihr macht niemals Unordnung. Geht sobald der Doktor es wünscht.“

„Ihr habt wohl noch erst einige Vorbereitungen zu treffen ?“ sagt Doktor Orridge.

„Keine, die mich länger als eine halbe Stunde aufzuhalten brauchte“, antwortete Mistreß Jazeph.

„Heute Abend ist Zeit genug“, sagte der Doktor, indem er seinen Hut nahm und sich gegen Mistreß Norbury verneigte. „Kommt nur in den Tigerkopf und fragt nach mir. Zwischen sieben und acht Uhr werde ich dort sein. Nochmals vielen Dank, Mistreß Norbury.“

„Meine besten Wünsche und Komplimente an Ihre Patientin, Doktor.“

„Also im Tigerkopf, heute Abend zwischen sieben und acht Uhr“, wiederholte Doktor Orridge, während die Haushälterin ihm die Tür öffnete.

„Zwischen sieben und acht Uhr, Sir“, wiederholte die sanfte, anmutige Stimme, die jetzt, wo ihr Ton eine Beimischung von Freude hatte, jünger klang als je.


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