Nicht aus noch ein



Obenreizer’s Triumph.

Der Schauplatz verwandelt sich und ist wieder am Fuß des Simplon auf der Schweizer Seite.

In einem abscheulichen Zimmer des abscheulichen kleinen Gasthauses zu Brieg saßen Mr. Bintrey und Maitre Voigt zu dem Zweck einer juristischen Berathung bei einander. Mr. Bintrey suchte in seiner Schatulle umher. Maitre Voigt hielt den Blick auf eine geschlossene Thür gerichtet, welche braun angestrichen war, um Mahagoni vorzustellen und zu den inneren Räumen des Gasthauses führte.

»Könnte er nicht schon hier sein?« fragte der Notar, seine Stellung verändernd und sich nach einer zweiten Thür am andern Ende des Zimmers umsehend, welche gelb angestrichen war, um Tannenholz vorzustellen.

»Er ist da!« antwortete Bintrey, nachdem er einen Augenblick gehorcht hatte.«

Die gelbe Thür wurde von einem Kellner geöffnet und Obenreizer trat ein.

Nachdem er Maitre Voigt mit einer Vertraulichkeit begrüßt hatte, welche den Notar nicht wenig in Verlegenheit setzte, verbeugte er sich ernst und mit gemessener Höflichkeit auch vor Bintrey. »Aus welchem Grunde bin ich von Neuschatel an den Fuß der Berge gebracht worden?« fragte er, den Stuhl einnehmend, den ihm der Englische Advocat angeboten hatte.

»Sie werden über diese Frage, noch ehe unsere Unterredung beendet ist, vollständig aufgeklärt sein. Fürs Erste erlauben Sie mir, daß ich sofort zu unsern Geschäften übergehe. Zwischen Ihnen und Ihrer Nichte, Mr. Obenreizer, hat eine Correspondenz stattgefunden. Ich bin hier, um Ihre Nichte zu vertreten.«

»Mit andern Worten, Sie, ein Mann des Gesetzes, sind hier, um eine Uebertretung des Gesetzes zu vertheidigen.«

»Vortrefflich gesagt!« rief Bintrey. »Wenn alle Leute, mit denen ich zu thun habe, wie Sie wären, so würde mein Beruf noch einmal so leicht sein! Ich bin hier, um eine Uebertretung des Gesetzes zu vertheidigen —— so sehen Sie die Sache an. Ich bin hier, um einen Vergleich zwischen Ihnen und Ihrer Nichte herzustellen —— so sehe ich die Sache an.«

»Es gehören zwei Parteien zu einem Vergleich,« erwiderte Obenreizer. »Ich leugne ab, in diesem Falle eine Partei zu sein. Das Gesetz, verleiht mir ein Recht, während ihrer Minderjährigkeit meiner Nichte Handlungen zu überwachen. Sie ist noch nicht großjährig also nehme ich mein Recht in Anspruch.«

Hier wollte Maitre Voigt einen Versuch zum Reden machen, aber Mr. Bintrey beschwichtigte ihn mit liebreichem Ton und Wesen, etwa wie man ein Lieblingskind beruhigt.

»Nein, mein würdiger Freund, nicht ein Wort. Regen Sie sich nicht unnöthig auf; überlassen Sie mir die Verhandlung. Er wendete sich um und richtete seine Rede wieder an Obenreizer.

»Ich kann Sie mit nichts Anderem, als mit Granit vergleichen, Mr. Obenreizer —— und selbst der verwittert im Lauf der Zeiten. Um des Friedens und der Ruhe willen —— um Ihrer selbst willen —— geben Sie ein Weniges nach. Wie, wenn Sie Ihre Rechte auf eine andere Person übertrügen, die ich kenne und der man zutrauen kann, daß sie Ihre Nichte weder Tag noch Nacht außer Augen lassen werde?«

»Sie verschwenden meine und Ihre Zeit nutzlos,« erwiderte Obenreizer. »Wenn meine Nichte nicht binnen acht Tagen meiner Autorität zurückgegeben wird, so rufe ich die Gesetze an. Und weigern Sie sich dann noch, so hole ich sie mit Gewalt.«

Bei den letzten Worten sprang er auf. Maitre Voigt sah sich nach der braunen Thür um, die zu den inneren Räumen führte.

»Haben Sie Mitleid mit dem armen Mädchen,« bat Bintrey. »Bedenken Sie, daß sie erst vor Kurzem ihren Bräutigam durch einen gräßlichen Tod verlor. Kann nichts Sie bewegen?«

»Nichts.«

Bintrey sprang ebenfalls auf und sah Maitre Voigt an. Maitre Voigts Hand, die auf dem Tische lag, fing an zu zittern. Maitre Voigts Augen hafteten, wie durch unwiderstehlichen Zauber gefesselt, an der braunen Thür. Obenreizer, der ihn argwöhnisch beobachtete, blickte gleichfalls dahin.

»Nebenan horcht Jemand,« sagte er mit einem scharfen Seitenblick auf Bintrey.

»Zwei horchen nebenan,« antwortete Bintrey.

»Wer sind die zwei?«

»Sie werden es sehen.«

Als er die Antwort gegeben, erhob er seine Stimme und sprach die beiden Worte —— die beiden gewöhnlichen Worte, die zu jeder Stunde des Tages auf jedermanns Lippen sind: »Kommt herein!«

Die Thür öffnete sich. Von Marguerite unterstützt —— keine Spur der gebräunten Farbe mehr im Antlitz, den rechten Arm in einer Binde über der Brust befestigt —— trat Vendale vor seinen Mörder, ein vom Tode Erstandener.

In der tiefen Stille, die folgte, war der Gesang eines Vogels im Käfig draußen auf dem Hofe, der einzige Laut, der das Schweigen im Zimmer unterbrach. Maitre Voigt stieß Bintrey an und zeigte auf Obenreizer. »Sehen Sie nur!« flüsterte der Notar.

Der Schreck hatte jede Bewegung an dem Körper des Schurken gelähmt. Todtenblässe bedeckte sein Antlitz, Die einzige Spur Von Farbe lag auf den feuchten rothen Streifen, die die Stellen kennzeichneten an denen ihn sein Opfer auf Wange und Hals getroffen hatte. Sprachlos, athemlos, bewegungslos verharrten Augen und Glieder es schien, als ob der Anblick Vendale’s ihn so tödtlich getroffen habe, wie er denselben zu treffen gemeint hatte.

»Es muß ihn einer anreden,« sagte Maitre Voigt. »Soll ich?«

Selbst in diesem Augenblick bestand Bintrey darauf, daß der Notarius schweige, und er die Leitung des Verfahrens selbst in der Hand behalte. Maitre Voigt durch eine Handbewegung zurückhaltend, gab er Margueriten und Vendale in folgenden Worten die Erlaubniß sich zurückzuziehen: »Euer Erscheinen hat das Nöthige gewirkt,« sagte er. »Eure Entfernung wird jetzt dazu dienlich sein, daß Mr. Obenreizer seine Fassung wieder gewinne.«

Sie war dazu dienlich. Als die beiden das Zimmer verlassen hatten und die Thür sich hinter ihnen schloß, that er, wie von einem Druck erleichtert, einen tiefen Athemzug. Er sah sich nach dem Stuhl um, von dem er aufgesprungen war, und sank hinein.

»Lassen Sie ihm Zeit,« bat Maitre Voigt.

»Nein,« sagte Bintrey. »Ich kann nicht wissen, welchen Nutzen er daraus zieht, wenn ich es thue.« Er wendete sich wieder an Obenreizer und begann: »Ich bin es mir schuldig —— bemerken Sie wohl, ich sage nicht, ich bin es Ihnen schuldig —— Rechenschaft abzulegen für mein Eingreifen in diese Angelegenheit und festzustellen was auf meinen Rath und aus meine alleinige Verantwortlichkeit geschehen ist. Können Sie mich hören?«

»Ich höre.«

»Erinnern Sie Sich Ihrer plötzlichen Abreise mit Mr. Vendale nach der Schweiz,« fuhr Bintrey fort. »Sie hatten England kaum vierundzwanzig Stunden verlassen, als Ihre Nichte eine Unvorsichtigkeit beging, die selbst Ihr Scharfblick nicht vorher sehen konnte. Sie folgte ihrem künftigen Gatten auf seiner Reise ohne eines Menschen Rath und Erlaubniß einzuholen und ohne einen bessern Begleiter um sie zu beschützen, als den ersten Kellermeister in Mr. Vendale’s Geschäft.«

»Warum folgte sie mir auf der Reise? Und wie kam der Kellermeister dazu, sie zu begleiten?«

»Sie folgte Ihnen,« antwortete Bintrey, »weil sich der Argwohn ihrer bemächtigt hatte, daß zwischen Ihnen und Mr. Vendale ernstliche Mißhelligkeiten ausgebrochen seien, welche man vor ihr geheim gehalten habe und weil sie Sie für fähig hielt, wenn esIhrem eignen Interesse oder zur Befriedigung Ihrer Rachlust diente, auch ein Verbrechen zu begehen. Was den Kellermeister anbetrifft, so war es derjenige unter den Leuten in Mr. Vendale’s Hause, an den sie sich (in dem Augenblick, wo Sie abgereist waren) gewandt hatte, um in Erfahrung zu bringen, ob zwischen Ihnen umd dem Herrn des Geschäfts irgend etwas vorgefallen sei? Der Kellermeister wußte etwas zu berichten. Ein unverständiger Argwohn, hervorgerufen durch ein geringfügiges Ereigniß, welches seinem Herrn in den Kellerräumen begegnet war, hatte in des Mannes Kopf die Idee festgesetzt, daß sein Herr von Mörderhand bedroht sei. Ihre Nichte lockte ihm das Bekenntniß ab, durch welches das Entsetzen, was sich ihrer bemächtigt hatte, zehnfach gesteigert wurde. Der Mann, nachdem es ihm klar geworden war, welches Unheil er angerichtet hatte, bot, um wieder gut zu machen, was er sich zu Schulden kommen lassen, das einzige an, was er anzubieten vermochte. »Wenn mein Herr in Gefahr ist, Miß sagte er, »so ist es meine Pflicht ihm zu folgen und mehr als meine Pflicht, Sie zu schützen.« Beide machten sich gemeinsam auf —— und so ist zum ersten mal im Leben ein Aberglaube zu etwas gut gewesen. Er brachte Ihre Nichte zu dem Entschluß zu reisen und diente dazu, ein Menschenleben zu retten. Haben Sie mich bis hierher verstanden?«

»Ich habe Sie verstanden.«

»Die erste Kunde von dem Verbrechen, welches Sie begangen haben,« fuhr Mr. Bintrey fort, »wurde mir durch ein Schreiben Ihrer Nichte. Alles, was Sie zu wissen brauchen, ist, daß Miß Margueriten’s Liebe und Muth den Halbermordeten retteten, und sie bei den Anstrengungen getreulich half, die gemacht wurden, um ihn wieder in’s Leben zurückzurufen. Während er hilflos in Brieg darniederlag, bat sie mich schriftlich, zu ihm zu kommen. Ehe ich abfuhr, theilte ich Madame Dor mit, daß ich erfahren, habe, Miß Obenreizer sei gesund, und daß ich wisse, wo, sie sich aufhalte. Madame Dor erzählte mir dagegen, wie ein Brief an Ihre Nichte ein getroffen sei, auf dem sie Ihre Handschrift erkenne. Ich bemächtigte mich seiner und verabredete mit ihr, wohin sie alle Briefe die möglicherweise noch nachfolgen könnten, zu senden habe. In Brieg angekommen fand ich Vendale außer Gefahr und erbot mich, sogleich einen Tag herbeizuführen, an dem mit Ihnen abgerechnet werden sollte. Defresnier und Co. kündigten Ihnen, weil sie dringenden Argwohn hegten; sie handelten, von einer Erklärung beeinflußt, die ich privatim an sie habe ergehen lassen. Nachdem ich Ihren falschen Charakter dargelegt hatte, mußte es mein nächstes Streben sein, Ihnen das gesetzliche Recht über Ihre Nichte zu entziehen. Um das zu erreichen, machte ich mir kein Gewissen daraus, im Dunkeln die Grube der Ihren Füßen zu graben, —— ja, ich empfand eine gewisse Freude daran, sie mit Ihren eigenen Waffen zu bekämpfen. Auf meinen Rath wurde die Wahrheit bis zu diesem Tag sorgfältig vor Ihnen verborgen, auf meinen Rath die Falle, in die Sie sich gefangen haben, an diesen Ort aufgestellt, Sie wissen jetzt, so gut wie ich warum? Es gab nur einen sichern Weg die teuflische Selbstbeherrschung, durch die Sie unüberwindlich sind, zu erschüttern. Dieser Weg ist eingeschlagen worden und (mögen Sie mich ansehen, wie Sie wollen) hat zum Ziele geführt. Das Letzte, was nach zu thun übrig bleibt,« schloß Bintrey, zwei schmale beschriebene Zettel aus seiner Schatulle hervorziehend, »ist, Ihre Nichte von Ihnen los zu machen. Sie haben einen Mordversuch und Sie haben einen Diebstahl und eine Fälschung begangen. Wir haben in beiden Fällen die Beweise gegen Sie in Händen. Wenn Sie des Verbrechens überführt sind, so wissen Sie so gut wie ich, was aus Ihren gesetzlichen Rechten über Ihre Nichte wird. Ich für meine Person würde dieses Verfahren in der Sache eingeschlagen haben. Aber Rücksichten, denen ich mich nicht entziehen kann, bestimmen mich dahin, diese Unterredung, wie ich schon gesagt hahe, mit einem Vergleich endigen zu lassen. Unterzeichnen Sie diese Zeilen. Entsagen Sie allen Rechten über Miß Obenreizer, verpflichten Sie sich dahin, niemals wieder in England oder der Schweiz betroffen zu werden, und ich will Ihnen eine Straflosigkeitserklärung ausstellen, welche Sie vor jeder ferneren Verfolgung sicher stellt.«

Obenreizer nahm schweigend die Feder und unterzeichnete die Freigebung seiner Nichte. Bei dem Empfang der Straflosigkeitserklärung erhob er sich, aber machte keine Miene, das Zimmer zu verlassen. Er stand und sah Maitre Voigt mit seltsamem Lächeln auf den Lippen und einem seltsamen Aufleuchten in den überschatteten Augen an.«

»Worauf warten Sie noch?« fragte Bintrey.

Obenreizer deutete auf die braune Thür. »Rufen Sie sie zurück,« antwortete er. »Ich habe, ehe ich fortgehe, noch etwas in Gegenwart der Beiden zu sagen.«

»Sagen Sie es in meiner Gegenwart,« erwiderte Bintrey. »Ich verweigerte, sie zurückzurufen.«

Obenreizer wendete sich an Maitre Voigt. »Erinnern Sie sich, daß Sie mir, als ich das erste Mal bei Ihuen war, mitteilten, einst einen Clienten Namens Vendale gehabt zu haben?« fragte er.

»Nun,« antwortete der Notarius. »Was hat es damit für Bewandtniß?«

»Maitre Voigt, Ihr Uhrschloß hat Sie betrogen.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Daß ich die Briefe und Certificata welche sich in dem Kasten Ihres Clienten befinden, gelesen habe. Ich habe Copien davon abgenommen. Ich habe dieselben bei mir. Ist Grund oder ist kein Grund vorhanden, die Beiden im Nebenzimmer zurückzurufen?«

Für einen Augenblick sah der Notarius vor Erstaunen rathlos, zwischen Bintrey und Obenreizer hin und her. Als er sich gesammelt hatte, nahm er seinen Collegen bei Seite und flüsterte ihm schleunig wenige Worte in’s Ohr. Bintrey’s Antlitz das genau die Verwunderung auf dem Antlitz Maitre Voigtis widerspiegelte —— fing plötzlich an seinen Ausdruck zu verändern. Er eilte mit der Behendigkeit eines Jünglings an die Thüre; die nach den inneren Gemächern führte, trat durch dieselbe in das Nebenzimmer und verweilte eine Minute darin. Darauf kehrte er von Marguerite und Vendale begleitet zurück. »Nun, Mr. Obenreizer,« sagte Bintrey. »Der letzte Zug in dem Spiele ist der Ihre. Thun Sie ihn.«

»Ehe ich aus das Amt des Vormundes dieser jungen Dame Verzicht leiste,« sagte Obenreizer, »habe ich noch ein Geheimniß zu enthüllen, bei dem sie mit interessirt ist. Ich beanspruche nicht, daß sie oder eine Von den andern hier anwesenden Personen meiner bloßen Erzählung Glauben schenken. Ich bin in Besitz von geschriebenen Beweisen, von Copien der Originale, deren Richtigkeit Maitre Voigt bezeugen kann. Behalten Sie das im Gedächtniß und erlauben Sie mir, Sie im Beginn meiner Erzählung auf ein längst vergangenes Datum zurückzuweisen —— auf den Monat Februar im Jahre ein Tausend achthundert und sechsunddreißig.«

»Merken Sie auf das Datum, Mr. Vendale,« sagte Bintrey.

»Mein erster Beweis!« fuhr Obenreizer fort, aus seinem Taschenbuch ein Blatt Papier nehmend. »Abschrift eines Briefes, der von einer englischen Dame an ihre Schwester, eine Wittwe, geschrieben ist. Den Namen der Schreiberin behalte ich für mich, bis ich geendet haben werde. Den Namen der Empfängerin dagegen bin ich willens aufzudecken. Die Adresse des Briefes lautet:

»Mrs. Jane Anne Miller, of Groombridge-wells, England.«

Vendale fuhr zurück und öffnete seine Lippen, um zu sprechen, Bintrey verhinderte ihn daran, wie er Maitre Voigt verhindert hatte. »Nein,« sagte der eigensinnige Advocat. »Ueberlassen Sie es mir.«

Obenreizer fuhr fort:

»Es ist unnütz, Sie mit der ersten Hälfte des Briefes zu langweilen,« sagte er. »Ich kann den Inhalt in zwei Worten wiedergeben. Der Schreiberin Verhältnisse sind folgende: Sie hat lange Zeit mit ihrem Mann, dessen Gesundheit es erfordern, in der Schweiz gelebt. Beide stehen im Begriff sich etwa in einer Woche an den Neuschateller See zu begeben und wollen sich bereit halten, Mrs. Miller in vierzehn Tagen nach ihrem Eintreffen am See, als Gast zu empfangen. Danach geht die Schreiberin auf wichtige häusliche Interessen ein. Ihre Ehe ist kinderlos, sie und ihr Gatte haben seht keine Aussicht mehr Kinder zu bekommen. Sie sind allein und ihnen fehlt ein Lebensinteresse. Sie haben sich entschlossen, ein Kind anzunehmen. Hier fängt der bedeutsame Theil des Briefes an, von hier ab werde ich ihn Wort für Wort vorlesen.«

Er schlug die erste Seite des Briefes um und las wie folgt:

» . . . Willst Du, meine liebe Schwester, uns bei der Ausführung unseres Planes behilflich sein? Da wir Engländer sind, so möchten wir gern ein Englisches Kind erziehen. Ein solches läßt sich, wie ich höre, aus dem Findelhause entnehmen, der Geschäftsführer meines Mannes in London wird Dir mitteilen, wie es zu bewerkstelligen ist. Ich überlasse Dir die Wahl und stelle nur die einzige Bedingung —— daß das Kind noch nicht ein Jahr alt und ein Knabe sei. Ich bitte der großen Mühe wegen, die ich Dir mache, um Verzeihung, und bitte ferner so gut zu sein, das angenommene Kind nebst Deinen eigenen Kindern mit nach Neuschatel zu bringen, wenn Du zu uns kommst.

»Ich muß noch ein Wort über die Wünsche meines Mannes in dieser Angelegenheit hinzufügen. Er ist entschlossen, dem Kinde, welches wir zu unserm eignen machen, jede Beschämung und jeden Mangel an Selbstachtung die ihm die Entdeckung seines wahren Ursprungs später verursachen könnten, zu ersparen. Es soll den Namen meines Mannes führen und in dem Glauben auferzogen werden, daß er in der That unser Sohn sei. Die Erbschaft von dem, was wir besitzen soll ihm gesichert werden —— nicht allein in der Form, die die Englischen Gesetze in solchem Fall verlangen, sondern auch in der Form, die die Schweizer Gesetze vorschreiben, denn wir haben so lange in diesem Lande gelebt, daß es die Frage ist, ob man uns nicht für in der Schweiz Ansässige betrachtet. Das einzige, was noch zu thun übrig bleibt, ist, Vorsichtsmaßregeln zu ergreifen, um eine Entdeckung, die vielleicht vom Findelhause ausgehen könnte, zu verhindern. Unser Name ist ein sehr ungewöhnlicher und wenn derselbe in den Registern der Anstalt als der Name Diejenigen aufgezeichnet wird, die das Kind angenommen haben, so wäre dabei eine Gefahr für die Folge zu fürchten. Dein Name, meine liebe Schwester, ist der Name vieler tausend Menschen, und wenn Du einwilligtest, den Deinen in das Register zu setzen, so wären wir von der Seite her vor jeder Entdeckung gesichert. Wir begeben uns, nach der Verordnung des Arztes, in einen Theil der Schweiz, wo unsere Verhältnisse gänzlich unbekannt sind und Du, wie ich verstanden habe, bist im Begriff, Dir für die Reise ein neues Kindermädchen zu miethen. Unter diesen Umständen kann das Kind für mein Kind gelten, welches unter der Obhut meiner Schwester zu mir gebracht wird. Die einzige Magd, welche ich aus der alten Behausung mit mir nehme, ist meine Jungfer, in die ich vollständiges Vertrauen setze. Was unsere Advocaten in England und der Schweiz anbelangt, so sind es Leute, deren Beruf Verschwiegenheit verlangt —— und wir können nach dieser Richtung hin ganz unbesorgt sein. Jetzt liegt unsre kleine Verschwörung ganz vor Dir. Schreibe mir umgebend, meine liebe Schwester, um mir zu versichern, daß Du mit uns im Bunde sein willst.« ....

»Halten Sie noch mit dem Namen der Schreiberin des Briefes zurück?« fragte Vendale.

»Ich behalte den Namen bis zum Schluß für mich,« antwortete Obenreizer, »und gehe zu meinem zweiten Beweise über. Ein kleines Blatt Papier diesmal, wie Sie sehen. Eine Notiz, welche dem Schweizer Advocaten gegeben worden, der die in dem von mir vorgelesenen Brief erwähnten Documente, aufgesetzt hat. Sie lautet folgender Maßen:

»Aus dem Findelhaufe in England am 3. März 1836 einen Knaben angenommen, der in der Anstalt Walter Wilding hieß. Die Person, welche das Kind adoptirt hat, ist in dem Register als Mrs. Anne Jane Millen Wittwe, verzeichnet, welche in dieser Angelegenheit für ihre verheirathete, sich in der Schweiz aufhaltende Schwester eingetreten ist. Gelduld!« fuhr Obenreizer fort, als Vendale, sich von Bintrey losmachend, aufsprang. »Ich werde den Namen nicht lange mehr verschweigen. Noch zwei kleine Blättchen Papier und ich bin zu Ende. Dritter Beweis! Certificat des Doktors Ganz, desselben, der noch in Neuschatel prakticirt, vom Juli 1838 datiert. Der Doctor stellt das Zeugnis; aus, (Sie werden es Alle gleich selbst lesen) erstens, daß er den angenommenen Knaben in seinen Kinderkrankheiten behandelt hat; zweitens, daß ein Vierteljahr vor der Ausstellung dieses Certificates der Herr, der das Kind an Sohnes statt adoptierte, gestorben ist; drittens, daß am Tage, an dem das Certificat ausgestellt ist, die Wittwe in Begleitung ihrer Jungfer und des angenommenen Knaben Neuschatel verlassen hat, um nach England zurückzukehren. Noch ein Glied ist nöthig hinzuzufügen, und die Kette meiner Beweise ist geschlossen. Die Jungfer blieb bei ihrer Herrin bis zu dem Tode derselben, der wenige Jahre nachher erfolgte. Die Magd kann die Identität des angenommenen Knaben beschwören. Sie kennt ihn von seiner Kinder- bis zu seiner Jünglingszeit, von seiner Jünglingszeit bis zum Mannesalter, in dem er jetzt steht. Hier ist ihr Adresse in England —— und, Mr. Vendale, zugleich der vierte und letzte Beweis.«

»Warum richten Sie Ihre Rede an mich »?« fragte Vendale, als Obenreizer die geschriebene Adresse auf den Tisch warf.

Obenreizer wendete sich mit plötzlich ausbrechendem, fast wahnsinnigen Triumph zu ihm hin:

»Weil Sie der Mann sind! Wenn meine Nichte Sie heirathen so heirathet sie einen Bastard, der von der öffentlichen Mildthätigkeit erzogen worden ist. Wenn meine Nichte Sie heirathet, so heirathet sie einen Betrüger ohne Namen und Abstammung, der sich für einen Gentleman von Rang und Familie ausgiebt.«

»Bravo!« rief Bintrey. »Vortrefflich ausgedacht, Mr. Obenreizer! Es fehlt nur ein Wort zur Vervollständigung des Ganzen. Sie heirathet —— wie es Dank Ihren Anstrengungen zu Tage gekommen ist —— einen Mann, der ein schönes Vermögen erbt und einen Mann, dessen Ursprung ihn stolzer, wie je auf das Bauernkind machen wird, das er sein Weib nennen will. George Vendale, als gemeinsame Testamentsvollstrecker wollen wir uns gegenseitig Glück wünschen. Unsres theuren verstorbenen Freundes letzter Wunsch auf Erden ist erfüllt. Wir haben den verlorenen Walter Wilding aufgefunden. Wie Mr. Obenreizer sagte —— Sie sind der Mann!«

Die Worte blieben von Vendale unbeachtet. Er war sich für den Augenblick nur einer Empfindung bewußt und hörte nur eine Stimme. Marguerites Hand drückte die seinige, Marguerites Stimme flüsterte ihm zu! »Ich habe Dich nie so geliebt, George, wie ich Dich jetzt liebe!«


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