Nicht aus noch ein



Auf der Höhe.

Der Weg war ziemlich gut für kräftige Wandersleute und die Lust wurde klarer und leichter zu athmen, je höher man stieg. Aber das trübe Wetter, welches sich festgesetzt hatte, blieb unverändert, wie es schon viele Tage geblieben war. Es schien, als ob die Natur zu einem Stillstand gekommen sei.

Der Sinn des Gehörs, wie des Gesichts versagte bei dem langen Warten auf einen Wechsel. Man vermochte nicht zu bestimmen, was eigentlich von oben her drohe. Die, Stille wurde ebenso drückend und schwer, als die hängenden Wolken —— oder besser die Wolke, denn es schien, als befände sich nur eine einzige am Himmel und als bedecke diese einzige das ganze Firmament.

Obgleich das Licht wie in ein Leichentuch eingehüllt war, so blieb doch die Aussicht frei. Unten in dem Rhonethal konnte man den Strom in seinen vielfachen Krümmungen verfolgen, schreckhaft dunkel und feierlich sah er in seiner bleiernen Farbe, wie eine lichtlose Wüste aus. Hoch und weit über ihnen bedrohten überhängende Schneelawinen die Stätten, über welche die Wandernden schreiten mußten. Zu ihrer Rechten tiefe dunkle Abgründe und der schäumende Bergstrom und ragende Felsen nach allen Seiten. Die riesige Landschaft, durch keinen Wechsel des Lichts, durch keinen Strahl der Sonne belebt, war schrecklich deutlich in ihrer furchtbaren Wildheit. Die Herzen zweier einsamer Männer möchten erbeben, wenn sie sich Meilen und Stunden zwischen einer Legion schweigender und bewegungsloser Menschen hindurch winden müßten —— lauter Menschen wie sie selber —— alle sie starr ansehend mit gerunzelter Stirn. Aber um wie viel schrecklicher, wenn diese Legion aus den großartigsten Schöpfungen der Natur besteht und das Zürnen sich in einem Augenblick zur Wuth verwandeln kann.

Im Weitersteigen wurde zwar der Weg schroffer und schwieriger, aber Vendale’s Laune eine gehobenere: lag doch eine ganze Strecke der Straße schon besiegt hinter ihnen. Obenreizer sprach wenig; er hielt an seinem Entschluß fest.

In Bezug auf Behendigkeit und Ausdauer waren Beide wohl zu dem Unternehmen geschickt. Was der auf den Bergen Geborene aus den Anzeichen des Wetters las, war für den Andern nicht zu entziffern und Obenreizer behielt seine Beobachtungen für sich.

»Kommen wir heut noch hinüber?« fragte Vendale.

»Nein!« erwiderte der Andere. »Bemerken Sie nicht, wie viel tiefer der Schnee hier liegt als eine halbe Meile niedriger? Je höher wir steigen, je mehr wird er sich um unsre Füße lagern.

Das Gehen ist schon jetzt ein Waten und die Tage sind so kurz. Wenn wir das fünfte Schutzhaus erreichen und die Nacht im Hospiz zubringen können, wollen wir von Glück sagen.«

»Ist keine Gefahr vorhanden, daß lieb in der Nacht das Wetter erhebt und uns einschneit?« fragte Vendale besorgt.

»Es lauern genug Gefahren um uns her,« sagte Obenreizer, vorsichtig seinen Blick aufwärts und abwärts schickend, »Um uns Schweigen zur Pflicht zu machen. Haben Sie schon von der Gantherbrücke gehört?«

»Ich bin einmal hinübergegangen.«

»Im Sommer?«

»Ja. In der Reisezeit.«

»Ja so. Es ist etwas andres in jetziger Jahreszeit,« und er setzte höhnisch, als ob er ärgerlich sei, hinzu: »Von dem Stand der Dinge in der jetzigen Jahreszeit auf einem Alpenpaß habt Ihr, Sonntagsreisende, keine Ahnung.«

»Sie sind mein Führer,« sagte Vendale wohlgelaunt.

»Ich vertrane Ihnen.«

»Ich bin Ihr Führer,« sagte Obenreizer, »und werde Sie bis an das Ende Ihrer Reise geleiten. Da liegt die Brücke vor uns.«

Sie waren durch eine Wendung in eine trostlose, finstre Schlucht gelangt, in welcher der Schnee tief unter ihnen, hoch über ihnen und zu beiden Seiten lagerte. Obenreizer stand still, zeigte, indem er sprach, aus die Brücke und betrachtete Vendale mit einem seltsamen Ausdruck.

»Wenn ich, der Führer, Sie voran hinübergeschickt und Sie ermuthigt hätte, ein Freudengeschrei anzustimmen, so würden Sie Centner und wieder Centner Schnee auf sich herabgerissen haben; würde Sie nicht allein getödtet, sondern Sie mit einem Schlage begraben haben.«

»Ohne Zweifel,« sagte Vendale.

»Ohne Zweifel. Aber als Führer ist das nicht meines Amtes. Also gehen Sie schweigend hinüber. Denn so, wie wir es jetzt machen, könnte unsre Unvorsichtigkeit die Lawine auf einen andern als Sie herablocken und mich begraben. Vorwärts!«

Auf der Brücke hatten sich Massen von Schnee aufgehäuft und eben so ungeheure Schneemassen hingen von vorspringenden Felsen herüber, so daß es aussah, als ob sie ihren Weg bei Sturm zurücklegten und der Wind dicke weiße Wolken zusammentriebe. Den Stock geschickt gebrauchend, indem er im Vorwärtsgehen Alles untersuchte, mit gekrümmten Schultern, den Kopf abwärts gebeugt, als ob er schon der bloßen Idee eines Schneesturzes von oben Widerstand leisten müßte, schritt Obenreizer langsam voran. Vendale folgte ihm auf dem Fuß. Sie waren in der Mitte ihres gefahrvollen Weges, als ein gewaltiger Krach erfolgte von einem donnernden Geräusch begleitet. Obenreizer drückte die Hand auf Vendale’s Mund und zeigte den schmalen Gang hinunter, den sie gekommen waren. Der Anblick hatte sich in einem Augenblick völlig verwandelt. Eine Lawine war in den Strom, der in der Schlucht schäumte, niedergestürzt. Das Erscheinen der Fremden in dem einsamen Wirthshause jenseits der Schreckensbrücke, kostete den darin Eingeschlossenen viele Ausrufe des Erstaunens.

»Wir wollen uns nur erholen,« sagte Obenreizer, den Schnee am Feuer aus seinen Kleidern schüttelnd. »Dieser Herr hat sehr dringende Veranlassung hinüberzukommen —— sagen Sie es ihnen, Vendale.«

»Gewiß, ich habe dringende Veranlassung. Ich muß hinüber.«

»Ihr hört es Alle. Mein Freund hat eine dringende Veranlassung hinüberzukommen, wir bedürfen weder Euren Rath noch Eure Hilfe. Ich bin ein eben so guter Führer, wie einer von Euch, meine lieben Landsleute. Jetzt gebt uns zu essen und zu trinken.«

Fast in derselben Weise und fast in denselben Worten gebärdete sich und sprach Obenreizer zu den verwunderten Leuten in dem Hospiz als es dunkel geworden und er und Vendale sich durch die vermehrten Schwierigkeiten des Weges durchgekämpft und endlich ihr Unterkommen für die Nacht erreicht hatten. Alles lief am Feuer zusammen, wo die Wanderer die nassen Schuhe abthaten und den Schnee aus den Mänteln schüttelten.«

»Es ist gut, wenn einer den andern versteht, meine Freunde. Der Herr ——«

»Hat,« sagte Vendale, ihm lächelnd das Wort aus dem Munde nehmend, »dringende Veranlassung hinüber zu kommen. Muß hinüber.«

»Ihr hört! —— hat dringende Veranlassung hinüber zukommen. Muß hinüber. Wir brauchen weder Rath noch Hilfe. Ich bin auf den Bergen geboren und diene zum Führer. Quält uns nicht mit vielen Hin- und Herreden, sondern gebt uns ein Abendbrot, Wein und Betten.«

In der entsetzlichen Nachtkälte derselbe schreckliche Stillstand. Beim Sonnenaufgang derselbe Strahl, der den Schnee röthete und vergoldete. Dieselbe unendliche Einöde von farblosem Weiß; dieselbe unbewegliche Luft; dieselbe eintönige Wolke am Himmel.«

»Wandrer«!« rief eine freundliche Stimme von der Thür aus, nachdem sich Vendale und Obenreizer mit dem Ränzel auf dem Rücken und dem Stock in der Hand wie gestern aufgemacht hatten. »Vergeßt nicht. Es giebt fünf Schutzstellen nahe bei einander auf Eurem gefährlichen Wege; dann kommt das hölzerne Kreuz und dann das nächste Hospiz. Verirrt Euch nicht. Wenn der Tourmente eintreten sollte, sucht sogleich Schutz.«

»Es ist das Handwerk der armen Teufel.« sagte Obenreizer zu seinem Freund, hochmüthig mit der Hand der Stimme winkend, »Sie stecken Alle unter einer Decke! Ihr Engländer nennt uns Schweizer Miethlinge und Söldner. Es sieht in der That so aus, als wären wir’s.«

Sie hatten in ihren Ränzeln solche Erfrischungen, welche überhaupt zu haben und ihnen zweckdienlich erschienen waren. Obenreizer trug als seinen Antheil an dem Gepäck den Wein, Vendale Brot, Fleisch, Käse und eine Flasche Liqueur.

Sie hatten sich eine zeitlang auf und ab durch den Schnee gearbeitet —— der in dem schmalen Engpaß ihnen bis über das Knie ging und sonst überall in unermeßlicher Höhe lag —— und sie arbeiteten sich weiter auf und ab durch den gefährlichsten Theil dieser Verwüstung, bis Schnee zu fallen begann. Zuerst waren es nur einige Flocken, die langsam und einzeln niederwehten. Nach einer kleinen Weile wurden sie dichter und plötzlich ohne bemerkliche Ursache wirbelten sie in spiralförmigen Bogen um sich selbst. Sobald dieser Wechsel eintrat, fing ein eisiger Wind an zu heulen und alle Wuth und alles Getöse, das bis jetzt gebunden gewesen, entfesselte sich über den Wanderern.

Eine der düsteren Galerien, die auf gefährlichen Stellen den Weg schützen, eine jener von festen schweren Bogen gestützten Höhlen, war nahe zur Hand. Sie flüchteten hinein. Der Sturm tobte wild. Das Getöse des Windes, das Getöse des Wassers, das Niederdonnern der stürzenden Schnee und Felsmassen, die schrecklichen Stimmen, mit denen nicht allein diese Kluft, sondern alle Klüfte in dem ganzen ungeheuren Umkreis plötzlich ausgerüstet zu sein schienen, die tiefe Dunkelheit, das gewaltsame Herumwirbeln des Schnees, welches ihn in Spreu zerschellte und zerbrach und die Wandrer blind machte, die Raserei, von der Alles um sie her erfaßt war, als habe jeden Gegenstand unersättliche Zerstörungswuth ergriffen, der schnelle Eintritt der heftigsten Aufregung nach der unnatürlichen Ruhe, die Menge erschreckender Töne nach der Stille, die geherrscht hatte: das alles waren Dinge die (noch dazu am Rande eines grauenvollen Abgrundes) das Blut erstarren machten, wenn es nicht schon dem heulenden Wind, der buchstäblich von Schnee und Eis Körperhaft wurde, gelungen war, es zu erstarren.

Obenreizer, der in der Galerie ohne Aufhören hin- und wiederging, bedeutete Vendale, ihm das Ränzel aufmachen zu helfen. Es konnte einer den andern sehen, aber nicht einer den andern sprechen hören. Vendale willfahrte ihm. Obenreizer zog eine Flasche Wein hervor, goß ein und hielt ihn Vendale hin, indem er ihm verständlich machte, daß er, um sich zu erwärmen, lieber Wein als Branntwein nehmen sollte. Vendale willfahrte ihm auf’s Neue. Es hatte den Anschein, als ob Obenreizer nach ihm tränke und die beiden wanderten danach nebeneinander auf und ab. Beide wußten, daß sich niederlegen oder schlafen ihr Tod sein würde.

Der Schnee trieb massenhaft am unteren Ende der Galerie herein, an dem Ende, zu dem sie hinaus mußten, wenn sie je wieder hinauskamen, denn es lagen größere Gefahren hinter ihnen als vor ihnen. Der Schnee fing bereits an den Bogen zu füllen. Noch eine Stunde und er lagerte so hoch, daß er das wieder aufdämmernde Tageslicht nicht hereinließ, doch fror er und konnte überklettert werden. Die Heftigkeit des Sturmes hatte nach und nach einem regelmäßigen Schneefall Platz gemacht. Der Wind wüthete noch in Zwischenräumen, aber nicht mehr unaufhörlich und wenn er einhielt, fiel der Schnee in ruhigen großen Flecken.

Zwei Stunden mochten sie in ihrem schrecklichen Gefängniß zugebracht haben, als Obenreizer zuvor den Schneewall untersuchend, mit gebücktem Kopf und mit seinem Körper oben an den Felsenboden stehend, hinüber kroch und seinen Ausweg aus der Höhle nähme. Vendale folgte ihm nach, aber ohne Ueberlegung und ohne sich klar zu werden, warum er es that. Denn die Lethargie, die er schon einmal in Basel empfunden, hatte ihn wieder beschlichen und beherrschte alle seine Sinne. Wie weit er von der Galerie entfernt war, oder mit welchen Hindernissen er seitdem gerungen hatte, wußte er nicht. Es kam ihm plötzlich zum Bewußtsein, daß Obenreizer auf ihn losgesprungen war und sie sich mitten im Schnee in einem verzweifelten Handgemenge befand. Es erwachte in ihm die Erinnerung, dessen, was sein Angreifer im Gürtel trage. Er tappte danach, zog es, stieß nach ihm, kämpfte weiter, stieß zum zweiten Mal nach ihm, riß sich los und stand nun Auge in Auge dem Andern gegenüber.

»Ich habe versprechen Sie an das Ende Ihrer Reise zu führen,« sagte Obenreizer, »und habe mein Versprechen gehalten. Ihre Lebensreise endet hier. Nichts kann Sie retten. Sie schlafen, wo Sie gehen und stehen.«

»Sie sind ein Elender. Was haben Sie mir angethan?«

»Sie sind ein Narr. Ich habe Ihnen einen Trank eingegeben. Sie sind zwiefach ein Narr, denn ich habe es versuchsweise schon einmal vor der Wanderung gethan. Sie sind dreifach ein Narr, denn ich bin der Dieb und der Fälscher und werde nach wenigen Augenblicken die Beweise gegen den Dieb und Fälscher ihrem entseelten Körper entnehmen.«

Der Ueberlistete versuchte die Lethargie von sich zu schütteln, aber sie übte eine so entsetzliche Herrschaft über ihn aus, daß er sich in dem Augenblicke, wo er solche Worte vernahm, nicht darauf besinnen konnte, wer von ihnen beiden der Verwundete war und wessen Blut dort über den Schnee rieselte.

»Was habe ich Ihnen gethan?« fragte er schwer und bedrängt, »daß Sie an mir —— zum gemeinen Mörder werden?«

»Mir gethan? Sie würden mich ruiniert haben, wenn Sie an das Ziel Ihrer Reise gelangt wären. Ihre verwünschte Schnelligkeit ließ mir nicht Zeit, das Geld zurückzahlen zu können. Mir gethan? Sie haben sich in meinen Weg gedrängt, nicht einmal oder zweimal, sondern wieder, und immer wieder. Habe ich Sie nicht anfänglich abschütteln wollen? Sie lassen sich nicht abschütteln, darum müssen Sie sterben.«

Vendale suchte zusammenhängend zu denken, zusammenhängend zu sprechen und versuchte den eisenbeschlagenen Stock aufzulangen, der ihm entfallen war. Als ihm das nicht gelang, versuchte er ohne Stütze vorwärts zu taumeln. Alles vergeblich! Er strauchelte und fiel hart an dem Rande der tiefen Kluft zu Boden. Betäubt, erstarrt, nicht fähig auf den Füßen zu stehen, mit um dunkelten Augen, mit versagendem Gehör, machte er noch eine gewaltsame Anstrengung sich aufzuraffen. Er stützte sich auf seine Hände, während sein Feind ruhig über ihm stand und folgende Worte sprach:

»Sie nennen mich einen Mörder,«« sagte Obenreizer dumpf lachend. »Der Name thut wenig zur Sache. Ich habe mindestens mein Leben gegen das Ihre eingesetzt, denn ich bin mit Gefahren umringt, aus denen vielleicht kein Entrinnen möglich ist. Der Tourmente erhebt sich wieder. Der Schnee beginnt zu wirbeln. Ich muß die Papiere haben. Jeder Augenblick Verzug kann mir das Leben kosten.«

»Halt!« rief Vendale mit schrecklicher Stimme und dem letzten Rest auflodernder Kraft in ihm. Er taumelte empor und hielt die räuberischen Hände, die nach seiner Brust griffen, mit letzter Anstrengung fest. »Halt! Fort von mir! Gott segne meine Marguerite! Hoffentlich er fährt sie niemals, auf welche Weise ich umkam! Zurück von mir und laß mich in Dein Mörderantlitz sehen, daß es mich erinnere —— an etwas —— was noch zu sagen übrig ist.«

Den Anblick dessen, der so hartnäckig mit dem schwindenden Bewußtsein kämpfte und die Furcht, derselbe könne sich noch einmal mit der Kraft von zwölf Männern beseelt aufraffen, hielten den Gegner unbeweglich an seinem Platz. Ihn wild anstarrend, stammelte Vendale die abgebrochenen Worte:

»Das Vertrauen des Todten —— will ich nicht täuschen. —— Geachtete Eltern —— unrechmäßig ererbtes Vermögen —— forschen Sie nach!«

Als sein Kopf herabsank und er wie zuvor an den Rand der Schlucht niedertaumelte, griffen die räuberischen Hände schnell und geschäftig wieder an seine Brust. Er machte eine krampfhafte Anstrengung, um »Nein!« zu rufen, und drängte sich verzweiflungsvoll über den Rand der gähnenden Kluft und versank vor den Händen seines Feindes wie ein schreckliches Traumbild.

Der Bergwind brach auf’s Neue los und beruhigte sich wieder. Die schrecklichen Stimmen der Felsen erstarben. Der Mond ging auf. Leise und still fiel Schnee hernieder.

Zwei Männer und zwei große Hunde kamen aus der Thür des Hospizes. Die Männer sahen sich vorsichtig um und blickten den Himmel an. Die Hunde wälzten sich im Schnee, nahmen ihn in den Mund und scharrten ihn mit den Füßen fort.«

Einer der Männer sagte zu dem andern: »Wir können es, jetzt wagen. Wir werden sie in einer der fünf Galerieen finden. Jeder befestigte einen Korb auf seinen Rücken, jeder nahm eine lange mit starker Eisenspitze beschlagene Stange in die Hand: jeder gürtete sich das mit einer Schlinge versehene Ende eines starken Seiles um, zu dem Zweck, sich aneinander zu befestigen.

Auf einmal hörten die Hunde auf, im Schnee zu wühlen. Sie standen still und sahen den Abhang hinab, hielten ihre Nasen in die Höhe, hielten sie auf den Boden, wurden sehr unruhig und brachen zusammen in ein tiefes lautes Heulen aus.

Die Männer sahen den Hunden in’s Gesicht. Die Hunde sahen mit mindestens derselben Intelligenz den Männern ins Gesicht.

»Zu Hilfe denn! helft! rettet!« riefen die beiden Männer. Die beiden Hunde, befriedigt, sprangen mit tiefem, lang dauerndem Gebell davon.

»Noch zwei solche Rasende,« sagte der eine Mann, bewegungslos vor Staunen, und starrte in das Mondlicht hinein. »Ist es möglich, in diesem Wetter! Und ein Weib dabei!«

Jeder der Hunde hatte den Zipfel eines Frauenkleides im Munde und zog daran. Die Besitzerin desselben liebkoste die Köpfe der Hunde und stieg durch den Schnee, als ob sie an solche Wanderungen gewöhnt wäre. Bei dem großen .Mann, der sie begleitete, war das nicht der Fall, er war erschöpft und außer Athem.

»Ihr lieben Führer, ihr lieben Freunde: aller Reisenden! ich bin eine Schweizerin. Wir suchen zwei Herren, die den Paß überschreiten wollten und das Hospiz gestern Abend erreicht haben müssen.«

»Sie haben es erreicht, Ma’amselle.«

»Dem Himmel sei Dank! dem Himmel sei Dank!«

»Aber sie sind unglücklicherweise weitergegangen, und wir machen uns eben auf den Weg, um sie zu suchen. Wir Haben erst den Tourmente vorübergehen lassen müssen, der hier oben schrecklich gewüthet hat.«

»Ihr lieben Führer und Freunde der Reisenden! Laßt mich Euch begleiten. Laßt mich Euch begleiten um Gotteswillen. Einer der Beiden soll mein Gatte werden. Ich liebe ihn so innig, o, so innig! Ihr seht, ich bin nicht schwach, Ihr seht, ich bin nicht müde. Ich bin ein Bauernkind. Ihr sollt Euch überzeugen, daß ich es verstehe, mich an Euer Seil zu befestigen. Ich kann es mit eigenen Händen. Ich schwöre Euch, muthig und tapfer auszudauern, nur laßt mich mit Euch gehen, laßt mich mit Euch gehen! Wenn ihm ein Unglück zugestoßen ist, so wird meine Liebe ihn auffinden, wenn alles Andere versagt. Auf meinen Knieen, lieben Freunde der Reisenden, beschwöre ich Euch; bei der Liebe, die Eure Mütter zu Euren Vätern im Herzen trugen, laßt mich mit Euch gehen!«

Die guten rauhen Gesellen wurden bewegt. »Genau genommen,« beredeten sie sich leise untereinander, »spricht sie die Wahrheit. Sie kennt Weg und Steg auf den Bergen. Seht, wie wunderbar sie herausgefunden hat! Aber was Monsieur hier anbetrifft, Ma’amselle?«

»Lieber Mr. Joey,« sagte Marguerite, ihn in seiner Muttersprache anredend, »Sie werden im Hause bleiben und uns erwarten. Nicht wahr?«

»Wenn ich genau wüßte, »daß ich Sie einem von Denen anvertrauen könnte´,« murrte Joey Ladle, die bei den Männer mit unverholener Geringschätzung betrachtend. »Aber mit denen würde ich mich um sechs Pfennige boxen und ihnen noch eine halbe Krone für ihre Auslagen schenken. Nein, Miß. Ich will zu Ihnen stehen, so lange ich überhaupt noch stehen kann. Ich will für Sie sterben, wenn ich nichts Besseres zu thun weiß.«

Die Stellung deä Mondes warnte nachdrücklich keine Zeit mehr zu verlieren, und da die Hunde Zeichen der höchsten Unruhe Von sich gaben, so faßten die Männer einen schnellen Entschluß. Das Seil, welches sie verband, wurde mit einem längeren vertauscht, an welchem sich die Genossen festknüpften. Marguerite war die zweite, der Kellermeister der letzte in der Reihe. Sie machten sich auf den Weg nach den Schutzhäusern. Die wirkliche Entfernung dieser Orte vom Hospiz war nicht bedeutend; an allen fünfen vorüber bis zum nächsten Hospiz betrug sie ungefähr zwei Meilen, aber ein weißes Leichentuch bedeckte gespenstig den Weg.

Sie kamen ohne zu irren in der Galerie an, in welcher die beiden Männer Schutz gesucht hatten. Der zweite Schneesturm hatte dergestalt hier gehaust, daß jede Spur: verweht war, doch liefen die Hunde mit den Nasen am Boden hin und her und schienen ihrer Sache gewiß zu sein.

Die Gefährten hielten indessen jenseits der Galerie ihre Tritte ein. Der Sturm hatte hier am wüthendsten getobt. Der Schnee lag aufgehäuft. Die Hunde wurden unsicher und liefen im Kreise herum, als suchten sie eine verlorene Spur.

Die Männer, in dem Bewußtsein, daß sich rechts die große Schlucht befand, hatten sich zu sehr nach links geschlagen und mußten nun mit unendlichen Mühen durch ein tiefes Schneefeld hindurch, um die Straße wieder zu gewinnen. Der Führer der Reihe machte Halt. Er wollte die Wegezeichen auffinden. Einer der Hunde begann in dem Schnee zu wühlen. Man trat hinzu und beobachtete den Vorgang gespannt. In der Meinung, daß jemand hier verschüttet sein konnte, beugte man sich nieder und gewahrte Flecken in dem Schnee, gewahrte auch, daß es rothe Flecken waren.

Der andere Hund blickte über den Rand der Schlucht; an allen Gliedern zitternd streckte er die Vorderpfoten auf dem Boden aus, damit er nicht hinabstürzen könne. Jetzt gesellte sich der Hund, der die rothen Flecken aufgefunden hatte, zu ihm und jetzt liefen sie wimmernd und klagend am, Rande hin und her. Endlich standen beide hart vor dem Abgrund still, legten ihre Köpfe nieder und erhoben ein schmerzvolles Geheul.

»Dort unten liegt jemand,« sagte Marguerite.

»Ich glaube auch,« sagte der Vorderste. »Stellt Euch fest, Ihr beiden Hintermänner, damit wir hinuntersehen können.«

Der Letzte in der Reihe zündete zwei Fackeln an, die er im Korbe bei sich trug und schickte sie vor. Der Führer bekam eine und Marguerite die andere. Sie spähten hinab, bald die Fackeln beschattend, bald sie nach rechts oder links hinwendend, bald sie erhebend, bald sie tief hinabbeugend wo das Mondlicht unten die schwarzen Schatten in der Tiefe nicht zu besiegen vermochte.

Ein durchdringender Schrei Margueritens unterbrach das tiefe Schweigen.

»Mein Gott! Auf jener vorspringenden Stelle, wo die Eisfläche sich über den Abgrund streckt, sehe ich eine menschliche Gestalt!«

»Wo, Ma’amselle, wo?«

»Sehen Sie, dort! auf der Eisfläche unter den Hunden.«

Der Führer zog sich mit dem Ausdruck größter Hoffnungslosigkeit vom Rande zurück. Alle verstummten, aber sie waren nicht unthätig. Marguerite machte sich und den Führer mit geschickten Fingern in wenigen Sekunden vom Seile los.

»steigt mir die Körbe. Sind diese beiden die einzigen Stricke?«

»Die einzigen, die wir hier haben, Ma’amselle; aber im Hospiz ——«

»Wenn er noch lebt —— ich weiß, es ist mein Bräutigam, so muß er sterben, ehe Ihr zurückkehrt. Lieben —— Führer! lieben Freunde der Reisenden! Seht mich an. Beobachtet meine Hände. Wenn sie versagen oder ungeschickt sind, haltet mich mit Gewalt fest, wenn sie aber kräftig und geschickt sind, helft mir ihn zu retten!«

Sie befestigte sich selbst das Seil unter der Brust und unter den Armen, sie formte eine Art Von Mieder daraus, sie schürzte es zusammen, sie legte das Ende des ersten neben das Ende des zweiten Seiles, sie wand und flocht beide zusammen, sie knotete sie, sie setzte ihren Fuß auf den Knoten, sie zog ihn fest und hielt ihn den beiden Männern hin um ihn zu prüfen.

»Sie ift inspirirt,« flüsterte einer dem andern zu.

»Bei der Gnade des Allmächtigen? rief sie aus. »Ihr beide wißt, daß ich die leichteste unter uns bin. Gebt mir den Branntwein und den Wein und laßt mich zu ihm hinunter. Dann eilt und holt mehr Hilfe herbei und ein stärkeres Seil. Ihr habt Euch überzeugt, daß, wenn Ihr es mir herunterlasst —— seht Euch das an, was ich mir selbst umgelegt habe —— ich sicher und fest seinen Körner daran befestigen kann. Todt oder lebendig, ich schaffe ihn hinauf oder sterbe mit ihm. Ich liebe ihn so innig. Braucht es noch mehr?«

Die Männer wollten sich an Marguerites Begleiter wenden, aber der lag besinnungslos im Schnee.

»Laßt mich zu ihm hinab,« sagte sie, sich zwei kleine Tonnen, die sie mitgebracht hatten, umhängend, »oder ich zerschmettre mich! Ich bin ein Bauernkind und kenne keine thörichte Furcht; die Gefahr schreckt mich nicht und ich liebe ihn so innig. Laßt mich hinab!«

»Ma’amselle, Ma’amselle, er stirbt oder ist schon todt.«

»Sterbend oder todt soll meines Gatten Haupt an meiner Brust ruhen. Laßt mich hinab, oder ich stürze mich hinunter.«

Sie waren überwunden und gaben nach. Mit so großer Vorsicht als ihre Geschicklichkeit und die Verhältnisse es erlaubten, ließen sie sie von der Höhe hinabgleiten.Mit ihrer Hand klammerte sie sich an die abschüssige Eiswand an. Sie ließen sie hinab und immer hinab, bis der Ruf heraufschallte:

»Genug!«

»Ist er es wirklich und ist er todt?« fragten sie, über den Rand blickend.

Der Ruf tönte herauf: »Er ist besinnungslos aber sein Herz schlägt. Es schlägt an dem meinen.«

»Wo liegt er?«

Der Ruf tönte herauf: »Auf einer Eisschicht. Sie thaut unter ihm und wird auch unter mir thauen. Eilt Euch. Sollten wir sterben —— ich bin es zufrieden.«

Einer der beiden Männer eilte mit den Hunden in der äußersten Geschwindigkeit, die er aufzubringen vermochte, fort, der andere steckte die brennenden Fackeln in den Schnee und bemühte sich, den Engländer wieder zum Leben zu erwecken. Viel Reiben mit Schnee und einiger Branntwein brachten ihn wieder auf die Füße, aber er blieb abwesend und vermochte sich nicht zu besinnen, wo er war?

Der Wächter stand am Rande des Abhanges, unaufhörlich schallte sein Ruf hinab: »Muth!Sie werden gleich hier sein. Wie geht es?« Die Antwort schallte heraus: »Sein Herz schlägt immer noch an dem meinen. Ich erwärme ihn in meinen Armen. Ich habe mich vom Seil losgemacht, denn das Eis schmilzt unter uns und das Seil würde mich von ihm trennen. Ich fürchte mich nicht.«

Der Mond versank hinter den Spitzen der Berge. Die ganze Schlucht hüllte Finsternis; ein. Der Ruf schallte hinab: »Was macht Ihr?« Die Antwort schallte zurück: »Wir sinken tiefer, aber sein Herz schlägt noch an dem meinen.«

Endlich verkündete Hundegebell und ein Lichtschein auf dem Schnee, daß Hilfe nahte. Zwanzig oder dreißig Männer, Laternen, Fackeln, Bahren, Seile, wollene Decken, Holz, um ein mächtiges Feuer zu entzünden, Wiederbelebungs- und Reizmittel tragend, kamen schnell herbei. Die Hunde liefen von einem Mann zum andern und von einem Gegenstand zum andern; sie liefen an die Schlucht, dumpf heulend: Eilt! eilt! eilt! Der Ruf schallte hinab: »Gott sei Dank. Alles bereit. Was macht Ihr?«

Die Antwort schallte herauf: »Wir sinken tiefer und sind zum Tode erstarrt. Sein Herz schlägt nicht mehr gegen das meine. Daß Niemand herunter komme, um unser Gewicht zu vermehren. Laßt nur das Seil herab.«

Das Feuer brannte hell und Fackelglanz beleuchtete die Seiten der Schlucht. Laternen wurden hinabgelassen und ein starkes Seil. Man konnte sehen, wie sie es um ihn schlang und befestigte.

Durch die Todtenstille ertönte der Ruf: »Aufziehen! leise!« Man sah ihre zarte Gestalt zusammenzucken, als der Leblose in den Lüften schwankte. Kein Freudenruf erschallte. Einige der Männer legten ihn auf die Bahre und andere ließen ein neues starkes Seil hinab. Wieder ertönte der Ruf: »Aufziehen! leise!« durch die Todtenstille. Aber als man sie am Rande der Schlucht empfing, da war ein Jubeln, ein Weinen, ein Gottdanken. Sie küßten ihr die Füße, sie küßten ihre Kleider, die Hunde liebkosten sie, leckten ihr die eisigen Hände und wärmten ihr mit ihren ehrlichen Gesichtern den erstarrten Busen.«

Sie machte sich von Allen los und sank auf die Bahre, mit ihren beiden lieben Händen das Herz bedeckend, was nicht mehr schlug.


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