Nicht aus noch ein



Neue Charactere auf der Scene.

Die Worte die »Schweizer Postmarke« folgten so unmittelbar auf Mrs. Goldstraw’s Erwähnung der Schweiz und steigerten Mr. Wildings Aufregung zu einer solchen Höhe, daß sein Compagnon sich nicht das Ansehen gehen konnte, als ob er sie nicht bemerke.

»Wilding,« fragte er schnell und hielt dann ein, sich umsehend, ob er im Zimmer eine Ursache zu seines Gefährten Aufregung entdecken könne. »Was haben Sie?«

»Mein lieber George Vendale,« erwiderte der Weinhändler dem Angeredeten seine Hand mit einem flehenden Blick entgegenstreckend, als ob er dessen Hilfe begehre, um etwas Schreckliches zu überwinden und nicht, als ob er sie ihm zum Bewillkommungs-Gruß reiche. »Mein lieber George Vendale, so viel habe ich erfahren, daß ich nie wieder ich selbst sein werde. Unmöglich kann ich je wieder ich selbst sein. Denn im vollen Sinne des Wortes, ich bin nicht ich.«

Der neue Compagnon, ein braunwangiger hübscher Junge, beinah in Wildings Alter, mit einem schnellen sichern Auge und entschlossener Bewegung, erwiderte mit unendlichem Erstaunen: »Nicht Sie?«

»Nicht was ich zu sein glaubte,« sagte Wilding.

»Wer, im Namen alles Wunderbaren, glaubten Sie zu sein, der Sie nun nicht sind?« lautete die Entgegnung, die mit einer so herzgewinnenden Freundlichkeit ausgesprochen wurde, daß sie das Vertrauen eines zurückhaltenderen Mannes als Wilding war, herausgelockt haben würde. »Ich kann Sie jetzt, wo wir Compagnons sind, wohl ohne unbescheiden zu sein fragen.«

»Schon wieder!« rief Wilding indem er sich in seinen Sessel zurücklehnte und dem andern einen trostlosen Blick zuwarf. »Compagnon! und ich habe nicht das Recht in unser Geschäft einzutreten. Es ist mir nicht bestimmt gewesen und meine Mutter hat es nicht für mich erworben. Ich will damit sagen, seine Mutter hat es für ihn erworben —— wenn ich überhaupt eine Meinung haben kann —— oder überhaupt jemand bin.«

»Gehen Sie, gehen Sie!« äußerte der Compagnon nach einer augenblicklichen Pause mit jener ruhigen Zuversicht, wie sie eine kräftige Natur durchdringt, die den aufrichtigen Willen hat, einer schwachen beizustehen. »Wenn ein Unrecht geschehen ist, so ist es ohne Ihre Schuld geschehen, davon bin ich überzeugt. Ich war nicht drei Jahre mit Ihnen zusammen in diesem Comptoir unter dem alten Regime, um Ihnen zu mißtrauen, Wilding. Wir waren, was Redlichkeit anbelangt beide damals schon ebenso reif wie jetzt. Lassen Sie mich meine Compagnonschaft damit beginnen, Ihnen ein thätiger Theilnehmer zu sein und alles, was unrecht ist, in’s Gleiche zu bringen. Hat der Brief irgend etwas damit zu schaffen?«

»Ach!« rief Wilding mit der Hand an seine Schläfe fassend. »Schon wieder! Mein Kopf! Ich hatte den Zwischenfall vergessen! Die Schweizer Postmarke.«

»Bei einem zweiten Blick, den ich darauf werfe, werde ich gewahr, daß der Brief uneröffnet ist, also nichts mit den angedeuteten Verhältnissen zu thun haben kann. Ist er an Sie oder an uns?«

»An uns,« sagte Wilding.

»Ich denke, ich öffne ihn und lese ihn vor, um ihn uns aus dem Weg zu schaffen.«

»Ich bin Ihnen sehr dankbar.«

»Der Brief kommt von unsern Champagnerlieferanten, dem Neuschateller Hause. Geehrter Herr. Durch Ihr gütiges Schreiben vom 28. d. M. sind wir in Kenntnis gesetzt worden, daß Sie Herrn Vendale als Compagnon in das Geschäft aufgenommen haben. Erlauben Sie, daß wir Ihnen unsre Glückwünsche zu diesem Ereigniß aussprechen. Zu gleicher Zeit ergreifen wir die Gelegenheit, Ihnen ausdrücklich Herrn Jüles Obenreizer zu empfehlen.« »Nicht möglich! Wilding sah von einem schnellen Argwohn erfaßt auf und rief: »Wie?«

»Nicht möglich den Namen auszusprechen!« erwiderte sein Compagnon leichthin —— »Obenreizer. —— Ihnen ausdrücklich Herrn Jüles Obenreizer zu empfehlen, Sohosquare, London (north Side), welcher als unser Agent accreditirt ist. Er hat die Ehre, bereits die Bekanntschaft des Herrn Vendale in seinem Vaterlande (d. h. in Herrn Obenreizers Vaterlande) der Schweiz gemacht zu haben —— Richtig! —— o, o, woran hatte ich schon gedacht. —— Jetzt erinnere ich mich —— als er es mit seiner Nichte bereiste.«

»Mit seiner ——?« Vendale hatte das letzte Wort so verschluckt, das Wilding es nicht verstehen konnte.

»Als er es mit seiner Nichte bereiste Obenreizers Nichte,« sagte Vendale übertrieben deutlich. »Die Nichte Obenreizers. (Ich bin ihnen während meiner ersten Schweizer Tour begegnet, reiste eine Weile mit ihnen, Verlor sie während zweier Jahre aus den Augen, begegnete ihnen, als ich das vorletzte Mal in der Schweiz war, wieder und habe seitdem nichts mehr von ihnen gehört.) Obenreizer. Obenreizers Nichte. Richtig! Er ist schließlich doch möglich auszusprechen, der Name! —— Herr Obenreizer besitzt unser ausgedehntestes Vertrauen und wir hoffen, daß auch Sie seine Verdienste zu schätzen wissen werden. Richtig unterzeichnet von dem Hause Defresnier und Comp. Schön. Ich werde Mr. Obenreizer sogleich aufsuchen und den Gang uns aus dem Wege räumen. Das räumt zugleich die Schweizer Postmarke aus dem Wege. Und, mein lieber Wilding, theilen Sie mir mit, was ich weiter aus Ihrem Weg räumen kann und ich werde Mittel finden, die mir das Aufräumen ermöglichen.«

Bereit dazu und im höchsten Grade dankbar, daß ihm die Mühe erleichtert wurde, drückte der ehrliche Weinhändler dem Andern die Hand und begann seine Erzählung damit, sich reuevoll selbst als einen Usurpator anzuklagen.

»Ohne Zweifel haben Sie darum nach Bintrey geschickt, als ich eintrat?« fragte der Compagnon nach kurzem Bedenken.

»Darum.«

»Er hat Erfahrung und einen verschlagenen Kopf; ich bin begierig seine Meinung zu hören. Es ist kühn und gewagt, Ihnen die meinige zu sagen, ehe ich weiß, wie er denkt, aber ich verstehe nicht zurückzuhalten. Offen denn, ich sehe die Verhältnisse anders an, als Sie sie sehen. Ich finde Ihre Lage nicht so, wie Sie sie finden. Was das Usurpieren fremden Besitzes anbelangt, mein lieber Wilding, das ist reine Thorheit, da niemand ein Usurpator sein kann, der nicht beabsichtigt hat, jemand zu beeinträchtigen. Und das haben Sie nie gethan. Was die Erbschaft den jener Dame anbelangt, die geglaubt hat, Sie wären ihr Sohn und den der Sie, nach deren eigener Aussage, glauben mußten, sie sei Ihre Mutter, so bedenken Sie, ob das Erben nicht die Folge Ihrer persönlichen Beziehungen zu einander war? Sie faßten nach und nach immer innigere Zuneigung zu ihr. Sie faßte nach und nach immer innigere Zuneigung zu Ihnen. Ihnen, Ihrer Person, wie ich die Sache ansehe, hat sie die irdischen Vortheile bestimmt, und nur von ihr, von ihrer Person haben Sie sie angenommen.«

»Sie setzte voraus,« wendete Wilding kopfschüttelnd ein, daß ich ein natürliches Recht darauf hätte, was mir fehlte.«

»Das muß ich zugeben, gewiß« erwiderte der Compagnon. »Aber gesetzt, sie hätte die Entdeckung, die Sie jetzt gemacht haben, ein halbes Jahr vor ihrem Tode auch gemacht, glauben Sie, daß das die Jahre, die Sie mit ihr zusammen gewesen sind, ausgestrichen und die Zärtlichkeit verlöscht haben würde, welche einer für den andern in immer höherem Grade empfand, je länger das mit einander Verkehren dauerte?«

»Was ich darüber denke,« sagte Wilding sich einfach und fest an der nackten Thatsache haltend, »kann die Wahrheit eben sowenig ändern, als ich den Himmel herunter zu reißen vermag. Die Wahrheit ist, daß ich der Besitzer von irdischen Gütern bin, die einem Andern zugehören.«

»Er kann schon todt sein,« sagte Vendale.

»Er kann auch leben,« sagte Wilding. »Und wenn er lebt, habe ich ihn nicht unschuldiger weise —— das gebe ich Ihnen zu, unschuldiger weise —— um Vieles gebracht? Habe ich ihn nicht um die ganze glückliche Zeit, die ich an seiner Stelle verlebt habe, gebracht? Habe ich ihn nicht um die namenlose Freude gebracht, die meine Seele erfüllte, als die theure Frau« —— er streckte seine Hand nach dem Bilde aus —— »mir vertraute, daß sie meine Mutter sei? Habe ich ihn nicht um alle die Sorgfalt gebracht, die sie über mich ausgoß? Habe ich ihn nicht um alle Verehrung und alle Pflichten gebracht, die ich ihr mit Stolz weihte? Darum frage ich mich selbst und frage auch Sie, George Vendale, wo ist er? Was ist aus ihm geworden?«

»Wer kann es wissen!«

»Ich muß es versuchen, ihn ausfindig zu machen. Ich muß Nachforschungen anstellen. Ich darf nie ermüden und von solchen Nachforschungen abstehen. Ich will von den Interessen meines Antheils am Geschäft leben —— ich sollte sagen von den seinigen —— und alles Andere für ihn zurücklegen. Wenn ich ihn finde, kann ich mich seiner Großmuth unterwerfen; aber hingeben will ich ihm Alles. Ich will es, das schwöre ich, so wahr ich sie geliebt und geehrt habe,« sagte Wilding achtungsvoll die Hand, die er küßte, nach dem Bilde hinstreckend und dann sich mit derselben die Augen bedeckend. »So wahr ich sie geliebt und geehrt und eine Welt von Beweggründen habe, ihr dankbar zu sein.« Und damit brach er ab.

Der Compagnon erhob sich von dem Stuhl, auf dem er gesessen hatte und stellte sich neben Wilding indem er seine Hand sanft auf dessen Schulter legte. »Walter, ich habe Sie schon früher als einen rechtlichen Mann mit reinem Gewissen und feinfühlendem Herzen gekannt. Ich schätze es für ein großes Glück, daß mir der Vorzug geworden ist, meine Arbeit mit seinem des Vertrauens so würdigen Mann gemeinsam zu verrichten. Ich bin dankbar dafür. Schalten Sie über mich, wie über Ihre rechte Hand und verlassen Sie sich auf mich bis in den Tod. Denken Sie nicht schlechter von mir, wenn ich Ihnen eingestehe, daß ich von einem unklaren Gefühl beherrscht werde, Sie mögen es vielleicht ein unvernünftiges nennen. Ich habe viel mehr Theilnahme für die Dame und für Sie, der Sie nicht zu derselben in vorausgesetzter verwandtschaftlicher Beziehung stehen, als ich für den unbekannten Mann empfinde (wenn er überhaupt zum Mann herangewachsen ist), der ohne es zu wissen, seiner Stelle entsetzt wurde. Sie haben recht gethan, nach Mr. Bintrey zu schicken. Meine Meinung wird theilweise, ja ich bin davon überzeugt, vollständig die seinige sein. Thun Sie in diesem ernsten Geschäft keinen übereilten Schritt. Das Geheimniß muß ängstlich von uns bewahrt werden, denn es leichtsinnig verbreiten hieße soviel, als betrügerische Ansprüche aufmuntern, einem Schwarm Von Schelmen das Thor öffnen und die Losung zu falschen Eiden und Complotten geben. Ich habe für jetzt nichts weiter zu sagen, Walten als Sie zu erinnern, das sich darum hauptsächlich Antheil an dem Geschäft genommen habe, um Sie von einer Last der Arbeit zu befreien, der ihr jetziger Gesundheitszustand nicht gewachsen ist, daß ich Ihr Compagnon geworden bin, um zu arbeiten und daß ich Letzteres gesonnen bin zu thun«

Mit diesen Worten klopfte er seinem Gefährten in einer Weise auf die Schulter, die seiner Rede den besten Nachdruck gab und verließ ihn. George Vendale begab sich in das Comptoir und suchte später M. Jüles Obenreizer auf.

Als er in Soho —— square einbog und seine Schritte nach der Nordseite hinrichtete, schoß eine dunkle Röthe in sein sonnengebräuntes Antlitz, welche Wilding wenn er ein besserer Beobachter, oder weniger mit seinen eignen Sorgen beschäftigt gewesen wäre, auch bemerkt haben müßte, als sein Compagnon eine gewisse Stelle in dem Brief ihres Schweizer Correspondenten las, die ihm gefiel, nicht so deutlich als das Uebrige auszusprechen.

Eine Colonie von Bergbewohnern hat sich lange in dem schmalen kleinen Stadttheil Londons Soho eingeschlossen. Schweizer Uhrmacher, Schweizer Schmelzarbeiter, Schweizer Juweliere, Schweizer Verkäufer von Instrumentenkasten und von Schweizer Spielsachen der verschiedensten Art wohnten hier dicht neben einander. Schweizer Professoren der Musik, der Malerei und fremder Sprachen, Schweizer Stickereien, Schweizer Botengänger und andere Schweizer Dienstboten, die nie zu Hause waren; betriebsame Schweizer Wäscherinnen und Stärkerinnen, geheimnißvolle Schweizer Einwohner beiderlei Geschlechts; Schweizer von gutem Ruf und Schweizer von schlechtem Ruf; Schweizer, die das höchste Vertrauen verdienen und Schweizer, die bei Leibe kein Vertrauen verdienen; alle diese verschiedenen Schweizer Bestandtheile vereinigen sich zu einem Mittelpunkt in dem Stadttheil Soho. Schäbige Schweizer Speisehäuser, Kaffeehäuser und Wirthshäuser, Schweizer Getränke und Speisen, Schweizer Gottesdienst für den Sonntag und Schweizer Schulen für die Wochentage sind alles hier zu haben. Selbst die einheimischen Englischen Wirthshäuser kehren eine Art von Wesen nach außen, das wie geradebrechtes Englisch aussieht: Sie kündigen an ihren Fenstern Schweizer Liqueur und Branntwein an und dulden hinter ihrem Schenktisch manchen Abend im Jahr Schweizer Liebeleien und Schweizer Schlägereien.

Als der neue Theilhaber von Wilding und Co. an einer Thür, welche auf messingnem Schild die kurze Inschrift Obenreizer aufwies, die Glocke zog, —— es war die Thür eines soliden Hauses, in dessen unterem Stockwerk sich eine Schweizer Uhren-Niederlage befand, —— sah er sich auf einmal von einer vollständig Schweizerisch eingerichteten Häuslichkeit umgeben. Ein großer für den Winter errichteter Ofen aus weißen Kacheln nahm die Feuerstelle in dem Zimmer ein, in welches man ihn zu treten bat. Der unbedeckte Fußboden war mit einem niedlichen Muster ausgelegt, zu dem verschiedene Holzarten angewendet worden. Der Raum trug vorherrschend das Gepräge des Kahlen, viel gescheuerten und das kleine geblümte Teppichviereck vor dem Sopha, wie das mit Sammet überkleidete Kaminbrett mit seiner gewaltigen Uhr und seinen Vasen voller künstlicher Blumen, stimmten mit dem herrschenden Geschmack überein. Es machte den Eindruck, als ob —— schildern wir kurz die Wirkung, die das Ganze ausübte —— als ob ein Pariser eine Milchkammer zur Wohnstube umgestaltet hätte. Unter dem Zifferblatt der Uhr floß künstlich nachgemachtes Wasser über ein Mühlrad. Der Eingetretene hatte noch nicht eine volle Minute davorgestanden, um den Fall desselben mit seinen Augen zu folgen, als Mr. Obenreizer ihn an den Ellenbogen anstieß und in sehr gutem, sehr geschickt gekürztem Englisch sagte: »Wie geht es » Ihnen? Sehr erfreut!«

»Ich bitte um Entschuldigung. Ich habe Sie nicht kommen hören.«

»Hat nichts auf sich. Bitte, setzen Sie Sich.«

Die beiden Arme seines Gastes freigebend, die er an den Ellenbogen gefesselt hielt, was eine Umarmung vorstellen sollte, setzte sich Mr. Obenreizer ebenfalls und bemerkte lächelnd:

»Es geht Ihnen gut? Sehr erfreut!« und wieder ergriff er die beiden eben losgelassenen Ellenbogen.

»Ich weiß nicht,« begann Vendale, nachdem die gegenseitige Begrüßung vorüber war, »ob Sie durch Ihr Haus in Neuschatel von mir gehört haben werden?«

»Ja wohl.«

»In Beziehung auf Wilding u. Co.?«

»O, gewiß.«

»Ist es nicht seltsam, daß ich hier in London zu Ihnen kommen muß, als Theilnehmer der Firma Wilding u. Co., »um Ihnen meine Aufwartung zu machen?«

»Nicht im geringsten! Was habe ich immer gesagt, als wir im Gebirge zusammen trafen? Wir. nennen sie weit und doch ist die Welt so eng. So eng ist die Welt, daß man von gewissen Personen steh nicht fern halten kann. Es giebt so wenig Menschen in der Welt, daß man fortwährend mit denselben zusammenstößt und wieder zusammenstößt. So ungeheuer eng ist die Welt, daß man ihnen nicht aus dem Wege gehen kann. Nicht,« sagte er mit einschmeichelndem Lächeln und Vendale’s Ellenbogen aufs Neue ergreifend, »daß man den Wunsch hat, Ihnen aus dem Wege zu gehen.«

»Das hoffe ich, Monsieur Obenreizer.«

»Bitte, nennen Sie mich in Ihrem Vaterlande Master. Ich nenne mich selbst so, denn ich liebe Ihr Vaterland. Ich wollte, ich wäre ein Engländer! aber ich bin einmal nicht hier geboren. Und Sie? Obgleich aus einer so vornehmen Familie stammend, lassen Sie Sich zum Handelsstand herab! Halten Sie einmal! Weine? Gehören die zum Handel oder zur Profession? Zu den schönen Künsten wohl nicht?

»Mr. Obenreizer« erwiderte Vendale etwas verlegen, ich war noch ein thörichter junger Bursche, als ich das Vergnügen hatte, das Erste mal mit Ihnen zu reisen und Sie und ich und Ihre Fräulein Nichte —— befindet sie sich wohl?«

»Danke. Sehr wohl.«

»—— Einige kleine Gletscherfahrten mit einander bestanden. Sollte ich damals, mit der Eitelkeit eines Knaben; meine Familie gerühmt haben, so hoffe ich von mir, ist es nur geschehen, um mich mit guter Manier bei Ihnen einzuführen. Es war eine Schwäche und sehr wenig fein, aber vielleicht kennen Sie unser englisches Sprichwort: Der Mensch lebt um zu lernen.«

»Sie nehmen es zu schwer,« erwiderte der Schweizer. »Und Teufel nicht noch ’mal! Ihre Familie ist eine angesehene.«

George Vendale’s Lachen verrieth etwas Aerger, als er entgegnete: »Lassen Sie es gut sein! Ich hing sehr an meinen Eltern und als wir zum Ersten mal mit einander reisten, Mr. Obenreizer befand ich mich im neuen Genießen dessen, was mein Vater und meine Mutter mir hinterlassen hatten. So, denke ich, war Alles in Allem das Erzählen von meinen Verhältnissen mehr jugendliche Offenheit des Wesens als Prahlerei.«

»Alles Offenheit des Wesens, keine Prahlerei!« rief Obenreizer. »Sie beurtheilen sich selbst zu streng. Meiner Treu, Sie taxiren sich, als ob Ihr Gouvernement Sie taxierte. Uebrigens hatte ich von Familiengeschichten angefangen. Ich erinnere mich noch sehr gut jenes Abends auf dem See, als wir in dem Boot dahinglitten über die Spiegelbilder der Berge und Thäler, der Felsen und Pinienwälder, die meine erste Jugenderinnerung ausmachen. Ich entwarf ein Bild meiner armseligen Kindheit: Unserer schlechten Hütte am Wasserfall, welchen Letzteren meine Mutter den Reisenden zeigte, unseres Schuppens, in dem ich bei der Kuh schlief; meines blödsinnigen Stiefbruders, der immer in der Thür saß oder den Paß hinunter hinkte um zu betteln; meiner ewig spinnenden Stiefschwester, die einen großen Stein auf ihren ungeheurem Kropf gebunden trug; von mir selbst, dem nackenden kleinen Hungerleider, der zwei oder drei Jahr alt sein mochte, als die Andern schon erwachsen waren und harte Hände hatten, um mich zu schlagen, mich, das einzige Kind aus meines Vaters zweiter Ehe wenn überhaupt eine Ehe bestand. Was war natürlichen als daß Sie, Mr. Vendale, Ihre Vergangenheit mit der meinen verglichen und sagten: Wir sind von gleichem Alter; zu der Zeit saß ich auf meiner Mutter Schooß in dem Wagen meines Vaters, und flog durch die Straßen des reichen Englands dahin mit allem möglichen Luxus umgeben, während alles Schmutzige und Armselige mir fern blieb. So entgegengesetzt ist meine erste Erinnerung von der Ihrigen!«

Mr. Obenreizer war ein schwarzhaariger junger Mann von dunkler Gesichtsfarbe über deren tiefes Braun sich niemals ein Anflug von Röhe stahl. Bei Gelegenheiten, wo andere Wangen errötheten, erschien auf den seinen nur ein kaum bemerkbarer Streifen, als ob die Maschinerie um heißes Blut aufwallen zu lassen, wohl vorhanden wäre, aber als ob die Maschinerie trocken sei. Er war kräftig und proportioniert gebaut und hatte schöne Gesichtszüge. Mancher machte vielleicht die Bemerkung, daß, wenn Einiges an den Conturen geändert werden könnte, seine Erscheinung ansprechender sein würde, ohne sich klar machen zu können, worin die Änderung bestehen sollte? Wenn die Lippen voller und der Hals dünner gewesen wären, würde das Aeußere erheblich gewonnen haben. Aber die größte Obenreizersche Eigenthümlichkeit bestand darin, daß sich ein gewisser unbeschreibbarer Schatten über seine Augen breitete —— offenbar nur wenn es in seiner Absicht lag —— der dem mit ihm Sprechenden jeden Ausdruck seines Gesichtes undurchdringlich verschleierte. Nichts als eine gespannte Aufmerksamkeit beherrschte in solchen Augenblicken seine Züge. Daraus folgt in keiner Weise, daß seine Aufmerksamkeit vollständig auf die Person gerichtet war, mit der er sprach oder vollständig von dem Gegenstand, von dem die Rede war, gefesselt wurde. Er richtete vielmehr eine concentrirte Aufmerksamkeit auf Alles, was er selbst im Sinne hatte und auf Alles, was er zu sein glaubte, oder was, wie: er voraussetzte, Andre von ihm hielten.

Als die Unterhaltung auf diesen Punkt angelangt war, zog Mr. Obenreizer seinen Schatten über das Gesicht.

Die Veranlassung zu meinem gegenwärtigen Besuch,« sagte Mr. Vendale, »ist, wie ich kaum zu erwähnen brauchte, Sie der Freundschaft von Wilding und Co. und des ausgedehnten Credites zu versichern, den Sie bei uns genießen, sowie unsre Bereitwilligkeit, Ihnen nützlich zu sein. Wir sind so frei, Ihnen auch unsre Gastfreundschaft anzutragen. Es ist bis jetzt bei uns noch nicht Alles in vollem Zuge. Mein Compagnon Mr. Wilding ist damit beschäftigt, den wirthschaftlichen Theil unsres Haushaltes einzurichten und durch einige Privatangelegenheiten darin unterbrochen worden. Sie kennen Mr. Wilding nicht, wie ich glaube?«

Mr. Obenreizer kannte ihn nicht.

»Sie müssen nächstens zusammenkommen. Er wird sich sehr freuen, Ihre Bekanntschaft zu machen, ich glaube mit Bestimmtheit behaupten zu können, daß Sie sich auch freuen werden, die seine zu machen. —— Sie haben sich erst vor Kurzem in London niedergelassen, glaube ich, Mr. Obenreizer?«

»Ich habe eben erst die Agentur übernommen.«

»Ihre Fräulein Nichte ist —— nicht —— verheirathet?«

»Nicht verheirathet.«

George Vendale sah im Zimmer umher, um Spuren von ihr zu entdecken.«

»Ist sie in London gewesenen?«

»Sie ist in London.«

»Wann und wo kann ich die Ehre haben mich in ihr Gedächtniß zurückzubringen?«

»Mr. Obenreizer warf den Schatten bei Seite und sagte, seinen Gast wie vorhin an beiden Ellenbogen erfassend, leichthin: »Kommen Sie mit hinauf.«

Ganz in Verwirrung über die Plötzlichkeit, mit der das nach gesuchte Wiedersehen über ihn hereinbrach, folgte George Vendale seinem Führer die Treppe hinauf. In einem Zimmer, welches sich gerade über dem Raum befand, den er verlassen hatte —— es war auch ein im Schweizer Geschmack ausgestattetes —— saß eine junge Dame an einem der drei Fenster mit Sticken beschäftigt, und eine ältere Dame saß mit dem Gesicht gegen einen zweiten weißen Kachlofen (Obgleich Sommer war und der Ofen nicht geheizt) und wusch Handschuhe. Eine ungewöhnliche Menge schöner glänzender Haare legte sich zierlich geflochten um die Stirn der jungen Dame, eine Stirn, die gerundeter war, als sie im Durchschnitt der Englische Typus aufweist. Ihr ganzes Gesicht erschien um ein Weniges —— wie herrlich war dieses Wenige! —— vollen als im Durchschnitt die Gestalten Englischer junger Damen von neunzehn Jahren zu sein pflegen. Eine merkwürdige Anmuth und Freiheit der Bewegung sprach sich in der ruhigen Haltung, in der die Glieder verharrten, aus, und die köstliche Reinheit und Frische der Farbe in ihrem Antlitz, das feine Grübchen blicken ließ und in ihren grauen glänzenden Augen, schien von Bergluft durchzogen zu sein. Obgleich ihr Kleid nach Englischem Zuschnitt gemacht war, so lugte doch das Schweizer Vaterland aus dem phantastischen Leibchen, was sie trug und aus den seltsamen rothen Zwickelstrümpfen und den kleinen mit silbernen Schnallen versehenen Schuhen hervor. Was die ältere Dame anbetraf, so gab sie, mit ihren auf den unteren Messingrand des Ofens aufgesetzten Füßen, die einem ganzen Schooß voller Handschuhe zur Stütze dienten, während ihre linke Hand einen Handschuh aufgestreift hatte, nur ihn zu reinigen, eine Repräsentantin der Schweizer Nation ganz anderer Art ab, von der mächtigen Breite ihres polsterartigen Rückens und der Gewichtigkeit ihrer respectablen Schenkel (wenn es erlaubt ist von Schenkeln zu reden) an, bis zu dem schwarzen Sammetband, das, eines Ansatzes zum Kropfe wegen, eng die Kehle umspannte, oder höher, bis zu ihren kupferfarbenen goldenen Ohrringen, oder, noch höher, bis zu ihrem Kopfputz von auf Drath gezogener schwarzer Gaze.

»Miß Marguerite,« sagte Obenreizer zu der jungen Dame, erkennen Sie diesen Herrn wieder?«

»Das will ich meinen,« entgegnete das Mädchen überrascht und sich ein wenig verwirrt von ihrem Stuhle erhebend. »Es ist Mr. Vendale.«

»Er ist es,« sagte Mr. Obenreizer trocken. »Erlauben Sie mir, Mr. Vendale, Madame Dor.«

Die ältere Dame am Ofen mit dem über die linke Hand gezogenen Handschuh, der wie das Zeichen eines Handschuhmachers aussah, erhob sich halb und sah halb über ihre mächtige Schulter, um sogleich wieder schwer auf den Sitz zurückzufallen und ihren Handschuh weiter zu reiben.

»Madame Dor,« sagte Obenreizer lächelnd, »ist so gütig mich von jedem Fleck und Riß zu befreien. Sie kommt meiner Schwäche, immer sauber zu gehen, freundlich entgegen, indem sie ihre Zeit dazu anwendet, jeden Makel oder Schaden an meines, Sachen zu beseitigen.«

Madame Dor mit dem in die Luft gestreckten Handschuh und Augen, welche denselben prüfend durchforschten, entdeckte in diesem Augenblick einen hartnäckigen Fleck und fing an mit Heftigkeit zu reiben. George Vendale nahm einen Sitz neben dem Stickrahmen am Fenster ein (er hatte zuvor die schöne rechte Hand ergriffen, die sich ihm beim Willkommen entgegenstreckte) und betrachtete das Goldkreuz, welches in das Mieder hineinschlüpfte mit einer Ehrfurcht, wie sie der Pilger hegt, wenn er den Schrein seines Heiligen erblickt. Obenreizer stand in der Mitte des Zimmers mit den Daumen in der Westentasche und deckte den Schatten über sein Gesicht.

»Ihr Herr Onkel, Miß Obenreizer,« bemerkte Vendale, »sagte eben, daß die Welt zu eng sei und die Leute einer dem Adern nicht ausweichen könnten. Ich fand, seitdem ich Sie das letzte Mal gesehen habe, die Welt zu weit für mich.«

»Sind Sie viel umhergereist?« fragte sie.

»Das nicht. Ich bin in jedem Jahr nach der Schweiz zurückgegangen, aber ich hätte wohl gewünscht —— gewiß, ich habe es gewünscht —— daß in der kleinen Welt nicht so viel Gelegenheit sein möchte sich einander auszuweichen. Wenn deren weniger wäre, sehen Sie, so würde ich meine Reisegefährten schon früher wieder angetroffen haben.« Die hübsche Marguerite erröthete und warf einen verstohlenen Blick zu Madame Dor hinüber.

»Sie haben uns endlich gefunden, Mr. Vendale, vielleicht um uns wieder zu verlieren.«

»Ich denke nicht. Der merkwürdige Zufall, der mich Sie finden ließ, giebt mir den Muth zu glauben, daß dem nicht so sein werde.«

»Bitte, was ist das für ein Zufall, Sir?«

Die niedliche natürliche Art dieser Sprachwendung und des Tones, in dem sie gemacht wurde, mar bezaubernd, so dachte George Vendale, als er wieder einen schnellen Blick auffing, der zu Madame Dor hin wanderte. Derselbe schien eine Warnung zu enthalten, so eilig er auch vorüberflog. Von der Zeit an zollte Vendale Madame Dor besondere Aufmerksamkeit.

»Ich bin ein Theilhaber an der Firma, der Mr. Obenreizer heute durch ein anderes Handlungshaus in der Schweiz mit dem wir beide, wie sich herausstellt, Geschäfte machen, angelegentlich empfohlen morden ist. Hat er es Ihnen nicht erzählt?«

»Nein!« fiel Obenreizer ein, den Schatten von sich werfend. »Ich habe es Miß Marguerite nicht erzählt. Die Welt ist so eng und so einförmig, eine Ueberraschung ist etwas werth in solchem kleinen langweiligen Nest. —— Es verhält sich so, wie er sagt, Miß Marguerite. Er, aus einer angesehenen Familie und vornehm erzogen, hat sich zum Handelsstand herabgelassen. Zum Handelsstand, gleich uns armen Bauersleuten, die aus der Gasse aufgelesen sind.«

Ein Wolke lagerte sich über die schöne Stirn des Mädchens und sie schlug die Augen nieder.

»Aber es ist vortrefflich für den Handelsstand!« fuhr Obenreizer in voller Begeisterung fort. »Es adelt den Handelsstand. Es ist ein Unglück für den Handel, daß alles gemeine Volk —— wir armen Bauern zum Beispiel —— ihn ergreift und sich daran festklammert. Sehen Sie wohl, mein lieber Vendale,« er sprach mit großer Energie, »Miß Marguerites Vater, mein ältester Stiefbruder, der mehr als zweimal so alt wie Sie und ich wäre, wenn er noch lebte, wanderte ohne Schuhe, beinahe ohne Kleider, den unglückseligen Paß hinab, —— wanderte —— wanderte —— wurde in einem Wirthshause unten in dem großen Thal, fern von der Heimath, mit den Maulthieren und Hunden gefüttert —— wurde Pferdejunge, wurde Stallknecht —— wurde Keller —— wurde Koch —— wurde Gastwirth. Als Gastwirth brachte er mich [weder den blödsinnigen Bruder, noch die spinnende Mißgeburt, seine Schwester, konnte er dazu brauchen] zu einem berühmten Uhrmacher, der ihm benachbart war, in die Lehre. Bei Miß Marguerites Geburt starb seine Frau, und was war sein letzter Wille, und was waren seine letzten Worte zu mir, als er selbst starb und sie als ein halberwachsenes Mädchen zurückließ?! Marguerite erbt Alles, ausgenommen so und so viel, was ich Dir jährlich aussetze. Du bist jung, aber ich ernenne Dich zu ihrem Vormund, denn ihr stammt Beide von den elendesten und ärmsten Bauern ab; wir sind alle verachtete Bauern, erinnere Dich dessen. Das paßt auf die meisten meiner Landsleute, die jetzt Handel treiben in diesem Ihrem Londoner Stadtviertel Soho. Sie sind Bauern gewesen, niedrig geborene, hart arbeitende Schweizer Bauern. Darum, wie gut und erhebend ist es für den Handelsstand,« hier frohlockte er förmlich, während er zuvor in Hitze gerathen war, und ergriff wieder des jungen Weinhändlers Ellenbogen, um ihn zu umarmen, »wenn ein Gentleman sich demselben widmet und ihn dadurch ehrt!«

»Ich bin andrer Ansicht,« sagte Marguerite mit gerötheter Wange, sich trotzig von dem Besucher wegwendend. »Ich finde den Stand durch uns Bauern auch geehrt.«

»Pfui, pfui! Miß Marguerite,« bemerkte Obenreizer. »Sie wagen das im stolzen England zu sagen?«

»Ich sage das mit stolzem Ernst,« entgegnete sie, sich ruhig wieder an ihre Arbeit machend, »ich bin keine Engländerin, sondern ein Schweizer Bauernkind.«

Es lag ein so völliges Abweisen des Gespräches in diesen Worten, daß Vendale nichts weiter dagegen einwenden konnte. Er erlaubte sich nur ernst hinzuzusetzen: »Ich stimme aus voller Seele mit Ihnen überein, Miß Obenreizer und habe meine Ansicht bereits in diesem Hause ausgesprochen, wie Mr. Obenreizer mir bezeugen kann,« —— was dieser unter keiner Bedingung that.

Vendale’s Augen waren scharfe Augen und beobachteten Madame Dor unaufhörlich. Sie bemerkten an der mächtigen Hinteransicht der Lady, daß ihre Art, die Handschuhe zu reinigen, mit lebhaftem pantomimischen Ausdruck geschah. Sie that es sanft und ruhig während seines Gespräches mit Marguerite, hielt auch wohl ganz ein, wie Jemand, der mit Zuhören beschäftigt ist. Als Obenreizer seine Rede über die Bauern zu Ende gebracht hatte, rieb sie mit Heftigkeit, wie um seinen Worten vollen Beifall zu zollen, und ein oder zweimal, wenn der Handschuh, den sie immer höher wie ihren Kopf hielt, sich in der Luft umwendete, oder wenn dieser Finger herunterfiel und jener sich hob, bildete er sich sogar ein, daß Madame Dor eine telegraphische Verbindung mit Obenreizer unterhalten, der allerdings seinen Rücken nie der Dame zuwendete, obgleich er nichts weniger als Madame Dor zu beachten schien.

In Vendale’s Augen warf Marguerite’s Abbrechen vom Gegenstande ein ungünstiges Licht auf Obensetzer. Die unwürdige Behandlung von Seiten ihres Vormundes, versuchte sie sich abzuwehren: ihr Zorn hätte gegen ihn auflodern mögen, wenn Furcht sie nicht daran verhinderte. Vendale bemerkte ferner —— obgleich das kaum der Erwähnung werth war —— daß Obenreizer, Margueriten um keinen Schritt näher rückte, sondern genau in der Entfernung von ihr blieb, die er von Anfang an innegehalten hatte, als ob bestimmte Grenzen zwischen ihnen gezogen seien. Auch hatte er sie nie angeredet ohne das Wörtchen Miß vor ihren Namen zu setzen, wenn er es aber aussprach, so geschah es mit einer kaum bemerkbaren Beimischung von Spott. Jetzt wurde es Vendale zum ersten mal klar, daß das Seltsame des Mannes, was ihm bis heute nicht möglich gewesen war näher zu bezeichnen, in einer Art von spöttischem Wesen bestand, mit der er jedem offenen Angriff und jeder näheren Erörterung auswich. Er hielt sich davon überzeugt, daß Marguerite, was die Freiheit ihres Willens anbetraf, eine Gefangene war —— obgleich sie vermöge der ihr eigenthümlichen Charakterstärke ihre eigenen Ansichten gegen die der bei den Verbündeten geltend machte, was sie natürlicherweise nicht aus ihrem Joch befreien konnte. Nachdem er diese Ueberzeugung gewonnen hatte, fühlte er sich nur noch mehr gestimmt dem Mädchen seine Neigung zuzuwenden. Mit einem Worte, er hegte eine gewaltige Liebe zu ihr im Herzen und war durchaus entschlossen die Gelegenheit sie zu sehen, die sich ihm immerhin eröffnet hatte, aufs Aeußerste zu verfolgen.

Für’s Erste begnügte er sich damit, der Freude zu erwähnen, welche Wilding u. Co. empfinden würden, wenn Miß Obenreizer sich herablassen wollte das Haus mit ihrer Gegenwart zu beehren —— ein merkwürdiges altes Haus und noch dazu das eines Junggesellen —— und begnügte sich damit seinen Besuch nicht über die Zeit, die dergleichen Besuche einnehmen dürfen, auszudehnen. Als er, geleitet von seinem Wirth, die Treppe hinabging, sah er vor dem Obenreizer’schen Comptoir, welches weiter zurück auf dem Hausflur münden, verschiedene schäbige Gestalten in ausländischer Tracht stehen, die Obenreizer mit einigen Worten in seinem Dialect bei Seite schob, damit Vendale vorüber konnte.

»Landsleute,« erklärte er, als Vendale die Thür öffnete. »Arme Landsleute, dankbar und anhänglich wie Hunde! Leben Sie wohl. Auf Wiedersehen. Sehr erfreut gewesen!«

Nach einer leichten Umarmung und einen Griff an seine Ellenbogen sah sich Vendale in der Straße entlassen.

Die liebliche Marguerite an ihrem Stickrahmen, Madame Dor’s breiter Rücken und deren telegraphische Zeichen gaukelten bis Cripple Corner vor ihm her. Als er dort ankam, hatte sich Wilding mit Bintrey eingeschlossen. Die Kellerthüren standen offen. Vendale zündete eine Kerze, die in einem zinnernen Leuchter stand, an und ging die Stufen hinab, um einen Streifzug durch die Gewölbe zu unternehmen. Die anmuthige Marguerite gaukelte getreulich vor ihm her, aber Madame Dor’s breiter Rücken war oben geblieben.

Die Gewölbe, geräumig und sehr alt, sind Krypten gewesen, damals als die Vergangenheit noch Gegenwart war. Einige sagen, Theile davon hätten Mönchen zum Refectorium gedient, andere sagen, Theile davon seien zur Kapelle benutzt worden, wieder andere sagen, sie seien ein heidnischer Tempel gewesen. Das blieb sich jetzt alles gleich. Lasse man jeden was er will aus verwitterten Pfeilern, zertrümmerten Bogen und was dergleichen mehr ist herauserkennen; die vergangene Zeit hat daraus gemacht was sie wollte und bleibt unberührt davon, wenn es ihr anders bewiesen wird.

Die eingeschlossene Luft, der dumpfige Geruch und das verworrene Geräusch der Straße oben vertragen sich gut genug mit dem Bilde der hübschen Marguerite, weil nichts davon an das gewöhnliche Leben erinnerte. Vendale schritt vorwärts, bis er, um eine Ecke biegend, ein Licht sah dem ähnlich, welches er selbst trug.

»O, Du bist hier Joey?«

»Wäre es besser, wenn ich ginge? Sie sind hier! wirklich, Sie sind hier, Master George? Meine Pflicht ist es hier zu sein, aber was haben Sie hier zu suchen?«

»Sei nicht böse, Joey.«

»Ich bin nicht böse,« erwiderte der Kellermeister. »Das was böse in mir ist, ist der Weindunst, der durch die Poren dringt. Ich nicht. Nehmen Sie sich in Acht, daß er nicht auch in Sie hineinzieht, Muster George. Wenn Sie lange hier im Dunste bleiben, haben Sie ihn weg.«

Seine Beschäftigung bestand in diesem Augenblick darin, den Kopf in die Weinverschläge zu stecken, Maaß zu nehmen, Berechnungen anzustellen und das Resultat in ein Buch einzuschreiben, das in Rhinozerosfell gebunden zu sein schien und wie ein Theil von ihm aussah.

»Sie haben ihn weg,« nahm er den Rücken streckend seine Worte wieder auf und legte den hölzernen Maßstock, dessen er sich bedient hatte, über zwei Fässer, um seine letzte Berechnung anzustellen. »Verlassen Sie sich darauf. —— Sie sind also in aller Form in das Geschäft eingetreten, Master George?«

»Ja aller Form. Ich hoffe, Du hast nichts dagegen, Joey?«

»Nichts. Ich wünsche Ihnen alles Gute. Aber die bösen Dünste in mir sagen, daß Sie zu jung sind. Sie sind alle beide zu jung.«

»Der Uebelstand wird mit jedem Tage geringer, Joey.«

»Das wohl, Master George; aber der Uebelstand, daß ich zu alt bin, nimmt Tag für Tag zu. Ich werde nicht mehr im Stande sein, Ihr Hineinwachsen zu sehen.«

Diese Erwiderung kitzelte Joey Ladle’s Laune. Er stieß ein Lachen aus, das sich wie Grunzen anhörte, wiederholte das Gesagte und stieß, nachdem er zum zweiten Mal »Ihr Hineinwachsen« hervorgebracht hatte, sein wunderliches Lachen aufs Neue hervor.

»Aber was nicht zum Lachen ist, Master George,« fuhr er fort seinen Rücken ausdehnend, »daß der junge Master Wilding das Glück aufgestört hat. Merken Sie sich meine Worte. Er hat es aufgestört und wird es bald erfahren. Ich bin nicht umsonst mein ganzes Leben hier unten gewesen. Ich weiß an welchen Zeichen ich gemerkt habe, wenn der Geschäftsverkehr fiel oder wenn er stieg, wenn er blühte oder ein Stillstand eintrat. Ich weiß ebenso gut an welchen Zeichen ich gemerkt habe, wenn das Glück sich änderte.«

»Hat dies Gewächs hier irgend etwas zu thun mit Deiner Sehergabe?« fragte Vendale das Licht gegen ein feuchtes zottiges dunkles Schwammgewächs haltend, welches von der Decke herabhing und ein unangenehmes widriges Ansehen hatte. Wir sind berühmt, weil dieses Gewächs an unserer Kellerwölbung haftet, nicht wahr, Joey?«

»Das sind wir, Muster George,« erwiderten Joey Ladle, ein oder zwei Schritte zurückweichend, »und wenn Sie von mir einen Rath annehmen wollen, so bleiben Sie davon.« Den Maßstock, der noch zwischen den beiden Fässern lag ergreifend und leise den lappigen Schwamm damit bewegend, fragte Vendale: » Davon bleiben! Warum?«

»Warum? Nicht weil aus den Weinfässern Dunst emporsteigt und Sie dadurch in Erfahrung bringen können, welche Bestandtheile ein Mann in sich aufnimmt, der sich sein ganzes Leben in dieser Luft herumtreibt, und ebenso wenig weil auf dem Boden des Gewächses Maden leben, die Sie aus sich herunterholen werden,« erwiderte Joey Ladle sich in Entfernung haltend, »sondern eines andern Grundes wegen, Muster George.«

»Wie heißt der Grund?«

»In Ihrer Stelle, Sir, würde ich es nicht mit dem Stock berühren. Wenn Sie mit mir hier fortkommen wollen, so sollen Sie den Grund erfahren. Erst werfen Sie noch einen Blick auf die Farbe des Schwammes Master George.«

»Ich thue es.«

»Gut, Sir. Jetzt kommen Sie fort von der Stelle.«

Er ging mit seinem Licht voraus und Vendale folgte ihm mit dem seinigen. Als Vendale Joey eingeholt hatte und beide zusammen dem Ausgang zuschritten, sprach Ersterer: »Nun, Joey. Die Farbe?«

»Sieht aus wie geronnenes Blut, Master George.«

»Mag sein.«

»Genau so, finde ich,« rief Joey Ladle den Kopf bedenklich hin und her wiegend.

»Gut, ich will sagen ebenso. Ich will sagen ganz genau so. Was dann?«

»Master George. Man sagt ——«

»Wer?«

»Wie kann ich wissen wer?« entgegnete der Kellermeister empört über die unvernünftige Frage. »Man! man ist Allewelt. Was wollen Sie? Wie kann ich wissen wer »man« ist, wenn Sie es nicht wissen?«

»Das ist wahr. Weiter.«

»Man sagt, daß derjenige, welchem durch Zufall ein Stückchen von diesem Gewächs auf die Brust fällt, sicher und gewiß von Mörderhänden stirbt.«

Als Vendale lachend seine Schritte einhielt, um den Kellermeister anzublicken, der, seine Augen auf das Licht heftend, geheimnißvoll jene Worte sprach fühlte er plötzlich, wie eine schwere Hand ihm nach der Brust griff. Der Bewegung der Hand, welche die seines Gefährten war, mit den Augen folgend, bemerkte er, daß sie ein Blatt oder einen Klumpen des Schwammes von seiner Brust fortgeschlugen hatte, und daß derselbe eben zu Boden fiel.

Im ersten Augenblick warf er dem Kellermeister einen ebenso entsetzten Blick zu, als dieser ihm, aber als ihm in der nächsten Minute das Tageslicht entgegen schien, sprang er fröhlich die Kellertreppe hinauf und blies das Licht und mit demselben allen Aberglauben aus.


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