Nicht aus noch ein



Wilding tritt ab.

Am Morgen des nächsten Tages ging Wilding fort —— und ließ seinem Schreiber den Auftrag zurück: »Wenn Mr. Vendale oder Mr. Bintrey nach mir fragen sollten, theilen Sie ihnen mit, daß ich mich in das Findelhaus begeben habe.« Alles was sein Compagnon ihm gesagt, Alles was sein Geschäftsführer, der dessen Ansicht theilte, an geführt hatte, war nicht im Stande gewesen, ihm die Angelegenheit in einem andern Licht erscheinen zu lassen. Den Mann, dessen Platz er unrechtmäßig einnahm, aufzufinden, machte von jetzt ab das Hauptinteresse seines Lebens aus und die Anfrage im Findelhaus sollte der erste Schritt zu den beabsichtigten Nachforschungen sein. Der Weinhändler begab sich demgemäß an den erwähnten Ort. Das ihm bekannte Gebäude schien ihm verändert, wie ihm das Portrait an der Kaminwand verändert schien. Die treue Anhänglichkeit, die er einst für die Stätte gehegt hatte, welche seine Kindheit behütete, war für immer aus seiner Seele getilgt. Ein besonderer Widerwille bemächtigte sich seiner, als er sein Begehren un der Thür aussprach. Sein Herz that ihm weh, wie er allein im Vorzimmer wartete, während man nach dem Zahlmeister geschickt hatte, den er sprechen wollte. Beim Beginn der Unterredung vermochte er nur durch gewaltsame Anstrengung sich so weit zu sammeln um den Grund seines Kommens auseinander zu setzen.

Der Zahlmeister hörte mit einem Gesicht zu, das Aufmerksamkeit ausdrückte und nichts weiter.

»Wir sind verpflichtet,« sagte er, als die Reihe zu sprechen an ihm war, »bei allen Nachforschungen, die von Fremden angestellt werden, vorsichtig zu sein.«

»Sie können mich nicht als einen Fremden betrachten,« entgegnete Wilding einfach. »Ich bin früher einer ihrer Zöglinge gewesen.«

Der Zahlmeister erwiderte höflich, daß dieser Umstand ihn mit besonderem Interesse für seinen Besucher erfülle, aber er drang nichtsdestoweniger darauf, die Beweggründe zu kennen, die Mr. Wilding zu seinen Nachfragen trieben. Ohne weitere Umschweife, theilte ihm Wilding seine Beweggründe mit, indem er nicht die geringste Kleinigkeit zurückhielt.

Der Zahlmeister erhob sich und führte den Andern in das Zimmer, in dem die Register des Instituts auf bewahrt wurden. »Alle Aufklärungen, die unsere Bücher geben können, stehen Ihnen von ganzem Herzen zu Diensten,« sagte er. »Es thut mir leid, aber nach der Zeit, die darüber hingegangen ist, bleiben sie das einzige, was wir Ihnen zum Anhaltspunkt bieten können.«

Die Bücher wurden zu Rath gezogen und die gesuchte Stelle aufgefunden. Sie lautete:

»Den 3ten März 1836. Ein Knabe, Namens Walter Wilding, an Kindesstatt aufgenommen und aus dem Findelhause abgeholt. Name und Stand der Frau, die das Kind abgeholt hat: Mrs. Jane Anne Miller, Wittwe. Adresse: Lime-Tree Lodge, Groombridge Wells. Auskunftgeber: Der Reverend John Harker, Groombridge Wells und Mrs. Giles, Jeremie und Giles, Banquiers, Lombardstreet.«

»Ist das Alles?« fragte der Weinhändler. »Standen Sie Mrs. Miller später nicht mehr in Verbindung?«

»Nein —— oder es müßte sich ein Nachweis davon in diesem Buche vorfinden.«

»Darf ich mir die Stelle abschreiben?«

»Gewiß. Sie sind ein wenig aufgeregt. Ich werde die Abschrift für Sie besorgen.«

»Meine einzige Hoffnung beruht darauf,« sagte Wilding traurig, die Abschrift betrachtend, »den Aufenthalt der Mrs. Miller auszukundschaften, indem ich versuchte, ob die genannten Auskunftgeber mir dazu verhelfen können?«

»Es ist das Einzige, was zu thun übrig bleibt,« entgegnete der Zahlmeister. »Ich hätte aufrichtig gewünscht, Ihnen von größerem Nutzen sein zu können.«

Von den trostreichen Abschiedsworten begleitet, machte sich Wilding auf den Weg, Um seine Nachforschungen fortzusetzen, die an der Thür des Findelhauses begonnen hatten. Der erste Gang, den er unternahm, war nach dem Geschäftslocal der Banquiers in Lombardstreet. Zwei von den Theilhabern der Firma waren nicht sprechbar für zufällige Besucher. Der Dritte, nachdem er zuvor unüberwindliche Schwierigkeiten vorgeschützt hatte, willigte endlich ein, von einem seiner Schreiber das Hauptbuch welches den Buchstaben M. trug, durchsehen zu lassen. Der Rechenschaftsbericht für Mrs. Miller Wittwe, Groombridge-Wells, befand sich darin. Er war mit zwei langen verblichenen Linien durchstrichen und unten stand: Die Rechnung geschlossen am 30. September 1837.«

So endete der erste Gang, der an diesem Tage gemacht wurde —— er endete und noch immer wußte Wilding nicht aus noch ein? Er schickte ein Paar Zeilen nach Cripple Corner, um Vendale zu benachrichtigen, daß sich seine Abwesenheit auf Stunden noch in die Länge ziehen könne, dann löste er ein Billet auf der Eisenbahn und fuhr der zweiten Station an dem heutigen Tage, der Wohnung der Mrs. Miller in Groombridge Weils zu.

Mütter und Kinder reisten mit ihm; Mütter und Kinder begrüßten sich auf dem Anhaltepunct; Mütter und Kinder waren in allen Lädchen, in denen er einsprach, um sich nach Lime Tree Lodge zu erkundigen. Ueberall stellte sich die nächste und innigste aller menschlichen Verwandtschaft fröhlich im heilen Tagesschein dar; überall wurde er an die köstliche Täuschung erinnert, aus der er so grausam aufgerüttelt worden —— an die verlorene Erinnerung, die von ihm gewichen war, wie das Spiegelbild von einem Glase.

Hier und dort fragte er an. Niemand wußte von dem Namen Lime Tree Lodge. Bei einer Häuseragentur vorübergehend, trat er hinein und that zum letzten Male dieselbe Frage. Der Agent wies über die Straße hinweg auf ein häßliches Haus mit vielen Fenstern. Es mochte eine Manufactur gewesen sein, jetzt war es ein Gasthaus.

»Da hat Lime Tree Lodge vor zehn Jahren gestanden, Sir,« sagte der Mann.

Die zweite Station war erreicht und Wilding wußte wieder nicht aus noch ein!

Eine Hoffnung blieb noch. Der geistliche Auskunftgeber Mr. Harker konnte aufgefunden werden. Kunden des Agenten traten in diesem Augenblick ein und nahmen dessen Aufmerksamkeit in Anspruch; Wilding ging die Straße hinab und begab sich in den Laden eines Buchhändlers Er fragte. ob man ihm den gegenwärtigen Aufenthalt des Reverend John Harker nennen könne?

Der Buchhändler sah augenblicklich erschrocken und verwundert auf. Er antwortete nicht.

Wilding wiederholte seine Frage.

Der Buchhändler nahm von seinem Ladentisch ein zierliches kleines Buch in grauem Einband und hielt dem Frager das Titelblatt vor. Wilding las:

»Das Märtyrerthum des Reverend John Harker in Neu-Seeland. Erzählt von einem früheren Mitglied seiner Gemeinde.«

Wilding legte das Buch auf den Ladentisch zurück. »Ich bitte um Entschuldigung,« sagte er, vielleicht, indem er es sagte, an sein eigenes Märthrerthum denkend. Der schweigsame Buchhändler gab seine Geneigtheit zu entschuldigen durch eine Verbeugung zu erkennen und Wilding verließ den Laden.

Dritte und letzte Station und nach dem dritten und letzten Versuch wieder nicht aus noch ein.

Es blieb nichts übrig, es war keine Wahl, er mußte völlig enttäuscht nach London zurückkehren.

Bei seiner Rückfahrt betrachtete der Weinhändler von Zeit zu Zeit die Abschrift der Notiz aus dem Register des Findelhauses Es giebt eine Art der Verzweiflung —— vielleicht die alle bemitleidenswerteste —— welche sich hartnäckig hinter Hoffnungen versteckt. Wilding behielt das nutzlose Stückchen Papier, welches er aus dem Wagenfenster schleudern wollte, in der Hand. »Es kann noch zu irgend etwas gut sein,« dachte er. »So lange ich lebe, will ich es aufbewahren, und wenn ich sterbe, sollen meine Willensvollstrecker es in meinem Testament versiegelt finden.«

Die Erinnerung an sein Testament lenkte die Gedanken des redlichen Weinhändlers in eine andere Bahn, ohne seine Seele von dem sie ganz erfüllenden Gegenstand abzubringen. Er mußte sofort seinen letzten Willen aufsetzen. Der Ausspruch: nicht aus noch ein! und seine Anwendung auf diesen Fall war von Mr. Bintrey ausgegangen. In der ersten langen Berathung, welche der Entdeckung gefolgt war, hatte der scharfsinnige Mann mit ausdrucksvollem Kopfschütteln mehr wie hundertmal wiederholt: »Nicht aus noch ein, Sir. Nicht aus noch ein! —— Nach meiner Üeberzeugung ist jetzt keine Ermittlung mehr möglich, und mein Rath ist, finden Sie sich so gut es geht darein.«

Im Verlauf der sich lang ausdehnenden Unterredung wurden eine Menge Flaschen des fünfundvierzigjährigen Portweins vorgehen, um Mr. Bintrey’s gesetzverkündende Kehle damit anzufeuchten, aber je sicherer er seinen Weg durch den Wein fand, je weniger fand er ihn durch den Fall in Rede und wiederholte, so oft er sein Glas niedersetzte: »Mr. Wilding, nicht aus noch ein! Lassen Sie die Sachen, wie sie sind, und seien Sie dankbar.«

Sicher ist, das des rechtschaffenen Weinhändlers Angst, ein Testament zu machen, einzig aus seiner großen Gewissenhaftigkeit entsprang, obgleich das nicht ausschließt und sich auch ganz gut mit seiner Gewissenhaftigkeit verträgt, daß er es zu gleicher Zeit und ihm selbst unbewußt auch in dem Gefühl betrieb, welche Erleichterung es ihm gewähren würde, die ihn niederdrückenden Schwierigkeiten auf andere Männer, welche ihn überleben würden, abzuwälzen Wie dem auch sei, er verfolgte diesen neuen Gedanken mit Eifer und ließ unverzüglich nach seiner Ankunft George Vendale und Mr. Bintrey zu einer vertrauten Unterredung nach Cripple Corner einladen. »Nun wir alle drei bei verschlossenen Thüren versammelt sind,« sagte Mr. Bintrey, bei dieser Gelegenheit eine Ansprache an den neuen Compagnon richtend, »möchte ich mir, bevor unser Freund, und mein Client, uns seine weiteren Ansichten eröffnet, zu bemerken erlauben, daß ich Ihre Meinung, welche die jedes mitfühlenden Menschen sein muß, aus voller Seele theile, Mr. Vendale. Ich habe Mr. Wilding zu beherzigen gegeben, daß das Geheimniß durchaus zu bewahren sei. Ich habe mit Mrs. Goldstraw gesprochen in seiner Gegenwart und auch allein, und wenn Jemandem zu trauen ist [das Wenn ist freilich ein sehr deutungsreiches Wort], so glaube ich, daß ihr in diesem Fall getraut werden kann. Ich habe ferner unserm Freund, und meinem Clienten, zu bedenken gegeben, daß auf’s Gerathewohl angestellte Nachfragen nicht allein den Teufel in Gestalt von allen Schwindlern des Königreichs über uns heraufbeschwören müßte, sondern, daß es so viel heißen würde, als den Besitz verschleudern. Und sehen Sie. Mr. Vendale, unser Freund, und mein Client, will nichts weniger, als den Besitz verschleudern, im Gegentheil, er will damit genau haushalten zum Besten desjenigen, den er für den rechtmäßigen Eigenthümer hält —— ich habe nicht gesagt, daß ich einen andern dafür halte —— wenn nämlich dieser rechtmäßige Eigenthümer aufgefunden werden kann. Ich zweifle, daß er je aufgefunden werden kann —— aber das gehört nicht hierher. Mr. Wilding und ich komme schließlich darin überein, daß der Besitz nicht angegriffen werden darf. Ich habe Mr. Wildings Wünschen soweit nachgegeben, eine Annonce einzurücken, durch welche ich vorsichtig Diejenigen, die etwas über das dem Findelhause entnommene adoptierte Kind wissen, einlade, sich in meinem Büreau zu melden. Ich habe mich dazu verpflichtet, daß die Annouce regelmäßig wieder erscheint. Ich habe es von unserm Freund, und meinem Clienten gefordert, hier mit Ihnen zusammenzutreffen, nicht damit Sie ihm Rath geben sollen, sondern damit Sie seine Aufträge entgegen nehmen. Ich bin ebenfalls bereit, seine Aufträge auszuführen und seine Wünsche zu ehren, aber ich bitte bemerken zu wollen, daß ich mich deshalb nicht einverstanden erkläre mit seinen Maßnahmen, noch dieselben als Rechtskundiger billige.«

So sprach Mr. Bintrey und richtete seine Rede eben sowohl an Wilding wie an Vendale Ungeachtet der Sorgfalt für seinen Clienten belustigte ihn dessen Don Quiroterie so höchlich, daß er es nicht lassen konnte, ihn von Zeit zu Zeit mit blinzelnden Augen anzusehen, in so hochkomischem Lichte erschien er ihm.

»Nichts kann klarer sein,« bemerkte Wilding. »Ich wünschte nur, mein Kopf wäre eben so klar, als der Ihrige, Mr. Bintrey.«

»Wenn Sie das Sausen wieder fühlen,« sagte Mr. Bintrey, ihn erschrocken anblickend »so machen Sie ein Ende. Ich meine mit der Unterredung.«

»Durchaus nicht. Ich danke Ihnen,« sagte der Weinhändler.

»Was wollte ich doch« —— ——

»Regen Sie sich nicht auf, Mr. Wilding,« warnte der Advocat.

»Nein, ich wollte nichts« sagte Wilding. Mr. Bintrey und George Vendale, würde einer von Ihnen ein Bedenken oder eine Abneigung dagegen haben, wenn ich Sie gemeinsam zu meinen Bevollmächtigten und Willensvollstreckern ernennen würde, oder willigen Sie beide in mein Begehren?«

»Ich willige ein,« erwiderte Vendale sogleich.

»Ich willige ein,« sagte Bintrey nicht ganz so schnell.

»Ich denke Ihnen. Mr. Bintrey, der Inhalt meines letzten Willens und meines Testamentes wird kurz und bestimmt sein. Vielleicht haben Sie die Güte, ihn nieder zuschreiben. Ich vermache mein ganzes unbewegliches und bewegliches Eigenthum, ohne irgend welche Ausnahme oder irgend welchen Vorbehalt, Ihnen beiden, meinen Bevollmächtigten und Willensvollstreckern, in dem Vertrauen, daß Sie das Ganze dem wirklichen Walter Wilding ausliefern, wenn er während zweier Jahre, von dem Tag meines Todes ab gerechnet, aufgefunden und für den richtigen erkannt werden sollte. Träte der Fall nicht ein, so verlange ich von Ihnen beiden, daß Sie die ganze Masse als Vermächtniß und Unterstützung dem Findelhause überantworten.«

»Ist das Alles, was Sie begehren, Mr. Wilding?« fragte Bintrey, das tiefe Schweigen unterbrechend, in dem keiner den anderen angesehen hatte.

»Alles.«

»Und Sie sind fest entschlossen, das Ausgesprochene für Ihren letzten Willen zu erklären?«

»Durchaus, fest und unwiderruflich.«

»So bleibt nur noch übrig« sagte der Mann des Rechtes mit Achselzucken, »es in die übliche bindende Form zu bringen, dieselbe auszuführen und zu unterschreiben. Hat das so große Eile? Ist es nöthig, die Sache so schnell zu betreiben? Sie denken noch nicht an Sterben, Sir.«

»Mr. Bintrey,« antwortete Wilding ernst, »wann es Zeit zum Sterben sein wird, weiß ein Höherer besser als Sie oder ich. Ich werde beruhigter sein, wenn Sie nichts dagegen haben, sobald das Geschäft von der Seele herunter ist.«

»Wir sind wieder Geschäftsführer und Client,« erwiderte Bintrey, der für Wildings Entschluß volle Theilnahme empfand. »Wenn es Ihnen selbst und Mr. Vendale recht ist, heute über acht Tage an demselben Ort und um dieselbe Zeit, wieder zusammenzukommen, so will ich es in meinem Tagebuch anmerken, daß ich Sie demgemäß hier zu erwarten habe.«

Die Verabredung wurde getroffen und richtig eingehalten. Der letzte Wille war in aller Form unterschrieben, untersiegelt, den Zeugen eingehändigt, von denselben ebenfalls unterzeichnet und endlich von Mr. Bintrey fortgetragen, um sicher unter den aufgespeicherten Papieren seiner Clienten aufbewahrt zu werden. Ein jeder Client besaß seinen respectiven Eisenkasten mit dem Namen des respectiven Eigenthümers an der Außenseite. Die eisernen Kasten waren auf eisernen Regalen in Bintreys Amtszimmer aneinandergereiht und gaben dem Letzteren das Ansehen einer einzigen großen Familiengruft von Clienten.

Mit mehr Theilnahme, als er in der letzten Zeit für seine früheren Interessen gezeigt hatte, machte sich Wilding an die Vervollständigung seines patriarchalischen Haushaltes, bei welchem Geschäfte er nicht allein von Mrs. Goldstraw, sondern auch von Mr. Vendale lebhaft unterstützt wurde, der vielleicht im Sinn hatte, so eilig wie möglich den Obenreizers ein Diner zu geben. Dem mag sein, wie ihm wolle, so bald der Haushalt von rühriger Thätigkeit wiederhallte, wurden die Obenreizers, Vormund und Mündel, zum Diner eingeladen und Madame Dor in die Einladung mitbegriffen. Wenn Vendale schon vorher bis über die Ohren verliebt gewesen war —— ein Satz, der nicht so aufzufassen ist, als ob die Thatsache im geringsten bezweifelt werden solle —— so stürzte ihn das Diner um zehntausend Faden tiefer in die Liebe hinein. Aber wenn er auch sein Leben darum gegeben hätte, er erreichte es nicht, ein Wort mit der reizvollen Marguerite zu sprechen. Sobald ein glücklicher Augenblick gekommen zu sein schien, stellte sich ganz gewiß Obenreizer mit dem Schatten auf seinem Antlitz hart an Vendales Ellenbogen, oder Madame Dor’s breiter Rücken pflanzte sich vor seine Augen. Die ganz stumme Matrone sah man von dem Augenblick ihrer Ankunft an bis zu dem ihres Scheidens niemals von vorn —— ausgenommen bei Tische. Sobald sie sich in das Drawingroom zurückzog (sie hatte kräftig zu dem Verzehren der Speisen beigetragen) verharrte sie, wie gewöhnlich, mit dem Gesicht gegen die Wand.

Ja, während vier oder fünf köstlicher wenn auch quälender Stunden durfte er Marguerite anblicken, Marguerites Stimme hören, Marguerite einmal sogar anrühren. Als man die Runde durch die alten finsteren Kellergewölbe machte, führte sie Vendale an der Hand, als sie Abends in dem hellerleuchteten Zimmer sang, stand Vendale dicht neben ihr, um die von ihr abgestreiften Handschuhe zu halten, für die er gern jeden Tropfen des oft erwähnten Fünfundvierziger eingetauscht hätte und wenn er fünfundvierzigmal fünfundvierzig Jahr älter gewesen, und sein Werth fünfundvierzigmal fünfundvierzig Pfund höher gestiegen wäre. Und als sie fort war und mit einem Schlage in Cripple Corner eine große Leere entstand, quälte er sich mit der Frage, ob sie wohl wüßte, wie er sie bewunderte! Ob sie wüßte, daß er sie anbetete! Ob sie eine Ahnung davon hätte, daß sie ihn mit Herz und Seele gewonnen habe! Ob sie überhaupt an ihn zurückdächte! Ob sie und ob sie nicht? so ging es »die Tonleiter ab und auf, über und unter der Linie, Himmel! Himmel!

Armes ruheloses Menschenherz! Zu denken, daß die Menschen, die schon vor Tausenden von Jahren Mumien waren es ebenso machten und nach dem Tode erst die Ruhe fanden.

»George,« fragte Wilding am andern Tage, »Wie finden Sie Mr. Obenreizer?« ( »Wie Sie Miß Obenreizer finden, lasse ich ungefragt!«)

»Ich weiß nicht,« sagte Vendale, »und habe nie recht gewußt wie ich ihn finde?«

»Er ist klug und wohl unterrichtet,« sagte Wilding.

»Gewiß ist er klug.«

»Und musikalisch.« (Er hatte gestern Abend sehr gut gespielt und sehr gut gesungen.)

»Unzweifelhaft sehr musikalisch.«

»Und erzählt gut.«

»Ja,« sagte George Vendale überlegend, »er erzählt gut.«

»Wissen Sie Wilding, nun ich über ihn nachdenke betreffe ich mich darauf, daß ich ihn nicht für verschwiegen halte.«

»Wie meinen Sie das? Er ist nicht zudringlich geschwätzig.«

»Nein. Das mein ich auch nicht. Beobachten Sie ihn einmal, wenn er still ist, so können Sie, wenn auch vielleicht ungerechterweise, nicht umhin ihm zu mißtrauen. Nehmen wir zum Beispiel Jemand, den Sie kennen und lieben. Nennen Sie einen, den Sie kennen und lieben.«

»Das ist bald gethan, mein Freund.« sagte Wilding. »Ich nenne Sie.«

»Darum habe ich es freilich nicht gesagt und das habe ich nicht vorausgesehen,« erwiderte Vendale lachend. »Aber immerhin, nehmen Sie mich. Denken Sie einen Augenblick nach. Ist der Ausdruck, den Sie aus meinem interessanten Gesicht kennen und lieben (alle augenblicklichen Eindrücke, durch die er wechselt, mit eingeschlossen) vollständig darin, auch wenn ich schweige?«

»Ja, ich glaube,« sagte Wilding.

»Ich glaube es auch. Jetzt, geben Sie Acht. Wenn Obenreizer spricht —— oder mit anderen Worten, wenn er Gelegenheit hat aus sich herauszugehen —— so sieht er redlich aus, aber wenn ihm die Gelegenheit aus sich herauszugehen nicht geboten wird, so sieht er unredlich aus. Darum sage ich, er ist nicht verschwiegen. Und indem ich die Gesichter, die ich kenne und denen ich mißtraue, schnell an mir vorübergehen lasse, überzeuge ich mich, daß keines von allen verschwiegen ist.«

Diese Ansicht über Physiognomik war Wilding neu. Sie wollte ihm anfänglich nicht in den Sinn, bis er sich selbst die Frage that, ob wohl Mrs. Goldstraw verschwiegen wäre? Wie er sich erinnerte, daß ihr Antlitz gerade wenn es in Ruhe blieb, Zutrauen erweckte, war er so befriedigt, wie der Mensch gewöhnlich ist, wenn er glauben darf, was er zu glauben wünscht.

Es verstrich eine lange Zeit bis Wilding seine Launen und seine Gesundheit wiedererlangte und seine Gefährte erinnerte ihn, als einen Versuch ihn aufzurichten —— vielleicht auch weil die Obenreizers Vendale hartnäckig im Kopfe lagen —— an seine musikalischen Pläne, die er in der Familie zur Ausführung bringen wolle und an das Einrichten einer Singeklasse im Hause und eines Chorgesangs in der benachbarten Kirche. Die Klasse wurde so schnell wie möglich ins Leben gerufen und da zwei oder drei der Leute schon musikalische Kenntnisse mitbrachten und Erträgliches leisteten, so begann auch der Chorgesang sehr bald. Letzterer wurde von Wilding selbst geleitet, welcher die Hoffnung hegte, seine Untergebenen zu lauter Findelkindern umzuformen, was die Fähigkeit anbelangt, geistliche Musik zu singen.

Da die Obenreizers musikalisch gebildet und begabt waren, so war es leicht dahin zu bringen, daß sie aufgefordert wurden, Theil an den Versammlungen zu nehmen. Vormund und Mündel sagten zu oder vielmehr der Vormund sagte für beide zu, wodurch nothwendig eintrat, daß Vendale ein Leben des absolutesten Sichgefangengebens und Verrückseins führte. Denn, Sonntags in der dumpfigen Christopher-Wren Kirche, mit ihrer Gemeinde der lieben Brüder, fünfundzwanzig an der Zahl, war es nicht ihre Stimme, die wie Licht in den dunkelsten Winkel drang, von den Mauern und Pfeilern wiederhallend, als ob sie Stücke von seinem Herzen wären! In dieser Zeit befand sich noch dazu Madame Dor in einer Ecke des hohen Kirchenstuhles ihren Rücken jedermann und jedem Dinge zugekehrt; auch konnte es nicht ausbleiben, daß sie in manchen Augenblicken von den Gebräuchen des Gottesdienstes völlig in Anspruch genommen war. Er gebärdete sich wie der Mann, dem die Aerzte verordnet hatten, sich einmal in jeden Monat zu betrinken und der, um die Vorschrift nicht zu versäumen, sich alle Tage betrank.

Aber diese köstlichen Sonntage wurden noch durch die Concerte übertroffen, Welche alle Mittwoch in der patriarchalischen Familie zur Ausführung gelangten. In diesen Concerten setzte sie sich an den Flügel und sang in ihrer Muttersprache Lieder ihres Volkes, Lieder, die von den Berghöhen Vendale zuzurufen schienen: Hebe dich empor aus dem grünen ebnen Lande, weit über die Menge hinweg; folge mir nach wie ich höher, höher, höher steige und mich in dem fernen Himmel Verliere. Hebe dich zur höchsten Höhe und liebe mich!« In solchen Augenblicken erschien es ihm, als erhalte das zierliche Mieder, der Zwickelstrumpf und die mit silbernen Schnallen besetzten Schuhe, wie die klare Stirn und die glänzenden Augen die Elasticistät der Gemse, bis der Sang vorüber gerauscht war.

Aber selbst über Vendale übten diese National-Lieder nicht eine solche Gewalt aus als über Joey Ladle, wenn auch in andrer Art. Hartnäckig verweigernd den Klang dunstig zu machen, indem er an den Uebungen Theil nahm, und die tiefste Verachtung gegen alle Skalen und sonstigen Anfangsgründen der Musik im Herzen, weche, das ist sicher den bloßen Zuhörer selten entzücken —— erklärte Joey anfangs das Unternehmen für ein schlechtes Stück Arbeit und die Ausübenden für eine Rotte heulender Derwische. Eines Tages aber entdeckte er Spuren reiner harmonischer Klänge in irgend einem Stück und erweckte dadurch in den beiden unter ihm stehenden Kellermeistern schwache Hoffnungen, daß er im Laufe der Zeit Geschmack an den Uebungen bekommen werde. Sein Urtheil über einen Wechselgesang von Händel berechtigte zu noch höheren Erwartungen; obgleich Joey einwandte, daß der berühmte Musiker sich sehr viel in fremdländischen Kellergewölben aufgehalten haben müsse, weil er ein und dieselbe Sache immer und immer wiederhole. Verstehe man das, wie man wolle, er nahm es für gewiß an, daß man seinen Ausspruch verstehen könne.

Ein drittes Mal erstaunte ihn das Erscheinen des Mr. Jarvis mit einer Flöte und eines andern wunderlichen Mannes mit einer Violine und ein Duett, welches beide ausführten dergestalt, daß er ans eignem Antrieb und eigener Bewegung wie inspiriert die Watte »Am Koar!« [Soll encore bedeuten. Der Ruf »Am Koar« ist in England in Stelle unsres Dacapo-Rufs gebräuchlich. Anm. d. >Uebs.] wiederholentlich ausstieß, als ob er in vertraulicher Weise den Namen einer Dame riefe, welche sich durch ihre Leistung ausgezeichnet habe. Aber dies war die letzte Beifallsbezeugung für die Verdienste seiner Gefährten, denn, als das Duo der Instrumente im ersten Mittwochs-Concert vorüber war, und ein Gesangsstück von Marguerite Obenreizers lieblicher Stimme ausgeführt, folgte, saß er mit weit offenem Munde ganz verzückt, bis sie geendet hatte. Darauf stand er ganz feierlich auf und das, was er sagen wollte, mit einer Verbeugung einleitend, die auch Mr. Wilding inbegriff, äußerte er die befriedigte Stimmung, die ihn durchdrang mit folgenden Worten: »Sie sind Künstlerin, die Andern können sich alle begraben lassen.«

Und von da ab verweigerte er in jeder Weise den musikalischen Leistungen der Familie, seine Anerkennung zu bezeugen.

Auf diese Art entstand die persönliche Bekanntschaft zwischen Marguerite Obenreizer und Joey Ladle. Sie lachte herzlich über die Schmeichelei, die er ihr gesagt hatte, und war fast beschämt, als Joey, nachdem das Concert darüber war, sich ein Herz faßte und sie fragte, er hoffe, sein Kopf sei nicht dergestalt vom Dunste eingenommen gewesen, daß er sich zu die Freiheit herausgenommen habe. Sie gab ihm eine anmuthige Antwort, und Joey bückte sich höflich.

»Sie werden das Glück wieder zurückbringen, Miß,« sagte Joey mit einem zweiten höflichen Blicken. »So eine wie Sie im Haus, und das Glück muß wieder zurück ins Haus.«

»Kann ich das? Glück bringen?« fragte sie mit ihrem niedlichen Englisch und ihrer niedlichen verwunderten Miene. »Ich fürchte, ich habe nicht recht verstanden. Ich bin so einfältig.«

»Der junge Muster Wilding, Miß,« erklärte Joey zutraulich, wenn er durch seine Erklärung auch nichts zum Klarwerden der Sache beitrug, hat das Glück verscheucht, ehe er den jungen Muster George in das Geschäft nahm. So sage ich und so wird es kommen. Herr! Wenn Sie herkämen und nur einige Mal sängen, das Glück könnte nicht widerstehen, es kehrte zurück.«

Damit und mit einer Fülle von Verbeugungen verließ Joey die Versammlung. Aber Joey blieb eine bevorzugte Person, denn ein unverhoffter Sieg erfreut die Jugend und Schönheit. Das nächste Mal sah Marguerite sich vergnügt nach Joey um. »Bitte, wo ist Mr. Joey?« fragte sie Vendale.

Joey wurde gerufen, und die Hände wurden geschüttelt, und das war nun einmal eingeführt und blieb so.

Und noch etwas wurde in ähnlicher Weise eingeführt. Joey hörte schwer. Er selbst meinte, es käme vom Weindunst, und das kann sein; kurz und gut, was auch die Ursache gewesen sein mag, die Wirkung war da. Bei der ersten Versammlung sah man ihn an der Wand entlang schleichen, die linke Hand an das linke Ohr gelegt, und sich in einen Sessel dicht vor der Sängerin hineinschwindeln. Diesen Platz behauptete er, bis er seinen Freunden, den Kunstliebhabern, jene Schmeichelrede zu halten begann, die wir vorher angeführt halten. Joey’s Bewegungen, die ihm das Ansehen einer Bückemaschine verliehen, waren bemerkt worden, und man belustigte sich am nächsten Mittwoch bei Tische darüber, Das Geflüster ging um die Tafel herum, daß seine Manieren erklärlich wären, durch die hochgespannte Erwartung aus Miß Obenreizers Gesang und seine Furcht, keinen Platz zu erhalten, von dem aus er jede Note und jede Silbe vernehmen könnte. Das Gerede drang auch zu Wildings Ohren; gutmüthig, wie er war, rief er Joey Abends, ehe Marguerite zu singen anfing, nach vorn hin. Und auch das wurde zu einer Sitte erhoben. Joey saß alle folgen den Musikabende an demselben Platze. Marguerita wenn sie die Finger über die Tasten gleiten ließ, ehe sie zu singen anfing, fragte jedes Mal Vendalee. »Bitte, wo ist Mr. Joey?« Und Vendale holte ihn jedes Mal nach vorn und setzte ihn dicht an den Flügel. Während Aller Augen auf ihn gerichtet waren, drückten seine Züge das größte Mißtrauen, gegen die Leistungen seiner Freunde aus, und das größte Vertrauen zu denen Margueriten’s in deren Anschauen er tief versenkt war und sich dabei ausnahm, wie das Rhinozeros im Buchstabir-Buch, was abgerichtet worden, auf seinen Hinterfüßen zu stehen. Wenn er nach dem Singen in den höchsten Grad von Entzückung gerieth, fragte jedes Mal eine neckende Stimme hinter ihm: »Wie gefällt Ihnen das, Joey?« Er, von der Frage angestachelt, erwiderte jedes Mal, als ob er den Gedanken erst eben faßte: Sie ist eine Künstlerin, die Andern können sich alle begraben lassen. Das gehörte Alles zu der fest eingeführten Sitte. Aber die einfachen Freuden und kleinen Vergnügungen in Cripple Corner waren nicht von langer Dauer. Sie wurden eines ernsten Grundes wegen eingestellt, welchen jedes Mitglied der patriarchalischen Familie kannte, obgleich Niemand, wie durch ein schweigendes übereinkommen, desselben Erwähnung that. Mit Mr. Wildings Gesundheit stand es schlecht.

»Er würde den Schlag, der ihn im innersten Gemüth getroffen hatte, überwunden, er würde auch vielleicht das quälende Gefühl bemeistert haben, an eines Andern Besitz sich gütlich zu thun, aber beides zu ertragen, ging über sein Vermögen. Er sah in sich einen Menschen, der von zwei Dämonen verfolgt wurde, und es ergriff ihn tiefe Niedergeschlagenheit. Die unzertrennlichen Quälgeister setzten sich mit ihm zu Tisch, aßen don seiner Schüssel, tranken aus seinem Becher und standen Nachts an seinem Lager. Wenn er an die Liebe derjenigen dachte, die er für seine Mutter gehalten, durchdrang ihn das Bewußtsein, daß er die Liebe gestohlen habe. Wenn er sich über die Achtung und Anhänglichkeit seiner Untergebenen freuen wollte, erschien ihm sein Trachten, dieselben glücklich zu machen, wie ein Betrug, denn das zu thun, wäre des unbekannten Pflicht und Lohn gewesen.

Nach und nach, unter dem Druck, den das ewige Brüten auf Geist und Körper ausübte, beugte sich die Gestalt, seine Schritte verloren ihre Elasticität, seine Augen blieben am Boden haften. Er wußte, er konnte dem beklagenswerthen Irrthum, der stattgefunden hatte, nicht abhelfen, er wußte, er konnte ihn nicht ungeschehen machen; denn Tage und Wochen vergingen, und keine Stunde erschien, in der ihm sein Name und sein Besitzthum abverlangt wurde. Langsam begann ihn das dunkle Bewußtsein von einer oft wiederkehrenden Unklarheit im Kopf zu beschleichen. Sie kam mitunter eine ganze Stunde, mitunter einen ganzen Tag und eine ganze Nacht über ihn. Einmal versagte ihm die Erinnerung, als er zu Häupten der Tafel saß, und kehrte nicht vor Tagesanbruch wieder. Ein andermal versagte sie gerade als die Gesangsübungen beginnen sollten und fand sich erst wieder ein, als er und sein Conrpagrron die halbe Nacht über im Mondschein auf dem Hof spazieren gegangen waren. Er fragte Vendale, der immer rücksichtsvoll, thätig und hilfsbereit war, was das gewesen sei. Vendale anwortete nur: »Nichts weiter, als daß Sie sich nicht wohl befanden.« Er beobachtete die Gesichtszüge seiner Leute, ob er aus ihnen die Wahrheit herauslesen könne; aber sie speisten ihn ab mit: »Seht erfreut, Sie wieder besser zu sehen, Sir;« oder: »Ich hoffe, es geht Ihnen wieder gut, Sir,« und daraus war er nicht im Stande, seinen Zustand zu beurtheilen.

Endlich, als sein Theilhaber fünf Monat lang im Geschäft war, blieb Wilding im Bett, und Mrs. Goldstraw wurde seine Pflegerin.

»Nun ich so krank daliege, nehmen Sie es vielleicht nicht übel, wenn ich Sie Sally nenne, Mrs. Goldstraw?« sagte der arme Weinhändler.

»Er klingt mir natürlicher, wie jeder andre Name, und ich höre ihn am liebsten.«

»Ich danke Ihnen, Sally. Ich glaube, Sally, daß ich kürzlich Anfällen von Bewußtlosigkeit unterworfen gewesen bin. Ist das wahr, Sally? —— Fürchten Sie sich nicht, es mir zu sagen.«

»Es ist vorgekommen, Sir.«

»So! also das ist es gewesen,« bemerkte er ruhig. »Mr. Obenreizer sagt, Sally, die Welt sei so eng, daß es nicht zu verwundern wäre, wenn man immer mit denselben Menschen wieder zusammenträfe, an verschiedenen Orten zusammenträfe, und sollte man auch von verschiedener Lebensstellung sein. Ist es nicht seltsam, Sally, daß ich, nun es zum Sterben geht, wieder —— wie soll ich sagen? —— wieder zurück in das Findelhaus komme?«

Er streckte seine Hand nach ihr aus, sie nahm sie sanft in die ihre.

»Sie werden noch nicht sterben, lieber Mr. Wilding.«

»Mr. Bintrey sagt das auch, aber ich glaube, er hat Unrecht. Das alte Kindheitsgefühl überkommt mich wieder, Sally. Die Stille und Ruhe, die sich früher über mich verbreitete, ehe ich einschlief.«

Nach einer Pause sagte er sanft: »Bitte, küsse mich, Sally, und es war augenscheinlich, daß er in dem großen Schlafsaal des Findelhauses zu liegen glaubte. Wie sie gewohnt gewesen war, sich über die vater und mutterlosen Kinder zu beugen, beugte sich Sally auf den vater- und mutterlosen Mann hinab und berührte mit ihren Lippen seine Stirn, indem sie flüsterte:

»Gott segne Dich!«

»Gott segne Dich!« erwiderte er in demselben Ton.

Nach einer zweiten Pause öffnete er mit vollem Bewußtsein seine Augen und sagte: »Laß mich deswegen, was ich Dir jetzt sagen werde, ruhig in meiner Stellung verharren, ich liege sehr behaglich. Ich glaube, meine Zeit ist da. Ich weiß nicht, wie es Dir erscheinen mag, Sally aber ——«

Für einige Minuten überfiel ihn Bewußtlosigkeit; doch rang er sich noch einmal von ihr los.

»Ich weiß nicht, Sally, wie es Dir erscheinen mag, aber so erscheint es mir.«

Als er bedächtig seine Lieblingssentenz ausgesprochen hatte, war seine Zeit gekommen und er starb.


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