Nicht aus noch ein



Vendale hat Unglück.

Als Vendale am andern Morgen in das Geschäftslocal trat, sah er den ganzen schwerfälligen Betrieb in Cripple Cornet mit andern Augen an. Marguerite nahm jetzt an Allem Theil. Das ganze Maschinenwerk, welches nach Wildings Tod in Bewegung gesetzt worden, um das Geschäft abzuschätzen —— das Insgleichebringen des Hauptbuches, das Ueberschlagen der Schulden, das Zusammenstellen des ganzen Bestandes mit Allem, was dazu gehört, verwandelte sich auf einmal zu einer Maschinerie, welche die Aussichten für oder gegen eine baldige Heirath abwog. Nachdem er die Resultate, welche ihm von seinen Buchhaltern vorgelegt waren, durchgesehen und dieselben mit den Abrechnungen und Zusammenzählungen, die ihn die Schreiber einhändigten, verglichen hatte, richtete Vendale zunächst seine Blicke auf das Waarenlager und sendete einen Boten in die Kellergewölbe mit dem Befehl, daß er über das Weinlager einen Bericht zu haben wünsche. Die Art und Weise wie der Kellermeister seinen Kopf in die Thür des Zimmers steckte, welches seinem Herrn zu gehörte, bekundete deutlich, daß sich am heutigen Morgen Außergewöhnliches zugetragen haben müsse.

Es war etwas in Joey Ladle’s Bewegungen, was an Vergnügt sein streifte und es zeigte sich etwas in Joey Ladle’s Antlitz, was Freundlichkeit vorstellen konnte.

»Was giebt es?« fragte Vendale. »Ist nicht Alles in Ordnung?——«

»Ich wollte Ihnen etwas anzeigen,« antwortete Joey. »Junger Mr. Vendala ich habe mich nie für einen Propheten ausgegeben.«

»Wer behauptet das?«

»Es lebte noch kein Prophet, so viel wie ich von dem Handwerk in Erfahrung gebracht habe,« fuhr Joey fort, »hauptsächlich unter der Erde, und keinem Propheten, was er auch durch seine Poren in sich aufgenommen haben mag, zog während einer geraumen Zahl von Jahren vom Morgen bis zum Abend nichts als Weindunst hinein. Als ich dem jungen Muster Wilding in Bezug aus das Umtaufen der Firma sagte, er werde eines Tages dahinter kommen, was es heiße, das Glück der Firma zu stören —— habe ich mich da für einen Propheten aus gegeben? Nein, das habe ich nicht. Ist das, was ich gesagt habe, wahr geworden? Ja, es ist wahr geworden. In den Zeiten von Pebbleson Nephew, junger Master Vendale, ist nie, bei einer Sendung, die aus unserm Geschäft erfolgte, ein Irrthum vorgekommen. Jetzt haben wir einen. Wollen Sie darauf merken, daß er sich zu getragen hat, ehe Miß Marguerite unser Haus betrat, sonst könnte die Thatsache gegen meine Aussage streiten, daß Miß Marguerite das Glück zurückbringen werde. Lesen Sie, Sir,« schloß Joey, Vendales Aufmerksamkeit auf eine bestimmte Reihe in dem Bericht hinlenkend. Er bediente sich zu diesem Zweck eines Zeigefingers, der durch seine Poren augenscheinlich nichts anderes einzulassen gewohnt war als Schmutz. »Es ist meiner Natur ganz fremd, wie eine Krähe über dem Hause, dem ich diene, Unglück auszuschreien, aber ich sehe es für meine heiligste Pflicht an, Sie aufzufordern, diese Stelle zu lesen.«

Vendale las, was folgt: »Anmerkung über den Schweizer Champagner. Eine Ungenauigkeit ist in der letzten Sendung der Firma Defresnier und Co. entdeckt worden.« —— Vendale hielt ein und sah in einem Notizbuch nach. welches neben ihm lag. »Das war zu Mr. Wildings Zeit,« sagte er. »Die Weinlese fiel vortrefflich aus und er bestellte den ganzen Ertrag. Der Schweizer Champagner hat gut gelohnt, nicht wahr?«

»Ich habe nicht gesagt, daß er nicht lohnend gewesen sei,« entgegnete der Kellermeister. »Er mag in den Verschlägen unserer Kunden verdorben oder ihnen unter Händen schlecht geworden sein, aber ich habe nicht gesagt, daß er für uns nicht lohnend gewesen wäre.«

Vendale fuhr im Lesen der Anmerkung fort. »Die Anzahl der Kisten ist richtig angegeben, wie wir aus den Büchern ersehen, aber sechs von ihnen, welche einen kleinen Unterschied in der Signatur aufweisen, haben sich nach dem Oeffnen als Rothwein anstatt Champagner enthaltend, ausgewiesen. Die Aehnlichkeit in der Signatur verursachte vermuthlich das unvorsichtige Abschicken der Sendung non Neuschatel. Der Irrthum hat sich nicht weiter, als auf die sechs Kisten erstreckt.«

»Ist das. Alles?« rief Vendale aus, die Anmerkung fortwerfend.

Jeoy Ladle’s Augen folgten mißmuthig dem flatternden Papierstreifen.

»Ich freue mich, daß Sie es leicht nehmen, Sir,« sagte er. »Was auch daraus erfolgen mag, es wird Ihnen vielleicht eine Beruhigung sein, wenn Sie sich erinneren, es anfänglich » leicht genommen zu haben. Mitunter führt ein Irrthum in den andern hinein. Ein Mann wirft aus Versehen ein Stückchen Pomeranzenschaale auf das Pflaster, ein andrer tritt ans Versehen darauf, und dann giebt es Arbeit für das Hospital und einen, der sein Lebelang ein Krüppel bleibt. Ich freue mich, daß Sie es leicht nehmen, Sir. Zu Pebbleson Nephews Zeiten würden wir es nicht leicht genommen haben, bis wir das Ende übersehen können. Ohne Unglück über dem Hause auszuschreien, junger Master Vendale, so wünschte ich doch, Sie wären erst mit heiler Haut aus dieser Fährlichkeit heraus. Nichts für ungut, Sir,« sagte der Kellermeister. Er hatte die Thür geöffnet, um zu gehen, und sah noch einmal bedeutungsvoll zurück, ehe sie sich hinter ihm schloß. »Ich bin dumpfig und schwerblütig, ich gebe es Ihnen zu, aber ich bin ein alter Diener von Pebbleson Nephews, und ich wünschte, Sie wären erst glücklich durch die sechs Kisten mit Rothwein hindurch.«

Als er allein war, ergriff Vendale lachend die Feder. »Ich kann ein paar Zeilen an Defresnier u. Co. schreiben, ehe ich es vergesse,« dachte er und schrieb sogleich folgendermaßen:

»Geehrte Herren. Wir haben unsern Ueberschlag gemacht und dabei ein kleines Versehen in der letzten Champagnersendnng die uns aus Ihrem Hause zu gekommen ist, entdeckt. Sechs Kisten; enthalten Rothwein —— der hiemit zurück erfolgt. Die Angelegenheit kann leicht in’s Reine gebracht werden, entweder dadurch, daß Sie uns sechs Kisten Champagner senden, wenn derselbe produziert werden kann, oder dadurch, daß Sie uns den Betrag der sechs Kisten zu gut schreiben auf die Ihnen kürzlich von unserer Firma ausgezahlte Summe von fünfhundert Pfund.

Ihr ergebenster Diener

Wilding u. Co.«

Sobald der Brief nach der Post geschickt war, kam Vendale die Sache aus dem Sinn. Er hatte an andere wichtige Angelegenheiten zu denken. Später am Tage machte er Obenreizer den verabredetsen Besuch. Gewisse Abende in der Woche wurden festgesetzt, in denen es ihm erlaubt war Marguerite zu sehen —— immer leider! in Gegenwart einer dritten Person. An dieser Bedingung hielt Obenreizer höflich aber durchaus fest. Das einzige Zugeständniß, was er machte, bestand darin, Vendale die Wahl zu lassen, wer die dritte Person sein solle. Seiner Erfahrung vertrauend, erkor er sich unbedenklich die vortreffliche Frau, die Obenreizers Strümpfe stopfte, dazu. Als Madame Dor von der Verantwortlichkeit in Kenntniß gesetzt wurde, die sie über sich nehmen solle, kam die Anstelligkeit ihrer Natur plötzlich auf eine neue und großartige Weise zu Tage. Sie wartete bis Obenreizer den Blick Von ihr gewendet hatte —— dann sah sie Vendale an und winkte ihm leise zu. Die Zeit verstrich. Die glücklichen Abende bei Marguerite kamen und gingen vorüber. Es war der zehnte Morgen, seitdem Vendale an die Schweizer Firma geschrieben hatte, als sich die Antwort derselben unter den vielen Briefen befand, die auf dem Pult lagen.

»Geehrte Herren. Wollen Sie gütigst das kleine Versehen, welches sich ereignet hat, entschuldigen Wir bedauern, hinzufügen zu müssen, daß die Ermittelung des Irrthums, von dem Sie so freundlich gewesen sind uns zu benachrichtigen, zu einer höchst unerwarteten Entdeckung geführt hat. Die Angelegenheit ist sowohl für Sie als für uns eine sehr ernste und die Einzelheiten derselben sind folgende: Da kein Champagner der vorjährigen Weinlese mehr in unserm Lager vorhanden war, so machten wir uns dabei, Ihrer Firma den Betrag der sechs Kisten in der Art, wie Sie es vorgeschlagen hatten, gut zu schreiben. In der bei uns üblichen Weise des Geschäftsbetriebes sind wir gewohnt, in solchem Falle gewisse Formen zu beobachten, die uns verpflichten, die Rechnungsbücher wie das Hauptbuch durchzusehen. Das Ergebniß dieser Nachforschung ist die moralische Ueberzeugung, daß kein solcher Wechsel, wie derjenige, dessen Sie Erwähnung thun, an unser Haus gelangt ist und die buchstäbliche Gewißheit, daß kein solcher Wechsel auf der Bank für uns eingezahlt liegt.

Es wäre unnütz, bei dem jetzigen Stand der Dinge Sie mit Einzelheiten zu ermüden. Das Geld ist ohne Frage während der Uebersiedelung von Ihnen zu uns gestohlen worden. Gewisse kleine Züge, die wir an der Art und Weise, wie der Unterschleif verübt worden ist, bemerken können, lassen uns schließen, daß der Dieb darauf gerechnet hat, unsern Banquiers die Zahlung leisten zu wollen, ehe bei dem jährlichen Rechnungsabschluß die unvermeidliche Entdeckung erfolgen mußte. Das wäre im gewöhnlichen Geschäftsgang erst in einem Vierteljahr geschehen. Während der Zeit würden wir, wenn uns nicht Ihr Brief darauf aufmerksam gemacht hätte, völlig ahnungslos über diesen Betrug sein, der bei uns verübt worden ist.

Wir erwähnen dieses letzten Umstandes, um Ihnen zu beweisen, daß wir es in diesem Falle mit keinem gewöhnlichen Dieb zu thun haben. Wir wissen bis diesen Augenblick noch nicht, wer der Betrüger sein könnte. Aber wir geben uns der Hoffnung hin, daß Sie uns behilflich sein werden, denselben zu entdecken, indem Sie die Quittung (eine gefälschte natürlich) untersuchen, welche Ihnen von unserm Hause ausgestellt sein wird. Haben Sie die Güte nachzusehen, ob es eine geschriebene Quittung, oder eine nummerierte und gedruckte ist, in der nur der Betrag der Summe auszufertigen war. Die Feststellung dieser anscheinend geringfügigen Kleinigkeit ist, wie wir versichern können; für uns von der weittragendsten Bedeutung. Dringend einer Erwiderung entgegensehend, verbleiben wir mit Hochachtung und Ergebenheit

Defresnier u. Co.«

Vendale legte den Brief auf das Pult zurück und zögerte eine Weile, um sich von dem Schrecken zu erholen, der über ihn gekommen war. Gerade zu einer Zeit, wo ihm so viel daran lag, die Einkünfte des Geschäfts zu erhöhen, sah er dieselben mit einem Verlust von fünfhundert Pfund bedroht. Er dachte an Marguerite, als er den Schlüssel aus seiner Tasche nahm und den eisernen Verschlag in der Wand öffnete, in welchem die Bücher und Papiere der Firma aufbewahrt lagen.

Er war im eifrigen Suchen nach der gefälschten Quittung begriffen, als dicht hinter ihm eine Stimme ertönte, die die Worte sprach:

»Ich bitte tausendmal um Verzeihung! Ich bedaure, Sie stören zu müssen.«

Vendale drehte sich erschrocken um und sah sich dem Vormund Marguerite’s gegenüber.

»Ich komme um anzufragen,« sagte Obenreizer, »ob ich Ihnen etwas nützlich sein kann? Meine eignen Angelegenheiten führen mich auf einige Tage nach Manchester und Liverpool. Kann ich vielleicht ein Geschäft für Sie damit verbinden? Ich stelle mich ganz zu Ihrer Verfügung in dem Charakter eines Handelsreisenden für die Firma Wilding und Co.«

»Entschuldigen Sie einen Augenblick«« sagte Vendale. " »Ich bin sogleich bereit mit Ihnen zu sprechen.« Er wendete sich um und fuhr fort, unter den Papieren zu suchen. »Sie kommen gerade zu einer Zeit, wo ein freundschaftliches Anerbieten mir doppelt schätzbar ist,« fuhr er fort. »Ich habe heut Morgen schlechte Nachrichten aus Neuschatel erhalten.«

»Schlechte Nachrichten« rief Obenreizer aus. »Von Defresnier und Co.?«

»Ja. Ein Wechsel, den wir dahin gesandt haben, ist gestohlen. Mir droht der Verlust von fünfhundert Pfund. Was ist?«

« Er wendete sich schnell herum und gewahrte, daß sein Kasten mit den Couverts zu Boden gestürzt war und Obenreizer auf den Knieen liegend, sich damit beschäftigte, den verstreuten Inhalt aufzusuchen.

»Alles meine Ungeschicklichkeit!« sagte Obenreizer. »Die unangenehmen Nachrichten erschreckten mich. Ich trat einen Schritt zurück ——« das Aufsuchen der verstreuten Couverts interessierte ihn so über Alles, daß er seinen Satz, zu beendigen vergaß.

»Bemühen Sie sich nicht,« sagte Vendale. »Einer meiner Schreiber kann Ordnung machen.«

»Diese unangenehmen Neuigkeiten!« wiederholte Obenreizer, ohne sich beim Aufsuchen der Couverts stören zu lassen. »Diese unangenehmen Neuigkeiten!«

»Wenn Sie den Brief lesen!« sagte Vendale, »so werden Sie sehen, daß ich nicht übertrieben habe. Da liegt er offen auf meinen Pult.«

Er fuhr in seiner Beschäftigung fort und entdeckte einen Augenblick später die gefälschte Quittung. Sie war nummeriert und gedruckt, wie sie die Schweizer Firma beschrieben hatte. Vendale machte sich eine Notiz über Zahl und Datum. Nachdem er die Quittung wieder an ihren Platz, gelegt und den eisernen Verschlag zugeschlossen hatte, nahm er sich die Zeit, Obenreizer zu beobachten, der in einer Fensternische am andern Ende des Zimmers damit beschäftigt war, den Brief zu lesen. »Gehen Sie an das Feuer« sagte Vendale, »Sie sind von der Kälte draußen ganz erstarrt. Ich werde schelten, daß man mehr Kohlen auflege.«

Obenreizer erhob sich und trat langsam wieder an das Pult. »Marguerite wird ebenso außer sich über die Nachricht sein, als ich es bin,« sagte er freundlich. »Was beabsichtigen Sie zu thun?«

»Ich bin in den Händen von Defresnier und Co.« erwiderte Vendale. Bei meiner gänzlichen Unkenntniß der Umstände kann ich nur thun, was sie von mir verlangen. Die Quittung, welche ich eben gefunden habe, weist sich als eine gedruckte und nummerierte aus. Es scheint, als wenn die Firma besondere Wichtigkeit auf das Auffinden derselben legte. Sie haben während Ihres Aufenthalts in dem Schweizer Hause den Geschäftsbetrieb desselben in Erfahrung bringen müssen. Sind Sie im Stande zu errathen, welche Aufschlüsse man dabei im Auge hat?«

»Vielleicht wenn ich die Quittung sehe,« meinte Obenreizer. »Sind Sie krank?« fragte Vendale betroffen von der Veränderung auf Obenreizers Antlitz, das ihm jetzt zum ersten Mal voll zugewendet war. »Bitte, gehen Sie an das Feuer. Sie zittern vor Frost —— ich hoffe, daß Ihnen keine Krankheit in den Gliedern steckt?«

»Ich denke nicht,« sagte Obenreizer, Vielleicht bin ich erkältet, Ihr englisches Klima hätte einen Bewunderer aller englischen Sitten wohl verschonen können. Zeigen Sie mir die Quittung.«

Vendale öffnete den eisernen Verschlag. Obenreizer nahm einen Sessel und trug ihn dicht an das Feuer. Er hielt beide Hände über die Flammen. »Zeigen Sie mir die Quittung,« wiederholte er hastig, als Vendale mit dem Papier in der Hand zurückkehrte. In demselben Augenblick trat ein Diener mit neuer Kohlenzufuhr ein. Vendale bedeutete ihm, ein tüchtiges Feuer zu machen. Der Mann leistete dem Befehl mit unseligem Diensteifer Folge: Als er im Vorwärtseilen den Kohlenkorb erhob, verwickelte sich sein Fuß in einer Falte des Teppichs und die ganze Ladung Kohlen leerte sich in dem Kamin aus. Die Wirkung davon war, daß die Flamme sogleich erstickte, aber einen Strom von gelbem Qualm hervorbrachte, durch den kein freundlicher Funke hindurchblicken konnte.

»Dummkopf!« flüsterte Obenreizer in sich hinein, mit einem Blick auf den Mann, dessen sich derselbe noch lange Jahre nachher erinnerte.

»Wollen Sie in das Zimmer meiner Schreiber gehen?« fragte Vendale. »Da ist ein Ofen.«

»Nein, nein. Es macht nichts.«

Vendale reichte ihm die Quittung Obenreizer’s Interesse an dem Papier schien ebenso plötzlich und eben so gründlich erloschen zu sein, als das Feuer im Kamin. Er warf einen Blick auf das Document und sagte: »Nein. Ich weiß nicht. Ich bedaure Ihnen nicht von Nutzen sein zu können.«

»Ich will mit der Nachtpost nach Neuschatel schreiben,« sagte Vendale, die Quittung zum zweiten Male an ihren Platz legend. »Wir müssen abwarten und sehen, was darauf erfolgen wird.«

»Mit der Nachtpost,« wiederholte Obenreizer. »Warten Sie einmal. Sie können in acht bis neun Tagen Antwort erhalten. Ich werde noch früher; zurück sein. Wenn ich Ihnen als Handelsreisender nützlich sein kann, so lassen Sie es mich inzwischen wissen. Wollen Sie mir geschriebene Instructionen senden? Besten Dank. Ich bin sehr gespannt aus die Antwort aus Neuschatel. Wer weiß! Es kann Alles auf einem Mißverständniß beruhen, mein lieber Freund! Vor allen Dingen Muth! Muth! Muth!« Er hatte das Zimmer betreten, ohne sich den geringsten Anschein zu geben, als ob er eilig sei und jetzt ergriff er seinen Hut und verabschiedete sich wie ein Mann, der keinen Augenblick verlieren darf.

Sich allein überlassen, ging Vendale gedankenvoll im Zimmer auf und nieder.

Der Eindruck, den Obenreizer immer auf ihn machte, war durch das, was er in dieser letzten Unterredung von ihm gehört und gesehen hatte, erschüttert. Es schien ihm plötzlich, als ob er vorschnell und hart bei der Beurtheilung eines Nebenmenschen zu Werke gegangen sei. Obenreizers Ueberraschung und Bedauern beim Anhören der Nachrichten aus Neuschatel trugen deutliche Spuren, daß sie aufrichtig empfunden und nicht nur höflicherweise zur Schau getragen wurden. Von eigenen Angelegenheiten in Anspruch genommen und anscheinend Von bösen Vorzeichen einer ernsten Krankheit geplagt, hatte er doch ausgesehen und gesprochen wie ein Mann, dem das Unglück seines Freundes zu Herzen geht. Um Marguerite’s willen versuchte Vendale oft vergebens, seine Meinung über deren Vormund zu ändern, heute schob er großmüthig seine Ueberzeugung die ihm unumstößlich erschienen war, bei Seite. »Wer weiß,« dachte er, »ich mag mich doch in dem Gesicht des Mannes geirrt haben.«

Die Zeit verstrich. Die glücklichen Abende bei Marguerite kamen und gingen vorüber. Wieder war der zehnte Morgen angebrochen, seitdem Vendale an die Schweizer Firma geschrieben hatte und wieder lag die Antwort unter den andern an dem Tage angekommenen Briefen auf dem Pult.

»Geehrter Herr. Der ältere Theilhaber am Geschäft M. Defresnier ist wichtiger Angelegenheiten wegen nach Mailand abgereist. In seiner Abwesenheit und mit seiner Zustimmung und Ermächtigung schreibe ich an Sie in Bezug auf die fehlenden fünfhundert Pfund.

Ihre Mittheilung daß die gefälschte Quittung auf einem gedruckten und nummerierten Formular ausgestellt sei, hat mich und meinen Compagnon unaussprechlich überrascht und betrübt. Zu der Zeit, als Ihr Wechsel gestohlen wurde, waren nur drei Schlüssel zu dem Kasten vorhanden, in welchem die Quittungsformulare aufbewahrt werden. Mein Compagnon hat den einen Schlüssel und ich den andern im Besitz. Den dritten bewahrte ein Gentlemam der damals einen Vertrauensposten in unserm Hause bekleidete. Wir würden eben so gut einen von uns beiden für schuldig halten, als einen Verdacht auf die erwähnte Persönlichkeit werfen. Nichts desto weniger bleibt der Verdacht auf derselben haften. Ich vermag es nicht über mich, Ihnen den Namen des Mannes zu nennen, so lange noch ein Schimmer von Hoffnung vorhanden ist, daß er unschuldig aus der Untersuchung, welche angestellt werden muß, hervorgehen könne. Entschuldigen Sie mein Schweigen. Der Beweggrund dazu ist ein lautrer.

Der Weg, den wir bei unseren Nachforschungen einschlagen müssen, ist einfach genug. Die Handschrift auf Ihrer Quittung muß von kompetenten Personen, mit gewissen, in unserem Besitz befindlichen Schriftstücken verglichen werden. Dieselben Ihnen zuzusenden, vermag ich aus geschäftlichen Gründen nicht, welche, wenn Sie sie hören würden, gewiß Ihre volle Billigung hätten. Ich muß Sie ersuchen, mir die Quitttung nach Neuschatel zu schicken und diese Bitte mit einer dringenden Warnung begleiten.

Wenn die Persönlichkeit, auf welcher der Verdacht haftet, wirklich den Betrug und die Fälschung verübt hat, so habe ich Grund zu glauben, daß Umstände den Mann bereits aufmerksam« gemacht haben, auf seiner Hut zu sein. Der einzige Beweis gegen ihn ist der Beweis, den Sie in Händen haben, und er wird Himmel und Erde in Bewegung setzen, ihn zu erlangen und zu vernichten. Ich mache Sie ernstlich darauf aufmerksam, die Quittung nicht der Post zu übergeben. Schicken Sie sie mir unverzüglich mit einem sicheren Boten und wählen Sie zu diesem Amt Jemand, der lange in Ihrem Geschäft angestellt, an das Reisen gewöhnt und des Französischen vollkommen mächtig ist; einen muthigem ehrenfesten Mann, und vor allen Dingen einen Mann, in den man das Vertrauen setzen kann, daß er unterwegs keine fremde Bekanntschaft an sich heranlassen werde. Theilen Sie Niemandem —— absolut Niemandem —— außer Ihrem Boten, die Wendung mit. welche die Angelegenheit genommen hat. Von der wörtlichen Befolgung meines Rathes, den ich so frei bin Ihnen am Schluß des Schreibens zu geben, hängt möglicherweise die sichere Ablieferung der Quittung ab.

Ich habe nur noch hinzuzufügen, daß die größte Eile von Nöthen ist. Mehr als eines unserer Quittungsformulare fehlt —— und man kann nicht wissen, welche neuen Unterschleife gemacht werden können, wenn es nicht gelingt, des Diebes habhaft zu werden.

Ihr ergebener Diener
Rolland

Im Namen von Defresnier u. Co.«

Wer war der des Betruges Verdächtige? Für Vendale blieb es fruchtlos, darüber nachzudenken.

Wen sollte man mit der Quittung nach Neuschatel senden? Muthige ehrenfeste Männer. gab es wohl in Cripple Cornet, aber wer war an Reisen in das Ausland gewöhnt und der französischen Sprache mächtig, und wem konnte man unbedingt zutrauen, daß er auf dem Wege keine fremde Bekanntschaften an sich heranlassen werde. Nur einen gab es, der alle die erforderlichen Eigenschaften in sich vereinigte, und der eine war Vendale selbst.

Es kostete ihm ein Opfer, das Geschäft zu verlassen, und ein noch größeres, sich von Marguerite zu trennen; aber ein Gegenstand von fünfhundert Pfund hing an der schwebenden Frage, und Mr. Rolland bestand auf einer buchstäblichen Erfüllung seines Rathes in Ausdrücken, mit denen nicht zu spaßen war. Je mehr Vendale nachtdachte, je klarer blickte ihn die Nothwendigkeit an und gebot ihm: »Geh!«

Als er den Brief bei der Quittung verschloß, fiel ihm durch eine Ideenverbindung Obenreizer ein. Sollte der Name der verdächtigen Person nicht herauszubekommen sein? Obenreizer konnte sie kennen.

Kaum war ihm der Gedanke durch den Sinn gegangen, als sich die Thür öffnete und Obenreizer in das Zimmer trat.

»Ich habe gestern Abend in Soho-square erfahren, daß Sie zurück erwartet wurden. Haben Sie gute Geschäfte gemacht? Befinden Sie sich besser?«

Tausend Dank. Obenreizer hatte vortreffliche Geschäfte gemacht. Obenreizer befand sich unendlich viel besser. Und nun, was giebt es Neues? Ist ein Brief aus Neuschatel da?

»Ein sehr befremdlicher Brief,« antwortete Vendale. »Die Angelegenheit hat eine neue Wendung genommen, und der Schreiber macht es mir zur Bedingung, gegen Jeden —— ohne jegliche Ausnahme —— über unsere neuen Maßnahmen zu schweigen.«

»Obne jegliche Ausnahme?« wiederholte Obenreizer. Er wendete sich, als er das sagte, sinnend zum Fenster am andern Ende des Zimmers hin, sah hinaus und kehrte dann zu Vendale zurück. »Man hat es gewiß vergessen,« nahm er seine Rede wieder auf, »oder man würde mich ausgenommen haben.«

»Mr. Rolland hat den Brief verfaßt,« sagte Vendale, »und muß es, wie Sie sagen, vergessen haben. Die Ansicht Von der Sache ist mir entgangen. Als Sie in das Zimmer traten, war in mir der Wunsch lebhaft, mit Ihnen berathen zu können und nun bin ich an ein förmliches Verbot gebunden, was Sie gar nicht eingeschlossen haben kann. Wie lästig!« Obenreizers überschattete Augen hefteten sich scharf auf Vendale.

»Vielleicht ist es mehr als lästig,« sagte er. »Ich bin hierher gekommen nicht allein der Nachricht wegen, sondern um mich als Bote, als Unterhändler —— als was Sie wollen, anzubieten. Werden Sie es glauben? Ich habe Briefe erhalten, welche mich nöthigen, augenblicklich nach der Schweiz abzureisen; wichtige Papiere, Botschaften und dergleichen mehr. —— Ich könnte leicht Alles an Defresnier und Rolland mitnehmen.«

»Sie wären der richtige Mann dazu,« entgegnete Vendale. Ich war noch vor fünf Minuten wider Willen entschlossen, selbst nach Neuschatel zu gehen, weil ich Niemand wußte, der es an meiner Stelle hätte thun können. Ich muß noch einmal den Brief durchlesen.«

Er öffnete den festen Verschlag, um den Brief zu holen. Nachdem sich Obenreizer rundum gesehen hatte, um sich zu überzeugen, daß sie beide allein waren, folgte er Vendale ein oder zwei Schritte nach und maß ihn mit seinen Augen. Vendale war der größte und unzweifelhaft auch der stärkste Von ihnen beiden. Obenreizer wendete sich weg und wärmte sich an dem Feuer.

Unterdessen hatte Vendale den letzten Abschnitt des Briefes zum dritten Mal überlesen. Da stand die Warnung und da stand die Schlußbemerkung, welche auf eine buchstäbliche Befolgung derselben drang. Die Hand, von welcher Vendale durch die Finsternis geleitet wurde, legte ihm nur diese eine Bedingung auf. Es handelte sich um eine große Summe: ein schrecklicher Verdacht harrte der Bestätigung. Wenn er auf eigene Verantwortung etwas unternahm, wodurch die Sachen schief gingen, wen traf der Tadel?

Für einen Geschäftsmann wie Vendale gab es nur einen Weg. Er schloß den Brief wieder ein.

»Es ist überaus lästig,« sagte er zu Obenreizer. »Diese Vergeßlichkeit des Monsieur Rolland bringt mich in große Ungelegenheiten und in eine widerwärtige Stellung Ihnen gegenüber, Was soll ich thun? Ich bin genöthigt in einer wichtigen Angelegenheit Schritte zu thun und befinde mich dabei vollständig im Dunkeln. Mir bleibt keine Wahl, als mich führen zu lassen, nicht Von dem Geist, sondern von dem Buchstaben der Instruktion, die ich erhalten habe. Ich rechne darauf, mich von Ihnen verstanden zu sehen. Wenn mir nicht die Hände gebunden wären, so wissen Sie, wie erfreut ich Ihre Dienste angenommen haben würde.«

»Kein Wort weiter,« entgegnete Obenreizer. »Ich hätte an Ihrer Stelle dasselbe gethan. Mein lieber Freund, ich fühle mich nicht gekränkt. Ich danke Ihnen für Ihre Rücksicht. Wir werden in jedem Falle zusammen reisen,« setzte Obenreizer hinzu. »Sie fahren, wie ich, sogleich ab?«

»Sogleich." Nur muß ich noch mit Marguerite sprechen.«

»Gewiß, gewiß! Kommen Sie heute Abend. Holen Sie mich ab auf dem Weg nach dem Bahnhof. Wir reisen doch mit dem Schnellzug in der Nacht?«

»Mit dem Schnellzug in der Nacht.«

Später als es Vendale beabsichtigt hatte, fuhr derselbe dem uns bekannten Hause in Soho-square zu. Schwierigkeiten, die durch die schnelle Abreise zu Dutzenden aufgetaucht waren, hatten ihn aufgehalten. Eine Masse Zeit, die er gehofft hatte, Marguerite widmen zu können, war von seinen Pflichten im Büreau in Anspruch genommen worden, die er unmöglich vernachlässigen durfte.

Zu seiner Ueberraschung, und zu seinem größten Entzücken befand Marguerite sich bei seinem Eintreten allein im Drawingroom.

»Und bleiben nur wenige Minuten, George,« sagte sie. Madame Dor ist freundlich zu mir —— wir haben die wenigen Minuten für uns allein.« Sie schlang ihre Arme um seinen Nacken und flüsterte ihm erregt zu: »Hast Du Mr. Obenreizer durch irgend etwas beleidigt?«

»Ich!« rief Vendale erstaunt aus.

»Still!« sagte sie. »Ich will es Dir erzählen. Du erinnerst Dich der kleinen Photographie, welche ich von Dir besitze. Sie befand sich heute Nachmittag zufällig auf dem Kaminsims. Er nahm sie und besah sie —— ich konnte sein Gesicht im Spiegel beobachten. Ich weiß . es, Du hast ihn beleidigt! Er kennt kein Vergeben; er ist rachsüchtig und so verschwiegen wie das Grab. Gehe nicht mit ihm, George —— gehe nicht mit ihm!«

»Meine Einzige,« erwiderte Vendale. »Deine Phantasie spiegelt Dir Schreckbilder vor. Obenreizer und ich, wir waren nie bessere Freunde als in diesem Augenblick.«

Ehe noch ein Wort weiter gesprochen werden konnte, bebte der Boden im Nebenzimmer von den Tritten eines gewichtigen Körpers. Nach dem Beben erschien Madame Dor. »Obenreizer!« rief die vortreffliche Dame mit leiser Stimme und fiel schwerfällig auf den gewohnten Platz am Ofen nieder.

Obenreizer trat ein. Er hatte sich eine lederne Tasche über die Schulter geschnürt.

»Sind Sie fertig?« fragte er Vendale. »Kann ich Ihnen etwas abnehmen? Sie tragen keine Reisetasche. Ich habe eine um. Die Abtheilung für wichtige Papiere steht Ihnen zu Diensten.«

»Danke,« sagte Vendale. »Ich habe nur ein Papier von Wichtigkeit bei mir; und für dies Papier bin ich verpflichtet selbst zu sorgen. Hier ist es,« fügte er hinzu auf die Brustasche seines Rockes klopfend, »und hier soll es bleiben bis wir in Neuschatel sind.«

Als er das sagte, ergriff Marguerite seine Hand und drückte sie bedeutungsvoll. Sie blickte Obenreizer an. Ehe Vendale dem Blicke folgen konnte, hatte sich Obenreizer umgewendet, um von Madame Dor Abschied zu nehmen.

»Lebe wohl, meine liebe Nichte,« sagte er, seine Rede an Marguerite richtend. »En route, mein Freund, nach Neuschatel? Er klopfte Vendale leicht auf die Brusttasche des Rockes und führte ihn an die Thür.

Vendale’s letzter Blick fiel auf Marguerite. Marguerites letzte Worte waren: »Gehe nicht!«


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