Nicht aus noch ein



Zweiter Act

Vendale liebt.

Sommer und Herbst waren vergangen. Weihnachten und Neujahr rückten heran.

Mit redlichem Bestreben ihre Pflicht als Testamentsvollstrecker zu erfüllen, hielten Bintrey und Vendale mehr als eine eingehende Berathung über Wildings letzten Willen ab. Der Rechtsmann erklärte, daß es geradezu unmöglich sei, einen fördernden Schritt in dieser Angelegenheit zu thun. Die einzigen Nachforschungen, die anzustellen wären, seien von Wilding schon gemacht worden und zwar mit dem Ergebnis, daß Zeit und Tod in Gemeinschaft handelnd, jede Spur von dem Verlorenen ausgelöscht hätten. Wenn man die an den Besitz, Anspruch Habenden öffentlich ausrufen wolle, so müsse man auch dazu schreiten, Einzelheiten anzuführen —— ein Verfahren, welches die Hälfte aller in England lebenden Betrüger anspornen würde, sich für den wahren Walter Wilding, auszugeben. »Bietet sich uns eine Aussicht, die Spur des Verlorenen aufzufinden, so wollen wir sie ergreifen, bietet sie sich nicht, so wollen wir am ersten Jahrestage nach Wildings Tode zu einer neuen Berathung zusammenkommen.« Das war Bintrey’s Vorschlag und trotz dem ernstlichen Willen, des verstorbenen Freundes Wünschen nachzukommen, sah sich Vendale gezwungen, die Sache für jetzt ruhen zu lassen.

Seinen Blick aus der Vergangenheit in die Zukunft richtend, gewahrte Vendale, daß er einem zweifelvollen Unternehmen gegenüberstehn Monate und Monate waren seit jenem ersten Besuch in Soho-Square vergangen —— und in der ganzen Zeit war das einzige Mittel, Maguerite seine Liebe zu gestehen, die Sprache der Augen geblieben, unterstützt bei sich darbietenden Gelegenheiten von der Sprache der Hände.

Und welches Hinderniß stand ihm denn im Wege? Das einzige unüberwindliche Hinderniß welches sich von Anfang an hineingedrängt hatte. Wie schön sich auch die Gelegenheit anließ, sobald Vendale einen Versuch wagte, mit Margueriten zu sprechen, so endete einer wie der andere in derselben Weise. Obenreizer —— durch den glaubwürdigsten Zwischenfall und auf die unschuldigste Weise von der Welt dazu gekommen —— schnitt ihm jedes mal die Gelegenheit ab. Mit den letzten Tagen im alten Jahr eröffnete sich unerwartet die Aussicht, einen Abend in Marguerites Gesellschaft zuzubringen. Vendale war entschlossen, daß an diesem Abend ihm auch die Gelegenheit werden müsse, allein mit ihr zu sprechen. Eine freundschaftliche Zuschrift Obenreizers lade ihn am Neujahrstage zu einem kleinen Familiendiner in Soho-square ein.

»Wir werden nur vier sein,« hieß es in dem Brief. »Wir werden nur zwei sein,« hatte Vendale bei sich beschlossen, »und das noch ehe der Abend vergangen ist.«

In England verbindet sich mit dem Neujahrstag weiter nichts, als die Vorstellung von vielen Diners, die gegeben und angenommen werden müssen. Im Auslande bietet der Neujahrstag die Gelegenheit dar, Geschenke zu geben und zu empfangen. Unter Umständen macht man wohl einmal von der fremden Sitte Gebrauch. Bei den obwaltenden Verhältnissen nahm Vendale keinen Anstand, sie anzuwenden. Die große Schwierigkeit bestand nur darin, was er als Neujahrsgeschenk Magueriten darbringen solle? Der abweisende Stolz der Bauerntochter —— der über alle Begriffe leicht zu verletzen schien, wenn sie auf die Ungleichheit ihrer Stellung in der bürgerlichen Gesellschaft mit der seinigen kam —— mußte sich empören, wenn er es wagte, ihr eine reiche Gabe zu bieten. Ein Geschenk, welches auch ein Unbegüterter erhandeln könnte, würde das einzige sein, was möglicherweise ein Wort zu Gunsten des Gebers bei ihr sprechen möchte. Standhaft jeder Versuchung widerstehend, die sich in Gestalt von Diamanten und Rubinen in seinen Weg drängte, wählte Vendale eine Broche von Genuesischer Filigranarbeit —— den einfachsten und anspruchslosesten Schmuck, den er im Juwelierladen finden konnte

Er ließ das kleine Geschenk in Margueritens Hand gleiten, als sie ihm dieselbe am Tage, wo das Diner stattfand, zum Willkommen entgegenstreckte.´

»Sie verleben zum ersten Mal den Neujahrstag in England,« sagte er. »Wollen Sie mir erlauben, Sie an die Feier des Neujahrstages in Ihrer Heimath zu erinnern.«

Sie dankte ihm zurückhaltend, als sie das Schmuckkästchen gewahrte, weil sie ungewiß war, was es enthalten möchte? Als sie es geöffnet hatte und die ausgesucht einfache Gestalt, in der sich Vendales kleine Gabe darstellte, bemerkte, verstand sie des Gebers Absicht aus der Stelle. Ihr Antlitz wendete sich ihm zu und ihr Blick sprach deutlich: »Ich bekenne, Sie haben mich erfreut und mir wohlgethan.« Niemals war sie den Augen Vendales so bezaubernd erschienen, als in diesem Augenblick. Ihr Winteranzug, —— ein Rock non dunkler Seide und eine hohe schwarze Sammettaille, die den Hals weich in einen Ring von weißen Schwanen einschloß —— erhöhten durch den gewaltigen Contrast mit denselben, die Schönheit ihres Haares und das zarte Roth ihrer Wangen. Erst als sie sich von ihm wendete und vor den Spiegel hintretend die Brosche aus dem Kästchen nahm, um die Neujahrsgabe an ihren Platz zu stecken, ließ Vendale’s Aufmerksamkeit in soweit Von ihr ab, um die Gegenwart andrer Personen im Zimmer zu entdecken. Es kam ihm zum Bewußtsein, daß Obenreizers Hände ihm zärtlich die Ellenbogen drückten. Er vernahm Obenreizers Stimme, die ihm mit einem so geringen Anflug von Spott wie der —— Ton derselben erlaubte, für die Aufmerksamkeit, die er Marguerite beweise, dankte. ( »Theuerster Sir! Solch ein einfaches Geschenk! Es zeugt von so feinem Takt!«) Er entdeckte endlich, daß noch ein andrer Gast, aber nur noch einer außer ihm, anwesend sei. Obenreizer stellte ihm denselben als seinen Freund und Landsmann vor. Des Freundes Gesicht war wettergebräunt und des Freudes Gestalt plump. Seine Jahre näherten sich dem Herbst des Lebens. »Im Laufe des Abends entwickelte er zwei hervorstechende Eigenschaften. Die eine bestand in dem Talent schweigen zu können, die andre in dem Flaschen zu leeren.

Madame Dor war nicht anwesend, noch wurde, als man sich zu Tische setzte, ein Platz, für sie reserviert. Obenreizer erklärte, daß es die einfache Gewohnheit der guten Dor sei, in der Mittagsstunde zu speisen und daß sie ihre Abwesenheit später selbst entschuldigen werde. Vendale hegte den Argwohn, ob nicht die gute Dor bei dieser Gelegenheit ihr Amt, Obenreizers Handschuhe zu reinigen, mit dem Amt, Obenreizers Speisen zu kochen, vertauscht habe? Das wenigstens steht fest —— die auf getragenen Schüsseln waren, eine wie die andre, Meisterstücke der Kochkunst und erhoben sich weit über die grosse, auf den Anfangsstufen der Entwicklung stehende Englische Kochart. Das Diner war ausgezeichnet, ohne anspruchsvoll zu sein. Was den Wein anbetraf, so weilten die Blicke des schweigsamen Freundes mit unverholenem Entzücken darauf. Mitunter sagte er »Schön!« wenn eine volle Flasche hereinkam und mitunter sagte er »Ach!« wenn eine leere hinausgebracht wurde —— und das war Alles, was er zu dem Vergnügen des Abends beitrug. Schweigen ist ansteckend. Von geheimen Sorgen bedrückt, schien es fast, als ob Marguerite und Vendale den Einfluß, den der stille Freund ausübte, empfänden. Die ganze Verantwortlichkeit, das Gespräch in Gang zu halten, ruhte auf Obenreizers Schultern und Obenreizer entledigte sich tapfer dieser Pflicht. Das Herz ging ihm auf und indem er den aufgeklärten Ausländer spielte, pries er Englands Ruhm. Wenn andere Gegenstände des Gespräches versiegten, kehrte er zu dieser unerschöpflichen Quelle zurück und ließ den Strom des Lobes in ungeschwächter Kraft fluthen. Obenreizer hätte einen Arm, ein Auge oder ein Bein darum gegeben, ein geborener Engländer zu sein. Außerhalb Englands gab es nirgends eine Stätte, wie ein home, gab es nirgends ein Ding wie eine fireside, nirgends annähernd ein schönes Weib. Seine geliebte Miß Marguerite wolle entschuldigen, aber bei ihren Reizen könne er sich nicht anders denken, als daß sich Englisches Blut in früherer Zeit mit dem ihrer niedrigen und unbekannten Vorfahren gemischt habe. Man werfe einen Blick auf die Englische Nation, welch ein kräftiges, reinliches, aufgeblasenes und gediegenes Volk das ist! Man werfe einen Blick auf Englands Städte! Welche Pracht in ihren öffentlichen Gebäuden! welche bewunderungswürdige Ordnung und Sauberkeit auf ihren Straßen! Man staune ihre Gesetze an, die die ewigen Grundregeln der Gerechtigkeit mit andern ewigen Grundregeln von Pfunden, Schillingen und Pfennigen verbinden; die jeder Injurie ihr Sühnengeld auferlegen, von der Ehrenkränkung an, bis zur Kränkung einer Nase! Sie haben meine Tochter auf dem Gewissen —— Pfunde, Schillinge, Pfennige! Sie herben mich durch einen Schlag ins Gesicht niedergestreckt —— Pfunde, Schillinge, Pfennige! Nie kann der materielle Wohlstand eines solchen Landes untergehen! Obenreizer, der einen Blick in die Zukunft warf, sah das Ende desselben nicht ab. Obenreizer bat um die Erlaubniß, seiner Begeisternng nach Englischer Art: in einem Toast Genüge zu thun. Unser bescheidenes kleines Mahl wäre eingenommen, unser frugales Dessert aufgetragen und ein Bewundrer Englands hält der Englischen Sitte gemäß eine Ansprache! Einen Toast den weißen Klippen Albions, Mr. Vendale! den Tugenden seines Volkes, seinem köstlichen Clima und seinen bezaubernden Frauen! seinen firesides und homes, seiner habeas corpus acta und allen seinen Institutionen! Mit einem Wort —— England hoch! hoch! hoch! Hurrah!«

Obenreizer hatte kaum die letzte Silbe des englischen Lebehochs gerufen, der schweigsame Freund kaum den letzten Tropfen im Glase ausgetrunken, als die Festlichkeit durch ein schüchternes Pochen an der Thür unterbrochen wurde. Ein Dienstmädchen kam herein und näherte sich ihrem Herrn, ihm einen Brief überreichend. Obenreizer öffnete den Brief und runzelte die Augenbrauen. Als er ihn mit sichtlichem Unbehagen durchlesen hatte, reichte er ihn seinem Landsmann und Freund. Vendale’s Geister hoben sich, wie er den Vorgang beobachtete. Fand er vielleicht in dem unliebsamen kleinen Papier einen Verbündeten? Sollte die langersehnte Gelegenheit endlich eintreffen?

»Ich bedaure aufrichtig, aber ich kann mir nicht anders helfen!« sagte Obenreizer, sich an seinen Landsmann wendend. »Ich bedaure, aber wir müssen fort.«

Der schweigsame Freund gab den Brief zurück und goß sich ein letztes Glas Wein ein. Seine dicken Finger umschlossen zärtlich den Hals der Flasche. Sie drückten ihn zum Abschied wie Liebhaber, die von dem Gegenstand ihrer Neigung scheiden. Seine hervorstehenden großen Augen blickten trübe, wie durch einen dazwischen lagernden Nebel auf Vendale und Margueriten hin. Seine schwere Zunge mühte sich und brachte endlich einen ganzen Satz zur Welt. »Ich glaube,« sagte er, »ich hätte noch mehr Wein trinken können.« Der Athem ging ihm bei dieser Anstrengung aus. Er schnappte nach Luft und schritt der Thür zu.

Obenreizer wendete sieh mit dem Ausdruck des tiefsten Bedauerns Vendale zu.

»Ich bin erschrocken, verwirrt, betrübt,« fing er an. »Einem meiner Landsleute ist ein Unglück zugestoßen. Er ist allein, kennt Ihre Sprache nicht —— und mir und meinem Freunde hier bleibt keine andere Wahl, als ihm zu Hilfe zu eilen. Was soll ich zu meiner Entschuldigung anführen? Wie kann ich mein Bedauern genügend beschreiben, mich der Ehre Ihrer Gesellschaft entziehen zu müssen?«

Er hielt ein, augenscheinlich, weil er erwartete, Vendale den Hut nehmen und sich verabschieden zu sehen. Vendale aber, der die Gelegenheit für sehr günstig hielt, beschloß nichts dergleichen zu thun. Er schlug Obenreizer geschickt mit dessen eignen Waffen.

»Bitte, beunruhigen Sie sich nicht. Ich warte mit dem größten Vergnügen auf Ihre Wiederkehr.«

Marguerite erröthete, wendete sich hinweg und ging zu ihrem Stickrahmem der in der Fensterecke stand. Der Schatten senkte sich über Obenreizers Augen und ein saures Lächeln umzog seine Lippen. Vendale anzukündigen, daß keine Aussicht auf baldige Wiederkehr wäre, hieß so viel, als einen Mann beleidigen, dessen gute Meinung für ihn in geschäftlicher Beziehung von großer Wichtigkeit war. Das ihm widerwärtige Anerbieten mit möglichster Freude annehmend erklärte er durch Vendale’s Vorschlag eben so geehrt als erfreut zu sein. »So freimüthig! so freundschaftlicht so englisch!« Er suchte geräuschvoll in dem Gemach umher, als vermisse er etwas, verschwand für einen Augenblick hinter der Thür, die in das Nebenzimmer führte, kam mit Hut und Mantel zurück und indem er versprach, so bald wie möglich wiederzukommen, umfaßte er Vendale’s Ellenbogen und war in Begleitung seines schweigsamen Freundes von der Scene verschwunden.

Vendale wollte nach der Fensternische hin, in der Marguerite bei der Arbeit saß. Da, als ob sie vom Himmel gefallen oder aus der Erde aufgetaucht sei —— da in ihrer gewöhnlichen Stellung mit dem Gesicht gegen den Ofen —— saß ein unvorhergesehenes Hinderniß, saß die Person der Madame Dor. Die starke Dame erhob sich ein wenig, sah über ihre breite Schulter Vendale an, um schwer wieder auf ihren Sitz zurück zu sinken. Arbeitete sie wieder? Ja. Reinigte sie Obenreizers Handschuhe? Nein; sie stopfte Obenreizers Strümpfe.

Die Sache stand verzweifelt. Zwei ernste Erwägungen drängten sich Vendale auf. War es möglich, Madame Dor in den Ofen zu stecken? Nein! Sie ging nicht hinein. War es möglich, zu thun, als ob Madame Dor kein lebendes Wesen sei, sondern ein Zimmerschmuck? Konnte er seine Seele dahin bringen, die achtungswerthe alte Dame für eine Commode anzusehen, auf der zufällig ein schwarzer Florkopfputz liegen geblieben war? Ja, dahin konnte er seine Seele bringen. Mit einer verhältnismäßig geringen Anstrengung vollbrachte es dieselbe. Als er auf dem altmodischen Fenstersitz dicht neben Margueriten und ihrer Stickerei Platz nahm, schien die Commode in Bewegung zu gerathen, aber eine Bemerkung entschlüpfte ihr nicht. Es möge hier eingeschaltet sein, daß ein solides Möbel schwer von der Stelle zu rücken ist und in Folge dessen den Vortheil hat —— nicht leicht umzustürzen.«

Ungewöhnlich still und ungewöhnlich gehalten —— die glänzenden Farben waren aus ihrem Antlitz gewichen und eine fieberhafte Hast hatte sich ihrer Finger bemächtigt —— verharrte die hübsche Marguerite über ihrem Rahmen gebeugt und arbeitete, als ob ihr Leben von ihrem Eifer abhinge. Vendale, kaum weniger aufgeregt als sie empfand, wie wichtig es sei, sie zart auf das Geständniß vorzubereiten, welches er sich zu machen sehnte, und wie wichtig es sei, sie zu dem andern süßeren Geständniß zu bringen, welches ihn vor Allem zu hören verlangte. Die Liebe einer Frau ist nicht mit Sturm zu erobern, sie er giebt sich nur nach und nach und unmerklich der ausdauernden Bewerbung. Sie ist nur auf Umwegen zu gewinnen und erhört nur sanfte Stimmen. Vendale führte Marguerite zurück auf ihre Begegnungen in der Schweiz. Sie frischten miteinander die Eindrücke auf, sie riefen sich alle Vorkommnisse in jenen glücklichen Tagen in’s Gedächtniß. Nach und nach verschwand Margueriten’s Zurückhaltung. Sie lächelte, sie wurde lebhaft, sie sah Vendale an, die Nähnadel feierte oder machte falsche Stiche in die Arbeit. Ihre Stimmen wurden leiser und leiser, ihre Köpfe neigten sich einander näher und näher im Sprechen. Und Madame Dor? Madame Dor war ein Engel. Sie sah sich nicht um, sie sagte kein Wort; sie war ganz bei Obenreizers Strümpfen. Jeden Strumpf straff über den linken Arm ziehend und den Arm von Zeit zu Zeit in die Höhe haltend, um mehr Licht bei ihrer Arbeit zu gewinnen, traten Augenblicke ein, köstliche unbeschreibliche Augenblicke, in denen es schien, als ob Madame Dor kopfüber fallen wolle, um eines ihrer eigenen respectablen Beine zu betrachten und Vielleicht wie den Arm mit dem Strumpf in die Luft zu heben. Nach einiger Zeit folgten die Handbewegungen in längeren Zwischenräumen. Wieder und wieder nickte der schwarze Florkopfputz, fiel vornüber und langte sich schleunig selbst wieder auf. Ein Häuflein Strümpfe glitt sanft von Madame Dors Schooß hinab und blieb unbeachtet am Boden liegen. Ein mächtiges Wollknäuel folgte den Strümpfen und kugelte träge unter den Tisch. Der schwarze Florkopfputz nickte, fiel vornüber und langte sich schleunig wieder auf, nickte nochmals, fiel vornüber und kam nicht wieder an seine Stelle. Ein seltsamer Ton, halb wie das Spinnen einer ungeheuren Katze, halb wie Hobeln auf ein mürbes Brett, ließ sich Vernehmen und übertönte die flüsternden Stimmen der Liebenden, in regelmäßigen Zwischenräumen das Zimmer durchsummend. Die Natur und Madame Dor hatten für Vendales Glück entschieden. Die beste der Frauen war eingeschlafen.

Marguerite sprang auf, um dem —— Schnarchen wollen wir nicht sagen —— dem sich hörbarmachenden Schlummer der Mrs. Dor Einhalt zu thun. Vendale legte seine Hand anf ihren Arm und zog sie sanft in den Sessel zurück.

»Sören Sie sie nicht » flüsterte er. »Ich habe darauf gewartet, um Ihnen ein Geheimniß zu vertrauen. Darf ich es sagen?«

Marguerite sank auf ihren Sitz zurück. Sie versuchte die Nadel zu fassen. Sie vermochte es nicht. Ihre Augen versagten; ihre Hand versagte. Sie konnte nichts finden.

»Wir sprachen von der schönen Zeit,« sagte Vendale, »als wir uns zum ersten Mal sahen und zum ersten Mal zusammen reisten. Ich habe ein Geständniß abzulegen. Ich habe Ihnen etwas verheimlicht. Als ich von meinem ersten Besuch in der Schweiz erzählte, habe ich Ihnen alle Eindrücke, die ich mit nach England heimgenommen, geschildert —— ausgenommen einen. Errathen Sie, welcher das ist?«

Ihre Augen hafteten unverrückt auf der Stickerei und ihr Antlitz wendete sich ein wenig von ihm weg. Zeichen von Unruhe wurden in dem hübschen Sammetmieder sichtbar an der Stelle, wo die Broche sich befand. Sie antwortete nicht. Vendale wiederholte seine Frage ohne Erbarmen.

»Errathen Sie, welchen Eindruck ich Ihnen bis heute verheimlicht habe?«

Ihr Antlitz, wendete sich zu ihm zurück und ein schwaches Lächeln zitterte auf ihren Lippen.

»Den Eindruck von den Bergen vielleicht?« sagte sie schelmisch.

»Nein. Einen köstlicheren Eindruck als den.«

»Von den Seen?«

»Die Seen sind mir nicht von Tage zu Tage, wenn ich an sie zurückdachte, theurer geworden. Die Seen sind nicht mit meinem Glück in der Gegenwart und meinen Hoffnungen in der Zukunft verknüpft. Marguerite alles was dem Leben Werth verleiht, hängt an einem Wort aus Ihrem Munde. Marguerite, ich liebe Sie.«

Sie neigte den Kopf herab, als er ihre Hand ergriff. Er sog sie an sich und blickte zu ihr nieder. Thränen drangen aus ihren geschlossenen Augenlidern und rollten langsam die Wangen hinab.

»Ach, Mr. Vendale,« sagte sie traurig, es wäre freundlicher gewesen, wenn Sie Ihr Geheimniß niemals aus gesprochen hätten. Haben Sie den Unterschied vergessen, der uns trennt? Es kann nie, nie geschehen.«

»Es kann uns nur eins von einander trennen, Marguerite —— Ihr Wort. Meine Geliebte, mein Kleinod, es giebt keinen höheren Grad der Herzensgüte, keinen höheren Grad der Schönheit, als Du besitzest. Komm! flüstre mir das eine kleine Wörtchen zu, welches mir versichert, daß Du mein Weib werden willst.«

Sie seufzte schwer. »Denken Sie an Ihre Familie und an die meine,« flüsterte sie.«

Vendale zog sie ein Weniges näher zu sich heran. »Wenn Sie dergleichen Kleinigkeiten nur erwähnen, so muß ich glauben, Sie beleidigt zu haben.«

Sie sah zu ihm empor. »Nein! nein!« rief sie unschuldvoll. In demselben Augenblick, in dem die Worte über ihre Lippen gingen, wurde es ihr klar, welche Auslegung ihnen gegeben werden konnte. Das Bekenntniß war ihr ohne ihr Wollen entschlüpft. Ein liebliches Erröthen überzog ihr Antlitz. Sie machte einen vergeblichen Versuch sich von den Armen des Geliebten los zu machen.

Sie sah ihn flehend an. Sie versuchte zu sprechen. Die Worte starben in dem Kuß, den Vendale auf ihre Lippen drückte. »Lassen Sie mich, Mr. Vendale,« sagte sie schwach.

»Nenne mich George.«

Sie lehnte ihren Kopf an seine Brust. Das Herz strömte ihr über. »George,« flüsterte sie.

»Sage, daß Du mich liebst.«

Ihre Arme umfaßten sanft seinen Nacken. Ihre Lippen berührten schüchtern seine Wange und sie flüsterte die beseligenden Worte —— »Ich liebe Dich!«

Durch das tiefe Schweigen, welches folgte, vernahm man deutlich das Oeffnen und Schließen der Hausthür und um so deutlicher, als auf der Straße Todtenstille herrschte.

Marguerite sprang auf.

»Laß mich fort,« sagte sie. »Er kommt!«

Sie eilte aus dem Zimmer, im Vorübergehen Madame Dor auf die Schulter klopfend. Madame Dor erwachte mit einem lauten Seufzer, sah erst über die eine, dann über die andre Schulter, blickte in ihren Schooß und gewahrte weder Strümpfe, noch Wolle noch Stopfnadel darin. In diesem Augenblicke vernahm man Fußtritte, welche die Treppe heraufkamen. »Mon Dieu!« sagte Madame Dor und wendete sich heftig zitternd dem Ofen zu. Vendale suchte in höchster Eile Strümpfe und Knäul vom Boden auf und schleuderte den ganzen Haufen über die Schulter der Dame. »Mon Dieu!« sagte Madame Dor zum zweiten Mal, als die Wolllawine in ihren geräumigen Schooß niederwetterte. Die Thür öffnete sich,« Obenreizer trat ein. Sein erster Blick in das Zimmer sagte ihm, daß Marguerite fehle! »Was!« rief er aus. Meine Nichte nicht da? Meine Nichte nicht da, um Sie während meiner Abwesenheit zu unterhalten. Das ist unverzeihlich. Ich werde sie sogleich holen.«

Vendale hielt ihn zurück.

»Ich bitte Miß Obenreizer nicht zu stören,« sagte er. »Sie sind ohne Ihren Freund wiedergekommen, wie ich sehe.«

»Mein Freund ist bei unserm unglücklichen Landsmann zurückgeblieben, um ihn zu trösten. Eine herzbrechende Scene, Mr. Vendale! Die Wirthschaft wandert zum Pfandleiher —— die Fantilie schwimmt in Tränen. Wir verstummten Alle. Mein bewunderungswürdiger Freund war der einzige, der Fassung behielt. Er ließ auf der Stelle eine Flasche Wein holen.«

»Könnte ich wohl ein Wort allein mit Ihnen reden, Mr. Obenreizer?«

»Gewiß.« Er wandte sich an Madame Dor. »Meine Beste, Sie bedürfen der Ruhe. Mr. Vendale ist so gütig, Sie zu entschuldigen.«

Madame Dor erhob sich und machte sich seitwärts auf die große Reise vom Ofen in ihr Bett hinein. Sie verlor einen Strumpf. Vendale nahm ihn auf und öffnete ihr die Thür. Sie ging zwei Schritte weiter und verlor drei andere Strümpfe. Vendale, im Begriff dieselben, wie den ersten, aufzulangen, wurde von Obenreizer, der Madame Dor einen warnenden Blick zuwarf, mit einer Fluth von Entschuldigungen daran verhindert. Madame Dor, den Blick gewahrend, ließ den ganzen Haufen Strümpfe fallen und versuchte, von panischem Schrecken erfaßt, so schnell sie in ihrer Schwerfälligkeit vorwärts konnte, die Unglücksscene zu verlassen. Obenreizer ergriff wüthend die ganze Sammlung mit den Händen. »Gehen Sie,« rief er und schwang, sich zum Wurf vorbereitend, die ganze Ladung in die Luft. Madame Dor sagte: »Mon Dieu!« und verschwand im Nebenzimmer, in das ihr ein Hagelschauer von Strümpfen nachfolgte.

»Was müssen Sie, Mr. Vendale, von dem widerlichen Sichaufdrängen solcher häuslichen Beschäftigungen denken?« sagte Obenreizer, indem er die Thür schloß. »Ich für mein Theil schäme mich derselben. Wir fangen das neue Jahr so schlecht wie möglich an. Heut Abend geht Alles schief. Bitte, setzen Sie Sich —— und sagen Sie mir, ob ich Ihnen etwas anbieten darf? Wollen wir wieder einer Ihrer vortrefflichen englischen Sitten Ehre bezeigen? Ich studiere darauf, wie Sie es nennen, »jolly« zu sein. Wie wäre es mit einem Grog?«

Vendale schlug mit aller nöthigen Achtung vor der vortrefflichen englischen Sitte den Grog aus.

»Ich möchte mit Ihnen über eine Angelegenheit sprechen, die mich tief berührt,« sagte er. »Es kann Ihnen nicht entgangen sein, Mr. Obenreizer, daß ich vom ersten Augenblick an eine mehr als gewöhnliche Bewunderung für Ihre reizende Nichte empfunden habe?«

»Sie sind überaus gütig. Ich danke Ihnen im Namen meiner Nichte dafür.«

»Vielleicht ist es Ihnen auch nicht entgangen, daß später meine Bewunderung für Miß Obenreizer zu einem innigeren und tieferen Gefühl angewachsen ist?«

»Wir wollen es Freundschaft nennen, Mr. Vendale.«

»Rennen Sie es Liebe und Sie werden der Wahrheit näher kommen.«

Obenreizer sprang von seinem Stuhl auf. Der schwache kaum sichtbare Streifen, der andeutete, daß er gern die Farbe wechseln möchte, wurde plötzlich auf seinen Wangen bemerklich.«

»Sie sind Miß Obenreizers Vormund.« fuhr Vendale fort. »Ich fordere von Ihnen die höchste Gunst, die mir werden kann —— ich fordere von Ihnen die Hand Ihrer Nichte.«

Obenreizer sank in den Stuhl zurück. »Mr. Vendale,« sagte er, »Sie sehen mich zu Stein erstarrt.«

»Ich werde warten,« erwiderte Vendale, »bis Sie Sich gesammelt haben.«

»Nur ein Wort noch, ehe ich mich zu sammeln versuche. Sie haben meiner Nichte nichts davon gefragt?«

»Ich habe Ihrer Nichte mein ganzes Herz ausgeschüttet, und habe Grund zu hoffen ——«

»Was!« unterbrach ihn Obenreizer. »Sie haben meiner Nichte einen Antrag gemacht, ohne mich zu fragen, ob ich meine Erlaubniß dazu gebe?« Er schlug mit der Hand anf den Tisch und verlor zum ersten mal, seitdem Vendale ihn kannte, völlig die Fassung. »Sir!« rief er empört, »was ist das für eine Art sich zu betragen? Ich frage als ein Ehrenmann einen andern Ehrenmann: Wie können Sie das rechtfertigen?«

»Es rechtfertigt sich dadurch,« sagte Vendale ruhig, »daß ich nach englischer Sitte gehandelt habe. Sie bewundern ja alle unsere englischen Gewohnheiten. Ich kann nicht einmal mit Aufrichtigkeit vorgeben das zu bedauern, was ich gethan habe, Mr. Obenreizer. Ich kann nur versichern, daß ich nicht beabsichtigt habe, in dieser Angelegenheit einen Mangel an Achtung gegen Sie herauszukehren. Nachdem ich das gesagt habe, darf ich Sie wohl ersuchen, mir offen mitzutheilen, welcher Grund Sie bewegt, meine Werbung nicht zu begünstigen?«

»Der unumstößliche Grund,« erwiderte Obenreizer, »daß meine Nichte in der Gesellschaft mit Ihnen nicht auf gleicher Stufe steht. Meine Nichte ist die Tochter —— eines armen Bauern, und Sie sind der Sohn eines Gentleman. Sie erzeigen uns eine Ehre,« setzte er hinzu, sich nach und nach wieder zu seinem gewöhnlichen höflichen Ton hinaufstimmend, »welche unsrerseits die dankbarste Anerkennung verdient, aber die Ungleichheit ist zu auffallend, das Opfer ist zu groß. Ihr Engländer seid eine stolze Nation, Mr. Vendale Ich habe lange genug in diesem Lande gelebt, um zu wissen, daß eine solche Heirath, wie Sie sie beabsichtigen, ein allgemeines Aergerniß abgäbe. Keine Hand würde sich Ihrem Weibe, der Bäuerin, entgegenstrecken und Ihre besten Freunde würden Sie verlassen.«

»Einen Augenblick!« rief Vendale, den Redenden unterbrechend. »Ohne große Anmaßung werde ich wohl das Recht in Anspruch nehmen können, meine Landsleute im Allgemeinen und meine Freunde im Besonderen besser zu kennen, als Sie. In der Achtung Derjenigen, an deren Meinung überhaupt etwas gelegen ist, wird meine Gattin selbst die genügendste Rechtfertigung meiner Wahl abgeben. Wenn ich nicht ganz sicher wäre —— ich bitte zu bemerken, daß ich »ganz sicher« sage —— ihr eine Stellung bieten zu können, die sie anzunehmen vermag, ohne der leisesten Spur von Demüthigung ausgesetzt zu sein, so würde ich sie nie, möchte es mir kosten, was es wollte, gebeten haben, mein Weib zu werden. Sehen Sie noch irgend sonst ein Hinderniß? Haben Sie eine Einwendung gegen meine Person zu machen?«

Obenreizer wehrte mit beiden aufgespreizten Händen die Beschuldigung höflichst von sich ab. »Eine Einwendung gegen Ihre Person!« rief er aus. »Theurer Sir, schon die bloße Frage ist mir schmerzlich.«

»Wir beide sind Geschäftsmänner,« fuhr Vendale fort. »Sie erwarten natürlich von mir eine Darlegung meiner Verhältnisse, die Ihnen beweist, daß ich eine Frau sicher zu stellen vermag. Ich kann meine pekuniäre Lage in zwei Worten schildern. Ich erbte von meinen Eltern ein Vermögen von zwanzig Tausend Pfund. Von der Hälfte dieser Summe beziehe ich eine Rente, welche, wenn ich sterbe, auf meine Wittwe übergeht. Sollte ich Kinder hinterlassen, so würde das Capital unter sie vertheilt werden, nachdem sie großjährig geworden sind. Die andre Hälfte meines Vermögens steht zu meiner eigenen Verfügung und steckt augenblicklich in dem Weingeschäft. Ich sehe genau, auf welche Art sich das Geschäft bedeutend heben muß. Wie die Sachen jetzt liegen, bin ich außer Stande, im Augenblick die Rückzahlung des Capitals zu verlangen, das mir mehr als zwölf Hundert Pfund jährlich einträgt. Zählen Sie den Zins meiner Rente dazu, so erreicht die Totalsumme meiner jährlichen Einkünfte in diesem Augenblick fünfzehn Hundert Pfund. Ich habe die beste Aussicht, dieselben bald zu vermehren. Haben Sie gegen meine pekuniären Verhältnisse eine Einwendung zu machen?«

Obenreizer stand auf. Er war in die letzte Verschanzung zurückgetrieben und ging rathlos im Zimmer auf und nieder. Er wußte in der That nicht, was er zunächst thun oder sagen sollte.

»Weror ich die letzte Frage beantworte,« sagte er nach einer kurzen Berathung mit sich selbst, »Bitte ich, mich einen Augenblick entschuldigen zu wollen. Ich muß mit Miß Marguerite Rücksprache nehmen. Sie ließen eine Aeußerung fallen, die andeutete, daß Sie die Gesinnungen, mit denen Sie so freundlich sind, meine Nichte zu betrachten, erwidert glauben?«

»Ich bin so unauesprechlich glücklich,« sagte Vendale, zu wissen, daß sie mich liebt.«

Obenreizer schwieg einen Augenblick; der Schatten senkte sich über seine Augen, und der kaum bemerkbare Streifen wurde aus seinen Wangen sichtbar.

»Wenn Sie mich eine kurze Zeit entschuldigen wollen,« sagte er mit ceremoniöser Höflichkeit, »ich möchte gern ein paar Worte mit meiner Nichte sprechen.« Er verbeugte sich und Verließ das Zimmer.

Als Vendale sich allein befand, kehrten seine Gedanken (eine nothwenidige Folge der gehabten Unterredung) zu den Gründen zurück, die Obenreizer ihm entgegen gehalten hatte, und er begann dieselben in Erwägung zu ziehen. Obenreizer hatte seiner Werbung Hindernisse in den Weg gelegt, jetzt fing er an seiner Heirath entgegen zu arbeiten —— einer Heirath, die selbst die eigene Bescheidenheit als eine vorteilhafte anerkennen mußte. In Anbetracht dessen erschien Obenreizers Handlungsweise unbegreiflich. Was hatte sie zu bedeuten?

Vendale suchte eine Antwort auf diese Frage. Es fiel ihm ein, daß Obenreizer mit ihm in einem Alter sei und Marguerite, genau genommen, nur dessen Stiefnichte. Die Eifersucht des Liebenden erwachte in ihm, und er fragte sich selbst, ob er in Obenreizer mehr einen Nebenbuhler zu fürchten, als einen Vormund zufrieden zu stellen habe? Doch fuhr ihm der Gedanke nur durch den Sinn, um gleich wieder zu verschwinden. Marguerites Kuß, den er noch auf seiner Wange fühlte, erinnerte ihn freundlich, daß Eifersucht, wenn auch nur für einen Augenblick empfunden, ein Verrath an ihr sei.

Bei näherem Nachdenken schien es ihm, als ob ein Beweggrund anderer Art die Erklärung zu Obenreizers Benehmen liefern könne. Marguerite’s Anmnth und Schönheit waren köstliche Zierden des kleinen Haushalts. Sie verliehen ihm einen besonderen Reiz und sicherten Obenreizer einen besonderen Einfluß in geselliger Beziehung. Sie rüsteten ihn mit einem Mittel aus, sein Haus anziehend zu machen, ein Mittel, welches mehr oder weniger dazu beitragen konnte, seine Privatzwecke zu fördern. War er der Mann, auf solche Vortheile zu verzichten, ohne daß ihm die möglichste Entschädigung dafür würde? Vendale’s Heirath mit seiner Nichte bot ihm ohne alle Zweifel beträchtliche Vortheile, aber es gab Hunderte in London, die mehr Ansehen und größeren Einfluß als Vendale besaßen. War es nicht denkbar, daß der Ehrgeiz dieses Mannes ganz im Geheimen höher hinaus wollte, als zu Vortheilen, wie sie ihm die Verbindung bot? Als Vendale sich eben die Frage im Geist aufwarf, erschien der Mann in Rede selbst, um sie zu beantworten oder nicht zu beantworten, wie die Folge lehren wird.

Eine große Veränderung machte sich bei Obenreizer bemerkbar, als er seinen früheren Platz wieder einnahm. Seine Haltung war weniger sicher und um seinen Mund zeigten sich Spuren einer Erregung, deren er noch nicht ganz Herr zu fein schien. War ihm von sich selbst oder von Vendale etwas über die Lippen geschlüpft, was Marguerite’s Zorn gereizt und ihr eine bestimmte Erklärung entlockt hatte? Es konnte sein oder auch nicht. Das Eine war sicher —— er sah aus wie Jemand, der eine Zurückweisung erfahren hat.

»Ich habe mit meiner Nichte gesprochen« begann er, »und mich überzeugt, daß selbst Ihr Einfluß, Mr. Vendale, dieselbe nicht blind gemacht hat gegen Hindernisse, die sich in Bezug auf die gesellschaftliche Stellung gegen Ihren Antrag aufthürmen.«

»Darf ich fragen« erwiderte Vendale, »ob das das ganze Ergebniß Ihrer Unterredung mit Miß Obenreizer ist?«

Durch den Schatten, der Obenreizers Geücht bedeckte, flammte es wie ein Blitz.

»Sie sind Herr der Situation,« antwortete er mit höhnisch unterwürfigem Ton. »Wenn Sie auf einer Erklärung bestehen, so gebe ich sie Ihnen in folgenden Worten. Meiner Nichte Wille und der meinige sind bis jetzt eins gewesen, Mr. Vendale. Sie haben sich zwischen uns gestellt und fortan fällt der Wille meiner Nichte mit dem Ihrigen zusammen. Bei mir zu Lande geben wir es zu, wenn wir aus dem Felde geschlagen sind und finden uns mit Anstand darin. Ich werde mich auch mit Anstand darin finden unter einer Bedingung. Lassen Sie uns auf Ihre pecuniären Verhältnisse zurückkommen. Ich habe einen Einwand gegen Sie zu erheben, mein theurer Sir —— einen sehr überraschenden kühnen Einwand für Jemand in meiner Lebenslage einem in der Ihrigen gegenüber.«

»Welchen?«

»Sie haben mich mit einer Werbung um die Hand meiner Nichte beehrt. Trotz allem Dank und aller Erkenntlichkeit, muß ich bitten, dieselbe für jetzt zurück zu nehmend.

»Warum?«

»Weil Sie nicht reich genug sind.«

Dieser Einwand, wie der Redner vorausgesehen hatte, überraschte Vendale aufs Höchste. Für einen Augen blick war er sprachlos.

»Ihr Einkommen beläuft sich auf fünfzehn hundert Pfund jährlich,« fuhr Obenreizer fort. »In meinem armen Vaterlande würde ich vor einem solchen Einkommen auf die Knie fallen und rufen: Welch ein fürstliches Vermögen! Im reichen England bleibe ich ruhig sitzen und denke: Eine bescheidene Selbstständigkeit, theurer Sir; nichts mehr; vielleicht ausreichend für ein Weib aus Ihrer Lebenssphäre, die keine gesellschaftlichen Vorurtheile zu bekämpfen hat, aber nicht halb genug für eine niedrig geborene Ausländerin, gegen welche sich alle gesellschaftlichen Vorurtheile auflehnen. Sir! wenn meine Nichte Sie jemals heirathet, so wird sie beim Beginn ihrer Ehe eine mühselige Arbeit vor sich haben, um ihre Stellung zu behaupten. Ja, ja. Sie sehen es nicht so an, aber es bleibt —— bleibt unwiderruflich meine Ansicht von der Sache. Zum Besten meiner Nichte verlange ich, daß ihr die mühselige Arbeit so viel wie möglich erleichtert werde. Die Gerechtigkeit gebietet, ihr alle äußeren Vortheile, die ihr dabei Von Nutzen sein können, zu gewähren. Sagen Sie mir doch, Mr. Vendale, kann Ihre Frau von den erwähnten fünfzehn hundert Pfunden jährlich ein Haus in einem vornehmen,Stadtviertel, einen Lakaien, der ihr die Zimmerhür öffnet, einen Kammerdiener, der sie bei Tische bedient, und Wagen und Pferde haben, die sie fahren? ich lefe die Antwort auf Ihrem Gesicht —— Ihr Gesicht sagt: Nein. Gut. Beantworten Sie mir noch eine Frage und ich bin zu Ende. Gehen wir die Gesamtheit Ihrer wohlerzogenen gebildeten und liebenswürdigen Landsmänninnen durch, ist es oder ist es nicht Thatsache, daß eine Lady, die Ein Haus in einem vornehmen Stadttheil, einen Lakaien, der ihre Zimmerthür öffnet, einen Kammerdiener, der sie bei Tische bedient, und Wagen und Pferde um sie zu fahren besitzt, von vorn herein vier Schritte in der Achtung aller englischen —— Frauen steigt? Ja oder nein?«

»Kommen Sie zur Sache,« sagte Vendale. »Sie sehen diese Frage für eine entscheidende an. Was sind Ihre Bedingungen?«

»Meine Bedingungen sind niedrig, theurer Sir, sie beschränken sich darauf zu verlangen, daß Ihre Frau in Stand gesetzt werde, gleich im Beginn des Ehestandes jene Vier Schritte in der Achtung der Leute zu thun.

Verdoppeln Sie Ihr gegenwärtiges Einkommen —— die größte Sparsamkeit kann in England dergleichen, wie ich angeführt habe, nicht mit weniger bestreiten. Sie erwähnten eben Ihrer Hoffnung, die Einnahmen Ihres Geschäftes sich bedeutend heben zu sehen. An’s Werk! —— heben Sie! heben Sie! Ich bin Alles in Allem verteufelt gutmüthig. An dem Tage, an dem Sie mich durch klare Beweise üherführen können, daß Ihre Einkünfte sich auf dreitausend Pfund jährlich belaufen, kommen Sie und werben Sie noch einmal um die Hand meiner Nichte und sie ist die Ihre.«

»Darf ich fragen, ob Miß Obenreizer um diese Bedingung weiß?«

»Gewiß. Es ist noch ein wenig Gehorsam für mich in ihr, Mr. Vendale, das Ihnen nicht gehört; sie hat meine Bedingung angenommen. Mit einem Wort, sie unterwirft sich den Ansichten ihres Vormundes in Bezug auf ihr Wohlergehen, sie achtet ihres Vormundes bessere Kenntniß der Welt.« Er lehnte sich in seinen Stuhl zurück mit der ganzen Sicherheit, die ihm seine Stellung verlieh und im vollen Besitz seiner guten Laune.

In der Lage, in der sich Vendale hefand, schien jedes Streiten für die eigene Meinung im Augenblick wenigstens hoffnungslos zu sein. Es lag am Tage, daß kein Grund vorhanden war, seine Werbung abzulehnen. Ob Obenreizers Widerstand wirklich das Ergebnis; von dessen Ansicht über die Sache war, ob er die Heirath nur in der Hoffnung hinausschob, sie endlich vollständig zu vereiteln —— wer konnte es wissen? In beiden Fällen aber war das dagegen Ankämpfen Vendales völlig nutzlos. Es gab kein andres Mittel, als sich zu fügen und das unter so guten Bedingungen, als zu erlangen möglich waren.

»Ich thue Einspruch gegen die Forderungen, die Sie erheben begann er.«

»Natürlich« sagte Obenreizer. »Ich muß sagen, daß ich in Ihrer Stelle auch Einspruch thun würden.«

»Wenn ich mir dennoch dieselben gefallen lasse.« fuhr Vendale fort, »so bin ich so frei, mir zwei Punkte auszumachen. Erstens erwarte ich, daß es mir gestattet werde, Ihre Nichte aufsuchen zu dürfen!«

»So, so? —— Meine Nichte aufsuchen zu dürfen, damit Sie ihr ebensolche Angst um das Heirathen einflößen können, als Sie selbst beseelt? —— Wenn ich nein sagte, würden Sie ohne meine Erlaubniß kommen?«

»Unzweifelhaft.«

»Welcher köstliche Freimut! Wie durch und durch Englisch! Sie sollen sie sehen, Mr. Vendale, sollen sie sehen an bestimmten Tagen, die wir miteinander festsetzen wollen. Was noch?«

»Ihr Einwand gegen meine Vermögensverhältnisse,« fuhr Vendale fort, »hat mich vollständig überrascht. Ich möchte mich vor der Wiederholung einer solchen Ueberraschung sicher stellen. Ihre jetzigen Ansichten halten mich mit einem Einkommen von dreitausend Pfund jährlich für geeignet zum Heirathen, kann ich sicher sein, daß sich in der Zukunft Ihre Ansichten über England nicht erweitern und Ihre Forderungen mit denselben steigen werden?«

»Auf gut Englisch, sagte Obenreizer, »Sie zweifeln an meinem Wort?«

»Sind Sie gesonnen, es mir auf mein Wort zu glauben, wenn ich Sie benachrichtigte, daß sich mein Einkommen verdoppelt habe?« fragte Vendale. »Wenn mich mein Gedächtniß nicht trügt, so sprachen Sie eben von klaren Beweisen?«

»Gut ausgedacht, Mr. Vendale! Sie vereinigen die Schnelligkeit des Ausländers mit der Gründlichkeit des Briten. Erlauben Sie mir, Ihnen von Herzen zu gratuliren, und erlauben Sie mir, Ihnen eine schriftliche Garantie für mein Wort auszustellen.«

Er erhob sich, setzte sich an sein Schreibpult, warf einige Zeilen auf das Papier und überreichte sie Vendale mit einer tiefen Verbeugung. Die gegenseitigen Verpflichtungen waren klar auseinandergesetzt und mit gewissenhafter Pünktlichkeit unterschrieben und untersiegelt.

»Genügt Ihnen diese Garantie?«

»Vollständig.«

»Erfreut es zu hören, versichre ich Sie, wir haben ein kleines Scharmützel ausgefochten —— wir sind wahrhaftig auf beiden Seiten bewundrungswürdig schlau zu Werke gegangen. Jetzt sind unsere Geschäfte abgemacht. Ich trage nie etwas nach. Sie tragen auch nichts nach. Kommen Sie, schütteln wir uns auf gut Englisch die Hand.«

Vendale reichte etwas erschreckt von Obenreizers plötzlichem Uebergang aus einem Extrem in das andere, seine Hand hin.

»Wann habe ich die Erlaubniß. Miß Obenreizer zu sehen?« fragte er, als er sich zum Gehen anschickte.

»Beehren Sie mich morgen mit Ihrem Besuch,« sagte Obenreizer, »und wir wollen dir Zeit festsetzen. Kann ich Ihnen einen Grog anbieten, ehe Sie gehen?« Nein? Gut, gut, wir wollen den Grog versparen bis zu den dreitausend Pfund jährlich und bis zur Hochzeit. Wann Wann wird das sein?«

»Ich habe vor einigen Monaten einen Ueberschlag gemacht von dem, was das Geschäft zu leisten vermag,« sagte Vendale. »Wenn derselbe richtig ist, so wird sich mein jetziges Einkommen verdoppeln. ——«

»Und die Hochzeit stattfinden,« setzte Obenreizer hinzu.

»Und die Hochzeit stattfinden,« wiederholte Vendale, »in Zeit von einem Jahr. Gute Nacht.«



Kapiteltrenner

Vendale hat Unglück.

Als Vendale am andern Morgen in das Geschäftslocal trat, sah er den ganzen schwerfälligen Betrieb in Cripple Cornet mit andern Augen an. Marguerite nahm jetzt an Allem Theil. Das ganze Maschinenwerk, welches nach Wildings Tod in Bewegung gesetzt worden, um das Geschäft abzuschätzen —— das Insgleichebringen des Hauptbuches, das Ueberschlagen der Schulden, das Zusammenstellen des ganzen Bestandes mit Allem, was dazu gehört, verwandelte sich auf einmal zu einer Maschinerie, welche die Aussichten für oder gegen eine baldige Heirath abwog. Nachdem er die Resultate, welche ihm von seinen Buchhaltern vorgelegt waren, durchgesehen und dieselben mit den Abrechnungen und Zusammenzählungen, die ihn die Schreiber einhändigten, verglichen hatte, richtete Vendale zunächst seine Blicke auf das Waarenlager und sendete einen Boten in die Kellergewölbe mit dem Befehl, daß er über das Weinlager einen Bericht zu haben wünsche. Die Art und Weise wie der Kellermeister seinen Kopf in die Thür des Zimmers steckte, welches seinem Herrn zu gehörte, bekundete deutlich, daß sich am heutigen Morgen Außergewöhnliches zugetragen haben müsse.

Es war etwas in Joey Ladle’s Bewegungen, was an Vergnügt sein streifte und es zeigte sich etwas in Joey Ladle’s Antlitz, was Freundlichkeit vorstellen konnte.

»Was giebt es?« fragte Vendale. »Ist nicht Alles in Ordnung?——«

»Ich wollte Ihnen etwas anzeigen,« antwortete Joey. »Junger Mr. Vendala ich habe mich nie für einen Propheten ausgegeben.«

»Wer behauptet das?«

»Es lebte noch kein Prophet, so viel wie ich von dem Handwerk in Erfahrung gebracht habe,« fuhr Joey fort, »hauptsächlich unter der Erde, und keinem Propheten, was er auch durch seine Poren in sich aufgenommen haben mag, zog während einer geraumen Zahl von Jahren vom Morgen bis zum Abend nichts als Weindunst hinein. Als ich dem jungen Muster Wilding in Bezug aus das Umtaufen der Firma sagte, er werde eines Tages dahinter kommen, was es heiße, das Glück der Firma zu stören —— habe ich mich da für einen Propheten aus gegeben? Nein, das habe ich nicht. Ist das, was ich gesagt habe, wahr geworden? Ja, es ist wahr geworden. In den Zeiten von Pebbleson Nephew, junger Master Vendale, ist nie, bei einer Sendung, die aus unserm Geschäft erfolgte, ein Irrthum vorgekommen. Jetzt haben wir einen. Wollen Sie darauf merken, daß er sich zu getragen hat, ehe Miß Marguerite unser Haus betrat, sonst könnte die Thatsache gegen meine Aussage streiten, daß Miß Marguerite das Glück zurückbringen werde. Lesen Sie, Sir,« schloß Joey, Vendales Aufmerksamkeit auf eine bestimmte Reihe in dem Bericht hinlenkend. Er bediente sich zu diesem Zweck eines Zeigefingers, der durch seine Poren augenscheinlich nichts anderes einzulassen gewohnt war als Schmutz. »Es ist meiner Natur ganz fremd, wie eine Krähe über dem Hause, dem ich diene, Unglück auszuschreien, aber ich sehe es für meine heiligste Pflicht an, Sie aufzufordern, diese Stelle zu lesen.«

Vendale las, was folgt: »Anmerkung über den Schweizer Champagner. Eine Ungenauigkeit ist in der letzten Sendung der Firma Defresnier und Co. entdeckt worden.« —— Vendale hielt ein und sah in einem Notizbuch nach. welches neben ihm lag. »Das war zu Mr. Wildings Zeit,« sagte er. »Die Weinlese fiel vortrefflich aus und er bestellte den ganzen Ertrag. Der Schweizer Champagner hat gut gelohnt, nicht wahr?«

»Ich habe nicht gesagt, daß er nicht lohnend gewesen sei,« entgegnete der Kellermeister. »Er mag in den Verschlägen unserer Kunden verdorben oder ihnen unter Händen schlecht geworden sein, aber ich habe nicht gesagt, daß er für uns nicht lohnend gewesen wäre.«

Vendale fuhr im Lesen der Anmerkung fort. »Die Anzahl der Kisten ist richtig angegeben, wie wir aus den Büchern ersehen, aber sechs von ihnen, welche einen kleinen Unterschied in der Signatur aufweisen, haben sich nach dem Oeffnen als Rothwein anstatt Champagner enthaltend, ausgewiesen. Die Aehnlichkeit in der Signatur verursachte vermuthlich das unvorsichtige Abschicken der Sendung non Neuschatel. Der Irrthum hat sich nicht weiter, als auf die sechs Kisten erstreckt.«

»Ist das. Alles?« rief Vendale aus, die Anmerkung fortwerfend.

Jeoy Ladle’s Augen folgten mißmuthig dem flatternden Papierstreifen.

»Ich freue mich, daß Sie es leicht nehmen, Sir,« sagte er. »Was auch daraus erfolgen mag, es wird Ihnen vielleicht eine Beruhigung sein, wenn Sie sich erinneren, es anfänglich » leicht genommen zu haben. Mitunter führt ein Irrthum in den andern hinein. Ein Mann wirft aus Versehen ein Stückchen Pomeranzenschaale auf das Pflaster, ein andrer tritt ans Versehen darauf, und dann giebt es Arbeit für das Hospital und einen, der sein Lebelang ein Krüppel bleibt. Ich freue mich, daß Sie es leicht nehmen, Sir. Zu Pebbleson Nephews Zeiten würden wir es nicht leicht genommen haben, bis wir das Ende übersehen können. Ohne Unglück über dem Hause auszuschreien, junger Master Vendale, so wünschte ich doch, Sie wären erst mit heiler Haut aus dieser Fährlichkeit heraus. Nichts für ungut, Sir,« sagte der Kellermeister. Er hatte die Thür geöffnet, um zu gehen, und sah noch einmal bedeutungsvoll zurück, ehe sie sich hinter ihm schloß. »Ich bin dumpfig und schwerblütig, ich gebe es Ihnen zu, aber ich bin ein alter Diener von Pebbleson Nephews, und ich wünschte, Sie wären erst glücklich durch die sechs Kisten mit Rothwein hindurch.«

Als er allein war, ergriff Vendale lachend die Feder. »Ich kann ein paar Zeilen an Defresnier u. Co. schreiben, ehe ich es vergesse,« dachte er und schrieb sogleich folgendermaßen:

»Geehrte Herren. Wir haben unsern Ueberschlag gemacht und dabei ein kleines Versehen in der letzten Champagnersendnng die uns aus Ihrem Hause zu gekommen ist, entdeckt. Sechs Kisten; enthalten Rothwein —— der hiemit zurück erfolgt. Die Angelegenheit kann leicht in’s Reine gebracht werden, entweder dadurch, daß Sie uns sechs Kisten Champagner senden, wenn derselbe produziert werden kann, oder dadurch, daß Sie uns den Betrag der sechs Kisten zu gut schreiben auf die Ihnen kürzlich von unserer Firma ausgezahlte Summe von fünfhundert Pfund.

Ihr ergebenster Diener

Wilding u. Co.«

Sobald der Brief nach der Post geschickt war, kam Vendale die Sache aus dem Sinn. Er hatte an andere wichtige Angelegenheiten zu denken. Später am Tage machte er Obenreizer den verabredetsen Besuch. Gewisse Abende in der Woche wurden festgesetzt, in denen es ihm erlaubt war Marguerite zu sehen —— immer leider! in Gegenwart einer dritten Person. An dieser Bedingung hielt Obenreizer höflich aber durchaus fest. Das einzige Zugeständniß, was er machte, bestand darin, Vendale die Wahl zu lassen, wer die dritte Person sein solle. Seiner Erfahrung vertrauend, erkor er sich unbedenklich die vortreffliche Frau, die Obenreizers Strümpfe stopfte, dazu. Als Madame Dor von der Verantwortlichkeit in Kenntniß gesetzt wurde, die sie über sich nehmen solle, kam die Anstelligkeit ihrer Natur plötzlich auf eine neue und großartige Weise zu Tage. Sie wartete bis Obenreizer den Blick Von ihr gewendet hatte —— dann sah sie Vendale an und winkte ihm leise zu. Die Zeit verstrich. Die glücklichen Abende bei Marguerite kamen und gingen vorüber. Es war der zehnte Morgen, seitdem Vendale an die Schweizer Firma geschrieben hatte, als sich die Antwort derselben unter den vielen Briefen befand, die auf dem Pult lagen.

»Geehrte Herren. Wollen Sie gütigst das kleine Versehen, welches sich ereignet hat, entschuldigen Wir bedauern, hinzufügen zu müssen, daß die Ermittelung des Irrthums, von dem Sie so freundlich gewesen sind uns zu benachrichtigen, zu einer höchst unerwarteten Entdeckung geführt hat. Die Angelegenheit ist sowohl für Sie als für uns eine sehr ernste und die Einzelheiten derselben sind folgende: Da kein Champagner der vorjährigen Weinlese mehr in unserm Lager vorhanden war, so machten wir uns dabei, Ihrer Firma den Betrag der sechs Kisten in der Art, wie Sie es vorgeschlagen hatten, gut zu schreiben. In der bei uns üblichen Weise des Geschäftsbetriebes sind wir gewohnt, in solchem Falle gewisse Formen zu beobachten, die uns verpflichten, die Rechnungsbücher wie das Hauptbuch durchzusehen. Das Ergebniß dieser Nachforschung ist die moralische Ueberzeugung, daß kein solcher Wechsel, wie derjenige, dessen Sie Erwähnung thun, an unser Haus gelangt ist und die buchstäbliche Gewißheit, daß kein solcher Wechsel auf der Bank für uns eingezahlt liegt.

Es wäre unnütz, bei dem jetzigen Stand der Dinge Sie mit Einzelheiten zu ermüden. Das Geld ist ohne Frage während der Uebersiedelung von Ihnen zu uns gestohlen worden. Gewisse kleine Züge, die wir an der Art und Weise, wie der Unterschleif verübt worden ist, bemerken können, lassen uns schließen, daß der Dieb darauf gerechnet hat, unsern Banquiers die Zahlung leisten zu wollen, ehe bei dem jährlichen Rechnungsabschluß die unvermeidliche Entdeckung erfolgen mußte. Das wäre im gewöhnlichen Geschäftsgang erst in einem Vierteljahr geschehen. Während der Zeit würden wir, wenn uns nicht Ihr Brief darauf aufmerksam gemacht hätte, völlig ahnungslos über diesen Betrug sein, der bei uns verübt worden ist.

Wir erwähnen dieses letzten Umstandes, um Ihnen zu beweisen, daß wir es in diesem Falle mit keinem gewöhnlichen Dieb zu thun haben. Wir wissen bis diesen Augenblick noch nicht, wer der Betrüger sein könnte. Aber wir geben uns der Hoffnung hin, daß Sie uns behilflich sein werden, denselben zu entdecken, indem Sie die Quittung (eine gefälschte natürlich) untersuchen, welche Ihnen von unserm Hause ausgestellt sein wird. Haben Sie die Güte nachzusehen, ob es eine geschriebene Quittung, oder eine nummerierte und gedruckte ist, in der nur der Betrag der Summe auszufertigen war. Die Feststellung dieser anscheinend geringfügigen Kleinigkeit ist, wie wir versichern können; für uns von der weittragendsten Bedeutung. Dringend einer Erwiderung entgegensehend, verbleiben wir mit Hochachtung und Ergebenheit

Defresnier u. Co.«

Vendale legte den Brief auf das Pult zurück und zögerte eine Weile, um sich von dem Schrecken zu erholen, der über ihn gekommen war. Gerade zu einer Zeit, wo ihm so viel daran lag, die Einkünfte des Geschäfts zu erhöhen, sah er dieselben mit einem Verlust von fünfhundert Pfund bedroht. Er dachte an Marguerite, als er den Schlüssel aus seiner Tasche nahm und den eisernen Verschlag in der Wand öffnete, in welchem die Bücher und Papiere der Firma aufbewahrt lagen.

Er war im eifrigen Suchen nach der gefälschten Quittung begriffen, als dicht hinter ihm eine Stimme ertönte, die die Worte sprach:

»Ich bitte tausendmal um Verzeihung! Ich bedaure, Sie stören zu müssen.«

Vendale drehte sich erschrocken um und sah sich dem Vormund Marguerite’s gegenüber.

»Ich komme um anzufragen,« sagte Obenreizer, »ob ich Ihnen etwas nützlich sein kann? Meine eignen Angelegenheiten führen mich auf einige Tage nach Manchester und Liverpool. Kann ich vielleicht ein Geschäft für Sie damit verbinden? Ich stelle mich ganz zu Ihrer Verfügung in dem Charakter eines Handelsreisenden für die Firma Wilding und Co.«

»Entschuldigen Sie einen Augenblick«« sagte Vendale. " »Ich bin sogleich bereit mit Ihnen zu sprechen.« Er wendete sich um und fuhr fort, unter den Papieren zu suchen. »Sie kommen gerade zu einer Zeit, wo ein freundschaftliches Anerbieten mir doppelt schätzbar ist,« fuhr er fort. »Ich habe heut Morgen schlechte Nachrichten aus Neuschatel erhalten.«

»Schlechte Nachrichten« rief Obenreizer aus. »Von Defresnier und Co.?«

»Ja. Ein Wechsel, den wir dahin gesandt haben, ist gestohlen. Mir droht der Verlust von fünfhundert Pfund. Was ist?«

« Er wendete sich schnell herum und gewahrte, daß sein Kasten mit den Couverts zu Boden gestürzt war und Obenreizer auf den Knieen liegend, sich damit beschäftigte, den verstreuten Inhalt aufzusuchen.

»Alles meine Ungeschicklichkeit!« sagte Obenreizer. »Die unangenehmen Nachrichten erschreckten mich. Ich trat einen Schritt zurück ——« das Aufsuchen der verstreuten Couverts interessierte ihn so über Alles, daß er seinen Satz, zu beendigen vergaß.

»Bemühen Sie sich nicht,« sagte Vendale. »Einer meiner Schreiber kann Ordnung machen.«

»Diese unangenehmen Neuigkeiten!« wiederholte Obenreizer, ohne sich beim Aufsuchen der Couverts stören zu lassen. »Diese unangenehmen Neuigkeiten!«

»Wenn Sie den Brief lesen!« sagte Vendale, »so werden Sie sehen, daß ich nicht übertrieben habe. Da liegt er offen auf meinen Pult.«

Er fuhr in seiner Beschäftigung fort und entdeckte einen Augenblick später die gefälschte Quittung. Sie war nummeriert und gedruckt, wie sie die Schweizer Firma beschrieben hatte. Vendale machte sich eine Notiz über Zahl und Datum. Nachdem er die Quittung wieder an ihren Platz, gelegt und den eisernen Verschlag zugeschlossen hatte, nahm er sich die Zeit, Obenreizer zu beobachten, der in einer Fensternische am andern Ende des Zimmers damit beschäftigt war, den Brief zu lesen. »Gehen Sie an das Feuer« sagte Vendale, »Sie sind von der Kälte draußen ganz erstarrt. Ich werde schelten, daß man mehr Kohlen auflege.«

Obenreizer erhob sich und trat langsam wieder an das Pult. »Marguerite wird ebenso außer sich über die Nachricht sein, als ich es bin,« sagte er freundlich. »Was beabsichtigen Sie zu thun?«

»Ich bin in den Händen von Defresnier und Co.« erwiderte Vendale. Bei meiner gänzlichen Unkenntniß der Umstände kann ich nur thun, was sie von mir verlangen. Die Quittung, welche ich eben gefunden habe, weist sich als eine gedruckte und nummerierte aus. Es scheint, als wenn die Firma besondere Wichtigkeit auf das Auffinden derselben legte. Sie haben während Ihres Aufenthalts in dem Schweizer Hause den Geschäftsbetrieb desselben in Erfahrung bringen müssen. Sind Sie im Stande zu errathen, welche Aufschlüsse man dabei im Auge hat?«

»Vielleicht wenn ich die Quittung sehe,« meinte Obenreizer. »Sind Sie krank?« fragte Vendale betroffen von der Veränderung auf Obenreizers Antlitz, das ihm jetzt zum ersten Mal voll zugewendet war. »Bitte, gehen Sie an das Feuer. Sie zittern vor Frost —— ich hoffe, daß Ihnen keine Krankheit in den Gliedern steckt?«

»Ich denke nicht,« sagte Obenreizer, Vielleicht bin ich erkältet, Ihr englisches Klima hätte einen Bewunderer aller englischen Sitten wohl verschonen können. Zeigen Sie mir die Quittung.«

Vendale öffnete den eisernen Verschlag. Obenreizer nahm einen Sessel und trug ihn dicht an das Feuer. Er hielt beide Hände über die Flammen. »Zeigen Sie mir die Quittung,« wiederholte er hastig, als Vendale mit dem Papier in der Hand zurückkehrte. In demselben Augenblick trat ein Diener mit neuer Kohlenzufuhr ein. Vendale bedeutete ihm, ein tüchtiges Feuer zu machen. Der Mann leistete dem Befehl mit unseligem Diensteifer Folge: Als er im Vorwärtseilen den Kohlenkorb erhob, verwickelte sich sein Fuß in einer Falte des Teppichs und die ganze Ladung Kohlen leerte sich in dem Kamin aus. Die Wirkung davon war, daß die Flamme sogleich erstickte, aber einen Strom von gelbem Qualm hervorbrachte, durch den kein freundlicher Funke hindurchblicken konnte.

»Dummkopf!« flüsterte Obenreizer in sich hinein, mit einem Blick auf den Mann, dessen sich derselbe noch lange Jahre nachher erinnerte.

»Wollen Sie in das Zimmer meiner Schreiber gehen?« fragte Vendale. »Da ist ein Ofen.«

»Nein, nein. Es macht nichts.«

Vendale reichte ihm die Quittung Obenreizer’s Interesse an dem Papier schien ebenso plötzlich und eben so gründlich erloschen zu sein, als das Feuer im Kamin. Er warf einen Blick auf das Document und sagte: »Nein. Ich weiß nicht. Ich bedaure Ihnen nicht von Nutzen sein zu können.«

»Ich will mit der Nachtpost nach Neuschatel schreiben,« sagte Vendale, die Quittung zum zweiten Male an ihren Platz legend. »Wir müssen abwarten und sehen, was darauf erfolgen wird.«

»Mit der Nachtpost,« wiederholte Obenreizer. »Warten Sie einmal. Sie können in acht bis neun Tagen Antwort erhalten. Ich werde noch früher; zurück sein. Wenn ich Ihnen als Handelsreisender nützlich sein kann, so lassen Sie es mich inzwischen wissen. Wollen Sie mir geschriebene Instructionen senden? Besten Dank. Ich bin sehr gespannt aus die Antwort aus Neuschatel. Wer weiß! Es kann Alles auf einem Mißverständniß beruhen, mein lieber Freund! Vor allen Dingen Muth! Muth! Muth!« Er hatte das Zimmer betreten, ohne sich den geringsten Anschein zu geben, als ob er eilig sei und jetzt ergriff er seinen Hut und verabschiedete sich wie ein Mann, der keinen Augenblick verlieren darf.

Sich allein überlassen, ging Vendale gedankenvoll im Zimmer auf und nieder.

Der Eindruck, den Obenreizer immer auf ihn machte, war durch das, was er in dieser letzten Unterredung von ihm gehört und gesehen hatte, erschüttert. Es schien ihm plötzlich, als ob er vorschnell und hart bei der Beurtheilung eines Nebenmenschen zu Werke gegangen sei. Obenreizers Ueberraschung und Bedauern beim Anhören der Nachrichten aus Neuschatel trugen deutliche Spuren, daß sie aufrichtig empfunden und nicht nur höflicherweise zur Schau getragen wurden. Von eigenen Angelegenheiten in Anspruch genommen und anscheinend Von bösen Vorzeichen einer ernsten Krankheit geplagt, hatte er doch ausgesehen und gesprochen wie ein Mann, dem das Unglück seines Freundes zu Herzen geht. Um Marguerite’s willen versuchte Vendale oft vergebens, seine Meinung über deren Vormund zu ändern, heute schob er großmüthig seine Ueberzeugung die ihm unumstößlich erschienen war, bei Seite. »Wer weiß,« dachte er, »ich mag mich doch in dem Gesicht des Mannes geirrt haben.«

Die Zeit verstrich. Die glücklichen Abende bei Marguerite kamen und gingen vorüber. Wieder war der zehnte Morgen angebrochen, seitdem Vendale an die Schweizer Firma geschrieben hatte und wieder lag die Antwort unter den andern an dem Tage angekommenen Briefen auf dem Pult.

»Geehrter Herr. Der ältere Theilhaber am Geschäft M. Defresnier ist wichtiger Angelegenheiten wegen nach Mailand abgereist. In seiner Abwesenheit und mit seiner Zustimmung und Ermächtigung schreibe ich an Sie in Bezug auf die fehlenden fünfhundert Pfund.

Ihre Mittheilung daß die gefälschte Quittung auf einem gedruckten und nummerierten Formular ausgestellt sei, hat mich und meinen Compagnon unaussprechlich überrascht und betrübt. Zu der Zeit, als Ihr Wechsel gestohlen wurde, waren nur drei Schlüssel zu dem Kasten vorhanden, in welchem die Quittungsformulare aufbewahrt werden. Mein Compagnon hat den einen Schlüssel und ich den andern im Besitz. Den dritten bewahrte ein Gentlemam der damals einen Vertrauensposten in unserm Hause bekleidete. Wir würden eben so gut einen von uns beiden für schuldig halten, als einen Verdacht auf die erwähnte Persönlichkeit werfen. Nichts desto weniger bleibt der Verdacht auf derselben haften. Ich vermag es nicht über mich, Ihnen den Namen des Mannes zu nennen, so lange noch ein Schimmer von Hoffnung vorhanden ist, daß er unschuldig aus der Untersuchung, welche angestellt werden muß, hervorgehen könne. Entschuldigen Sie mein Schweigen. Der Beweggrund dazu ist ein lautrer.

Der Weg, den wir bei unseren Nachforschungen einschlagen müssen, ist einfach genug. Die Handschrift auf Ihrer Quittung muß von kompetenten Personen, mit gewissen, in unserem Besitz befindlichen Schriftstücken verglichen werden. Dieselben Ihnen zuzusenden, vermag ich aus geschäftlichen Gründen nicht, welche, wenn Sie sie hören würden, gewiß Ihre volle Billigung hätten. Ich muß Sie ersuchen, mir die Quitttung nach Neuschatel zu schicken und diese Bitte mit einer dringenden Warnung begleiten.

Wenn die Persönlichkeit, auf welcher der Verdacht haftet, wirklich den Betrug und die Fälschung verübt hat, so habe ich Grund zu glauben, daß Umstände den Mann bereits aufmerksam« gemacht haben, auf seiner Hut zu sein. Der einzige Beweis gegen ihn ist der Beweis, den Sie in Händen haben, und er wird Himmel und Erde in Bewegung setzen, ihn zu erlangen und zu vernichten. Ich mache Sie ernstlich darauf aufmerksam, die Quittung nicht der Post zu übergeben. Schicken Sie sie mir unverzüglich mit einem sicheren Boten und wählen Sie zu diesem Amt Jemand, der lange in Ihrem Geschäft angestellt, an das Reisen gewöhnt und des Französischen vollkommen mächtig ist; einen muthigem ehrenfesten Mann, und vor allen Dingen einen Mann, in den man das Vertrauen setzen kann, daß er unterwegs keine fremde Bekanntschaft an sich heranlassen werde. Theilen Sie Niemandem —— absolut Niemandem —— außer Ihrem Boten, die Wendung mit. welche die Angelegenheit genommen hat. Von der wörtlichen Befolgung meines Rathes, den ich so frei bin Ihnen am Schluß des Schreibens zu geben, hängt möglicherweise die sichere Ablieferung der Quittung ab.

Ich habe nur noch hinzuzufügen, daß die größte Eile von Nöthen ist. Mehr als eines unserer Quittungsformulare fehlt —— und man kann nicht wissen, welche neuen Unterschleife gemacht werden können, wenn es nicht gelingt, des Diebes habhaft zu werden.

Ihr ergebener Diener
Rolland

Im Namen von Defresnier u. Co.«

Wer war der des Betruges Verdächtige? Für Vendale blieb es fruchtlos, darüber nachzudenken.

Wen sollte man mit der Quittung nach Neuschatel senden? Muthige ehrenfeste Männer. gab es wohl in Cripple Cornet, aber wer war an Reisen in das Ausland gewöhnt und der französischen Sprache mächtig, und wem konnte man unbedingt zutrauen, daß er auf dem Wege keine fremde Bekanntschaften an sich heranlassen werde. Nur einen gab es, der alle die erforderlichen Eigenschaften in sich vereinigte, und der eine war Vendale selbst.

Es kostete ihm ein Opfer, das Geschäft zu verlassen, und ein noch größeres, sich von Marguerite zu trennen; aber ein Gegenstand von fünfhundert Pfund hing an der schwebenden Frage, und Mr. Rolland bestand auf einer buchstäblichen Erfüllung seines Rathes in Ausdrücken, mit denen nicht zu spaßen war. Je mehr Vendale nachtdachte, je klarer blickte ihn die Nothwendigkeit an und gebot ihm: »Geh!«

Als er den Brief bei der Quittung verschloß, fiel ihm durch eine Ideenverbindung Obenreizer ein. Sollte der Name der verdächtigen Person nicht herauszubekommen sein? Obenreizer konnte sie kennen.

Kaum war ihm der Gedanke durch den Sinn gegangen, als sich die Thür öffnete und Obenreizer in das Zimmer trat.

»Ich habe gestern Abend in Soho-square erfahren, daß Sie zurück erwartet wurden. Haben Sie gute Geschäfte gemacht? Befinden Sie sich besser?«

Tausend Dank. Obenreizer hatte vortreffliche Geschäfte gemacht. Obenreizer befand sich unendlich viel besser. Und nun, was giebt es Neues? Ist ein Brief aus Neuschatel da?

»Ein sehr befremdlicher Brief,« antwortete Vendale. »Die Angelegenheit hat eine neue Wendung genommen, und der Schreiber macht es mir zur Bedingung, gegen Jeden —— ohne jegliche Ausnahme —— über unsere neuen Maßnahmen zu schweigen.«

»Obne jegliche Ausnahme?« wiederholte Obenreizer. Er wendete sich, als er das sagte, sinnend zum Fenster am andern Ende des Zimmers hin, sah hinaus und kehrte dann zu Vendale zurück. »Man hat es gewiß vergessen,« nahm er seine Rede wieder auf, »oder man würde mich ausgenommen haben.«

»Mr. Rolland hat den Brief verfaßt,« sagte Vendale, »und muß es, wie Sie sagen, vergessen haben. Die Ansicht Von der Sache ist mir entgangen. Als Sie in das Zimmer traten, war in mir der Wunsch lebhaft, mit Ihnen berathen zu können und nun bin ich an ein förmliches Verbot gebunden, was Sie gar nicht eingeschlossen haben kann. Wie lästig!« Obenreizers überschattete Augen hefteten sich scharf auf Vendale.

»Vielleicht ist es mehr als lästig,« sagte er. »Ich bin hierher gekommen nicht allein der Nachricht wegen, sondern um mich als Bote, als Unterhändler —— als was Sie wollen, anzubieten. Werden Sie es glauben? Ich habe Briefe erhalten, welche mich nöthigen, augenblicklich nach der Schweiz abzureisen; wichtige Papiere, Botschaften und dergleichen mehr. —— Ich könnte leicht Alles an Defresnier und Rolland mitnehmen.«

»Sie wären der richtige Mann dazu,« entgegnete Vendale. Ich war noch vor fünf Minuten wider Willen entschlossen, selbst nach Neuschatel zu gehen, weil ich Niemand wußte, der es an meiner Stelle hätte thun können. Ich muß noch einmal den Brief durchlesen.«

Er öffnete den festen Verschlag, um den Brief zu holen. Nachdem sich Obenreizer rundum gesehen hatte, um sich zu überzeugen, daß sie beide allein waren, folgte er Vendale ein oder zwei Schritte nach und maß ihn mit seinen Augen. Vendale war der größte und unzweifelhaft auch der stärkste Von ihnen beiden. Obenreizer wendete sich weg und wärmte sich an dem Feuer.

Unterdessen hatte Vendale den letzten Abschnitt des Briefes zum dritten Mal überlesen. Da stand die Warnung und da stand die Schlußbemerkung, welche auf eine buchstäbliche Befolgung derselben drang. Die Hand, von welcher Vendale durch die Finsternis geleitet wurde, legte ihm nur diese eine Bedingung auf. Es handelte sich um eine große Summe: ein schrecklicher Verdacht harrte der Bestätigung. Wenn er auf eigene Verantwortung etwas unternahm, wodurch die Sachen schief gingen, wen traf der Tadel?

Für einen Geschäftsmann wie Vendale gab es nur einen Weg. Er schloß den Brief wieder ein.

»Es ist überaus lästig,« sagte er zu Obenreizer. »Diese Vergeßlichkeit des Monsieur Rolland bringt mich in große Ungelegenheiten und in eine widerwärtige Stellung Ihnen gegenüber, Was soll ich thun? Ich bin genöthigt in einer wichtigen Angelegenheit Schritte zu thun und befinde mich dabei vollständig im Dunkeln. Mir bleibt keine Wahl, als mich führen zu lassen, nicht Von dem Geist, sondern von dem Buchstaben der Instruktion, die ich erhalten habe. Ich rechne darauf, mich von Ihnen verstanden zu sehen. Wenn mir nicht die Hände gebunden wären, so wissen Sie, wie erfreut ich Ihre Dienste angenommen haben würde.«

»Kein Wort weiter,« entgegnete Obenreizer. »Ich hätte an Ihrer Stelle dasselbe gethan. Mein lieber Freund, ich fühle mich nicht gekränkt. Ich danke Ihnen für Ihre Rücksicht. Wir werden in jedem Falle zusammen reisen,« setzte Obenreizer hinzu. »Sie fahren, wie ich, sogleich ab?«

»Sogleich." Nur muß ich noch mit Marguerite sprechen.«

»Gewiß, gewiß! Kommen Sie heute Abend. Holen Sie mich ab auf dem Weg nach dem Bahnhof. Wir reisen doch mit dem Schnellzug in der Nacht?«

»Mit dem Schnellzug in der Nacht.«

Später als es Vendale beabsichtigt hatte, fuhr derselbe dem uns bekannten Hause in Soho-square zu. Schwierigkeiten, die durch die schnelle Abreise zu Dutzenden aufgetaucht waren, hatten ihn aufgehalten. Eine Masse Zeit, die er gehofft hatte, Marguerite widmen zu können, war von seinen Pflichten im Büreau in Anspruch genommen worden, die er unmöglich vernachlässigen durfte.

Zu seiner Ueberraschung, und zu seinem größten Entzücken befand Marguerite sich bei seinem Eintreten allein im Drawingroom.

»Und bleiben nur wenige Minuten, George,« sagte sie. Madame Dor ist freundlich zu mir —— wir haben die wenigen Minuten für uns allein.« Sie schlang ihre Arme um seinen Nacken und flüsterte ihm erregt zu: »Hast Du Mr. Obenreizer durch irgend etwas beleidigt?«

»Ich!« rief Vendale erstaunt aus.

»Still!« sagte sie. »Ich will es Dir erzählen. Du erinnerst Dich der kleinen Photographie, welche ich von Dir besitze. Sie befand sich heute Nachmittag zufällig auf dem Kaminsims. Er nahm sie und besah sie —— ich konnte sein Gesicht im Spiegel beobachten. Ich weiß . es, Du hast ihn beleidigt! Er kennt kein Vergeben; er ist rachsüchtig und so verschwiegen wie das Grab. Gehe nicht mit ihm, George —— gehe nicht mit ihm!«

»Meine Einzige,« erwiderte Vendale. »Deine Phantasie spiegelt Dir Schreckbilder vor. Obenreizer und ich, wir waren nie bessere Freunde als in diesem Augenblick.«

Ehe noch ein Wort weiter gesprochen werden konnte, bebte der Boden im Nebenzimmer von den Tritten eines gewichtigen Körpers. Nach dem Beben erschien Madame Dor. »Obenreizer!« rief die vortreffliche Dame mit leiser Stimme und fiel schwerfällig auf den gewohnten Platz am Ofen nieder.

Obenreizer trat ein. Er hatte sich eine lederne Tasche über die Schulter geschnürt.

»Sind Sie fertig?« fragte er Vendale. »Kann ich Ihnen etwas abnehmen? Sie tragen keine Reisetasche. Ich habe eine um. Die Abtheilung für wichtige Papiere steht Ihnen zu Diensten.«

»Danke,« sagte Vendale. »Ich habe nur ein Papier von Wichtigkeit bei mir; und für dies Papier bin ich verpflichtet selbst zu sorgen. Hier ist es,« fügte er hinzu auf die Brustasche seines Rockes klopfend, »und hier soll es bleiben bis wir in Neuschatel sind.«

Als er das sagte, ergriff Marguerite seine Hand und drückte sie bedeutungsvoll. Sie blickte Obenreizer an. Ehe Vendale dem Blicke folgen konnte, hatte sich Obenreizer umgewendet, um von Madame Dor Abschied zu nehmen.

»Lebe wohl, meine liebe Nichte,« sagte er, seine Rede an Marguerite richtend. »En route, mein Freund, nach Neuschatel? Er klopfte Vendale leicht auf die Brusttasche des Rockes und führte ihn an die Thür.

Vendale’s letzter Blick fiel auf Marguerite. Marguerites letzte Worte waren: »Gehe nicht!«



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