Fräulein oder Frau?
Kapitel 11
Außerhalb des Hauses
Der Abend war kühl, aber nicht eigentlich kalt für die Jahreszeit. Der Mond schien nicht, aber die Sterne glänzten und die Luft war ruhig. Insgesamt waren die Bewohner des kleinen in Somersetshire gelegenen Dorfes Baxdale darüber einig, daß sie seit Jahren keinen so schönen Weihnachtsabend gehabt hätten. Gegen sieben Uhr abends war es in der einzigen kleinen Straße des Dorfes ganz still, außer da, wo das Wirtshaus lag. In den meisten Häusern saßen die Leute um ihren Herd geschart und beobachteten behaglich das Kochen ihres Abendessens. Die in einer kleinen Entfernung vom Dorfe gelegene, alte, kahle, graue Kirche erschien in dem düsteren Sternenlicht noch einsamer, als gewöhnlich. Aus dem Pfarrhause, das dicht bei der Kirche im Schatten des Turmes lag, drang kein Feuer- und Lichtschein, um das trübe Bild zu erhellen. Die Läden des Pfarrers schlossen gut und seine Vorhänge waren dicht zusammengezogen.
Der einzige Lichtstrahl, der die winterliche Dunkelheit erhellte, drang aus dem Fenster eines einsamen Hauses, das durch die ganze Länge des Kirchhofs von dem Pfarrhause getrennt war. An dem Fenster stand ein Mann, der den Laden geöffnet hielt und aufmerksam nach dem trüben, öden Kirchhof ausschaute. Der Mann war Richard Turlington. Das Zimmer, in dem er Wache hielt, war ein Zimmer in seinem eigenen Hause. In diesem Augenblick blitzte ein kurzer Lichtschein, wie von einem angestrichenen Zündholz, auf dem Kirchhofe auf. Turlington verließ sogleich das leere Zimmer, in welchem er Wache gehalten hatte. Er ging durch den Hintergarten des Hauses, durchschritt einen engen Gang am Ende desselben, öffnete ein in einer niedrigen, steinernen Mauer befindliches Gitter und trat in den Kirchhof. Der Schatten einer männlichen Gestalt von großer Statur, die sich zwischen den Gräbern versteckt gehalten hatte, schritt auf ihn zu. Etwa in der Mitte des dunklen, einsamen Orts standen die beiden miteinander still und berieten sich flüsternd. Turlington sprach zuerst.
„Habt Ihr im Wirtshaus Quartier genommen?“
„Ja, Herr.“
„Habt Ihr noch am Tage den Weg nach dem einsamen Malzhause hinter der Mauer meines Obstgartens gefunden?“
„Ja, Herr.“
„Jetzt hört mich an. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Versteckt Euch hinter jenem Grabmal. Vor neun Uhr heute abend werdet Ihr mich bis zu jener Stelle mit dem Manne, auf den Ihr zu warten habt, über den Kirchhof gehen sehen. Er wird eine Stunde bei dem Pfarrer in dem Hause da drüben zubringen. Ich werde hier still stehen und zu ihm sagen: ‚Sie können jetzt Ihren Weg im Dunkeln nicht mehr verfehlen, ich will umkehren.‘ Wenn ich weit genug von ihm fort bin, werde ich auf meiner Pfeife ein Signal geben. In dem Augenblick, wo Ihr das Zeichen hört, folgt dem Mann und schlagt ihn zu Boden, bevor er den Kirchhof verlassen hat. Habt Ihr Euren Knittel bei Euch?“
Thomas Wild hielt seinen Knittel in die Höhe. Turlington ergriff seinen Arm und befühlte denselben argwöhnisch.
„Ihr habt schon einen Anfall gehabt“, sagte er, „was hat das Zittern zu bedeuten?“
Während er dies sagte, zog er eine Branntweinflasche aus seinem Rocke. Thomas Wild riß sie ihm aus der Hand, leerte sie auf einen Zug und sagte dann: „Nun ist alles wieder in Ordnung, Herr!“ Turlington befühlte abermals seinen Arm; er war bereits ruhiger geworden. Wild schwang seinen Knittel und tat einen tüchtigen Hieb damit auf einen der neben ihm befindlichen Rasenhügel. „Wird er davon zu Boden fallen, Herr?“ fragte er.
Turlington fuhr mit seinen Instruktionen fort: „Wenn Ihr ihn zu Boden geworfen habt, plündert ihn aus. Nehmt ihm sein Geld und seine Juwelen ab und gebt ihm den Gnadenstoß. Sein Tod muß als Folge eines Raubmordes erscheinen. Ehe Ihr fortgeht, vergewissert Euch, daß er tot ist; dann geht nach dem Malzhause. Ihr braucht nicht bange zu sein, daß man Euch sieht: alle Leute werden in ihren Häusern sein, um den Weihnachtsabend zu feiern. Im Malzhause werdet Ihr andere Kleider und einen alten Kessel mit ungelöschtem Kalk finden. Zerstört die Kleider, die Ihr auf dem Leibe habt und zieht die anderen an. Folgt dem Kreuzweg, bis er Euch auf die Landstraße führt und wendet Euch da zur Linken. Wenn Ihr etwa zwei Stunden gegangen seid, kommt Ihr nach der Stadt Harminster. Übernachtet da und geht morgen früh mit dem ersten Zug wieder nach London. Hier geht nach meinem Comptoir, fragt nach dem ersten Commis und sagt: ‚Ich komme, um meinen Empfangschein zu quittieren.‘ Unterzeichnet denselben mit Eurem Namen und Ihr werdet Eure hundert Pfund bekommen. Das sind Eure Verhaltungsmaßregeln. Habt Ihr sie verstanden?“
Wild nickte mit dem Kopf zum Zeichen, daß er verstanden habe und verschwand wieder zwischen den Gräbern. Turlington kehrte nach seinem Hause zurück.
Er hatte die Mitte des Gartens erreicht, als er durch den Klang von Fußtritten aufgeschreckt wurde, die von der Stelle des Ganges herzukommen schienen, wo derselbe an einer Ecke des Hauses vorüberführte. Raschen Schrittes eilte er vorwärts und stellte sich hinter eine vorspringende Ecke der Mauer, so daß er die betreffende Person den Lichtstreifen durchschreiten sehen konnte, der aus dem unbewehrten Fenster des Zimmers drang, in welchem er selbst vorhin Wache gehalten hatte. Der Fremde ging sehr rasch. Alles, was Turlington sehen konnte, als jener durch den Lichtstreifen hindurch ging, war, daß er den Hut tief über die Stirne gezogen hatte und daß er einen dicken Schnurr- und Backenbart trug. Als er, ins Haus zurückgekehrt, seinem Diener den Mann beschrieb, erfuhr er, daß ein Fremder mit einem großen Bart schon seit einigen Tagen in der Gegend bemerkt worden sei. Nach seiner eigenen Angabe sei er ein Feldmesser, der mit Vermessungen für eine demnächst zu veröffentlichende Karte dieser Gegend beschäftigt sei.
Der schuldbewußte Turlington war weit entfernt, sich von dieser mageren Auskunft befriedigt zu fühlen. Der Mann konnte doch im Dunkeln keine Vermessungen vornehmen. Was konnte er zu dieser späten Stunde in der einsamen Umgebung des Hauses und des Kirchhofs zu suchen haben? -
Was der Mann suchte, war, was er ein wenig weiter, unterhalb des Ganges in einer lockeren Stelle der Kirchhofsmauer fand – ein Brief von einer jungen Dame. Der Brief, den er bei dem Lichte einer Taschenlaterne, die er bei sich führte, las, beglückwünschte ihn zuerst wegen des vollständigen Gelingens seiner Verkleidung, und versprach dann, daß die Schreiberin am nächsten Morgen, bevor jemand im Hause wach sei, am Fenster ihres Schlafzimmers zur Flucht bereit stehen werde. Unterzeichnet war der Brief „Natalie“ und die Ansprache in dem Briefe lautete: „Liebster Launce“.
Inzwischen schloß Turlington wieder die Fensterläden des Zimmers und sah nach seiner Uhr. Es war erst ein Viertel vor neun Uhr. Er nahm seine Hundepfeife vom Kaminsims und ging nach dem Salon, in welchem seine Gäste den Abend zubrachten.
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