Das Eismeer



Kapitel Eins

Das Datum ist ungefähr zwanzig bis dreißig Jahre vor unserer Zeit. Der Ort ist ein englischer Seehafen. Die Tageszeit ist der Abend. Und die Beschäftigung des Augenblicks ist – tanzen.

Der Bürgermeister und der Stadtrat der Stadt geben einen prächtigen Ball, zur Feier der Abreise einer arktischen Expedition von ihrem Hafen aus. Die Schiffe der Expedition sind zwei an der Zahl – die Wanderer und die Seemöwe. Sie sollen am nächsten Tag absegeln (auf die Suche nach der Nord-West-Passage), mit der Morgenflut.

Hochachtung für den Bürgermeister und den Stadtrat! Es ist ein prächtiger Ball. Die Musikkapelle ist vollzählig. Der Raum ist weitläufig. Der große Wintergarten, der sich daraus auftut, ist angenehm beleuchtet mit chinesischen Laternen, und wunderschön geschmückt mit Sträuchern und Blumen. Alle Offiziere der Armee und der Marine, die anwesend sind, tragen zu Ehren des Anlasses ihre Uniformen. Bei den Ladies ist der Aufwand der Kleider (ein Thema, das die Männer nicht verstehen) verblüffend – und der Durchschnitt der Schönheit (ein Thema, das die Männer verstehen) ist der höchste erreichbare Durchschnitt, überall im Raum.

Momentan ist der fortschreitende Tanz eine Quadrille. Die allgemeine Verehrung wählt zwei der Ladies, die tanzen, als ihre bevorzugten Objekte aus. Die eine ist eine dunkle Schönheit in der Blüte der Fraulichkeit – die Ehefrau des Ersten Lieutenants Crayford der Wanderer. Die andere ist ein junges Mädchen, blaß und zierlich; schlicht in weiß gekleidet, mit keiner Zierde auf ihrem Haupt außer ihrem eigenen herrlichen, braunen Haar. Dies ist Miß Clara Burnham – eine Waise. Sie ist Mrs. Crayfords liebste Freundin, und sie soll bei Mrs. Crayford bleiben während der Abwesenheit des Lieutenants in den arktischen Regionen. Im Augenblick tanzt sie mit dem Lieutenant persönlich als Partner, und mit Mrs. Crayford und Captain Helding (Kommandierender Offizier der Wanderer) als vis-à-vis – im Klartext, als gegenüberstehendes Tanzpaar.

Die Konversation zwischen Captain Helding und Mrs. Crayford, in einer der Pausen des Tanzes, dreht sich um Miß Burnham. Der Captain ist überaus interessiert an Clara. Er verehrt ihre Schönheit, doch er betrachtet ihr Verhalten als – für ein junges Mädchen – seltsam ernst und gebändigt. Ist sie von schwächlicher Gesundheit?

Mrs. Crayford schüttelt den Kopf; seufzt geheimnisvoll; und antwortet „Von sehr schwächlicher Gesundheit, Captain Helding.“

„Schwindsüchtig?“

„ Nicht im geringsten.“

„Ich bin froh, das zu hören. Sie ist ein bezauberndes Wesen, Mrs. Crayford. Sie interessiert mich unbeschreiblich. Wenn ich nur zwanzig Jahre jünger wäre – vielleicht (da ich nicht zwanzig Jahre jünger bin) sollte ich den Satz besser nicht beenden? Ist es indiskret, meine verehrte Lady, mich zu erkundigen, was mit ihr los ist?“

„Es könnte indiskret sein, von Seiten eines Fremden“, sagte Mrs. Crayford. „Ein alter Freund wie Sie darf jegliche Erkundigung einziehen. Ich wünschte, ich könnte Ihnen sagen, was mit Clara los ist. Es ist selbst den Ärzten ein Rätsel. Einiges von dem Unheil ist, meiner bescheidenen Meinung nach, der Art und Weise zuzuschreiben, wie sie erzogen worden ist.“

„Ay! ay! Eine schlechte Schule, vermute ich.“

„Sehr schlecht, Captain Helding. Aber nicht von der Art Schule, die Sie in diesem Moment im Sinn haben. Ihre frühen Jahre hat Clara in einem einsamen, alten Haus in den Highlands von Schottland verbracht. Die ungebildeten Leute um sie herum waren die Leute, die das Unglück angerichtet haben, von dem ich soeben gesprochen habe. Sie füllten ihren Verstand mit Aberglauben, die im wilden Norden noch immer wie Wahrheiten respektiert werden – besonders der Aberglaube, der das Zweite Gesicht genannt wird.“

„Du meine Güte!“ rief der Captain, „Sie wollen doch nicht etwa sagen, daß sie an ein Zeug wie das glaubt? Noch dazu in diesen aufgeklärten Zeiten!“

Mit einem spöttischen Lächeln schaute Mrs. Crayford auf ihren Tanzpartner.

„In diesen aufgeklärten Zeiten, Captain Helding, glauben wir lediglich an Tanztafeln und an Nachrichten, die aus der übrigen Welt geschickt werden durch Kräfte, die nicht zaubern können! Zum Vergleich mit solchen Aberglauben wie diesen hat doch sicher sogar das Zweite Gesicht etwas – in Gestalt der Dichtkunst – das zu befürworten wäre? Beurteilen Sie selbst“, fuhr sie ernst fort, „die Auswirkung solcher Umgebungen, wie ich sie beschrieben habe, auf ein zartes, sensitives junges Wesen – ein Mädchen mit einem von Natur aus phantasievollen Gemüt, das ein einsames, vernachlässigtes Leben führt. Ist es so sehr überraschend, daß sie von dem Aberglauben um sie herum angesteckt werden sollte? Und ist es völlig unbegreiflich, daß ihr Nervensystem folglich leiden sollte, in einem äußerst kritischen Zeitabschnitt ihres Lebens?“

„Überhaupt nicht, Mrs. Crayford – überhaupt nicht, Ma’am, so wie Sie es ausdrücken. Dennoch ist es ein wenig erschreckend für einen gewöhnlichen Mann wie mich, einer jungen Lady zu begegnen, die an das Zweite Gesicht glaubt. Behauptet sie wirklich, in die Zukunft zu schauen? Soll ich es so verstehen, daß sie wahrhaftig in eine Trance fällt, und Menschen in fernen Ländern sieht, und Ereignisse voraussagt, die kommen werden? Das ist das Zweite Gesicht, nicht wahr?“

„Das ist das Zweite Gesicht, Captain. Und das ist wirklich und wahrhaftig, was sie tut.“

„Die junge Lady, die uns gegenüber tanzt?“

„Die junge Lady, die uns gegenüber tanzt.“

Der Captain wartete ein wenig – er ließ die neue Flut von Informationen, die auf ihn eingeströmt war, sich in seinem Verstand festsetzen. Als dieser Prozeß vollendet war, setzte der Erforscher der Arktis entschlossen seinen Weg zu weiteren Entdeckungen fort.

„Darf ich fragen, Ma’am, ob Sie sie jemals mit eigenen Augen in einem Zustand der Trance gesehen haben?“, erkundigte er sich.

„Meine Schwester und ich haben sie beide in ihrer Trance gesehen, vor etwas mehr als einem Monat“, erwiderte Mrs. Crayford. „Sie war den ganzen Morgen nervös und reizbar gewesen; und wir brachten sie hinaus in den Garten, damit sie frische Luft schöpfen konnte. Plötzlich, ohne irgend einen Grund dafür, verlor ihr Gesicht alle Farbe. Sie stand zwischen uns, augenblicklich gleichgültig gegen Berührungen, gleichgültig gegen Geräusche, regungslos wie Stein, und kalt wie der Tod. Die erste Veränderung, die wir bemerkten, trat auf, nachdem einige Minuten verstrichen waren. Ihre Hände begannen sich langsam zu bewegen, als ob sie im Dunkeln tappte. Worte kamen eines nach dem anderen von ihren Lippen, in einem verlorenen, ausdruckslosen Tonfall, als ob sie im Schlaf spräche. Ob das, was sie sagte, sich auf Vergangenheit oder Zukunft bezog, kann ich Ihnen nicht sagen. Sie sprach von Personen in einem fremden Land – völlig Fremde für meine Schwester und für mich. Nach kurzer Zeit verstummte sie plötzlich. Eine flüchtige Färbung erschien in ihrem Gesicht, und verließ es wieder. Ihre Augen schlossen sich – ihre Beine versagten ihr – und sie sank ohnmächtig in unsere Arme.“

„Sank ohnmächtig in Ihre Arme“, wiederholte der Captain, die neue Information in sich aufnehmend. „Höchst außergewöhnlich! Und – in diesem Gesundheitszustand – geht sie aus auf Parties, und tanzt! Noch außergewöhnlicher!“

„Sie befinden sich völlig im Irrtum“, sagte Mrs. Crayford. „Sie ist heute abend nur hier, um mir eine Freude zu machen; und sie tanzt nur, um meinem Mann eine Freude zu machen. Normalerweise meidet sie jegliche Gesellschaft. Der Doktor empfiehlt Veränderung und Vergnügung für sie. Sie will nicht auf ihn hören. Ausgenommen bei seltenen Gelegenheiten wie dieser, beharrt sie darauf, zu Hause zu bleiben.“

Captain Helding strahlte bei der Erwähnung des Doktors. Von dem Doktor konnte man etwas Brauchbares erhalten. Wissenschaftler. Bestimmt sieht er dieses äußerst obskure Thema unter einem neuen Licht. „Welchen Eindruck macht es nun auf den Doktor? Einfach als Fall betrachtet, welchen Eindruck macht es auf den Doktor?“

„Er ist nicht geneigt, mir eine positive Meinung zu geben“, antwortete Mrs. Crayford. „Er sagte mir, daß solche Fälle wie Claras der medizinischen Praxis durchaus nicht unbekannt seien. «Wir wissen», sagte er mir, «daß bestimmte verwirrte Zustände des Gehirns und des Nervensystems Auswirkungen zur Folge haben, die genau so außergewöhnlich sind wie alles, was Sie beschrieben haben – und da endet unser Wissen. Weder meine Wissenschaft noch die Wissenschaft irgendeines Menschen kann in diesem Fall das Geheimnis aufklären. Wir haben es mit einem besonders diffizilen Fall zu tun, weil Miß Burnhams früherer Umgang sie dazu verleitet, der Krankheit, an der sie leidet – die Hysterische Krankheit, wie einige Doktoren sie nennen würden – eine abergläubische Wichtigkeit zuzumessen. Ich kann Ihnen Instruktionen geben, um ihre allgemeine Gesundheit zu bewahren; und ich kann Ihnen empfehlen, sich um etwas Veränderung in ihrem Leben zu bemühen – vorausgesetzt, Sie befreien zuerst ihren Geist von jeglichen geheimen Ängsten, die sie möglicherweise bedrücken.»“

Der Captain lächelte selbstgefällig. Der Doktor hatte seine Hoffnungen gerechtfertigt. Der Doktor hatte eine praktische Lösung für das Problem empfohlen.

„Ay! ay! Endlich haben wir den Nagel auf den Kopf getroffen! Geheime Ängste. Ja! ja! Jetzt ist es ganz klar. Eine Enttäuschung in der Liebe – eh, Mrs. Crayford?“

„Ich weiß nicht, Captain Helding; ich bin völlig im Dunkeln. Claras Vertrauen in mich – das in anderen Dingen unbegrenzt ist – ist in dieser Sache ihrer (vermutlichen) Ängste ein Vertrauen, das mir vorenthalten ist. In allem anderen sind wir wie Schwestern. Ich fürchte manchmal, daß es tatsächlich einen Kummer geben könnte, der sie insgeheim bedrückt. Manchmal fühle ich mich ein wenig gekränkt durch ihr unverständliches Schweigen.“

Captain Helding stand bereit mit seinem eigenen praktischen Heilmittel für diese schwierige Sache.

„Ermunterung ist alles, was sie braucht, Ma’am. Nehmen Sie mein Wort dafür, diese Sache hängt völlig von Ihnen ab. Das ist es, kurzum. Ermutigen Sie sie, sich Ihnen anzuvertrauen – und sie wird sich anvertrauen!“

„Ich werde damit warten, sie zu ermutigen, Captain, bis sie mit mir allein ist – nachdem Sie alle zu den arktischen Meeren abgesegelt sind. Werden Sie in der Zwischenzeit berücksichtigen, daß das, was ich Ihnen erzählt habe, nur für Ihre Ohren bestimmt ist? Und werden Sie mir vergeben, wenn ich gestehe, daß die Wendung, die das Thema genommen hat, mich nicht dazu bringt, es noch weiter zu verfolgen?“

Der Captain nahm den Wink auf. Er wechselte augenblicklich das Thema; bei dieser Gelegenheit wählte er sichere, berufliche Themen. Er sprach von Schiffen, die in fremden Diensten standen; und sprach, als er herausfand, daß diese es als Themen versäumten, Mrs. Crayford zu interessieren, als nächstes von Schiffen, die wieder heimgerufen worden waren. Dieser letzte Versuch brachte sein Ergebnis – ein Ergebnis, mit dem der Captain nicht gerechnet hatte.

„Wissen Sie“, begann er, „daß die Atalanta jeden Tag von der Westküste Afrikas zurückerwartet wird? Haben Sie irgendwelche Bekanntschaften unter den Offizieren dieses Schiffes?“

Wie es sich traf, stellte er Mrs. Crayford diese Fragen, während sie beschäftigt waren mit einer der Figuren des Tanzes, die sie in Hörweite des Partnerpaares brachten. Im selben Moment brachte Miß Clara Burnham – zur Überraschung ihrer Freunde und Verehrer – die Quadrille in Verwirrung, indem sie einen Fehler machte! Jeder erwartete, zu sehen, wie sie den Fehler in Ordnung brachte. Sie machte keine Bemühung, ihn in Ordnung zu bringen – sie wandte sich totenbleich um und packte ihren Partner beim Arm.

„Die Hitze!“ sagte sie schwach. „Bring mich fort – bring mich an die Luft!“

Lieutenant Crayford führte sie augenblicklich aus dem Tanz heraus und brachte sie in den kühlen und leeren Wintergarten am Ende des Raumes. Wie als Selbstverständlichkeit verließen Captain Helding und Mrs. Crayford die Quadrille ebenfalls. Der Captain sah seine Möglichkeit zu einem Scherz.

„Beginnt so die Trance?“, flüsterte er. „Falls es so ist, muß ich, als Kommandant der Arktisexpedition, eine besondere Bitte vorbringen. Wird das Zweite Gesicht die Güte haben, den kürzesten Weg zu der Nordwest-Passage zu sehen, bevor wir England verlassen?“

Mrs. Crayford lehnte es ab, den Scherz mit Geduld zu ertragen. „Wenn Sie entschuldigen, daß ich Sie verlasse“, sagte sie leise; „ich werde versuchen, herauszufinden, was mit Miß Burnham los ist.“

Am Eingang zum Wintergarten stieß Mrs. Crayford zu ihrem Ehemann. Der Lieutenant war mittleren Alters, groß und attraktiv. Ein Mann mit gewinnender Einfachheit und Güte in seinem Verhalten und einer unwiderstehlichen Freundlichkeit in seinen unerschrockenen blauen Augen. Kurzum, ein Mann, den jeder liebte – seine Ehefrau eingeschlossen.

„Sei nicht beunruhigt“, sagte der Lieutenant. „Die Hitze hat sie überwältigt – das ist alles.“

Mrs. Crayford schüttelte den Kopf, und schaute auf ihren Gatten, halb spöttisch, halb zärtlich.

„Du liebe alte Unschuld!“ rief sie aus, „diese Entschuldigung mag für dich genügen. Ich für meinen Teil glaube nicht ein Wort davon. Geh und nimm dir eine andere Tanzpartnerin, und überlaß Clara mir.“

Sie betrat den Wintergarten und setzte sich an Claras Seite.



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Kapitel Zwei

„ Nun, mein Liebes!“ begann Mrs. Crayford, „was bedeutet das?“

„ Nichts.“

„ Das reicht nicht aus, Clara. Versuch’s noch mal.“

„ Die Hitze des Raumes—“

„ Das reicht auch nicht aus. Sag, daß du es vorziehst, deine eigenen Geheimnisse für dich zu behalten, und ich werde verstehen, was du meinst.“

Claras traurige, klare, graue Augen schauten zum ersten Mal auf in Mrs. Crayfords Gesicht, und wurden plötzlich von Tränen getrübt.

„ Wenn ich es nur wagte, es dir zu sagen!“, murmelte sie, „Ich halte mich so sehr an deiner guten Meinung von mir fest, Lucy – und ich habe solche Angst, sie zu verlieren.“

Mrs. Crayfords Verhalten änderte sich. Ihre Augen ruhten ernst und besorgt auf Claras Gesicht.

„ Du weißt so gut wie ich, daß nichts meine Zuneigung zu dir erschüttern kann“, sagte sie. „Lasse deiner alten Freundin Gerechtigkeit widerfahren, mein Kind. Es gibt niemanden hier, der hört, was wir sagen. Öffne dein Herz, Clara. Ich sehe, du bist in Schwierigkeiten, und ich will dich trösten.“

Clara begann, nachzugeben. Mit anderen Worten, sie begann, Bedingungen zu stellen.

„ Wirst du versprechen, das, was ich dir erzähle, vor jedem lebenden Wesen geheimzuhalten?“, begann sie.

Mrs. Crayford begegnete der Frage, indem sie ihrerseits eine Frage stellte.

„ Schließt ‚jedes lebende Wesen’ meinen Ehemann mit ein?“

„ Deinen Ehemann mehr als sonst jemanden! Ich liebe ihn, ich verehre ihn. Er ist so nobel – er ist so gut. Wenn ich ihm sagte, was ich dir erzählen werde, würde er mich verachten. Gib es offen zu, Lucy, wenn ich dich um zu viel bitte, indem ich dich bitte, ein Geheimnis vor deinem Ehemann zu wahren.“

„ Unsinn, Kind! Wenn du verheiratet bist, wirst du wissen, daß das am einfachsten zu bewahrende Geheimnis ein Geheimnis vor deinem Ehemann ist. Ich gebe dir mein Versprechen. Nun fang an.“

Clara zögerte mühsam.

„ Ich weiß nicht, wie anfangen!“, rief sie, in einem Ausbruch von Verzweiflung. „Die Worte wollen mir nicht kommen.“

„ Dann muß ich dir helfen. Fühlst du dich krank heute abend? Fühlst du dich so, wie du dich an jenem Tag gefühlt hast, als du mit meiner Schwester und mir im Garten warst?“

„ Oh nein.“

„ Du bist nicht krank, du bist nicht wirklich angegriffen von der Hitze – und doch wirst du aschfahl, und du bist gezwungen, die Quadrille zu verlassen! Es muß irgendeinen Grund dafür geben.“

„ Es gibt einen Grund. Captain Helding“

„ Captain Helding! Was um Himmels Willen hat der Captain damit zu tun?“

„ Er hat dir etwas über die Atalanta erzählt. Er sagte, die Atalanta werde alsbald aus Afrika zurückerwartet.“

„ Nun, und was ist dabei? Gibt es irgend jemanden, für den du dich interessierst, der mit dem Schiff nach Hause zurückkehrt?“

„ Jemand, vor dem ich mich fürchte, kehrt auf diesem Schiff heim.“

Mrs. Crayfords herrliche, schwarze Augen öffneten sich weit vor Verwunderung.

„ Meine liebe Clara! Meinst du wirklich, was du sagst?“

„ Warte ein wenig, Lucy, und du sollst selbst urteilen. Wir müssen zurückkehren – wenn ich dich dazu bringen soll, mich zu verstehen – zu dem Jahr, bevor wir einander kennen lernten – zum letzten Jahr vom Leben meines Vaters. Habe ich dir jemals erzählt, daß mein Vater südwärts umgezogen ist, um seiner Gesundheit willen, in ein Haus in Kent, das ihm von einem Freund geliehen worden ist?“

„ Nein, mein Liebes; ich erinnere mich nicht daran, jemals von dem Haus gehört zu haben. Erzähl mir davon.“

„ Da gibt es nichts zu erzählen, ausgenommen dies: das neue Haus war in der Nähe eines schönen Landsitzes, das in einem dazu gehörenden Park steht. Der Eigentümer des Landsitzes war ein Gentleman namens Wardour. Er war ebenfalls einer der Freunde meines Vaters aus Kent. Er hatte nur einen Sohn.“

Sie hielt inne, und spielte nervös mit ihrem Fächer. Mrs. Crayford schaute sie aufmerksam an. Claras Augen blieben auf ihren Fächer gerichtet – Clara sagte nichts mehr.

„ Wie war der Name des Sohnes?“ fragte Mrs. Crayford leise.

„ Richard.“

„ Habe ich recht, Clara, wenn ich vermute, daß Mr. Richard Wardour dich verehrte?“

Die Frage erzielte ihre beabsichtigte Wirkung. Die Frage half Clara, fortzufahren.

„ Zuerst wußte ich kaum“, sagte sie, „ob er mich verehrte, oder nicht. Er war sehr seltsam in seinen Eigenarten – eigenwillig, schrecklich eigenwillig und leidenschaftlich; doch großmütig und herzlich ungeachtet der Fehler seines Wesens. Kannst du so einen Charakter verstehen?“

„ Solche Charaktere gibt es zu Tausenden. Auch ich habe meine Wesensfehler. Ich beginne bereits, Richard zu mögen. Fahr fort.“

„ Die Tage gingen vorüber, Lucy, und die Wochen gingen vorüber. Wir sind einander oft zufällig begegnet. Nach und nach kam mir ein Verdacht bezüglich der Wahrheit.“

„ Und Richard half natürlich, deinen Verdacht zu bestätigen?“

„ Nein. Er war nicht – unglücklicherweise für mich – er war nicht diese Sorte Mann. Er sprach niemals von dem Gefühl, mit dem er mich schätzte. Ich war es, die es sah. Ich kam nicht umhin, es zu sehen. Ich tat alles, was ich konnte, um zu zeigen, daß ich gewillt war, eine Schwester für ihn zu sein, und daß ich niemals etwas anderes sein könnte. Er hat mich nicht verstanden, oder er wollte nicht. Ich kann nicht sagen, welches davon.“

„’ Wollte nicht’ ist das Wahrscheinlichste, mein Liebes. Fahr fort.“

„ Es könnte so gewesen sein, wie du sagst. Da war eine seltsame, rauhe Schüchternheit an ihm. Er verwirrte und erstaunte mich. Er sprach es niemals offen aus. Er schien mich zu behandeln, als ob unsere zukünftigen Leben füreinander bestimmt worden seien, als wir Kinder waren. Was hätte ich tun können, Lucy?“

„ Tun? Du hättest deinen Vater bitten können, die schwierige Lage für dich zu beenden.“

„ Unmöglich! Du vergißt, was ich dir soeben gesagt habe. Mein Vater litt zu jener Zeit unter der Krankheit, die danach seinen Tod verursachte. Er war völlig unfähig, einzugreifen.“

„ Gab es niemand anderen, der dir hätte helfen können?“

„ Nicht einen.“

„ Keine Lady, der du dich hättest anvertrauen können?“

„ Ich hatte Bekanntschaften unter den Ladies in der näheren Umgebung. Ich hatte keine Freunde.“

„ Was hast du dann getan?“

„ Nichts. Ich zögerte; unglücklicherweise verschob ich es, zu einer Verständigung mit ihm zu kommen, bis es zu spät war.“

„ Was meinst du mit ‚zu spät’?“

„ Du sollst es erfahren. Ich hätte dir erzählen sollen, daß Richard Wardour bei der Marine ist.“

„ Tatsächlich! Ich bin interessierter an ihm denn je. Und?“

„ An einem Frühlingstag kam Richard zu unserem Haus, um Abschied von uns zu nehmen, bevor er sich einschiffte. Ich dachte, er sei gegangen, und begab mich ins andere Zimmer. Es war mein eigenes Wohnzimmer, und es öffnete sich zum Garten hin.“

„ Ja?“

„ Richard muß mich beobachtet haben. Er erschien plötzlich im Garten. Ohne zu warten, daß ich ihn einlud, kam er ins Zimmer. Ich war sowohl ein wenig erschrocken als auch überrascht, doch ich brachte es fertig, es zu verbergen. Ich sagte «Was gibt es, Mr. Wardour? » Er trat näher; er sagte in seiner schnellen, rauhen Art: «Clara! Ich fahre an die afrikanische Küste. Falls ich überlebe, werde ich mit einer Beförderung zurückkehren; und wir wissen beide, was dann geschehen wird.» Er küßte mich. Ich war halb ängstlich, halb wütend. Bevor ich mich fassen konnte, um etwas zu sagen, war er wieder draußen im Garten – er war gegangen! Ich hätte sprechen sollen, ich weiß. Es war nicht ehrenhaft, nicht höflich ihm gegenüber. Du kannst mich nicht heftiger tadeln für meinen Mangel an Courage und Offenheit, als ich mich selbst tadele!“

„ Mein liebes Kind, ich tadele dich nicht. Ich denke nur, du hättest ihm schreiben sollen.“

„ ich habe geschrieben.“

„ Deutlich?“

„ Ja. Ich teilte ihm ausdrücklich mit, daß er sich etwas vormachte, und daß ich ihn niemals heiraten könnte.“

„ Deutlich genug, wahrhaftig! Da du ihm dies gesagt hast, bist du in der Tat nicht zu tadeln. Worüber machst du dir nun Sorgen?“

„ Angenommen, mein Brief hat ihn niemals erreicht?“

„ Warum solltest du irgend etwas in dieser Art annehmen?“

„ Was ich schrieb, verlangte eine Antwort, Lucy – bat um eine Antwort. Die Antwort ist niemals gekommen. Was ist die klare Schlußfolgerung? Mein Brief hat ihn niemals erreicht. Und die Atalanta wird zurückerwartet. Richard Wardour kehrt nach England zurück – Richard Wardour wird mich als seine Ehefrau beanspruchen. Du hast dich gerade eben gefragt, ob ich wirklich meinte, was ich sagte. Bezweifelst du es noch immer?“

Mrs. Crayford lehnte sich geistesabwesend auf ihrem Stuhl zurück. Zum ersten Mal, seit die Unterhaltung begonnen hatte, ließ sie eine Frage vorbeiziehen, ohne etwas zu erwidern. Die Wahrheit ist, Mrs. Crayford dachte nach.

Sie sah Claras Lage deutlich; sie verstand deren beunruhigende Auswirkung auf das Gemüt eines jungen Mädchens. Obgleich sie alles berücksichtigte, war sie bis jetzt immer noch nicht imstande, Claras unangemessen große Aufregung zu begründen. Ihr Talent der schnellen Wahrnehmung hatte soeben festgestellt, daß Claras Gesicht keine Anzeichen von Erleichterung zeigte, nun, da sie sich von ihrem Geheimnis befreit hatte. Es gab hier deutlich etwas unter der Oberfläche – etwas von Wichtigkeit, das noch immer zu enthüllen verblieb. Ein scharfsinniger Argwohn kreuzte Mrs. Crayfords Verstand und gab ihr die nächsten Worte ein, welche sie an ihre junge Freundin richtete.

„ Mein Liebes“, sagte sie abrupt, „hast du mir alles erzählt?“

Clara fuhr zusammen, als ob die Frage sie erschreckt hätte. Sich sicher fühlend, daß sie nun den Schlüssel in der Hand hielt, wiederholte Mrs. Crayford ihre Frage vorsichtig, in einer anderen Form von Worten. Anstatt zu antworten, schaute Clara plötzlich auf. Im selben Moment tauchte zum ersten Mal eine schwache Röte in ihrem Gesicht auf.

Ihrerseits instinktiv aufschauend, wurde Mrs. Crayford im Wintergarten die Gegenwart eines jungen Gentleman gewahr, der Clara für den folgenden Walzer als seine Partnerin beanspruchte. Mrs. Crayford verfiel abermals ins Nachdenken. Hatte dieser junge Gentleman (fragte sie sich) irgend etwas zu tun mit dem nicht erzählten Ende der Geschichte? War dies das wahre Geheimnis von Clara Burnhams Grauen vor Richard Wardour? Mrs. Crayford entschied sich, ihren Argwohn auf die Probe zu stellen.

„ Ein Freund von dir, mein Liebes?“ fragte sie unschuldig. „Vermutlich machst du uns miteinander bekannt?“

Verlegen stellte Clara den jungen Gentleman vor.

„ Mr. Francis Aldersley, Lucy. Mr. Aldersley gehört zu der Arktis-Expedition.“

„ Der Expedition zugeteilt?“ wiederholte Mrs. Crayford. „Ich bin ebenfalls der Expedition zugeteilt – auf meine Art. Ich hätte mich besser selbst vorstellen sollen, Mr. Aldersley, weil Clara vergessen zu haben scheint, es für mich zu tun. Ich bin Mrs. Crayford. Mein Gatte ist Lieutenant Crayford von der Wanderer . Gehören Sie zu diesem Schiff?“

„ Ich habe nicht die Ehre, Mrs. Crayford. Ich gehöre zu der Seemöwe .“

Mrs. Crayfords herrliche Augen blickten scharfsichtig hin und her zwischen Clara und Francis Aldersley, und sahen die unausgesprochene Fortsetzung zu Claras Geschichte. Der junge Offizier war ein aufgeweckter, stattlicher, vornehmer Bursche. Genau die richtige Person, um das Problem mit Richard Wardour ernsthaft zu komplizieren! Es war keine Zeit, um irgendwelche weiteren Erkundigungen einzuziehen. Die Kapelle hatte mit der Einleitung zum Walzer begonnen, und Francis Aldersley wartete auf seine Partnerin. Mit einigen Worten der Entschuldigung an den jungen Mann zog Mrs. Crayford Clara einen Moment lang beiseite und sagte flüsternd etwas zu ihr.

„ Ein Wort, mein Liebes, bevor du in den Ballsaal zurückkehrst. Es mag sich eingebildet anhören nach dem Wenigen, was du mir erzählt hast; doch ich denke, ich verstehe deine Lage nun besser, als du es selbst tust. Willst du meine Meinung hören?“

„ Ich sehne mich danach, sie zu hören, Lucy! Ich brauche deine Meinung; ich brauche deinen Rat.“

„ Du sollst beides bekommen, in den deutlichsten und den wenigsten Worten. Erstens, meine Meinung: du hast keine andere Wahl, als zu einer Verständigung mit Mr. Wardour zu kommen, sobald er zurückkehrt. Zweitens, mein Rat: wenn du die Verständigung für beide Seiten einfach machen willst, dann gib acht, daß du es in der Rolle einer freien Frau tust.“

Sie legte eine starke Betonung auf die letzten Worte und schaute ausdrucksvoll auf Francis Aldersley, während sie sie aussprach. „Ich möchte dich nicht länger von deinem Partner fernhalten, Clara“, resümierte sie und ging voraus zurück in den Ballsaal.



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Kapitel Drei

Die Bürde auf Claras Gemüt wiegt weit schwerer auf ihr denn je, nach dem, was Mrs. Crayford zu ihr gesagt hat. Sie ist zu unglücklich, um den schwungvollen Einfluß des Tanzes zu spüren. Nach einer Umdrehung durch den Raum klagt sie über Müdigkeit. Mr. Francis Aldersley schaut zum Wintergarten (der noch immer einladend leer ist wie zuvor), führt sie in diesen zurück, und setzt sie auf eine Bank zwischen den Sträuchern.

Sie versucht – sehr unentschlossen – ihn wegzuschicken.

„ Lassen Sie sich von mir nicht vom Tanzen abhalten, Mr. Aldersley.“

Er setzt sich an ihre Seite und weidet seine Augen an dem lieblich gesenkten Gesicht, das nicht wagt, sich ihm zuzuwenden. Er flüstert ihr zu: „Nenne mich Frank.“

Sie sehnt sich danach, ihn Frank zu nennen – sie liebt ihn mit ihrem ganzen Herzen. Doch Mrs. Crayfords warnende Worte sind ihr noch immer im Gedächtnis. Sie öffnet ihre Lippen nicht. Ihr Liebster rückt ein wenig näher und bittet um eine weitere Gunst. Bei diesen Gelegenheiten sind Männer alle gleich. Stille ermutigt sie beständig, es nochmals zu versuchen.

„ Clara! hast du vergessen, was ich gestern bei dem Konzert sagte? Soll ich es noch einmal sagen?“

„ Nein!“

„ Wir segeln morgen ab zu den arktischen Meeren. Ich könnte für Jahre nicht zurückkehren. Schick mich nicht ohne Hoffnung fort! Denk an die lange, einsame Zeit im dunklen Norden! Mach sie zu einer glücklichen Zeit für mich !“

Obwohl er mit der Leidenschaft eines Mannes spricht, ist er nur wenig mehr als ein Junge: er ist erst zwanzig Jahre alt, und er wird bald sein junges Leben riskieren auf dem Eismeer! Clara bemitleidet ihn, wie sie niemals zuvor irgendein menschliches Wesen bemitleidet hat. Sachte nimmt er ihre Hand. Sie versucht, sie zu befreien.

„ Was! nicht einmal diese kleine Gunst am letzten Abend?“

Ihr aufrichtiges Herz ergreift harte Partei für ihn, ihr selbst zum Trotz. Ihre Hand bleibt in der seinen und fühlt seinen weichen, überredenden Druck. Sie ist eine verlorene Frau. Jetzt ist es nur eine Frage der Zeit!

„ Clara! liebst du mich?“

Es herrscht eine Pause. Sie schreckt davor zurück, ihn anzuschauen – sie zittert ob der seltsamen, widersprüchlichen Empfindungen von Freude und Schmerz. Sein Arm stiehlt sich um sie herum; er wiederholt seine Frage flüsternd; seine Lippen berühren beinahe ihr kleines rosiges Ohr, als er es nochmals sagt: „Liebst du mich?“

Schwach schließt sie ihre Augen – sie hört nichts außer diesen Worten – fühlt nichts außer seinen Atem um sie herum – vergißt Mrs. Crayfords Warnung – vergißt selbst Richard Wardour – wendet sich plötzlich um, mit der hoffnungslosen Mißachtung einer verliebten Frau für alles, außer ihrer Liebe – schmiegt ihren Kopf an seine Brust, und antwortet ihm auf diese Weise, endlich!

Er hebt ihren wunderschön gesenkten Kopf – ihre Lippen treffen sich zu ihrem ersten Kuß – sie sind beide im Himmel: es ist Clara, die sie mit einem Ruck zurück auf die Erde bringt – es ist Clara, die sagt „Oh! was habe ich getan?“ – wie üblich, als es zu spät ist.

Frank beantwortet die Frage.

„ Du hast mich glücklich gemacht, mein Engel. Wenn ich nun heimkomme, werde ich heimkommen, um dich zu meiner Ehefrau zu machen.“

Sie erschauert. Bei diesen Worten erinnert sie sich wieder an Richard Wardour.

„ Gib acht!“ sagt sie, „Niemand darf wissen, daß wir einander versprochen sind, bis ich dir erlaube, es zu erwähnen. Denke daran!“

Er verspricht, daran zu denken. Sein Arm versucht abermals, sich um sie zu winden. Nein! Sie ist Herrin ihrer selbst; jetzt kann sie ihn überzeugt fortschicken – nachdem sie ihn sich hatte küssen lassen!

„ Geh!“ sagt sie. „Ich will Mrs. Crayford sehen. Finde sie! Sag, daß ich hier bin und warte, um mit ihr zu sprechen. Geh sofort, Frank – um meinetwillen!“

Er hat keine andere Wahl als ihr zu gehorchen. Seine Augen trinken einen letzten Schluck ihrer Schönheit. Er eilt fort auf seinem Botengang – der glücklichste Mann im Raum. Vor fünf Minuten war sie nur seine Partnerin beim Tanz. Er hatte gesprochen – und sie hatte sich verpflichtet, seine Partnerin fürs Leben zu sein!



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Kapitel Vier

Es war nicht einfach, Mrs. Crayford in der Menge zu finden. Hier suchend, und dort suchend, wurde Frank eines Fremden gewahr, der seinerseits nach jemanden Ausschau zu halten schien. Er war ein dunkler, kräftig gebauter Mann, mit schweren Augenbrauen, gekleidet in eine schäbige, alte Marineoffiziersuniform. Sein Auftreten – auffallend entschlossen und gefaßt – war unverkennbar das Auftreten eines Gentleman. Er schlängelte sich langsam durch die Menge; bei jeder Lady, an der er vorbeiging, anhaltend, um sie anzusehen, und um dann mit einem finsteren Blick wieder wegzuschauen. Nach und nach näherte er sich dem Wintergarten – betrat ihn, nach einem Moment des Nachdenkens – entdeckte den Schimmer eines weißen Kleides in der Ferne, durch die Büsche und Blumen hindurch – ging vor, um einen näheren Blick auf die Lady zu bekommen – und stürzte mit einem Aufschrei der Freude zu Clara.

Sie sprang auf ihre Füße. Sprachlos stand sie vor ihm, bewegungslos, zu Stein erstarrt. Ihre ganze Lebendigkeit war in ihren Augen – die Augen, welche ihr mitteilten, daß sie auf Richard Wardour schaute.

Er war der erste, der sprach.

„ Es tut mir leid, daß ich dich erschreckt habe, mein Liebling. Ich vergaß alles außer dem Glück, dich wiederzusehen. Wir haben unseren Liegeplatz erst vor zwei Stunden erreicht. Ich brauchte einige Zeit, um mich nach dir zu erkundigen, und einige Zeit, um meine Eintrittskarte zu bekommen, als sie mir mitteilten, daß du auf dem Ball seiest. Gratuliere mir, Clara! Ich bin befördert worden. Ich bin zurückgekehrt, um dich zu meiner Ehefrau zu machen.“

Eine flüchtige Veränderung glitt über das blanke Entsetzen ihres Gesichts. Ihre Gesichtsfarbe nahm schwach zu, ihre Lippen bewegten sich. Abrupt stellte sie ihm eine Frage.

„ Hast du meinen Brief bekommen?“

Er stutzte. „Ein Brief von dir? Ich habe ihn nie erhalten.“

Die kurze Belebung in ihrem Gesicht erstarb wieder. Sie zog sich von ihm zurück und sank auf einen Stuhl. Er ging zu ihr, überrascht und alarmiert. Sie zuckte auf ihrem Stuhl zusammen – zuckte zusammen, als ob sie Angst vor ihm hätte.

„ Clara, du hast mir nicht einmal die Hand gegeben! Was bedeutet das?“

Er hielt inne; wartend, und sie beobachtend. Sie antwortete nicht. Ein Blitz des feurigen Temperaments in ihm loderte auf in seinen Augen. Er wiederholte seine letzten Worte in einem lauteren und härteren Tonfall:

„ Was bedeutet das?“

Diesmal antwortete sie. Sein Ton hatte sie verletzt – sein Ton hatte ihren sinkenden Mut wieder wachgerufen.

„ Es bedeutet, Mr. Wardour, daß Sie von Anfang an im Irrtum waren.“

„ Wie war ich im Irrtum?“

„ Sie standen unter einem falschen Eindruck, und Sie haben mir keine Gelegenheit gegeben, Sie zu berichtigen.“

„ Inwiefern lag ich falsch?“

„ Sie sind zu übereilt und sich zu gewiß gewesen in bezug auf sich selbst und auf mich. Sie haben mich vollkommen mißverstanden. Ich bin betrübt, Sie unglücklich zu machen, doch um Ihretwillen muß ich offen sprechen. Ich bin für immer Ihre Freundin, Mr. Wardour. Ihre Ehefrau kann ich niemals sein.“

Er wiederholte unbewußt die letzten Worte. Er schien zu zweifeln, ob er sie richtig verstanden hatte.

„ Du kannst niemals meine Frau sein?“

„ Niemals!“

„ Warum?“

Es kam keine Antwort. Sie war nicht fähig, ihm eine Lüge zu erzählen. Sie schämte sich, ihm die Wahrheit zu erzählen.

Er beugte sich über sie, und bemächtigte sich plötzlich ihrer Hand. Ihre Hand fest haltend, beugte er sich ein wenig tiefer; in ihrem Gesicht nach den Anzeichen suchend, die ihm antworten könnten. Sein eigenes Gesicht verdüsterte sich langsam, während er auf sie schaute. Er begann, sie zu verdächtigen; und er bestätigte es in seinen nächsten Worten:

„ Irgend etwas hat dich mir gegenüber verändert, Clara. Jemand hat dich gegen mich beeinflußt. Ist es – du zwingst mich, die Frage zu stellen – ist es ein anderer Mann?“

„ Sie haben kein Recht, mich das zu fragen.“

Er fuhr fort, ohne wahrzunehmen, was sie zu ihm gesagt hatte.

„ Ist dieser andere Mann zwischen dich und mich gekommen? Was mich betrifft, so spreche ich klar und deutlich. Sprich du deinerseits klar und deutlich.“

„ Ich habe gesprochen. Ich habe nichts weiteres zu sagen.“

eine Pause trat ein. Sie sah das warnende Licht, welches von dem Feuer in ihm kündete, immer heller in seinen Augen lodern. Sie spürte, wie sich sein Griff auf ihrer Hand verstärkte. Zum letzten Mal wandte er sich an sie.

„ Denk nach“, sagte er, „denk nach, bevor es zu spät ist. Dein Schweigen wird dir nichts nützen. Wenn du darauf bestehst, mir nicht zu antworten, werde ich dein Schweigen als Geständnis nehmen. Hörst du mich?“

„ Ich höre Sie.“

„ Clara Burnham! Mit mir ist nicht zu spaßen. Clara Burnham! Ich bestehe auf der Wahrheit. Bist du mir gegenüber unehrlich?“

Sie verübelte ihm diese forschende Frage mit dem scharfen Sinn einer Frau für die Beleidigung, die sich daraus ergab, daß er ihr von Angesicht zu Angesicht mißtraute.

„ Mr. Wardour! Sie vergessen sich, wenn Sie mir auf diese Art Rechenschaft abfordern. Ich habe Sie niemals ermutigt. Ich habe Ihnen niemals ein Versprechen oder eine feste Zusage gegeben—“

Er unterbrach sie hitzig, ehe sie mehr sagen konnte.

„ Du hast dich verlobt in meiner Abwesenheit. Deine Worte gestehen es; deine Blicke gestehen es! Du hast dich mit einem anderen Mann verlobt!“

„ Den Fall gesetzt, daß ich mich verlobt hätte , welches Recht haben Sie, sich darüber zu beschweren?“ antwortete sie entschlossen. „Welches Recht haben Sie, mein Handeln zu überwachen?…“

Die nächsten Worte erstarben ihr auf den Lippen. Er ließ plötzlich ihre Hand fallen. Eine auffällige Veränderung erschien in dem Ausdruck seiner Augen – eine Veränderung, die ihr von den schrecklichen Leidenschaften berichtete, die sie in ihm entfesselt hatte. Sie las, las verschwommen, etwas in seinem Gesicht, das sie zum Zittern brachte – nicht um sich selbst, sondern um Frank.

Nach und nach schwand die dunkle Farbe aus seinem Gesicht. Seine feste Stimme senkte sich plötzlich zu einem tiefen und leisen Ton, als er die Abschiedsworte sprach.

„ Sagen Sie nichts mehr, Miß Burnham – Sie haben genug gesagt. Ich habe meine Antwort; ich bin entlassen.“ Er hielt inne, trat dicht zu ihr heran und legte seine Hand auf ihren Arm.

„ Möglicherweise kommt der Zeitpunkt“, sagte er, „da ich dir vergeben werde. Doch der Mann, der dich mir geraubt hat, wird den Tag bereuen, als du und er euch zum ersten Mal begegnet seid.“

Er wandte sich um und verließ sie.

Wenige Minuten später wurde Mrs. Crayford, die den Wintergarten betrat, von einem der Diener auf dem Ball empfangen. Der Mann hielt an, als ob er wünschte, mit ihr zu sprechen.

„ Was möchten Sie?“ fragte sie.

„ Ich bitte um Verzeihung, Ma’am. Haben Sie zufällig ein Riechfläschchen bei sich? Da ist eine junge Lady im Wintergarten, die ohnmächtig geworden ist.“



Kapiteltrenner

Kapitel Fünf

Der Morgen des nächsten Tages – der Morgen, an dem die Schiffe absegeln sollten – brach klar und windig an. Mrs. Crayford, die abgemacht hatte, ihrem Gatten zur Küste zu folgen, um ihn ein letztes Mal zu sehen, bevor er sich einschiffte, betrat Claras Zimmer auf ihrem Weg aus dem Haus, begierig darauf, zu hören, wie ihre junge Freundin die Nacht verbracht hatte. Zu ihrer Verwunderung stellte sie fest, daß Clara aufgestanden war und ebenso wie sie selbst zum Ausgehen gekleidet war.

„ Was bedeutet das, meine Liebe? Nach dem, was du am letzten Abend erlitten hast – nach dem Schock, diesen Mann zu sehen – warum nimmst du nicht meinen Rat an und ruhst dich in deinem Bett aus?“

„ Ich kann nicht ausruhen. Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen. Bist du bereits fort gewesen?“

„ Nein.“

„ Hast du irgend etwas von Richard Wardour gesehen oder gehört?“

„ Was für eine außergewöhnliche Frage!“

„ Beantworte meine Frage! Spaße nicht mit mir!“

„Beruhige dich, Clara. Ich habe von Richard Wardour weder etwas gesehen noch etwas gehört. Nimm mein Wort darauf, er ist inzwischen weit genug fort.“

„ Nein! Er ist hier! Er ist in unserer Nähe! Die ganze Nacht lang hat mich die Vorahnung verfolgt – Frank und Richard Wardour werden sich begegnen.“

„ Mein liebes Kind! Woran denkst du nur? Sie sind einander völlig fremd.“

„ Etwas wird geschehen, das sie zusammenbringt. Ich fühle es! Ich weiß es! Sie werden sich begegnen – es wird einen tödlichen Streit zwischen ihnen geben – und ich werde die Schuldige sein. Oh, Lucy! warum habe ich nicht deinen Rat angenommen? Warum war ich verrückt genug, Frank wissen zu lassen, daß ich ihn liebe? Gehst du zum Landungssteg? Ich bin fertig – ich muß mit dir gehen.“

„ Daran darfst du nicht denken, Clara. Es wird Gedränge und Durcheinander am Meeresufer geben. Du bist nicht kräftig genug, um es auszuhalten. Warte – ich werde nicht lange fort sein – warte, bis ich zurückkomme.“

„ Ich muß und werde mit dir gehen! Gedränge? Er wird in dem Gedränge sein! Durcheinander? In diesem Durcheinander wird er seinen Weg zu Frank finden! Bitte mich nicht darum, zu warten. Ich werde wahnsinnig, wenn ich warte. Ich werde keine ruhige Minute haben, bis ich Frank gesehen habe, mit meinen eigenen Augen, sicher im Boot, welches ihn zu seinem Schiff bringt! Du hast deine Haube auf; worauf warten wir noch? Komm! oder ich werde ohne dich gehen. Schau auf die Uhr; wir haben nicht einen Moment zu verlieren!“

Es war sinnlos, mit ihr zu streiten. Mrs. Crayford gab auf. Die beiden Frauen verließen zusammen das Haus.

Der Landungssteg war, wie Mrs. Crayford vorausgesagt hatte, gedrängt voll von Zuschauern. Nicht nur die Verwandten und Freunde der Arktisreisenden, sondern Fremde ebenso, hatten sich in großer Zahl versammelt, um die Schiffe absegeln zu sehen. Claras Augen wanderten erschrocken hin und her unter den fremden Gesichtern in der Menge; suchend nach dem einen Gesicht, das zu sehen sie fürchtete, und fand es nicht. Ihre Nerven waren so vollkommen überfordert, daß sie mit einem Schreckensschrei zurücksprang, als sie plötzlich Franks Stimme hinter sich hörte.

„ Die Boote der Seemöwe warten“, sagte er. „Ich muß gehen, Darling. Wie fahl du aussiehst, Clara! Bist du krank?“

Sie antwortete nicht. Sie fragte ihn mit verstörtem Blick und zitternden Lippen.

„ ist dir etwas passiert, Frank? Irgend etwas außergewöhnliches?“

Frank lachte ob der seltsamen Frage.

„ Irgend etwas außergewöhnliches?“, wiederholte er. „Nichts, von dem ich wüßte, außer, daß ich zu den arktischen Meeren segle. Dies ist etwas außergewöhnliches, vermute ich – nicht wahr?“

„ hat irgend jemand mit dir gesprochen seit letzte nacht? Ist dir irgendein Fremder auf der Straße gefolgt?“

Frank wandte sich in blankem Erstaunen um zu Mrs. Crayford.

„ Was um alles in der Welt bedeutet das?“

Mrs. Crayfords lebhafte Erfindungsgabe versah sie spornstreichs mit einer Antwort.

„ Glauben Sie an Träume, Frank? Natürlich nicht. Clara hat von Ihnen geträumt; und Clara ist töricht genug, um an Träume zu glauben. Das ist alles – es ist nicht wert, darüber zu sprechen. Horcht! Man ruft Sie. Sagen Sie lebewohl, oder Sie werden zu spät zum Boot kommen!“

Frank nahm Claras Hand. Lange danach – an den dunklen arktischen Tagen, in den trostlosen arktischen Nächten – erinnerte er sich, wie kalt und teilnahmslos diese Hand in der seinen gelegen hatte.

„ Mut, Clara!“, sagte er fröhlich. „Der Schatz eines Seemannes muß sich an Abschiede gewöhnen. Die Zeit wird schnell vorübergehen. Lebwohl, mein Darling. Lebwohl, meine Gattin!“

Er küßte die kalte Hand; er schaute zum letzten Mal – für manch ein langes Jahr vielleicht! – auf das fahle und wunderschöne Gesicht. ‚Wie sehr sie mich liebt!’, dachte er. ‚Wie der Abschied sie bedrückt!’ Er hielt noch immer ihre Hand; er hätte noch länger verweilt, wenn Mrs. Crayford nicht vernünftigerweise auf alle Zeremonien verzichtet und ihn fortgedrängt hätte.

Die beiden Ladies folgten ihm in sicherer Entfernung durch die Menschenmenge, und sahen ihn in das Boot steigen. Die Riemen schlugen auf das Wasser; Frank winkte Clara mit seiner Mütze zu. Nach einem weiteren Moment verbarg ein vor Anker liegendes Schiff das Boot vor dem Betrachter. Sie hatten ihn zum letzten Mal gesehen auf seinem Weg zum Eismeer!

„ Kein Richard Wardour im Boot“, sagte Mrs. Crayford. „Kein Richard Wardour am Ufer. Laß dir dies eine Lektion sein, mein Liebes. Sei niemals wieder so töricht, an Vorahnungen zu glauben.“

Claras Augen wanderten noch immer argwöhnisch inmitten der Menschenmenge hin und her.

„ Bist du noch nicht zufriedengestellt?“ fragte Mrs. Crayford.

„ Nein“, antwortete Clara, „ich bin noch nicht zufriedengestellt.“

„ Was! du suchst immer noch nach ihm? Das ist wirklich zu absurd. Hier kommt mein Ehemann. Ich werde ihm sagen, er soll eine Droschke rufen, und dich nach Hause bringen lassen.“

Clara ging einige Schritte zurück.

„ Ich werde nicht im Weg sein, während du Abschied nimmst von deinem lieben Ehemann, Lucy“, sagte sie. „ich werde hier warten.“

„ Hier warten? Worauf?“

„ Auf etwas, das ich noch sehen könnte; oder auf etwas, das ich noch hören könnte.“

„ Richard Wardour?“

„ Richard Wardour.“

Ohne ein weiteres Wort wandte sich Mrs. Crayford zu ihrem Ehemann um. Claras Verblendung war jenseits der Reichweite jeglichen Einwands.

Die Boote der Wanderer nahmen den Platz am Landungssteg ein, den die Boote der Seemöwe geräumt hatten. Ein Ausbruch des Jubels unter den äußeren Reihen der Menschenmenge kündigte die Ankunft des Kommandanten der Expedition auf dem Schauplatz an. Captain Helding erschien, und hielt links und rechts Ausschau nach seinem Ersten Lieutenant.

Crayford bei seiner Ehefrau findend, bat der Captain auf seine charmanteste Art um Verzeihung für die Störung.

„ Geben Sie ihn für einige Minuten frei für seine beruflichen Pflichten, Mrs. Crayford, und Sie werden ihn für eine halbe Stunde wiederbekommen. Die Arktisexpedition ist schuld, meine teure Lady – nicht der Captain – daran, daß Mann und Frau sich trennen. An Crayfords Stelle hätte ich es den Junggesellen überlassen, die Nordwest-Passage zu finden, und wäre zu Hause bei Ihnen geblieben!“

Sich mit solch plump-schmeichelhafter Ausdrucksweise entschuldigend, zog Captain Helding den Lieutenant einige Schritte beiseite, wobei er zufällig eine Richtung einschlug, welche die beiden Offiziere nahe zu der Stelle führte, wo Clara stand. Beide, der Captain und der Lieutenant, waren zu vollkommen in ihre berufliche Angelegenheit vertieft, um sie zu bemerken. Weder der eine noch der andere hatte die leiseste Ahnung, daß sie jedes Wort des Gesprächs, das zwischen ihnen stattfand, hören konnte und hörte.

„ Sie haben meine Mitteilung heute morgen erhalten?“ begann der Captain.

„ Sicher, Captain Helding, oder ich wäre schon vorher an Bord gewesen.“

„ Ich selbst gehe sofort an Bord“, fuhr der Captain fort, „doch ich muß Sie bitten, Ihr Boot für eine weitere halbe Stunde warten zu lassen. Um so länger werden Sie bei Ihrer Gattin sein, wie Sie wissen. Dies hatte ich im Sinn, Crayford.“

„ Ich bin Ihnen sehr verbunden, Captain Helding. Ich vermute, es gibt einen anderen Grund, um die übliche Reihenfolge der Dinge umzustellen und den Lieutenant am Ufer zu lassen, nachdem der Captain an Bord ist?“

„ Völlig richtig! es gibt einen anderen Grund. Ich möchte, daß Sie auf einen neuen Freiwilligen warten, der uns beigetreten ist.“

„ Ein Freiwilliger!“

„ Ja. Er muß sich eilends seine Ausrüstung besorgen, und er könnte eine halbe Stunde zu spät kommen.“

„ Ein ziemlich plötzlicher Entschluß, nicht wahr?“

„ Ohne Zweifel. Sehr plötzlich.“

„ Und – verzeihen Sie – es ist eine ziemlich lange Zeit (in der schwierigen Lage, in der wir uns befinden), um die Schiffe warten zu lassen auf einen einzigen Mann?“

„ Wieder völlig richtig. Doch ein Mann, der es wert ist, ihn zu haben, ist ein Mann, der es wert ist, auf ihn zu warten. Dieser Mann ist es wert, ihn zu haben; dieser Mann ist sein Gewicht in Gold wert für so eine Expedition wie die unsere. Gewöhnt an jedes Klima und an alle Strapazen – ein starker Bursche, ein tapferer Bursche, ein cleverer Bursche – im Kurzen, ein exzellenter Offizier. Ich kenne ihn gut, sonst hätte ich ihn niemals genommen. Das Land gewinnt eine Menge Leistung von unserem neuen Freiwilligen, Crayford. Er ist erst gestern vom Auslandsdienst zurückgekehrt.“

„ Er ist erst gestern vom Auslandsdienst zurückgekehrt! Und er meldet sich heute morgen freiwillig, um der Arktisexpedition beizutreten? Sie verblüffen mich.“

„ Das glaube ich wohl, daß ich das tue! Sie können nicht verblüffter sein, als ich es war, als er sich in meinem Hotel einfand und mir mitteilte, was er wollte. «Warum, guter Mann, Sie sind eben erst nach Hause gekommen», sagte ich. «Sind Sie Ihrer Freiheit nach nur wenigen Stunden Erfahrung damit wieder müde?» Seine Antwort erschreckte mich eher. «Ich bin meines Lebens müde, Sir. Ich bin heimgekehrt und fand ein Unglück vor, mich Willkommen zu heißen, welches mir beinahe das Herz bricht. Wenn ich nicht Zuflucht suche in Abwesenheit und harter Arbeit, bin ich ein verlorener Mann. Werden Sie mir eine Zuflucht geben?» Das ist es, was er gesagt hat, Crayford, Wort für Wort.“

„ Haben Sie ihn gebeten, sich näher zu erklären?“

„ Nicht ich! Ich kannte seinen Wert, und ich nahm den armen Teufel auf der Stelle, ohne ihn mit irgendwelchen weiteren Fragen zu bedrängen. Nicht nötig, ihn zu bitten, sich zu erklären. In diesen Fällen sprechen die Fakten für sich selbst. Die alte Geschichte, mein guter Freund! Der wahre Grund dafür ist natürlich eine Frau.“

Mrs. Crayford, die auf die Rückkehr ihres Gatten wartete, so geduldig, wie sie konnte, wurde aufgeschreckt, als sie den Druck einer Hand fühlte, die plötzlich auf ihre Schulter gelegt wurde. Sie schaute sich um und stand Clara gegenüber. Ihr erstes Gefühl der Überraschung wechselte sogleich zu Erschrecken. Clara zitterte von Kopf bis Fuß.

„ Was ist los? Was hat dich erschreckt, mein Liebes?“

„ Lucy! Ich habe von ihm gehört!“

„ Wieder Richard Wardour?“

„ Erinnere dich, was ich dir erzählte. Ich habe jedes Wort der Unterhaltung zwischen Captain Helding und deinem Ehemann gehört. Ein Mann kam an diesem Morgen zum Captain und hat sich freiwillig gemeldet, um auf der Wanderer anzuheuern. Der Captain hat ihn genommen. Der Mann ist Richard Wardour.“

„ Das kann nicht dein Ernst sein! Bist du sicher? Hast du gehört, daß Captain Helding seinen Namen erwähnte?“

„ Nein.“

„ Woher weißt du dann, daß es Richard Wardour ist?“

„ Frag mich nicht! Ich bin mir dessen so sicher, wie ich hier stehe! Sie gehen zusammen fort, Lucy – fort zum unendlichen Eis und Schnee. Meine Vorahnung ist wahr geworden! Die beiden werden sich begegnen – der Mann, der mich heiraten soll, und der Mann, dessen Herz ich gebrochen habe!“

„ Deine Vorahnung ist nicht wahr geworden, Clara! Die Männer sind sich hier nicht begegnet – die Männer werden sich höchstwahrscheinlich auch nirgendwo anders begegnen. Sie sind auf verschiedenen Schiffen eingesetzt. Frank gehört zu der Seemöwe, und Wardour zu der Wanderer. Sieh! Captain Helding ist fertig. Mein Ehemann kommt hierher. Laß mich mir Gewißheit verschaffen. Laß mich mit ihm sprechen.“

Lieutenant Crayford kehrte zu seiner Gattin zurück. Sie sprach augenblicklich mit ihm.

„ William! Ihr habt einen neuen Freiwilligen, welcher der Wanderer beigetreten ist?“

„ Was! du hast dem Captain und mir zugehört?“

„ Ich möchte seinen Namen wissen.“

„ Wie um alles auf der Welt hast du es fertiggebracht, zu hören, was wir zu einander sagten?“

„ Sein Name? Hat der Captain dir seinen Namen genannt?“

„ Reg dich nicht auf, mein Liebes. Sieh! du erschreckst Miß Burnham völlig. Der neue Freiwillige ist ein vollkommen Fremder für uns. Dort steht sein Name – der letzte auf der Schiffsliste.“

Mrs. Crayford schnappte ihrem Gatten die Liste aus der Hand und las den Namen:

„ Richard Wardour.“



Kapiteltrenner

Kapitel Sechs

Lebwohl an England! Lebwohl an die bewohnten und zivilisierten Regionen der Erde!

Zwei Jahre sind vergangen, seit die Reisenden von ihren heimischen Gestaden abgesegelt sind. Das Unternehmen ist fehlgeschlagen – die Arktisexpedition ist verloren und vom Eis eingeschlossen in der Polarwüste. Die guten Schiffe Wanderer und Seemöwe , eingeschlossen im Eis, werden niemals wieder die lebhaften Wasser reiten. Ihrer leichteren Spanten entledigt, waren beide Schiffe genutzt worden für den Bau von Hütten, die auf dem nahegelegensten Land errichtet wurden.

Das größte der beiden Häuser, welche nun die verlorenen Männer beherbergen, ist besetzt von den überlebenden Offizieren und Mannschaftsmitgliedern der Seemöwe . Auf einer Seite des Hauptraumes sind die Schlafkojen und die Feuerstelle. Die andere Seite enthüllt einen weiten Zugang (verschlossen von einem Windschutz aus Segeltuch), welcher als Verbindungsweg zu einem inneren Zimmer dient, das für die höherstehenden Offiziere bestimmt ist. Eine Hängematte ist als zusätzliches Bett an dem rauhen, mit Sparren versehenen Dach aufgehängt. Ein völlig von seinem Bettzeug verdeckter Mann schläft in der Hängematte. Neben der Feuerstelle ist ein zweiter Mann – er sollte wohl auf Wache sein – just in diesem Augenblick fest eingeschlafen, armer Teufel! Hinter dem Schlafenden steht ein altes Faß, welches als Tisch dient. Die Dinge, die sich momentan auf dem Tisch befinden, sind ein Mörser und ein Stößel, und ein Kochtopf voll trockener Tierknochen – in einfachen Worten, das Dinner des Tages. Anstelle von Verzierungen an den stumpfen, braunen Wänden zeigen sich in den Rissen des Holzes Eiszapfen, die im roten Licht des Feuers dann und wann aufleuchten. Kein Wind pfeift außerhalb der einsamen Behausung – kein Schrei eines Vogels oder Raubtieres ist zu hören. Drinnen und draußen regiert die schreckliche Stille der Polarwüste, für den Augenblick, ungestört.



Kapiteltrenner

Kapitel Sieben

Der erste Laut, der die Stille durchbrach, kam aus dem inneren Wohnraum. Ein Offizier hob den Segeltuch-Windschutz in der Hütte der Seemöwe und betrat den Hauptraum. Kälte und Entbehrungen hatte die Mannschaft ernsthaft verringert. Der Kommandant des Schiffes – Captain Ebsworth – war gefährlich krank. Der erste Lieutenant war tot. Ein Offizier der Wanderer füllte für den Augenblick ihre Stellen aus, mit Captain Heldings Erlaubnis. Der folglich eingesetzte Offizier war – Lieutenant Crayford.

Er näherte sich dem Mann an der Feuerstelle und weckte ihn auf.

„ Aufspringen, Bateson! Sie sind an der Reihe, abgelöst zu werden.“

Die Ablöse erschien, von einem Haufen alter Segel an der Rückseite der Hütte aufstehend. Bateson verschwand gähnend zu seinem Bett. Lieutenant Crayford ging rege auf und ab, probierend, welche Körperbewegung genügte, um sein Blut aufzuwärmen.

Der Mörser und der Stößel auf dem Faß erregten seine Aufmerksamkeit. Er hielt an und schaute auf, zu dem Mann in der Hängematte.

„ Ich muß den Koch wecken“, sagte er zu sich selbst, mit einem Lächeln. „Dieser Kamerad hat wenig Vorstellung davon, wie nützlich er darin ist, meine gute Laune aufrecht zu erhalten. Der hartnäckigste Miesmacher und Grummler auf der Welt, und dennoch laut seiner eigenen Aussage der einzige fröhliche Mann in der gesamten Schiffahrtsgesellschaft. John Want! John Want! Aufstehen, los!”

Ein Kopf hob sich langsam aus dem Bettzeug, bedeckt mit einer roten Nachtmütze. Eine melancholische Nase ruhte am Rand der Hängematte. Eine Stimme, der Nase angemessen, drückte ihre Meinung über das arktische Klima in folgenden Worten aus:

„ Gott! Gott! Hier ist mein gesamter Atem auf meiner Decke. Eiszapfen, wenn Sie gestatten, Sir, überall rund um meinen Mund und überall auf meiner Decke. Jedesmal, wenn ich geschnarcht habe, habe ich etwas eingefroren. Wenn ein Mann die Kälte in diesem Ausmaß in sich hineinbekommt, daß er sein eigenes Bett vereist, kann es nicht mehr lange dauern. Macht nichts! Ich murre nicht.“

Crayford klopfte ungeduldig gegen den Topf voll Knochen. John Want ließ sich auf den Boden hinunter – die ganze Zeit über grummelnd – mittels eines Seils, das festgemacht war an den Sparren am Kopfende seines Lagers. Anstatt sich seinem Vorgesetzten und seinem Kochtopf zu nähern, humpelte er schaudernd zur Feuerstelle und hielt sein Kinn so dicht, wie es ihm möglich war, über das Feuer. Crayford schaute ihm nach.

„ Hallo! was machen Sie dort?“

„ Meinen Bart auftauen, Sir.“

„ Kommen Sie augenblicklich hierher und machen Sie sich an die Arbeit mit diesen Knochen.“

John Want, der unnachgiebig der Feuerstelle zugetan blieb, hielt nun etwas anderes über das Feuer. Crayford begann, seine Geduld zu verlieren.

„ Was zum Teufel haben Sie jetzt vor?“

„ Meine Uhr auftauen, Sir. Sie war die ganze Nacht unter meinem Kissen, und die Kälte hat sie angehalten. Erfreulich, wohltuend, ein erfrischendes Klima, um da zu leben – nicht wahr, Sir? Macht nichts! Ich murre nicht.“

„ Nein, das wissen wir alle. Schauen Sie hier! Sind diese Knochen klein genug zerstoßen?“

John Want trat augenblicklich zu dem Lieutenant, und schaute ihn an mit einem Anschein tiefsten Interesses.

„ Sie entschuldigen, Sir“, sagte er; „wie äußerst dumpf Ihre Stimme klingt heute morgen!“

„ Meine Stimme hat nichts zu sagen. Die Knochen! die Knochen!“

„ Ja, Sir – die Knochen. Sie bedürfen ein bißchen mehr des Zerstoßens. Ich werde mein Möglichstes mit ihnen tun, Sir, für Ihr Wohl.“

„ Was meinen Sie?“

John Want schüttelte den Kopf und schaute mit einem düsteren Lächeln auf Crayford.

„ Ich denke nicht, daß ich die Ehre haben werde, viel mehr Knochensuppe für Sie zu machen, Sir. Glauben Sie selbst, daß Sie lange überleben werden, Sir? Ich denke, ungefähr eine weitere Woche oder zehn Tage wird uns alle umbringen. Macht nichts! Ich murre nicht.“

Er schüttete die Knochen in den Mörser und begann sie zu zerstoßen – unter Protest. Im selben Moment erschien ein Seemann, der von der inneren Hütte hereinkam.

„ Eine Nachricht von Captain Ebsworth, Sir.“

„ Und?“

„ Dem Captain geht es schlechter, Sir. Er will Sie sofort sehen.“

„ Ich werde sofort zu ihm gehen. Wecken Sie den Doktor.“

Mit diesen Worten kehrte Crayford zurück in die innere Hütte, gefolgt von dem Seemann. John Want schüttelte erneut den Kopf und lächelte düsterer denn je.

„ Wecken Sie den Doktor?“ wiederholte er. „Ich vermute, der Doktor wird erfroren sein?! Er hatte letzte nacht nicht für einen halben Penny etwas Warmes in sich, und seine Stimme klang wie ein Flüstern in ein Sprachrohr. Werden’s die Knochen jetzt tun? Ja, jetzt werden’s die Knochen tun. In den Kochtopf mit euch“, rief John Want, dem Worte die Tat folgen lassend, „und macht das heiße Wasser schmackhaft, wenn ihr könnt! Wenn ich daran denke, daß ich einst ein Lehrbursche bei einem Pastetenbäcker war – wenn ich an die Gallonen von Schildkrötensuppe denke, die seine Hände umgerührt haben in einer lustigen, heißen Küche – und wenn ich mich wiederfinde, wie ich Knochen und heißes Wasser für eine Suppe mische, und mich in Eis verwandle, so schnell ich kann – wäre ich nicht von einer heiteren Gemütsart, würde ich mich dazu geneigt fühlen, zu murren. John Want! John Want! Was in aller Welt hast du gemacht mit deinem dir eigenen Verstand, als du dich dazu entschlossen hast, zur See zu fahren?“

Eine neue Stimme rief den Koch, von einem der Schlafplätze an der Seite der Hütte her. Es war die Stimme von Francis Aldersley.

„ Wer jammert da über dem Feuer?“

„ Jammern?“ wiederholte John Want, mit dem Auftreten eines Mannes, der sich als das Objekt einer unverdienten Beleidigung betrachtete. „Jammern? Sie haben überhaupt nicht bemerkt, daß sich Ihre Stimme zum Schlechteren verändert hat – nicht wahr, Mr. Frank? Ihm gebe ich“, fuhr John fort, überzeugt vor sich hin redend, „nicht mehr als sechs Stunden zum Überleben. Er ist einer der Murrer.“

„ Was tust du dort?“ fragte Frank.

„ Ich mache Knochensuppe, Sir, und frage mich, warum ich jemals zur See gefahren bin.“

„ Nun, und warum bist du zur See gefahren?“

„ ich bin nicht sicher, Mr. Frank. Manchmal denke ich, es war gewöhnlicher Eigensinn; manchmal denke ich, es war falscher Stolz darüber, über die Seekrankheit weggekommen zu sein; manchmal denke ich, es war, weil ich Robinson Crusoe gelesen habe, sowie Bücher, die mich ermahnten, nicht zur See zu fahren.“

Frank lachte. „Du bist ein wunderlicher Kauz. Was meinst du mit ‚falschem Stolz’ und ‚über die Seekrankheit hinwegkommen’? Bist du auf irgendeine neue Art und Weise über die Seekrankheit hinweggekommen?“

John Wants düsteres Gesicht hellte sich, ihm selbst zum Trotz, auf. Frank hatte eine der beachtenswerten Passagen im Leben des Kochs in der Erinnerung des Kochs wachgerufen.

„ So ist es, Sir!“, sagte er. „Wenn jemals ein Mann auf eine neue Art die Seekrankheit kuriert hat, bin dich dieser Mann – ich habe es überwunden, Mr. Frank, mittels kräftigen Essens. Ich war Passagier an Bord eines Postdampfers, Sir, als ich das erste Mal das blaue Wasser sah. Eine garstig bewegte See kam zur Dinnerzeit auf, und ich begann, mich schwummerig zu fühlen ab dem Moment, als die Suppe auf den Tisch gestellt wurde. «Übel?» sagt der Captain. «Ziemlich, Sir», sage ich. «Möchten Sie meine Kur ausprobieren?» sagt der Captain. «Gewiß, Sir», sage ich. «Haben Sie Ihr Herz noch auf Ihrer Zunge?» sagt der Captain. «Nicht ganz, Sir», sage ich. «Falsche Schildkrötensuppe, Sir?», sagt der Captain und hilft mir. Ich schlucke ein paar Löffel voll, und werde so weiß wie ein Laken. Der Captain blinzelt mir zu. «Gehen Sie an Deck, Sir», sagt er; «werden Sie die Suppe los, und kommen Sie dann in meine Kabine.» Ich wurde die Suppe los und kam zurück zu der Kabine. «Kopf und Schulterstück vom Kabeljau», sagt der Captain, und hilft mir. «Ich halt es nicht aus, Sir», sage ich. «Sie müssen», sagt der Captain, «weil das die Kur ist.» Ich stopfte ein Mundvoll hinunter und wurde fahler denn je. «Gehen Sie an Deck», sagt der Captain. «Werden Sie den Kabeljaukopf los und kommen Sie zurück in die Kabine.» Hinaus gehe ich, und zurück komme ich. «Gekochte Keule vom Hammel und Beilagen», sagt der Captain, und hilft mir. «Kein Fett, Sir», sage ich. «Fett ist die Kur», sagt der Captain, und drängt mich, es zu essen. «Das Magere ist die Kur», sagt er, und drängt mich, es zu essen. «Stabil?» sagt der Captain. «Übel», sage ich. «Gehen Sie an Deck», sagt der Captain; «werden Sie die gekochte Keule vom Hammel samt Beilagen los und kommen Sie zurück zur Kabine.» Davon gehe ich, torkelnd – zurück komme ich, mehr tot als lebendig. «Gehackte und gewürzte Nieren», sagt der Captain. Ich schließe meine Augen, und bekomme sie hinunter. «Das Kurieren beginnt», sagt der Captain. «Hammelkotelett und Eingelegtes.» Ich schließe meine Augen, und bekomme es hinunter. «Auf dem Rost gebratener Schinken mit Cayennepfeffer», sagt der Captain. «Ein Glas Dunkelbier und Preiselbeertorte. Wollen Sie wieder an Deck gehen?» «Nein, Sir», sage ich. «Wir sind fertig mit der Kur», sagt der Captain.“

‚ Gib dich niemals deinem Magen geschlagen, und es wird darauf hinauslaufen, daß dein Magen sich dir geschlagen gibt.’ “

Den moralischen Erfolg dieser Geschichte in diesen unwiderlegbaren Worten dargelegt habend, brachte John Want sich selbst und den Topf in die Küche. Einen Moment später kehrte Crayford zurück zur Baracke und erstaunte Frank Aldersley mit einer unerwarteten Frage.

„ Hast du irgend etwas in deiner Koje, Frank, auf das du Wert legst?“

„ Nichts, auf das ich den geringsten Wert lege – wenn ich nicht darin bin“, erwiderte er. „Was bedeutet deine Frage?“

„ Wir sind beinahe so knapp an Brennstoff, wie wir es an Lebensmitteln sind“, fuhr Crayford fort. „Deine Koje wird guten Brennstoff abgeben. Ich habe Bateson angewiesen, in zehn Minuten mit seiner Axt hier zu sein.“

„ Sehr aufmerksam und rücksichtsvoll deinerseits“, sagte Frank. „Was soll aus mir werden, wenn du gestattest, wenn Bateson mein Bett zu Feuerholz zerhackt hat?“

„ Kannst du es nicht erraten?“

„ Ich vermute, die Kälte hat mich betäubt. Das Rätsel ist jenseits meiner Deutung. Ich vermute, du gibst mir einen Wink?“

„ Gewiß. Es werden bald Betten übrig sein – es wird endlich eine Veränderung in unserem elenden Leben hier geben. Verstehst du es jetzt?“

Franks Augen funkelten. Er sprang aus seiner Koje und schwenkte triumphierend seine Pelzmütze.

„ Verstehen?“ rief er aus; „natürlich tue ich das! Das Erkundungskommando wird endlich aufbrechen. Gehe ich mit der Expedition?“

„ Es ist noch nicht lange her, seit du in den Händen des Doktors warst, Frank“, sagte Crayford freundlich. „Ich zweifle, ob du schon kräftig genug bist, um das Erkundungskommando mitzumachen.“

„ Kräftig genug oder nicht“, gab Frank zurück, „jedes Risiko ist besser, als hier zu verschmachten und zu krepieren. Merk mich vor, Crayford, bei denen, die sich freiwillig melden, mitzugehen.“

„ Freiwillige werden in diesem Fall nicht akzeptiert“, sagte Crayford. „Captain Helding und Captain Ebsworth sehen ernsthafte Einwände gegen diese Vorgehensweise, in der Lage, in der wir uns befinden.“

„ Haben die vor, die Ernennungen selbst in die Hand zu nehmen? Ich zum Beispiel protestiere dagegen.“

„ Warte kurz“, sagte Crayford. „Du hast neulich mit einem der Offiziere Backgammon gespielt. Gehört das Brett ihm oder dir?“

„ Es gehört mir. Ich habe es hier in meiner Truhe. Was willst du damit?“

„ Ich möchte die Würfel und den Becher, um zu losen. Die Kapitäne haben sich geeinigt – äußerst klug, wie ich denke – daß der Zufall unter uns entscheidet, wer mit der Expedition geht und wer in den Hütten zurück bleibt. Die Offiziere und die Mannschaft der Wanderer werden in wenigen Minuten hier sein, um auszulosen. Weder du noch irgend jemand kann etwas haben gegen diese Art, zwischen uns zu entscheiden. Offiziere ebenso wie Matrosen versuchen ihr Glück gemeinsam. Niemand kann murren.“

„ Ich bin gänzlich zufriedengestellt“, sagte Frank. „Doch ich weiß von einem Mann unter den Offizieren, der ganz sicher Einwände erheben wird.“

„ Wer ist der Mann?“

„ Du kennst ihn ebenfalls ziemlich gut. Der ‚Bär der Expeditionen’ – Richard Wardour.“

„ Frank! Frank! Du hast eine schlechte Angewohnheit darin, deine Zunge mir dir durchgehen zu lassen. Wiederhole diesen dummen Spitznamen nicht, wenn du von meinem guten Freund Richard Wardour sprichst.“

„ Dein guter Freund? Crayford! Deine Zuneigung zu diesem Mann überrascht mich.“

Crayford legte seine Hand freundlich auf Franks Schulter. Von allen Offizieren der Seemöwe war Frank ihm der liebste.

„ Warum sollte es dich überraschen?“ fragte er. „Welche Gelegenheiten zum Urteilen hattest du? Du und Wardour habt immer zu verschiedenen Schiffen gehört. Ich habe dich niemals fünf Minuten hintereinander in Wardours Gesellschaft gesehen. Wie kannst du eine faire Beurteilung seines Charakters abgeben?“

„ Ich nehme die generelle Beurteilung seines Charakters“, antwortete Frank. „Er hat seinen Spitznamen, weil er der unbeliebteste Mann auf seinem Schiff ist. Keiner mag ihn – dafür muß es einen Grund geben.“

„ Es gibt nur einen Grund dafür“, erwiderte Crayford. „Niemand versteht Richard Wardour. Ich spreche nicht aufs Geratewohl. Erinnere dich, ich reiste auf der Wanderer mit ihm zusammen von England ab; und ich wurde erst lange, nachdem wir im Eis eingeschlossen waren, auf die Seemöwe versetzt. Ich war monatelang Richard Wardours Kamerad an Bord des Schiffes, und ich habe dort gelernt, ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Unter all seinen äußerlichen Fehlern, sage ich dir, schlägt dort ein großes und edelmütiges Herz. Verschieb deine Meinung, mein Junge, bis du meinen Freund so gut kennst, wie ich es tue. Nichts mehr davon jetzt. Gib mir die Würfel und den Becher.“

Frank öffnete seine Truhe. Im selben Moment wurde die Stille der Schneewüste draußen unterbrochen von einem Ruf mehrerer Stimmen, die der Hütte zuriefen – „Seemöwe , ahoi!“



Kapiteltrenner

Kapitel Acht

Der Seemann auf Wache öffnete die äußere Tür. Dort näherten sich, mühsam durch den geisterhaften, weißen Schnee stapfend, die Offiziere der Wanderer der Hütte. Dort, verteilt unter dem gnadenlos schwarzen Himmel, war die Mannschaft, mit den Hunden und den Schlitten, wartend auf das Wort, das sie aufbrechen ließ auf ihre gefahrvolle und unsichere Reise.

Captain Helding von der Wanderer betrat die Hütte, begleitet von seinen Offizieren, in guter Laune bei der Aussicht auf eine Veränderung. Hinter ihnen, allein langsam herumtrödelnd, war ein finsterer, mürrischer Mann mit dichten Augenbrauen. Weder sprach er, noch bot er irgend jemandem seine Hand dar: er war die einzige anwesende Person, die völlig gleichgültig zu sein schien ob dem Schicksal, das ihm bevorstand. Dies war der Mann, dem seine Kameraden den Spitznamen ‚Bär der Expedition’ gegeben hatten. Mit anderen Worten – Richard Wardour.

Crayford schritt vor, um Captain Helding Willkommen zu heißen. Frank, der sich des freundlichen Tadels erinnerte, den er soeben erhalten hatte, überging die anderen Offiziere von der Wanderer und gab sich besondere Mühe, höflich zu Mr. Crayfords Freund zu sein.

„ Guten Morgen, Mr. Wardour“, sagte er. „Wir könnten einander gratulieren zu der Chance, diesen schrecklichen Ort zu verlassen.“

Sie mögen ihn für schrecklich halten“, erwiderte Wardour scharf; „ich mag ihn.“

„ Mögen? Lieber Himmel! Warum?“

„ Weil es hier keine Frauen gibt.“

Frank wandte sich zu seinen Offizierskameraden um, ohne irgendwelche weitere Annäherungsversuche in Richtung Richard Wardours zu machen. Der Bär der Expedition war unzugänglicher denn je.

In der Zwischenzeit war die Hütte überschwemmt worden von den gesunden Offizieren und Matrosen der beiden Schiffe. Captain Helding, der in ihrer Mitte stand, mit Crayford an seiner Seite, machte sich daran, den Vorschlag der beabsichtigten Expedition der Versammlung, die ihn umgab, zu erklären.

Er begann mit folgenden Worten:

„ Offizierskameraden und Matrosen der Wanderer und der Seemöwe, es ist meine Pflicht, Ihnen ganz kurz die Gründe zu erklären, die bei Captain Ebsworth und mir den Ausschlag gegeben haben, ein Erkundungskommando loszuschicken auf die Suche nach Hilfe. Ohne an all die Härten zu erinnern, die wir die letzten beiden Jahre erlitten haben – die Zerstörung zuerst von einem unserer Schiffe, dann vom anderen; der Tod von einigen unserer tapfersten und besten Kameraden; die vergeblichen Kämpfe, die wir gegen Eis und Schnee ausgefochten haben, und die grenzenlose Einöde dieser ungastlichen Regionen – ohne näher auf diese Dinge einzugehen, ist es meine Pflicht, Sie daran zu erinnern, daß dieser, der letzte Ort, an welchem wir Zuflucht suchten, weit abseits der Route von irgendeiner vorhergehenden Expedition ist, und daß infolgedessen unsere Chance, von irgendwelchen Rettungskommandos entdeckt zu werden, die möglicherweise ausgeschickt wurden, um uns zu suchen, gelinde gesagt eine Chance der unsichersten Art ist. Sie alle, Gentlemen, stimmen soweit mit mir überein?“

Die Offiziere (mit Ausnahme von Wardour, der in düsterer Stille abseits stand) stimmten soweit überein.

Der Captain fuhr fort.

„ Es ist folglich dringend notwendig, daß wir einen weiteren, und wahrscheinlich letzten, Versuch unternehmen, uns selbst zu befreien. Der Winter ist nicht mehr fern; Wild wird immer knapper, unser Vorrat an Proviant geht zur Neige, und die Kranken – besonders, es tut mir leid, es zu sagen, die Kranken in der Hütte der Wanderer – nehmen Tag für Tag zahlenmäßig zu. Wir müssen auf unsere eigenen Leben bedacht sein, und auf die Leben derer, die auf uns angewiesen sind; und wir haben keine Zeit zu verlieren.“

Die Offiziere wiederholten die Worte eifrig.

„ Richtig! richtig! Keine Zeit zu verlieren!“

Captain Helding resümierte:

„ Der beabsichtigte Plan ist, daß eine Abteilung der gesunden Offiziere und Matrosen unter uns noch heute eine Reise antritt und einen weiteren Versuch startet, die nächsten bewohnten Niederlassungen zu erreichen, von denen aus Hilfe und Verpflegung geschickt werden könnte zu denen, die hier zurückbleiben. Die neue Richtung, die eingeschlagen werden soll, und die verschiedenen Vorsichtsmaßnahmen, die getroffen werden sollen, dies alles ist bereits ausgearbeitet. Die einzige uns nun vorliegende Frage ist, wer bleiben soll, und wer die Reise unternehmen soll?“

Die Offiziere beantworteten die Frage einstimmig – „Freiwillige.“

Die Matrosen sprachen ihren Offizieren nach. „Aye, aye, Freiwillige.“

Wardour hielt sein düsteres Schweigen noch immer aufrecht. Crayford bemerkte, daß er abseits stand von den Übrigen, und wandte sich an ihn.

„ Sagen Sie nichts?“, fragte er.

„ Nichts“, antwortete Wardour. „Gehen oder bleiben, es ist mir alles eins.“

„ Ich hoffe, Sie meinen das nicht wirklich?“, sagte Crayford.

„ Doch.“

„ Es tut mir leid, das zu hören, Wardour.“

Captain Helding beantwortete den generellen Vorschlag zugunsten der Freiwilligen mit einer Frage, die augenblicklich den steigenden Enthusiasmus der Versammlung hemmte.

„ Nun“, sagte er, „nehmen wir an, wir sagen Freiwillige. Wer meldet sich freiwillig, um in den Hütten zu bleiben?“

Eine Totenstille trat ein. Die Offiziere und Matrosen schauten einander verwirrt an. Der Captain fuhr fort:

„ Sie sehen, wir können es nicht durch Freiwillige regeln. Sie alle möchten gehen. Natürlich möchte jeder Mann unter uns, der seine Gliedmaßen benutzen kann, gehen. Doch was soll aus denen werden, die ihre Gliedmaßen nicht gebrauchen können? Einige von uns müssen hierbleiben und die Kranken versorgen.“

Jeder gab zu, daß dies wahr war.

„ So kehren wir wieder zurück“, sagte der Captain, „zu der alten Frage – wer von den körperlich Gesunden soll gehen? und wer soll bleiben? Captain Ebsworth sagt, und auch ich sage, laßt den Zufall es entscheiden. Hier sind Würfel. Die Zahlen gehen bis Zwölf – zwei Sechsen. Alle, die unter sechs werfen, bleiben; alle, die über Sechs werfen, gehen. Offiziere der Wanderer und der Seemöwe , sind Sie einverstanden mit der Methode, dem Problem entgegenzutreten?“

Alle Offiziere stimmten zu, mit der einen Ausnahme von Wardour, der noch immer sein Schweigen beibehielt.

„ Matrosen der Wanderer und der Seemöwe , Ihre Offiziere haben zugestimmt, darum zu losen. Stimmen Sie ebenfalls zu?“

Die Männer bejahten ohne eine Gegenstimme. Crayford reichte Captain Helding den Becher und die Würfel.

„ Sie werfen zuerst, Sir. Unter Sechs, bleiben. Über Sechs, gehen.“

Captain Helding würfelte, die Oberseite des Fasses diente als Tisch. Er warf sieben.

„ Gehen“, sagte Crayford. „Ich gratuliere Ihnen, Sir. Nun für mein eigenes Geschick.“ Er ließ seinerseits die Würfel rollen. „Drei! Bleiben! Ah, gut! gut! Wenn ich meine Pflicht tun und für andere nützlich sein kann, was macht es dann aus, ob ich gehe oder bleibe? Wardour, Sie sind der nächste, in Abwesenheit Ihres ersten Lieutenants.“

Wardour bereitete sich vor, zu werfen, ohne die Würfel zu schütteln.

„ Schütteln Sie den Becher, Mann“, rief Crayford. „Geben Sie sich eine Chance auf das Glück!“

Wardour bestand darauf, die Würfel gleichgültig fallen zu lassen, gerade so, wie sie im Becher lagen.

„ Nicht ich“, murmelte er vor sich hin. „Ich bin fertig mit dem Glück.“ Mit diesen Worten warf er den leeren Becher hinunter und setzte sich auf die nächste Kiste, ohne nachzusehen, wie die Würfel gefallen waren.

Crayford prüfte sie. „Sechs!“ rief er aus. „Ha! Sie haben eine zweite Chance, Ihnen selbst zum Trotz. Sie sind weder darunter noch darüber – Sie würfeln noch mal.“

„ Bah!“ grollte der Bär. „Es ist die Mühe des Aufstehens nicht wert. Soll jemand anderes für mich würfeln.“ Er schaute plötzlich auf Frank. „Sie! Sie haben das, was die Frauen ein glückliches Gesicht nennen.“

Frank wandte sich an Crayford. „Soll ich?“

„ Ja, wenn er es wünscht“, sagte Crayford.

Frank ließ die Würfel rollen. „Zwei! Er bleibt! Wardour, es tut mir leid, daß ich gegen Sie gewürfelt habe.“

„ Gehen oder bleiben“, wiederholte Wardour, „es ist mir alles einerlei. Sie werden mehr Glück haben, mein Junge, wenn Sie für sich selbst würfeln.“

Frank würfelte für sich selbst.

„ Acht! Hurra! Ich gehe!“

„ Was habe ich Ihnen gesagt?“ sagte Wardour. „Das Glück war Ihres. Sie sind auf meinem Pech gediehen.“

Er erhob sich, während er sprach, um die Hütte zu verlassen. Crayford hielt ihn auf.

„ Hast du irgend etwas besonderes zu tun, Richard?“

„ Was hat irgend jemand hier zu tun?“

„ Dann warte kurz. Ich möchte mit dir sprechen, wenn diese Sache vorüber ist.“

„ Wirst du mir noch irgendwelche weiteren Ratschläge geben?“

„ Schau mich nicht auf eine solch griesgrämige Weise an, Richard. Ich will dir eine Frage stellen über etwas, das dich selbst betrifft.“

Ohne ein weiteres Wort gab Wardour nach. Er kehrte zurück zu seiner Kiste und schickte sich spöttischerweise zu einem Schlummer an. Die Auslosung unter den Offizieren und der Mannschaft ging zügig weiter. Nach einer weiteren halben Stunde hatte der Zufall die Frage von ‚gehen’ oder ‚bleiben’ für alle auf die selbe Weise entschieden. Die Mannschaft verließ die Hütte. Die Offiziere betraten das innere Zimmer für eine letzte Besprechung mit dem bettlägerigen Captain der Seemöwe . Wardour und Crayford wurden zusammen zurückgelassen, allein.



Kapiteltrenner

Kapitel Neun

Crayford berührte seinen Freund an der Schulter, um ihn zu wecken. Wardour schaute auf, ungehalten, mit finsterem Blick.

„ Ich war gerade eingeschlafen“, sagte er. „Warum weckst du mich?“

„ Schau dich um, Richard. Wir sind allein.“

„ Nun – und was ist dabei?“

„ Ich möchte allein mit dir sprechen – und dies ist meine Gelegenheit. Du hast mich heute enttäuscht und überrascht. Warum hast du gesagt, es sei dir alles einerlei, ob du gingst oder bliebest? Warum bist du der einzige Mann unter uns, dem es vollkommen gleichgültig zu sein scheint, ob wir gerettet werden oder nicht?“

„ Kann ein Mann immer einen Grund angeben für das, was seltsam an seinem Verhalten oder seinen Worten ist?“, warf Wardour zurück.

„ Er kann es versuchen“, sagte Crayford ruhig – „wenn sein Freund ihn darum bittet.“

Wardours Verhalten wurde sanfter.

„ Das ist wahr“, sagte er. „Ich werde es versuchen. Erinnerst du dich an die erste Nacht auf See, als wir von England fortsegelten auf der Wanderer ?“

„ So gut, als ob es gestern gewesen wäre.“

„ Eine windstille, ruhige nacht“, fuhr der andere fort, gedankenvoll. „Keine Wolken, keine Sterne. Nichts im Himmel außer dem vollen Mond, und kaum eine kleine Welle, die den Pfad aus Licht brach, den er im stillen Wasser bildete. Du kamst an Deck, und fandest mich allein vor.“

Er hielt inne. Crayford nahm seine Hand und beendete den Satz für ihn.

„ Allein – und unter Tränen.“

„ Die letzten, die ich jemals vergossen haben werde“, fügte Wardour bitter hinzu.

„ Sag das nicht! Es gibt Zeiten, da ein Mann wirklich zu bemitleiden ist, wenn er keine Tränen vergießen kann. Fahr fort, Richard.“

Wardour fuhr fort, zu sprechen – noch immer den alten Erinnerungen folgend, noch immer seinen sanfteren Tonfall beibehaltend.

„ Mit jedem anderen Mann, der mich in jenem Moment überrascht hätte, hätte ich Streit angefangen“, sagte er. „Da war etwas, ich vermute, in deiner Stimme, als du mich um Verzeihung batest, mich zu stören, das mein Herz erweichte. Ich erzählte dir, daß ich eine Enttäuschung erlitten hatte, die mich für mein Leben gebrochen hat. Es gab keine Notwendigkeit, Weiteres zu erklären. Das einzige hoffnungslose Elend auf dieser Welt ist das Elend, das Frauen verursachen.“

„ Und die einzige ungetrübte Glückseligkeit“, sagte Crayford, „ist die Glückseligkeit, die Frauen bringen.“

„ Das mag deine Erfahrung mit ihnen sein“, antwortete Wardour; „meine ist anders. All die Hingabe, die Geduld, die Demut, die Verehrung, die es in einem Mann gibt, legte ich einer Frau zu Füßen. Sie nahm das Angebot an, wie Frauen es tun – nahm es an, leichthin, anmutig, gefühllos – nahm es an als eine Selbstverständlichkeit. Ich verließ England, um eine hohe Stellung in meinem Dienst zu erringen, bevor ich es wagte, sie zu gewinnen. Ich trotzte Gefahren, und blickte dem Tod ins Auge. Ich setzte mein Leben aufs Spiel in den Fiebersümpfen von Afrika, um die Beförderung zu erlangen, die ich nur ihretwegen begehrte – und bekam sie. Ich kehrte zurück, um ihr alles zu geben, und nichts weiter dafür zu verlangen als mein müdes herz im Sonnenschein ihres Lächelns auszuruhen. Und ihre eigenen Lippen – die Lippen, die ich beim Abschied geküßt habe – teilten mir mit, daß ein anderer Mann sie mir geraubt hatte. Ich sagte nur wenige Worte, nachdem ich dieses Geständnis gehört hatte, und verließ sie für immer. ‚Möglicherweise kommt der Zeitpunkt’, sagte ich zu ihr, ‚da ich dir vergeben werde. Doch der Mann, der dich mir geraubt hat, wird den Tag bereuen, als du und er euch zum ersten Mal begegnet seid.’ Frag mich nicht, wer er war! Ich muß ihn erst noch ausfindig machen. Der Verrat war geheimgehalten worden; niemand konnte mir sagen, wo ich ihn finden konnte; niemand konnte mir sagen, wer er war. Was hat es ausgemacht? Nachdem ich die erste Qual durchlebt hatte, konnte ich auf mich selbst vertrauen – ich konnte geduldig sein, und meinen Zeitpunkt abwarten.“

„ Deinen Zeitpunkt? Welchen Zeitpunkt?“

„ Der Zeitpunkt, wenn ich und dieser Mann uns von Angesicht zu Angesicht begegnen werden. Ich habe es damals gewußt; ich weiß es jetzt – es war damals auf mein Herz geschrieben, es ist jetzt auf mein Herz geschrieben – wir beide werden uns begegnen und einander erkennen! Mit dieser starken Gewißheit in mir habe ich mich freiwillig für diesen Dienst gemeldet, wie ich mich freiwillig für alles gemeldet hätte, das Arbeit und Härte und Gefahr wie Schutzwälle zwischen mein Elend und mich stellt. Mit dieser starken Gewißheit, die noch immer in mir ist, sage ich dir, daß es egal ist, ob ich hier bei den Kranken bleibe oder fortgehe mit den Starken. Ich werde überleben, bis ich diesem Mann begegnet bin! Es ist ein Tag der Abrechnung zwischen uns festgesetzt worden. Hier in der eisigen Kälte, oder fern in der tödlichen Hitze; im Gefecht oder im Schiffswrack; im Angesicht des Verhungerns; unter dem Schatten der Pestilenz – Ich, obgleich Hunderte um mich herum fallen, ich werde überleben. Überleben für den Anbruch des einen Tages! Überleben für die Begegnung mit dem einen Mann!“

Er hielt inne, zitternd, Körper und Seele, unter dem Griff, mit dem sein eigener schrecklicher Aberglaube sich an ihn geklammert hatte. Crayford zog sich zurück in stillem Grausen. Wardour bemerkte die Bewegung – er verübelte es ihm – er appellierte, in Verteidigung seiner einzigen Überzeugung, an der er festhielt, an Crayfords eigene Erfahrung mit ihm.

„ Sieh mich an!“, rief er. „Sieh, wie ich gelebt habe und gediehen bin mit dem Kummer, der zu Hause an mit nagt, und den Winden des eisigen Nordens, die hier um mich herum pfeifen! Ich bin der stärkste Mann unter euch. Warum? Ich habe mich durch Härten gekämpft, welche die abgehärtetsten Männer unserer gesamten Abteilung niedergestreckt haben. Warum? Was habe ich getan, daß meine Lebenskraft tapfer durch jede Ader meines Körpers pulsiert, in dieser Minute, und an diesem tödlichen Ort, wie sie es immerzu in den wohltuenden leichten Winden zu Hause getan hat? Wofür bin ich aufbewahrt? Ich sage es dir noch einmal, für die Ankunft eines bestimmten Tages – für die Begegnung mit einem bestimmten Mann.“

Er machte abermals eine Pause. Diesmal sprach Crayford.

„ Richard!“, sagte er, „seit wir uns das erste Mal begegneten, habe ich an dein besseres Wesen geglaubt, entgegen allem äußeren Anschein. Ich habe an dich geglaubt, fest, ehrlich, wie es dein Bruder getan hätte. Du stellst diesen Glauben auf eine harte Probe. Wenn ein Feind von dir mir gesagt hätte, daß du jemals so gesprochen hättest, wie du jetzt sprichst, daß du jemals so ausgesehen hast, wie du jetzt aussiehst, hätte ich ihm den Rücken zugewandt wie jemandem, der einen redlichen, einen tapferen, einen aufrichtigen Mann niederträchtig verleumdet. Oh!, mein Freund, mein Freund, wenn ich jemals etwas Gutes von dir verdient habe, dann verbanne diese Gedanken aus deinem Herzen! Sieh mich wieder an mit dem unbefleckten Blick eines Mannes, der den blutigen Aberglauben der Rache unter seinen Füßen zertrampelt hat und sie nicht mehr kennt! Laß niemals, niemals den Zeitpunkt kommen, an dem ich dir meine Hand nicht mehr so darbieten kann, wie ich sie dir jetzt darbiete, dem Mann, den ich noch immer hochschätzen kann – dem Bruder, den ich noch immer lieben kann!“

Das Herz, das keine andere Stimme berühren könnte, fühlte diesen Appell. Die wilden Augen, die harte Stimme, wurden unter Crayfords Einfluß sanft. Richard Wardours Kopf sank auf seine Brust.

„ Du bist freundlicher zu mir, als ich es verdiene“, sagte er. „Sei noch freundlicher und vergiß, worüber ich gesprochen habe. Nein! nichts mehr über mich; ich bin es nicht wert. Wir werden das Thema wechseln und niemals wieder darauf zurückkommen. Laß uns etwas tun. Arbeit, Crayford – das ist das wahre Elixier unseres Lebens! Arbeit, welche die Muskeln dehnt und das Blut zum Glühen bringt. Arbeit, die den Körper ermüdet und den Geist ruhen läßt. Gibt es keine Arbeit, die ich tun kann? Nichts zu zerschneiden? Nichts zu tragen?“

Die Tür öffnete sich, als er die Frage stellte. Bateson – dem angeordnet wurde, Franks Bettstatt zu Brennholz zu zerhacken – erschien pünktlich mit seiner Axt. Ohne ein Wort der Warnung schnappte Wardour dem Mann die Axt aus der hand.

„ Wofür wurde die benötigt?“ fragte er.

„ Um Mr. Aldersleys Koje dort zu Feuerholz zu zerlegen, Sir.“

„ Ich werde es für Sie tun! Ich werde es im Handumdrehen erledigt haben!“ Er wandte sich um zu Crayford. „Du brauchst nicht besorgt um mich zu sein, alter Freund. Ich werde das richtige tun. Ich werde meinen Körper ermüden und meinen Geist ruhen lassen.“

Der böse Geist in ihm war offensichtlich bezwungen – für den Augenblick wenigstens. Crayford nahm schweigend seine Hand, und überließ ihn dann (gefolgt von Bateson) seiner Arbeit.



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Kapitel Zehn

Die Axt in der Hand, näherte sich Wardour Franks Bettstatt.

„ Könnte ich nur die Gedanken aus mir heraushacken“, sagte er zu sich selbst, „wie ich die Scheite aus diesem Holz hacken werde!“ Er machte sich mit der Axt über die Bettstatt her wie ein Mann, der sein Werkzeug gut zu gebrauchen verstand. „Du meine Güte!“ dachte er traurig, „wäre ich nur als Zimmermann geboren anstatt als Edelmann! Eine gute Axt, Master Bateson – ich frage mich, woher Sie sie haben? Mein lieber Mann, an diesem Stiel ist sogar so etwas wie ein Griff. Armer Crayford! Seine Worte bleiben mir in der Kehle stecken. Ein feiner Bursche! ein nobler Bursche! Kein übliches Denken, kein übliches Bedauern; was gesagt ist, ist gesagt. Arbeit! Arbeit! Arbeit!“

Planke nach Planke fiel heraus auf den Boden. Er lachte über die einfache Aufgabe der Zerstörung. „Aha! junger Aldersley! Es braucht nicht viel, um deine Bettstatt zu zerstören. Ich werde sie zu Fall bringen! Ich würde die ganze Hütte zu Fall bringen, wenn sie mir nur die Chance gäben, darauf herumzuhacken!“

Ein langes Stück Holz geriet ihm vor die Axt – so lang, daß es nötig war, es entzwei zu hacken. Er drehte es um und beugte sich darüber. Etwas fiel ihm ins Auge – ins Holz eingeritzte Buchstaben. Er schaute näher hin. Die Buchstaben waren schwach und schlecht geschnitzt. Er konnte nur die ersten drei entziffern; und selbst bei diesen war er sich nicht ganz sicher. Sie sahen aus wie C L A – wenn sie überhaupt wie etwas aussahen. Gereizt warf er das Stück hinunter.

„ Verdammt sei der Kerl (wer immer er ist), der das geschnitzt hat! Warum hat er diesen Namen geschnitzt, von allen Namen auf der Welt?“

Er hielt inne, überlegend – entschied sich dann, wieder weiterzumachen mit seiner selbstauferlegten, schweren Arbeit. Er schämte sich seines Ausbruches. Ärgerlich schaute er sich nach der Axt um. „Arbeit, Arbeit! Arbeit ist der einzige Weg.“ Er fand die Axt, und machte wieder weiter.

Er hackte eine weitere Planke heraus.

Er hielt inne, und schaute sie mißtrauisch an.

Da war abermals eine Schnitzerei, auf dieser Planke. Die Buchstaben F und A erschienen darauf.

Er legte die Axt nieder. Es waren vage böse Ahnungen in ihm, die zu erfassen er nicht imstande war. Der Zustand seines eigenen Verstandes wurde schnell zum Rätsel für ihn.

„Weitere Schnitzereien“, sagte er zu sich selbst. „Das ist die Art, wie diese jungen Faulenzer ihre langen Stunden verbringen. F.A.? Dies müssen seine Initialen sein – Frank Aldersley. Wer hat die Buchstaben auf die andere Planke geritzt? Ebenfalls Frank Aldersley?“

Er drehte das Stück Holz in seiner Hand näher zum Licht und suchte etwas weiter unten. Noch mehr Schnitzereien, weiter unten! Unter den Initialen F.A. waren zwei weitere Buchstaben – C.B.

„ C.B?“ wiederholte er bei sich. „Die Initialen seines Liebchens vermutlich? Natürlich – in seinem Alter – die Initialen seines Liebchens.“

Er hielt abermals inne. Ein Anfall inneren Schmerzes zeigte den Schatten seines rätselhaften Verlaufs äußerlich auf seinem Gesicht.

Ihre Initialen sind C.B.“, sagte er, in tiefem, gebrochenem Tonfall. „C.B. – Clara Burnham.”

Er wartete, mit der Planke in seiner Hand, den Namen immer und immer wiederholend, als ob er eine Frage wäre, die er sich selbst stellte.

„ Clara Burnham? Clara Burnham?”

Er ließ die Planke fallen und drehte sich im selben Augenblick totenblaß um. Sein Blick wanderte verstohlen zwischen dem Stück Holz auf dem Boden und der halb zerstörten Koje hin und her. „Oh Gott! Was habe ich da nur entdeckt?“ sagte er zu sich selbst, mit einem Flüstern. Er raffte die Axt hoch, mit einem seltsamen Aufschrei – etwas zwischen Raserei und Entsetzen. Er versuchte – versuchte wild, verzweifelt – mit seiner Arbeit fortzufahren. Nein! so stark er auch war, konnte er die Axt nicht benutzen. Seine Hände waren hilflos; sie zitterten unablässig. Er ging zum Feuer; er hielt seine Hände darüber. Sie zitterten noch immer unablässig; sie rissen den Rest von ihm mit. Er bebte überall. Er erlebte Angst. Seine eigenen Gedanken erschreckten ihn.

„ Crayford!“ rief er aus. „Crayford! komm her, und laß uns jagen gehen.“

Keine freundliche Stimme antwortete ihm, kein freundliches Gesicht zeigte sich ihm an der Tür.

Eine Pause verging; und eine weitere Veränderung überkam ihn. Er erlangte seine Selbstbeherrschung beinahe so plötzlich wieder zurück, wie er sie verloren hatte. Ein Lächeln – ein grausiges, entstellendes, unnatürliches Lächeln – breitete sich langsam, verstohlen, teuflisch über sein Gesicht aus. Er verließ das Feuer; er legte die Axt langsam weg in eine Ecke; er ließ sich auf seinem alten Platz nieder und gab sich bewußt einem Wahn rachsüchtiger Freude hin. Er hatte den Mann gefunden! Dort am Ende der Welt – dort, beim letzten Kampf der Arktisreisenden gegen Verhungern und Tod, hatte er den Mann gefunden!

Die Minuten vergingen.

Ihm wurde plötzlich ein eisiger Luftzug bewußt, der in den Raum strömte.

Er wandte sich um und sah Crayford die Tür der Hütte öffnen. Ein Mann befand sich hinter ihm. Wardour erhob sich eifrig und schaute über Crayfords Schulter.

War es – konnte es sein – der Mann, der die Buchstaben auf die Planken geritzt hatte? Ja! Frank Aldersley!



Kapiteltrenner

Kapitel Elf

„ Immer noch bei der Arbeit!“ rief Crayford aus, auf die halbzerstörte Bettstatt blickend. „Gönne dir ein wenig Ruhe, Richard. Das Erkundungskommando ist bereit zum Aufbrechen. Wenn du Abschied nehmen willst von deinen Offizierskameraden, bevor sie gehen, hast du keine Zeit zu verlieren.“

Hier unterbrach er sich, Wardour voll ins Gesicht schauend.

„ Lieber Himmel!“, rief er aus, „wie fahl du bist! Ist irgend etwas passiert?“

Frank – der in seiner Truhe nach Kleidungsstücken suchte, welche er auf der Reise möglicherweise benötigte – schaute sich um. Er erschrak, wie Crayford sich erschrocken hatte, ob der plötzlichen Veränderung in Wardour, seit sie ihn zum letzten Mal gesehen hatten.

„ Sind Sie krank?“ fragte er. „Ich höre, daß Sie Batesons Arbeit für ihn erledigt haben. Haben Sie sich verletzt?“

Wardour bewegte plötzlich den Kopf, so, als wolle er sein Gesicht verstecken vor beiden, Crayford und Frank. Er nahm sein Taschentuch heraus und wickelte es unbeholfen um seine linke hand.

„ Ja“, sagte er; „ich habe mich mit der Axt verletzt. Es ist nichts. Kümmern Sie sich nicht darum. Schmerz hat immer einen seltsamen Effekt auf mich. Ich sage Ihnen, es ist nichts! Beachten Sie es nicht!“

Er wandte ihnen sein Gesicht so plötzlich wieder zu, wie er es weggedreht hatte. Er ging einige Schritte vorwärts, und trat mit einer beunruhigenden Vertrautheit an Frank heran.

„ Ich habe Ihnen nicht höflich geantwortet, als Sie mich vor Kurzem ansprachen. Ich meine, als ich das erste Mal hereinkam mit den restlichen Männern. Ich entschuldige mich. Geben wir einander die Hände! Wie geht es Ihnen? Bereit für den Marsch?“

Frank begegnete dem sonderbar abrupten Annäherungsversuch an ihn mit gänzlich guter Laune.

„ Ich bin froh, mit Ihnen befreundet zu sein, Mr. Wardour. Ich wünschte, ich wäre ebensogut an die Strapazen gewöhnt, wie Sie es sind.“

Wardour brach in ein hartes, freudloses, unnatürliches Lachen aus.

„ Nicht robust, eh? So sehen Sie auch nicht aus. Die Würfel hätten besser mich fortgeschickt und Sie hierbehalten. Ich habe mich nie in meinem Leben in besserer Form gefühlt.“ Er machte eine Pause und fügte hinzu, mit seinem Blick auf Frank und mit einer starken Betonung in den Worten: „Wir Männer aus Kent sind aus einem harten Material gemacht.“

Frank ging seinerseits einen Schritt vor, mit einem neuen Interesse an Richard Wardour.

„ Sie kommen aus Kent?“ sagte er.

„ Ja. Aus dem Osten Kents.“ Er wartete noch ein wenig, und schaute Frank fest an. „Kennen Sie diesen Teil des Landes?“ fragte er.

„ Ich sollte etwas über den Osten Kents wissen“, antwortete Frank. „Einige liebe Freunde von mir haben einst dort gelebt.“

„ Freunde von Ihnen?“ wiederholte Wardour. „Eine der Landfamilien, vermute ich?“

Während er die Frage stellte, schaute er sich abrupt über die Schulter. Er stand zwischen Crayford und Frank. Crayford, der nicht an der Unterhaltung teilnahm, hatte ihn beobachtet und ihm immer aufmerksamer zugehört, während die Unterhaltung weiterging. Innerhalb der letzten paar Minuten war Wardour dies instinktiv bewußt geworden. Er ärgerte sich über Crayfords Verhalten, mit unnötiger Gereiztheit.

„ Warum starrst du mich an?“ fragte er.

„ Warum siehst du nicht wie du selbst aus?“ antwortete Crayford leise.

Wardour gab keine Erwiderung. Er nahm die Unterhaltung mit Frank wieder auf.

„ Eine der Landfamilien?“ fuhr er fort. „Die Winterbys aus Yew Grange, könnte ich mir denken?“

„ Nein“, sagte Frank; „aber sehr wahrscheinlich Freunde der Winterbys. Die Burnhams.“

So verzweifelt Wardour auch darum kämpfte, sie aufrecht zu erhalten, seine Selbstkontrolle ließ ihn im Stich. Er sprang ungestüm auf. Das ungeschickt herumgewickelte Taschentuch fiel ihm aus der Hand. Ihn noch immer aufmerksam beobachtend, hob Crayford es auf.

„ Da ist dein Taschentuch, Richard“, sagte er. „Seltsam!“

„ Was ist seltsam?“

„ Du hast uns erzählt, daß du dich mit der Axt verletzt hast–“

„ Und?“

„ Es ist kein Blut auf deinem Taschentuch.“

Wardour schnappte Crayford das Taschentuch aus der Hand, und näherte sich, während er sich wegdrehte, der äußeren Tür der Hütte. „Kein Blut auf dem Taschentuch“, sagte er zu sich selbst. „Es könnten einige Flecken darauf sein, wenn Crayford es wiedersieht.“ Er hielt einige Schritte vor der Tür an und sprach Crayford an. „Du hast mir vorgeschlagen, mich von meinen Offizierskameraden zu verabschieden, bevor es zu spät sei“, sagte er. „Ich werde gehen, um deinem Rat zu folgen.“

Gerade als er seine Hand auf das Schloß legte, wurde die Tür von draußen geöffnet. Einer der Quartiermeister der Wanderer betrat die Hütte.

„ Ist Captain Helding hier, Sir?“ fragte er, sich an Wardour wendend.

Wardour zeigte auf Crayford.

„ Der Lieutenant wird es Ihnen sagen“, erwiderte er.

Crayford trat vor und befragte den Quartiermeister. „Was möchten Sie von Captain Helding?“ wollte er wissen.

„ Ich habe einen Bericht zu machen, Sir. Es hat einen Unfall auf dem Eis gegeben.“

„ Einer Ihrer Matrosen?“

„ Nein, Sir. Einer unserer Offiziere.“

Wardour, der soeben im Begriff war, hinauszugehen, hielt inne, als der Quartiermeister diese Antwort gab. Einen Moment lang überlegte er. Dann ging er langsam zurück zu dem Teil des Raums, in welchem Frank stand. Crayford, der dem Quartiermeister den Weg zeigte, wies zu dem bogenförmigen Zugang an der Seite der Hütte.

„ Es tut mir leid, von dem Unfall zu hören“, sagte er. „Sie werden Captain Helding in diesem Raum finden.“

Zum zweiten Mal nahm Wardour, mit sonderbarer Hartnäckigkeit, die Unterhaltung mit Frank auf.

„ So kannten Sie die Burnhams?“ sagte er. „Was wurde aus Clara, als ihr Vater starb?“

Franks Gesicht erglühte augenblicklich vor Wut.

„ Clara!“ wiederholte er. „Was gibt Ihnen das Recht, von Miß Clara auf diese vertrauliche Weise zu sprechen?“

Wardour ergriff die Gelegenheit, um Streit mit ihm anzufangen.

„ Welches Recht haben Sie, zu fragen?“ gab er derb zurück.

Franks Blut war in Wallung. Er vergaß sein Versprechen an Clara, ihre Verlobung geheimzuhalten – er vergaß alles außer der zügellosen Unverschämtheit von Wardours Ausdrucksweise und Verhalten.

„ Ein Recht, das zu respektieren ich von Ihnen ausdrücklich verlange“, antwortete er. „Das Recht, mit ihr verlobt zu sein.“

Crayfords zuverlässige Augen waren noch immer wachsam, und Wardour fühlte sie auf sich gerichtet. Ein wenig mehr, und Crayford würde sich offen einmischen. Sogar Wardour sah ausnahmsweise die Notwendigkeit ein, sein Temperament zu kontrollieren, koste es ihn, was es wolle. Er entschuldigte sich mit überspannter Freundlichkeit bei Frank.

„ Unmöglich, solch ein Recht wie das Ihre in Zweifel zu ziehen“, sagte er. „Vielleicht werden Sie mich entschuldigen, wenn Sie wissen, daß ich einer von Miß Burnhams alten Freunden bin. Mein Vater und ihr Vater waren Nachbarn. Wir sind einander immer wie Bruder und Schwester begegnet–“

An dieser Stelle unterbrach Frank die Entschuldigung freundlich.

„ Sagen Sie nichts mehr“, warf er ein. „Ich war im Unrecht – ich bin in Wut geraten. Bitte vergeben Sie mir.“

Während er sprach, schaute Wardour ihn mit einem seltsamen, widerwilligen Interesse an. Als er fertig war, stellte Wardour eine außergewöhnliche Frage.

„ Ist sie sehr verliebt in Sie?“

Frank brach in Lachen aus.

„ Mein lieber Kamerad“, sagte er, „kommen Sie zu unserer Hochzeit, und urteilen Sie selbst.“

„ Zu Ihrer Hochzeit kommen?“ Als er die Worte wiederholte, warf Wardour einen verstohlenen Blick auf Frank, welchen Frank (der damit beschäftigt war, sich seinen Rucksack umzuschnallen) übersah. Crayford bemerkte ihn, und Crayford gruselte es. Die Worte, welche Wardour zu ihm gesagt hatte, während sie allein miteinander gewesen waren, mit jenen Worten vergleichend, die soeben gefallen waren, konnte er nur einen Schluß ziehen. Die Frau, die Wardour geliebt und verloren hatte, war Clara Burnham. Der Mann, der sie ihm geraubt hatte, war Frank Aldersley. Und Wardour hatte es in der Zwischenzeit, seit sie einander das letzte Mal getroffen hatten, herausgefunden. ‚Gott sei Dank’, dachte Crayford, ‚daß die Würfel sie getrennt haben! Frank geht mit der Expedition, und Wardour bleibt bei mir zurück.’

Der Gedanke war ihm kaum in den Sinn gekommen – Franks gedankenlose Einladung war diesem just über seine Lippen gekommen – als die Segeltuchwand vor dem Zugang beiseite gezogen wurde. Captain Helding und die Offiziere, die mit dem Erkundungskommando fortgehen sollten, kamen zurück in den Hauptraum auf ihrem Weg hinaus. Als er Crayford sah, hielt Captain Helding an, um mit ihm zu sprechen.

„ Ich habe einen Unglücksfall zu melden“, sagte der Captain, „welcher unsere Anzahl um einen verringert. Mein zweiter Lieutenant, der dem Erkundungskommando beitreten sollte, ist auf dem Eis gestürzt. Nach dem zu urteilen, was der Quartiermeister mir mitgeteilt hat, befürchte ich, daß der arme Bursche sich das Bein gebrochen hat.“

„ Ich werde seine Stelle einnehmen“, rief eine Stimme am anderen Ende der Hütte. Alle schauten sich um. Der Mann, der gesprochen hatte, war Richard Wardour.

Crayford trat augenblicklich dazwischen – so vehement, daß er alle erstaunte, die ihn kannten.

„ Nein!“, sagte er. „Nicht du, Richard! nicht du!“

„ Warum nicht?“ fragte Wardour hart.

„ In der Tat, warum nicht?“ fügte Captain Helding hinzu. „Wardour ist genau der Mann, der auf einem langen Marsch nützlich sein kann. Er ist bei vollkommener Gesundheit, und er ist der beste Schütze unter uns. Ich war eben im Begriff, ihn selbst vorzuschlagen.“

Crayford war es unmöglich, seinen üblichen Respekt vor seinem vorgesetzten Offizier zu zeigen. Er zog den Entschluß des Captains offen in Zweifel.

„ Wardour hat kein Recht, sich freiwillig zu melden“, entgegnete er. „Es wurde vereinbart, Captain Helding, daß der Zufall entscheiden sollte, wer gehen und wer bleiben soll.“

„ Und der Zufall hat es entschieden“, rief Wardour. „Beabsichtigst du, daß wir die Würfel noch mal werfen sollen, und einem Offizier der Seemöwe eine Chance geben, einen Offizier der Wanderer zu ersetzen? Es gibt in unserer Gruppe eine freie Stelle, nicht in eurer; und wir machen das Recht geltend, die Stelle auszufüllen, wie wir es für richtig halten. Ich melde mich freiwillig, und mein Captain unterstützt mich. Wessen Autorität kann mich davon abhalten?“

„ Sachte, Wardour“, sagte Captain Helding. „Ein Mann, der im Recht ist, kann es sich erlauben, mit Mäßigung zu sprechen.“ Er wandte sich an Crayford. „Sie müssen sich eingestehen“, fuhr er fort, „daß Wardour diesmal recht hat. Der fehlende Mann gehört zu meinem Kommando, und nach dem üblichen Recht sollte einer meiner Offiziere seinen Platz ausfüllen.“

Es war unmöglich, die Sache weiter zu disputieren. Selbst der dümmste anwesende Mann würde sehen können, daß die Erwiderung des Captains unbestreitbar war. In gänzlicher Verzweiflung nahm Crayford Franks Arm und führte ihn einige Schritte beiseite. Die letzte Chance, die beiden Männer zu trennen, war die Chance, an Frank zu appellieren.

„ Mein lieber Junge“, begann er, „ich möchte dir einige freundliche Worte in Bezug auf deine Gesundheit sagen. Ich habe bereits, wenn du dich erinnerst, meine Zweifel ausgedrückt, ob du kräftig genug bist, um eines der Erkundungskommandos mitzumachen. Gerade jetzt habe ich stärkere Zweifel denn je. Wirst du den Rat eines Freundes annehmen, der dir Gutes wünscht?“

Wardour war Crayford gefolgt. Wardour trat barsch dazwischen, bevor Frank etwas erwidern konnte.

„ Laß ihn in Ruhe!“

Crayford schenkte der Unterbrechung keine Beachtung. Ihm war zu inständig daran gelegen, Frank von der Expedition abzuziehen, um irgend etwas zu bemerken, was von den Personen um ihn herum gesagt oder getan wurde.

„ Nicht, bitte riskiere nicht die Härten, welche auszuhalten du nicht imstande bist“, fuhr er flehentlich fort. „Deine Stelle kann leicht ausgefüllt werden. Ändere deine Meinung, Frank. Bleib hier bei mir.“

Wieder mischte sich Wardour ein. Wieder rief er aus „Laß ihn in Ruhe!“, barscher als zuvor. Noch immer taub und blind gegen jegliche Überlegung außer einer, drängte Crayford Frank seine dringende Bitte auf.

„ Du hast gerade eben bekannt, daß du nicht sehr an Strapazen gewöhnt bist“, beharrte er. „Du spürst doch – du mußt spüren – wie schwach die letzte Krankheit dich zurückgelassen hat? Du weißt – ich bin sicher, daß du weißt – wie wenig du fähig bist, dem Erfrieren in dieser Kälte sowie langen Märschen über den Schnee zu trotzen.“

Verärgert über das Erträgliche hinaus ob Crayfords Hartnäckigkeit, und Anzeichen des Nachgebens in Franks Gesicht sehend, oder glaubend, sie zu sehen, vergaß sich Wardour so weit, daß er Crayford am Arm packte und versuchte, ihn von Frank wegzuzerren. Crayford wandte sich um und sah ihn an.

„ Richard“, sagte er, sehr leise, „du bist nicht du selbst. Ich bemitleide dich. Senke deine Hand.“

Wardour lockerte seinen Griff, mit etwas von dem widerspenstigen Gehorsam eines wilden Tieres gegenüber seinem Wärter. Die momentane Stille, die folgte, gab Frank schließlich die Gelegenheit, zu sprechen.

„ Ich bin mir dankbar des Interesses bewußt, Crayford“, begann er, „welches du an mir hast—“

„ Und du wirst meinem Rat folgen?“ warf Crayford ungeduldig ein.

„ Ich habe mich entschlossen, alter Freund“, antwortete Frank, bestimmt und traurig. „Vergib mir, daß ich dich enttäusche. Ich bin für die Expedition bestimmt. Ich gehe mit der Expedition.“ Er trat näher zu Wardour. In seiner Arglosigkeit ob jeglichen Verdachts klopfte er Wardour herzlich auf die Schulter. „Wenn ich Erschöpfung spüre“, sagte der arme, einfältige Frank, „werden Sie mir helfen, Kamerad – nicht wahr? Kommen Sie mit!“

Wardour schnappte sein Gewehr aus den Händen des Seemannes, der es für ihn getragen hatte. Sein finsteres Gesicht erstrahlte plötzlich in einer schrecklichen Freude.

„ Kommt!“ rief er. „Über den Schnee und übers Eis! Kommt! Wohin keine menschlichen Fußstapfen jemals geschritten sind, und wo keine menschliche Spur jemals zurückgeblieben ist.“

Blindlings, instinktiv, machte Crayford einen Versuch, sie zu trennen. Seine Offizierskameraden, die in der Nähe standen, zogen ihn zurück. Sie schauten einander besorgt an. Die gnadenlose Kälte, die ihre Opfer auf verschiedene Arten befiel, hatte in einigen Fällen zuerst ihren Verstand befallen. Jeder hatte Crayford gern. Geriet er ebenfalls auf den finsteren Pfad, den andere vor ihn eingeschlagen hatten? Sie zwangen ihn, sich auf eine der Truhen zu setzen. „Ruhig, alter Junge“, sagten sie freundlich, – „ruhig!“ Crayford fügte sich; innerlich wand er sich unter dem Gefühl seiner eigenen Hilflosigkeit. Was in Gottes Namen konnte er tun? Konnte er Wardour vor Captain Helding auf alleinigen Verdacht hin denunzieren – ohne viel mehr als den Schatten eines Beweises, um zu rechtfertigen, was er sagte? Der Captain würde es ablehnen, einen seiner Offiziere zu beleidigen, indem er ihn auch noch auf die ungeheuerliche Beschuldigung ansprach. Der Captain würde folgern, wie andere bereits gefolgert hatten, daß Crayfords Verstand nachließe unter den Unbilden der Kälte und Entbehrungen. Keine Hoffnung – buchstäblich keine andere Hoffnung gab es jetzt, außer in der Anzahl der Expeditionsteilnehmer. Offiziere und Matrosen, sie alle mochten Frank. So lange, wie sie Hand oder Fuß bewegen konnten, würden sie ihm unterwegs helfen – sie würden dafür sorgen, daß ihm nichts Böses widerfuhr.

Die Anweisung war erteilt worden; die Tür wurde aufgestoßen; die Hütte leerte sich schnell. Über dem gnadenlosen weißen Schnee – unter dem gnadenlosen schwarzen Himmel – begann sich das Erkundungskommando in Bewegung zu setzen. Die kranken und hilflosen Männer, jene, deren letzte Hoffnung auf Rettung sich auf ihre fortgehenden Kameraden konzentrierte, spendeten schwach Beifall. Einige wenige, deren Tage gezählt waren, schluchzten und weinten wie Frauen. Franks Stimme schwankte, als er sich noch einmal umwandte an der Tür, um seine letzten Worte zu dem Freund zu sagen, der ein Vater für ihn gewesen war.

„ Gott segne dich, Crayford!”

Crayford machte sich los von den Offizieren neben ihm, eilte vorwärts, und faßte Frank bei beiden Händen. Crayford hielt ihn, als ob er ihn niemals gehen lassen wollte.

„ Gott behüte dich, Frank! Ich würde alles, was ich auf der Welt habe, geben, um bei dir sein zu können. Lebwohl! Lebwohl!“

Frank winkte mit der Hand – wischte hastig die Tränen fort, die sich in seinen Augen sammelten – und eilte hinaus. Crayford rief ihm die letzte, die einzige Warnung nach, die er geben konnte:

„ Solange du stehen kannst, bleibe beim Hauptkorps, Frank!“

Wardour, der bis zuletzt wartete – Wardour, der Frank durch das Schneetreiben folgte – hielt an, ging zurück, und antwortete Crayford an der Tür:

„ Solange er stehen kann, bleibt er bei mir.“



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Kapitel Zwölf

Allein! Allein auf dem Eismeer!

Die arktische Sonne steigt trübe auf in den trostlosen Himmel. Die Strahlen des kalten nordischen Mondes, die sich auf seltsame Weise vermischen mit dem dämmernden Licht, kleiden die schneebedeckten Ebenen in Farben von fahlem Grau. Ein Eisfeld am fernen Horizont bewegt sich langsam südwärts in dem geisterhaften Licht. Ein Stück näher wälzt ein Strom offenen Wassers seine langsamen, schwarzen Wellen an den Rändern des Eises vorbei. Noch näher, der Drift folgend, erhebt ein Eisberg seine Klippen und Gipfel zum Himmel; hier in den Mondstrahlen glitzernd; dort düster und geisterhaft in dem totenblassen Licht.

Auf halbem Weg auf der langen Windung der tieferen Senke des Eisbergs, welches Objekt erhebt sich da und durchbricht die trostlose Monotonie der Szene? In dieser schrecklichen Einsamkeit, können da Anzeichen auftauchen, die von menschlichem Leben künden? Ja! Soeben zeigt sich der schwarze Umriß eines Bootes, das auf den Berg heraufgezogen worden ist. In einer Eishöhle hinter dem Boot flackern von Zeit zu Zeit die letzten roten Funken eines sterbenden Feuers über die Gestalten zweier Männer. Der eine sitzt, seinen Rücken gegen die Wand der Höhle gelehnt. Der andere liegt hingestreckt, mit seinem Kopf auf dem Knie seines Kameraden. Der erste der Männer ist wach, und denkt nach. Der zweite ruht, sein regungsloses, bleiches Gesicht ist zum Himmel hinauf gerichtet – schlafend oder tot. Vor vielen Tagen waren diese beiden zurückgeblieben auf dem Marsch der Befreiungsexpedition. Vor vielen Tagen waren diese beiden aufgegeben worden von ihren erschöpften und enttäuschten Kameraden als dem Untergang geweiht und verloren. Er, der nachdenkend dasitzt, ist Richard Wardour. Er, der schlafend oder tot daliegt, ist Frank Aldersley.

Langsam treibt der Eisberg über das schwarze Wasser, durch das totenblasse Licht. Minute um Minute sinkt das ersterbende Feuer. Minute um Minute kriecht die tödliche Kälte näher und näher an die verlorenen Männer heran.

Richard Wardour rappelt sich auf aus seinen Gedanken – schaut auf das regungslose, bleiche Gesicht unter ihm – und legt seine Hand auf Franks Herz. Es schlägt noch schwach. Gib ihm seinen Anteil an Essen und Brennmaterial, das noch immer im Boot gelagert ist, und Frank könnte dadurch überleben. Laß ihn vernachlässigt liegen, wo er liegt, und sein Tod ist eine Frage von Stunden – vielleicht Minuten – wer weiß?

Richard Wardour hebt den Kopf des Schlafenden und lehnt ihn gegen die Seitenwand der Höhle. Er geht zu dem Boot und kehrt mit einem Holzscheit zurück. Er bückt sich, um das Holz ins Feuer zu legen – und hält inne. Frank träumt und murmelt in seinem Traum. Der Name einer Frau kommt über seine Lippen. Frank ist wieder in England – auf dem Ball – er flüstert Clara das Geständnis seiner Liebe zu.

Da zieht über Richard Wardours Gesicht der Schatten eines tödlichen Gedankens hinweg. Er erhebt sich vom Feuer; er bringt das Holz zurück zum Boot. Seine eiserne Härte ist erschüttert, doch noch behauptet sie sich. Sie treiben immer näher auf die offene See zu. Er kann das Boot ohne Hilfe aussetzen; er kann das Essen und das Brennmaterial mitnehmen. Der Schlafende auf dem Eisberg ist der Mann, der ihm Clara geraubt hat – der die Hoffnung und die Glückseligkeit seines Lebens zerstört hat. Laß den Mann in seinem Schlaf, und laß ihn sterben!

So flüstert der Zorn. Richard Wardour probiert seine Stärke an dem Boot aus. Es bewegt sich: er hat es unter Kontrolle. Er hält inne, und schaut sich um. Jenseits von ihm ist die offene See. Unter ihm ist der Mann, der ihm Clara geraubt hat. Der Schatten des tödlichen Gedankens wächst und verdüstert sich über seinem Gesicht. Er wartet mit seinen Händen an dem Boot – wartet und denkt nach.

Der Eisberg treibt langsam über das schwarze Wasser, durch das totenblasse Licht. Minute um Minute sinkt das ersterbende Feuer. Minute um Minute kriecht die tödliche Kälte näher und näher an den schlafenden Mann heran. Und noch immer wartet Wardour – wartet und denkt nach.



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Kapitel Dreizehn

Der Frühling ist gekommen. Die Luft der Aprilnacht hebt soeben die Blätter der schlafenden Blumen. Der Mond ist der König im wolkenlosen und sternenlosen Himmel. Die Stille der Mitternachtsstunde ist überall, über dem Land und über der See.

In einer Villa an der westlichen Küste der Isle of Wight sind die Glastüren, welche aus dem Salon in den Garten führen, noch offen. Die abgedunkelte Lampe auf dem Tisch brennt noch. Eine Lady sitzt neben der Lampe, lesend. Von Zeit zu Zeit schaut sie hinaus in den Garten, und sieht auf dem Rasen die weißgekleidete Gestalt eines jungen Mädchens, das langsam auf und ab geht in der gedämpften Helligkeit des Mondlichts. Kummer und Ungewißheit haben ihre Spuren bei der Lady hinterlassen. Nicht nur Rivalinnen, sondern auch Freunde, die sie früher verehrt haben, stimmen nun überein, daß sie verhärmt und gealtert aussieht. Die gnädigere Beurteilung anderer bemerkt mit derselben Aufrichtigkeit, daß ihre Augen, ihr Haar, ihre einfache Grazie und Erhabenheit der Bewegungen nur wenig von ihrem alten Charme verloren haben. Die Wahrheit liegt, wie üblich, zwischen den zwei Extremen. Ungeachtet von Kummer und Leid ist Mrs. Crayford noch immer die wunderschöne Mrs. Crayford.

Die liebliche Stille der Stunde wird sanft gestört von der Stimme der jüngeren Lady im Garten.

„ Geh zum Klavier, Lucy. Es ist eine Nacht für Musik. Spiel etwas, das der Nacht würdig ist.“

Mrs. Crayford schaut sich um, auf die Uhr auf dem Kaminsims.

„ Meine liebe Clara, es ist nach zwölf! Erinnere dich, was der Doktor dir sagte. Du hättest vor einer Stunde im Bett sein sollen.“

„ Eine halbe Stunde, Lucy – gib mir noch eine halbe Stunde! Schau auf das Mondlicht auf dem Meer. Ist es möglich, zu Bett zu gehen in solch einer Nacht wie dieser? Spiel etwas, Lucy – etwas Spirituelles und Göttliches.“

Ihre Freundin inständig bittend, geht Clara auf das Fenster zu. Sie hat ebenfalls gelitten unter den auszehrenden Einflüssen der Ungewißheit. Ihr Gesicht hat seine jugendliche Frische verloren; keine leichte Röte steigt darin auf, wenn sie spricht. Die sanften, grauen Augen, die Franks Herz gewonnen haben in der vergangenen Zeit, haben sich nun traurigerweise verändert. Im Ruhezustand haben sie ein mattes und müdes Aussehen. In Bewegung sind sie wild und rastlos, wie Augen, die plötzlich erwacht sind aus erschreckenden Träumen. In Weiß gekleidet – ihr weiches, braunes Haar hängt ihr lose über die Schultern – gibt es etwas Unheimliches und Geisterhaftes in dem Mädchen, als sie sich immer näher auf das Fenster zu bewegt in dem vollen Licht des Mondes – inständig um Musik bittend, die der Rätselhaftigkeit und Schönheit der Nacht wert sei.

„ Wirst du hereinkommen, wenn ich für dich spiele?“ fragt Mrs. Crayford. „Es ist ein Risiko, mein Liebes, so lange draußen in der Nachtluft zu sein!“

„ Nein! nein! Ich mag es. Spiel – während ich hier draußen bin und aufs Meer schaue. Es beruhigt mich; es tröstet mich; es tut mir gut.“

Sie gleitet zurück, geisterhaft, über den Rasen. Mrs. Crayford erhebt sich und legt den Band nieder, in dem sie gelesen hat. Es ist ein Bericht über Erforschungen in den arktischen Meeren. Die Zeit ist vorüber, als die beiden einsamen Frauen sich für etwas interessieren konnten, das nicht verbunden war mit ihren eigenen Sorgen. Jetzt, da die Hoffnung sie rasch verläßt – jetzt, da ihre letzten Neuigkeiten von der Wanderer und der Seemöwe Neuigkeiten sind, die mehr als zwei Jahre alt sind – können sie über nichts anderes lesen, können sie an nichts anderes denken als an Gefahren und Entdeckungen, Verluste und Rettungen in den schrecklichen Polarmeeren.

Unwillig legt Mrs. Crayford ihr Buch beiseite und öffnet das Klavier – Mozarts ‚Melodie in A, mit Variationen’ liegt offen auf dem Instrument. Eine nach der anderen spielt sie die lieblichen Melodien, so einfach, so gänzlich wundervoll, dieses schlichten und unvergleichlichen Werks. Beim Abschluß der neunten Variation (Claras liebste) macht sie eine Pause, und wendet sich um zum Garten.

„ Soll ich hier aufhören?“ fragt sie.

Es kommt keine Antwort. Hat Clara sich entfernt, außerhalb der Hörweite der Musik, die sie liebt – die Musik, die so fein harmoniert mit der sanften Schönheit der Nacht? Mrs. Crayford steht auf und geht zum Fenster.

Nein! da steht die weiße Gestalt allein am Abhang des Rasens – den Kopf weggedreht vom Haus; das Gesicht schaut hinaus über die ruhige See, deren sich sachte kräuselnde Wasser in der verschwommenen Linie am Horizont enden, welche die Umrißlinie der Küste von Hampshire ist.

Mrs. Crayford geht so weit vor, wie der Weg vor dem Fenster führt, und ruft sie.

„ Clara!“

Wieder keine Antwort. Die Gestalt steht noch immer unbeweglich an ihrem Platz.

Mit Anzeichen von Sorge im Gesicht, doch ohne sichtbares Erschrecken, kehrt Mrs. Crayford ins Zimmer zurück. Ihre eigene traurige Erfahrung sagt ihr, was geschehen ist. Sie läßt die Bediensteten kommen und weist sie an, im Salon zu warten, bis sie sie ruft. Als dies getan ist, kehrt sie zurück in den Garten und nähert sich der mysteriösen Gestalt auf dem Rasen.

Unzugänglich für die äußere Welt, als ob sie bereits in ihrem Grab läge – unempfänglich für Berührungen, unempfänglich für Geräusche, bewegungslos wie Stein, kalt wie Stein – steht Clara auf dem vom Mond erhellten Rasen, das Gesicht der See zugewandt. Mrs. Crayford wartet an ihrer Seite, geduldig Ausschau haltend nach einer Veränderung, von der sie weiß, daß sie kommen wird. ‚Fallsucht’, wie einige es nennen – ‚Hysterie’, wie andere sagen – dies allein ist sicher, immer vergeht derselbe Zeitraum, immer zeigt sich die selbe Veränderung.

Jetzt kommt sie. Keine Veränderung in ihren Augen; sie bleiben noch immer weit geöffnet, starr und glasig. Die erste Bewegung ist eine Bewegung ihrer Hände. Sie heben sich langsam von ihrer Seite und schwanken in der Luft, wie die Hände einer Person, die im Dunkeln umhertastet. Eine weitere Pause, und die Bewegung breitet sich aus zu ihren Lippen: sie teilen sich und zittern. Noch einige weitere Minuten, und Worte beginnen zu fallen, eines nach dem anderen, von diesen geöffneten Lippen – Worte, gesprochen in einem verlorenen, leeren Tonfall, als ob sie im Schlaf spricht.

Mrs. Crayford schaut zurück zum Haus. Traurige Erfahrungen lassen sie die Neugierde der Bediensteten erahnen. Traurige Erfahrungen haben sie vor langer Zeit gewarnt, daß man sich auf die Bediensteten nicht verlassen kann, wenn sie innerhalb der Hörweite der wilden Worte sind, welche Clara in der Trance spricht. Hat sich einer von ihnen in den Garten gewagt? Nein. Sie sind außer Hörweite am Fenster, auf das Zeichen wartend, das ihnen mitteilt, daß ihre Hilfe gebraucht wird. Sich noch einmal Clara zuwendend, hört Mrs. Crayford die ausdruckslos gesprochenen Worte, die immer schneller von ihren Lippen fallen:

„ Frank! Frank! Frank! Fall nicht zurück – traue Richard Wardour nicht. Solange du stehen kannst, bleibe bei den anderen Männern, Frank!“

(Die Abschiedswarnung von Crayford in den Einsamkeiten des Eismeers, wiederholt von Clara im Garten ihres englischen Heims!)

Ein Moment der Stille folgt; und in diesem Moment hat sich die Vision geändert. Sie sieht ihn nun auf dem Eisberg, der Gnade des bittersten Feindes preisgegeben, den er auf Erden hat. Sie sieht ihn dahindriften, über das schwarze Wasser, durch das totenblasse Licht.

„ Wach auf, Frank! wach auf und verteidige dich! Richard Wardour weiß, daß ich dich liebe – Richard Wardours Rache wird dir das Leben nehmen! Wach auf, Frank – wach auf! Du treibst ab in deinen Tod!“ Ein tiefes Stöhnen des Grauens bricht aus ihr heraus, unheimlich und schrecklich anzuhören.

„ Er treibt ab! treibt ab!“ flüstert sie vor sich hin – „treibt ab in seinen Tod!“

Ihre glasigen Augen werden plötzlich sanfter – dann schließen sie sich. Ein langer Schauder durchfährt sie. Sie sinkt in Mrs. Crayfords Arme.

Die Bediensteten, die dem Ruf um Hilfe nachkommen, tragen sie ins Haus. Sie legen sie bewußtlos auf ihr Bett. Nach einer halben Stunde, oder etwas mehr, öffnen sich ihre Augen wieder – diesmal mit dem Lebenslicht darin – sie öffnen sich, und ruhen erschöpft auf der Freundin, die an der Bettseite sitzt.

„ Ich habe einen schrecklichen Traum gehabt“, murmelt sie schwach. „Bin ich krank, Lucy? Ich fühle mich so schwach.“

Gerade als sie die Worte sagt, holt sie plötzlich der Schlaf, wie er kleine Kinder holt, die müde vom Spielen sind. Obwohl jetzt alles vorüber ist, obwohl keine weitere Wache benötigt wird, behält Mrs. Crayford noch immer ihren Platz neben dem Bett bei; sie ist zu besorgt und zu ruhelos, um sich in ihr Zimmer zurückzuziehen.

Bei anderen Gelegenheiten pflegt sie sich die Worte aus dem Kopf zu schlagen, die Clara in ihrer Trance von den Lippen kommen. Diesmal geht der Versuch, sie sich aus dem Kopf zu schlagen, über ihre Kraft. Die Worte verfolgen sie. Vergeblich ruft sie sich all das ins Gedächtnis zurück, was die Ärzte zu ihr gesagt haben, als sie von Clara im Zustand der Trance gesprochen hatten. „Was sie vage befürchtet für den verschwundenen Mann, den sie liebt, ist in ihrem Geist vermischt mit dem, was sie fortwährend liest über Heimsuchungen, Gefahren und Rettungen in den arktischen Meeren. Die erschreckendsten Dinge, die sie sagen oder tun könnte, sind alle diesem Grund beizumessen und können alle auf diese Art erklärt werden.“ Das hatten die Ärzte gesagt; und bis jetzt hat Mrs. Crayford ihre Ansicht geteilt. Erst heute nacht klingen die Worte des Mädchens mit einem seltsamen prophetischen Ton in ihren Ohren. Erst heute nacht fragt sie sich: „Ist Clara momentan im Geiste bei unseren Lieben und Verlorenen im einsamen Norden? Können menschliche Visionen die Toten und Lebenden sehen in der Einsamkeit des Eismeeres?“



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Kapitel Vierzehn

Die Nacht war vergangen.

Fern und nah boten die Gärten ihren buntesten und strahlendsten Anblick dar im Licht der Nachmittagssonne. Die fröhlichen Laute , die von Leben und Bewegung künden, waren überall um die Villa herum zu hören. Aus dem Garten des nächsten Hauses erhoben sich Stimmen von Kindern beim Spielen. Auf der Straße an der Rückseite des Hauses ertönte das Rollen von Rädern, wenn dann und wann Fuhrwerke und Kutschen vorbeifuhren. Draußen auf dem blauen Meer kündeten das ferne Platschen der Paddel und das ferne Klopfen der Maschinen von Zeit zu Zeit vom Vorbeifahren der Dampfschiffe, welche in die Meerenge zwischen der Insel und dem Festland einfuhren oder sie verließen. In den Bäumen sangen die Vögel fröhlich zwischen den raschelnden Blättern. Im Haus lachten die weiblichen Bediensteten über einige Witze oder Geschichten, die sie bei ihrer Arbeit aufheiterten. Es war eine aufregende und erfreuliche Zeit – ein heller, angenehmer Tag.

Die beiden Ladies waren zusammen draußen, auf einer Gartenbank ausruhend, nach einem Spaziergang um das Grundstück. Sie wechselten einige triviale Worte ob der Schönheit des Tages, und sagten dann nichts mehr. Da sie dasselbe Wissen besaß um das, was sie in der Trance gesehen hatte, welches Personen normalerweise von dem besitzen, was sie im Traum gesehen haben – da sie an die Vision glaubte als an eine übernatürliche Offenbarung – hatten sich Claras schlimmste Vorahnungen ihrer Meinung nach als Wahrheiten realisiert. Ihre letzte schwache Hoffnung, Frank wiederzusehen, hatte nun ein Ende. Innige Erfahrungen mit ihr teilten Mrs. Crayford mit, was in Claras Gedanken vorging, und warnten sie, daß der Versuch, sie zu überzeugen und Einwände zu erheben nur wenig besser wäre als eine freiwillige Verschwendung von Worten und Zeit. Die Neigung, welche sie selbst empfunden hatte in der vergangenen Nacht – mit den Worten, die Clara in der Trance gesagt hatte, eine abergläubische Wichtigkeit zu verbinden – war mit der Rückkehr des Morgens verschwunden. Ausruhen und Nachdenken hatten ihren Geist besänftigt und den beruhigenden Einfluß ihres nüchternen Verstandes zurückgebracht. Obwohl sie abgesehen davon mit Clara in allem gleichgesinnt war, stimmte sie, wie sie so beisammen saßen im angenehmen Sonnenschein, nicht überein mit Claras schwermütiger Verzweiflung ob der Zukunft. Sie, die noch hoffen konnte, hatte der niedergeschlagenen Gefährtin, die mit der Hoffnung nichts mehr zu tun haben wollte, nichts zu sagen. So folgten die stillen Minuten aufeinander, und die beiden Freundinnen saßen nebeneinander in Schweigen.

Eine Stunde verging, und die Torglocke der Villa läutete.

Beide sprangen sie auf – beide kannten sie das Klingeln. Es war die Stunde, zu welcher der Postbote ihre Zeitungen aus london brachte. Wie viele hunderte und aberhunderte Male hatten sie in den vergangenen Tagen den Umschlag aufgerissen, welcher die Zeitung umgab, und auf dieselbe Rubrik geschaut, mit derselben traurigen Mischung aus Hoffnung und Verzweiflung! Da war heute – wie es gestern gewesen war; wie es morgen sein würde, falls sie lebten – da war der Bedienstete mit Lucys Zeitung und Claras Zeitung in seiner Hand!

Würden sie beide heute wieder tun, was sie beide so oft in den vergangenen Tagen getan hatten?

Nein! Mrs. Crayford entfernte den Umschlag von ihrer Zeitung wie üblich.

Clara legte ihre Zeitung beiseite, ungeöffnet, auf die Gartenbank.

Schweigend schaute Mrs. Crayford, wohin sie immer schaute, auf die Rubrik, die für die neuesten Nachrichten vom Ausland bestimmt war. In jenem Augenblick, in dem ihr Blick auf die Seite fiel, sprang sie auf mit einem lauten Freudenschrei. Die Zeitung fiel aus ihrer zitternden Hand. Sie riß Clara in ihre Arme. „Oh mein Liebes! mein Liebes! Endlich Neuigkeiten von ihnen!“

Ohne zu antworten, ohne die leiseste Veränderung in Blick oder Verhalten, hob Clara die Zeitung vom Boden auf und las die Überschrift in der Rubrik, die in Großbuchstaben gedruckt war:


Die Arktisexpedition


Sie wartete, und schaute hin zu Mrs. Crayford. „Kannst du es ertragen, es zu hören, Lucy“, fragte sie, „wenn ich es laut lese?“ Mrs. Crayford war zu aufgewühlt, um sich in Worten zu äußern. Sie nickte Clara ungeduldig zu, fortzufahren.

Clara las die Neuigkeiten, die der Überschrift in Großbuchstaben folgten. Der Wortlaut war folgender:

Die folgende Nachricht, aus St. Johns, Neufundland, hat uns zur Veröffentlichung erreicht. Es wird berichtet, das Walfangschiff Blythewood sei in Davis Strait zufällig auf die überlebenden Offiziere und Matrosen der Expedition gestoßen. Von vielen wird gesagt, sie seien tot, und von einigen wird vermutet, daß sie vermißt werden. Die Liste der Geretteten, wie sie von den Leuten des Walfängers zusammengefaßt wurde, ist nicht als absolut korrekt belegt, die Umstände standen näheren Untersuchungen widrig entgegen. Das Schiff stand unter Zeitdruck; und die Mitglieder der Expedition, die alle mehr oder weniger unter Erschöpfung litten, waren nicht in der Lage, die notwendige Unterstützung zur Erkundigung zu geben. Weitere Einzelheiten können mit der nächsten Post erwartet werden.

Die Liste der Überlebenden folgte, beginnend mit den Offizieren in der Reihenfolge ihres Ranges. Die beiden lasen die Liste gemeinsam. Der erste Name war Captain Helding; der zweite war Lieutenant Crayford.

An dieser Stelle wurde die Ehefrau von ihrer Freude überwältigt. Nach einer Pause legte sie den Arm um Claras Taille und sprach zu ihr.

„ Oh mein Liebes“, murmelte sie, „bist du so glücklich, wie ich es bin? Steht Franks Name ebenfalls da? Es sind Tränen in meinen Augen. Lies vor – ich kann nicht selbst lesen.“

Die Antwort kam in ruhigem, traurigem Tonfall:

„ Ich habe bis zum Namen deines Ehemannes gelesen. Ich habe keinen Grund, weiterzulesen.“

Mrs. Crayford wischte sich schnell die Tränen aus den Augen – brachte sich zur Ruhe – und schaute auf die Zeitung.

Auf der Liste der Überlebenden war die Suche umsonst. Franks Name war nicht unter ihnen. Auf einer zweiten Liste, mit der Überschrift ‚Tot oder Vermißt’ waren die ersten beiden Namen, die erschienen:


FRANCIS ALDERSLEY

RICHARD WARDOUR


In sprachloser Sorge und Bestürzung schaute Mrs. Crayford auf Clara. Hatte sie genügend Kraft bei ihrer schwächlichen Gesundheit, um den Schock auszuhalten, der sie getroffen hatte? Ja! sie ertrug ihn mit einer seltsamen, unnatürlichen Resignation – wie sie blickte, und wie sie sprach, tat sie es mit der traurigen Selbstbeherrschung der Verzweiflung.

„ Ich war darauf vorbereitet“, sagte sie. „Ich sah sie letzte Nacht im Geist. Richard Wardour hat die Wahrheit entdeckt; und Frank mußte mit seinem Leben büßen – und ich – ich allein, bin schuld.“ Sie schauderte, und legte sich die Hand auf ihr Herz. „Wir werden nicht lange getrennt sein, Lucy. Ich werde zu ihm gehen. Er wird nicht zu mir zurückkehren.“

Diese Worte waren gesprochen worden mit einer ruhigen Sicherheit der Überzeugung, die schrecklich anzuhören war. „Ich habe nichts weiter zu sagen“, fügte sie hinzu, einen Moment danach, und erhob sich, um zum Haus zurückzukehren. Mrs. Crayford griff sie bei der Hand und zwang sie, sich wieder auf ihren Platz zu setzen.

Schau mich nicht an und sprich nicht mit mir auf diese schreckliche Weise!“ rief sie aus. „Clara! es ist eines vernünftigen Wesens unwürdig, es ist ein Zweifel an der Gnade Gottes, wenn man sagt, was du soeben gesagt hast. Schau noch mal in die Zeitung. Sieh! Sie sagen dir unmißverständlich, daß man sich auf ihre Informationen nicht verlassen kann – sie legen dir nahe, auf weitere Einzelheiten zu warten. Schon die Worte am Anfang der Liste zeigen, wie wenig sie wußten von der Wahrheit ‚Tot oder Vermißt’! Laut ihrer eigenen Darstellung ist es ebenso wahrscheinlich, daß Frank vermißt ist wie, daß Frank tot ist. Es ist gut möglich, daß die nächste Post einen Brief von ihm bringen könnte. Hörst du mir zu?“

„ Ja.“

„ Kannst du bestreiten, was ich sage?“

„ Nein.“

„ ‚ Ja!’ ‚Nein!’ Ist das die Art, mir zu antworten, wenn ich so besorgt und bange um dich bin?“

„ Es tut mir leid, daß ich so gesprochen habe, wie ich es tat, Lucy. Wir betrachten einige Themen auf sehr unterschiedliche Art und Weise. Ich bestreite nicht, Liebes, daß deine die vernünftige Ansicht ist.“

„ Du bestreitest es nicht?“ erwiderte Mrs. Crayford hitzig. „Nein! du tust etwas, das schlimmer ist – du glaubst an deine eigene Meinung; du beharrst auf deiner eigenen Folgerung – mit der Zeitung vor dir! Glaubst du der Zeitung, oder nicht?“

„ Ich glaube an das, was ich letzte nacht sah.“

„ An das, was du letzte Nacht sahst! Du, eine gebildete Frau, eine kluge Frau, glaubst an eine Vision deiner eigenen Phantasie – an einen bloßen Traum! Ich wundere mich, daß du dich nicht schämst, es zuzugeben!“

„ Nenne es einen Traum, wenn du magst, Lucy. Ich habe andere Träume gehabt zu anderen Zeiten – und ich habe gewußt, daß sie sich erfüllen würden.“

„ Ja!“ sagte Mrs. Crayford. „Zur Abwechslung mögen sie sich einmal erfüllt haben, durch Zufall – und du hast es bemerkt und erinnerst dich daran, und setzt deinen ganzen Glauben darauf. Komm, Clara, sei ehrlich! – Was ist mit den Gelegenheiten, als das Schicksal gegen dich war, und deine Träume sich nicht erfüllt haben? Ihr abergläubischen Menschen seid alle gleich. Ihr vergeßt es bequemerweise, wenn eure Träume und eure Vorahnungen sich als falsch erweisen. Um meinetwillen, Liebes, wenn nicht um deiner selbst“, fuhr sie fort, in leiserem und sanfterem Tonfall, „versuch, vernünftiger und hoffnungsvoller zu sein. Verlier nicht dein Vertrauen in die Zukunft, und dein Vertrauen in Gott. Gott, der meinen Ehemann gerettet hat, kann Frank retten. Solange es Zweifel gibt, gibt es Hoffnung. Verbittere mir nicht mein Glück, Clara! Versuch’ zu denken, wie ich denke – und wenn es nur dafür ist, um zu zeigen, daß du mich lieb hast.“

Sie legte den Arm um den Nacken des Mädchens und küßte sie. Clara gab den Kuß zurück; Clara antwortete, traurig und ergeben:

„ Ich habe dich lieb, Lucy. Ich werde es versuchen.“

Nachdem sie auf diese Weise geantwortet hatte, seufzte sie in sich hinein und sagte nichts mehr. Es wäre selbst für weit weniger aufmerksame Augen als die von Mrs. Crayford offenkundig gewesen, nur zu offenkundig, daß kein heilsamer Eindruck auf sie gemacht worden war. Sie hatte damit aufgehört, ihre eigene Denkweise zu verteidigen, sie sprach nicht mehr davon – doch war die schreckliche Überzeugung von Franks Tod durch Wardours Hände so beständig in ihrem Geist verankert wie immer! Entmutigt und bedrückt verließ Mrs. Crayford sie und ging wieder zurück zum Haus.



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Kapitel Fünfzehn

Dort erschien am Salonfenster der Villa ein höflicher, kleiner Mann, mit klaren, intelligenten Augen und freundlichen, umgänglichen Manieren. Ordentlich gekleidet in professionelles Schwarz, stand er da, sich selbst ankündigend, ein wohlhabender Landarzt – erfolgreich und beliebt bei einem weiten Kreis von Patienten und Freunden. Während Mrs. Crayford sich ihm näherte, schritt er rege aus, um ihr auf dem Rasen zu begegnen, beide Hände ausgestreckt in liebenswürdiger und herzlicher Begrüßung.

„ Meine teure Madam, nehmen Sie meine tief empfundenen Glückwünsche entgegen!“ rief der Doktor aus. „Ich habe die guten Neuigkeiten in der Zeitung gelesen; und ich könnte schwerlich mehr erfreut sein, als ich es jetzt bin, wenn ich die Ehre hätte, Lieutenant Crayford persönlich zu kennen. Wir beabsichtigen den Anlaß zu Hause zu feiern. Ich sagte zu meiner Frau, bevor ich fortgegangen bin ‚Eine Flasche von dem alten Madeira heute zum Dinner, denk daran! – um auf die Gesundheit des Lieutenants zu trinken; Gott segne ihn!’ Und wie geht es unserer interessanten Patientin? Die Neuigkeiten sind nicht gänzlich so, wie wir sie uns wünschen könnten, sofern es sie betrifft. Ich war ein wenig besorgt, Ihnen die Wahrheit zu sagen, wegen der Auswirkungen darauf; und ich habe Ihnen meinen Besuch heute vor meiner üblichen Uhrzeit abgestattet. Nicht, daß ich selbst eine düstere Auffassung von den Neuigkeiten habe. Nein! Es gibt einen deutlichen Zweifel ob der Richtigkeit der Information, soweit es Mr. Aldersley betrifft – und das ist ein Punkt, ein großer Punkt zu Mr. Aldersleys Gunsten. Ich gebe ihm den Vorteil des Zweifels, wie die Anwälte sagen. Gibt Miß Burnham ihm ebenfalls den Vorteil des Zweifels? Ich gestehe, ich wage es schwerlich zu hoffen.“

„ Miß Burnham hat mich bekümmert und erschreckt“, antwortete Mrs. Crayford. „Ich habe just daran gedacht, nach Ihnen zu schicken, als wir uns hier begegnet sind.“

Mit diesen einleitenden Worten erzählte sie dem Doktor genauestens, was geschehen war; sie wiederholte nicht nur die Unterhaltung zwischen Clara und ihr selbst, sondern auch die Worte, die Clara in der Trance der vergangenen Nacht gesagt hatte.

Der Doktor hörte aufmerksam zu. Nach und nach verschwand seine unbekümmert lächelnde Gelassenheit aus seinem Gesicht, während Mrs. Crayford fortfuhr, und ließ ihn vollkommen verwandelt in einen ernsthaften und gedankenvollen Mann zurück.

„ Lassen Sie uns gehen und nach ihr schauen“, sagte er.

Er setzte sich an Claras Seite, und studierte sorgfältig ihr Gesicht, mit der Hand auf ihrem Puls. Es gab hier keine Sympathie zwischen dem verträumten mystischen Naturell der Patientin und dem durch und durch praktisch veranlagten Charakter des Doktors. Insgeheim konnte Clara ihren medizinischen Berater nicht leiden. Sie fügte sich ungeduldig der gründlichen Untersuchung, zu deren Objekt er sie machte. Er fragte sie – und sie antwortete gereizt. Einen Schritt weiter vorrückend (der Doktor war nicht leicht zu entmutigen), wies er auf die Neuigkeiten der Expedition hin, und nahm den Tonfall des Einspruchs auf, welchen bereits Mrs. Crayford aufgenommen hatte. Clara lehnte es ab, die Frage zu diskutieren. Sie erhob sich mit formeller Höflichkeit und bat um die Erlaubnis, zum Haus zurückzukehren. Der Doktor wagte keinen erneuten Widerstand. „Unbedingt, Miß Burnham“, antwortete er resigniert – nachdem er Mrs. Crayford einen Blick zugeworfen hatte, der deutlich sagte ‚Bleiben Sie hier bei mir’. Clara zeigte sich erkenntlich mit einer Verbeugung in kaltem Schweigen, und ließ sie miteinander zurück. Die klaren Augen des Doktors folgten der geschwächten, jedoch noch immer anmutigen Gestalt des Mädchens, wie sie langsam aus seiner Sicht verschwand, mit einem Ausdruck von ernster Besorgnis, welchen Mrs. Crayford ihrerseits mit ernsten Befürchtungen zur Kenntnis nahm. Er sagte nichts, bis Clara unter der Veranda verschwunden war, die rund um die Gartenseite des Hauses verlief.

„ Ich glaube, Sie erzählten mir“, begann er, „daß weder Miß Burnhams Vater noch ihre Mutter mehr am Leben sind?“

„ Ja. Miß Burnham ist eine Waise.“

„ Hat sie irgendwelche nahen Verwandten?“

„ Nein. Sie können mit mir sprechen als ihr Vormund und ihre Freundin. Sind Sie beunruhigt wegen ihr?“

„ Ich bin ernstlich beunruhigt. Es ist erst zwei Tage her, seit ich das letzte Mal hier vorgesprochen habe, und ich sehe eine deutliche Veränderung in ihr zum Schlechteren hin – physisch und vernunftgemäß eine Veränderung zum Schlechteren. Geraten Sie nicht unnötig in Angst! Ich glaube, der Fall ist nicht vollkommen außer Reichweite eines Heilmittels. Die große Hoffnung für uns ist die Hoffnung, daß Mr. Aldersley noch am Leben ist. In diesem Fall würde ich keine bösen Befürchtungen ob der Zukunft hegen. Ihre Heirat würde eine gesunde und glückliche Frau aus ihr machen. Doch wie die Dinge liegen, gestehe ich, daß ich diese gefestigte Überzeugung in ihrem Geist, Mr. Aldersley sei tot, fürchte, und daß ihr eigener Tod bald folgen wird. In ihrem gegenwärtigen Gesundheitszustand wird dieser Gedanke (wie er sie sicher Tag und Nacht verfolgen wird) ebenso auf ihren Körper Einfluß nehmen wie auf ihren Geist. Falls wir dem Unheil nicht Einhalt gebieten können, werden ihre letzten Kraftreserven nachgeben. Wenn Sie einen anderen Bericht wünschen, dann schicken Sie auf alle Fälle danach. Meine Meinung haben Sie.“

„ Ich bin vollkommen überzeugt von Ihrer Meinung“, erwiderte Mrs. Crayford. „Um Gottes Willen, sagen Sie mir, was können wir tun?“

„ Wir können eine komplette Veränderung ausprobieren“, sagte der Doktor. „Wir können sie sofort von diesem Ort wegbringen.“

„ Sie wird es ablehnen, ihn zu verlassen“, erwiderte Mrs. Crayford. „Ich habe ihr mehr als einmal eine Veränderung vorgeschlagen – und sie sagt immer nein.“

Der Doktor hielt einen Moment lang inne, wie jemand, der seine Gedanken sammelt.

„ Ich habe etwas gehört auf meinem Weg hierher“, fuhr er fort, „das meinem Verstand eine Methode vorschlägt, dem Hindernis, das Sie erwähnt haben, entgegenzutreten. Falls ich nicht völlig im Irrtum befangen bin, wird Miß Burnham zu der Veränderung, die ich für sie in Aussicht habe, nicht nein sagen.“

„ Was ist es?“ fragte Mrs. Crayford ungeduldig.

„ Entschuldigen Sie, wenn ich Ihnen meinerseits eine Frage stelle, bevor ich antworte“, sagte der Doktor. „Sind Sie so glücklich, irgendwelchen Einfluß auf die Admiralität zu besitzen?“

„ Gewiß. Mein Vater hat ein Amt im Ministerium inne; und zwei der Lords der Admiralität sind Freunde von ihm.“

„Exzellent! Nun kann ich es offen aussprechen, mit wenig Furcht, Sie zu enttäuschen. Nach dem, was ich gesagt habe, werden Sie mit mir übereinstimmen, daß die einzige Veränderung in Miß Burnhams Leben, die von irgendeinem Nutzen für sie sein wird, eine Veränderung ist, welche die gegenwärtige Geisteshaltung in Bezug auf Mr. Aldersley ändert. Bringen Sie sie in eine Situation, in der sie feststellen kann – nicht durch einen Hinweis auf ihre eigenen zerrütteten Phantasien und Visionen, sondern durch einen Hinweis auf aktuelle Beweise und aktuelle Fakten – ob Mr. Aldersley am Leben ist oder nicht; und es wird ein Ende haben mit den hysterischen Selbsttäuschungen, die nun drohen, ihre Gesundheit fatal zugrunde zu richten. Selbst wenn wir die Angelegenheit von der schlechtesten Seite her anpacken – selbst wenn wir annehmen, daß Mr. Aldersley in den arktischen Meeren gestorben ist – wird es weniger schädlich sein für sie, dies unzweifelhaft festzustellen, als ihren Geist sich weiter mit seinem eigenen morbiden Aberglauben und Spekulationen versorgen zu lassen, wochenlang, während die nächsten Neuigkeiten von der Expedition auf dem Weg nach England sind. Kurz und gut, ich möchte, daß Sie, noch ehe die Woche vorüber ist, in einer Situation sind, in welcher Sie Miß Burnhams gegenwärtige Überzeugung einem praktischen Test unterziehen. Angenommen, Sie würden zu ihr sagen, ‚Wir sind verschiedener Meinung, meine Liebe, über Mr. Aldersley. Du erklärst ohne den Schatten einer Begründung dafür, daß er zweifellos tot ist, und, schlimmer noch, daß er gestorben ist durch die Hand eines seiner Offizierskameraden. Ich behaupte, aufgrund der Glaubwürdigkeit der Zeitung, daß nichts derartiges passiert ist, und daß alle Chancen dafür stehen, daß er noch am Leben ist. Was würdest du dazu sagen, wenn wir den Atlantik überqueren und uns überzeugen, wer von uns recht hat – du oder ich?’ Glauben Sie, Miß Burnham wird dazu nein sagen, Mrs. Crayford? Wenn ich irgend etwas von der menschlichen Natur weiß, wird sie die Gelegenheit ergreifen, als Hilfsmittel dafür, Sie zu einem Glauben an das Zweite Gesicht zu bekehren.“

„Lieber Himmel, Doktor! Wollen Sie mir sagen, wir sollen in See stechen und zur arktisexpedition auf ihrem Weg nach Hause stoßen?“

„ Vortrefflich erraten, Mrs. Crayford! Das ist es genau, was ich meine.“

„ Doch wie soll das zustande gebracht werden?“

„ Ich werde es Ihnen augenblicklich eröffnen. Ich erwähnte – nicht wahr? – daß ich etwas gehört habe auf meinem Weg zu diesem Haus.“

„ Ja.“

„ Nun, ich traf an meinem eigenen Gartentor einen alten Freund, der mich ein Stück des Weges hierher begleitete. Letzten abend hat mein Freund mit dem Admiral in Portsmouth diniert. Unter den Gästen war ein Mitglied des Ministeriums, der die Neuigkeiten über die Expedition aus London mitgebracht hatte. Dieser Gentleman teilte der Gesellschaft mit, daß es wenig Zweifel gäbe, daß die Admiralität unverzüglich ein Dampfschiff ausschickt, um die geretteten Männer an den Küsten Amerikas abzuholen und nach Hause zu bringen. Warten Sie kurz, Mrs. Crayford! Niemand weiß bis jetzt, unter welchen Regelungen und Bestimmungen das Schiff reisen wird. Unter einigermaßen ähnlichen Umständen sind privilegierte Leute als Passagiere aufgenommen worden, oder eher als Gäste, auf den Schiffen Ihrer Majestät – und was bei früheren Gelegenheiten bewilligt worden ist, könnte, es wäre immerhin möglich, auch jetzt bewilligt werden. Mehr kann ich nicht sagen. Wenn Sie nicht selbst Angst vor der Reise haben, habe ich keine Angst davor (ja ich bin sogar, aus medizinischen Gründen, gänzlich damit einverstanden) für meine Patientin. Was sagen Sie? Werden Sie Ihrem Vater schreiben und ihn bitten, zu tun, was in seiner Macht liegt bei seinen Freunden von der Admiralität?“

Mrs. Crayford sprang aufgeregt auf die Füße.

„ Schreiben!“ rief sie aus. „Ich werde etwas besseres tun als zu schreiben! Die Reise nach London ist keine große Sache – und meiner Haushälterin hier kann man vertrauen, daß sie auf Clara aufpaßt während meiner Abwesenheit. Ich werde meinen Vater heute abend besuchen! Er wird seinen Einfluß bei der Admiralität gut zu nutzen wissen – Sie können sich darauf verlassen. Oh mein lieber Doktor, was für eine Aussicht das ist! Mein Ehemann! Clara! Welch eine Entdeckung Sie gemacht haben – was für ein Schatz Sie sind! Wie kann ich Ihnen danken?“

„ Beruhigen Sie sich, meine teure Madam. Seien Sie sich eines Erfolges nicht zu sicher. Miß Burnhams Einwände können wir im Voraus als erledigt betrachten. Doch angenommen, die Lords der Admiralität sagen nein?“

„ In diesem Fall werde ich in London sein, Doktor, und ich werde selbst zu ihnen gehen. Lords sind nur Männer; und Männer sind nicht in der Lage, nein zu mir zu sagen.“

So verabschiedeten sie sich voneinander.

Von jenem Tag an eine Woche später fuhr das Schiff Ihrer Majestät, die Amazon , ab nach Nordamerika. Bestimmten privilegierten Personen, die im Besonderen an den Arktisreisenden interessiert waren, war es gestattet, die leeren Luxuskabinen an Bord in Anspruch zu nehmen. Auf der Liste dieser begünstigten Gäste standen die Namen zweier Ladies – Mrs. Crayford und Miß Burnham.



Kapiteltrenner

Kapitel Sechzehn

Abermals auf dem weiten Meer – auf dem Meer, dessen Fluten sich an den Küsten Neufundlands brechen! Ein englisches Dampfschiff liegt vor Anker auf offener See. Das Schiff ist deutlich sichtbar durch den freien Türeingang eines großen Bootshauses am Ufer – eines der Gebäude, das zu einer Fischereistation an der Küste der Insel gehört.

Die einzige Person, die in diesem Moment in dem Bootshaus ist, ist ein Mann in der Kleidung eines Seemannes. Er sitzt auf einer Kiste, mit einem Stück Seil in seiner Hand, und schaut träge hinaus aufs Meer. Auf dem rauhen Zimmermannstisch neben ihm liegt ein seltsames Objekt, um es an einem solchen Ort zurückzulassen – der Schleier einer Frau.

Warum liegt das Schiff auf offener See vor Anker?

Das Schiff ist die Amazon– aus England geschickt, um die überlebenden Offiziere und Matrosen der Arktisexpedition aufzunehmen. Das Zusammentreffen war glücklich zustande gekommen, an der Küste Nordamerikas, vor drei Tagen. Doch die Heimreise ist verzögert worden von einem Sturm, der das Schiff von seinem Kurs abgetrieben hat. Der Kommandant derAmazon hat sich die erste zurückkehrende Windstille am dritten Tag zunutze gemacht und vor der Küste von Neufundland geankert, und hat jemanden ans Ufer geschickt, um die Vorräte an Trinkwasser aufzustocken, bevor er nach England fährt. Die erschöpften Passagiere sind für einige Stunden an Land gegangen, um sich zu erfrischen nach den Unannehmlichkeiten des Sturms. Unter ihnen sind die zwei Ladies. Der Schleier, der auf dem Tisch im Bootshaus zurückgelassen wurde, ist Claras Schleier.

Und wer ist der Mann, der auf der Kiste sitzt, mit dem Seil in seiner Hand, und träge aufs Meer hinausschaut? Der Mann ist die einzige fröhliche Person der Schiffsbesatzung. Mit anderen Worten – John Want.

Noch immer auf der Kiste ausruhend, wird unser Freund, der niemals murrt, überrascht vom plötzlichen Erscheinen eines Seemanns an der Bootshaustür.

„ Nun aber los mit deiner Arbeit hier, John Want!“ sagt der Seemann. „Lieutenant Crayford kommt gerade, um nach dir zu sehen.“

Mit dieser Warnung verschwindet der Meldeläufer wieder. John Want erhebt sich mit einem Ächzen, stellt die Kiste an einem Ende auf, und beginnt das Seil darum zu schlingen. Der Schiffskoch ist kein Mann, der mit jenem Gefühl von unbedingter Zufriedenheit auf seine Rettung zurückblickt, welches seine Kameraden bei Schwierigkeiten aufmuntert. Im Gegenteil, er ist undankbar gewillt, um den Nordpol zu trauern.

„Wenn ich nur gewußt hätte“ – dergestalt ist der Verlauf der Gedanken in John Wants Verstand – „wenn ich nur gewußt hätte, bevor ich gerettet wurde, daß ich an diesen Ort gebracht werden würde, ich glaube, ich würde es vorgezogen haben, am Nordpol zu bleiben. Ich war sehr glücklich damit, jedermanns Mut nicht sinken zu lassen am Nordpol. Eins zum anderen gerechnet denke ich, muß ich sehr tröstlich gewesen sein am Nordpol – wenn ich es nur gewußt hätte. Ein anderer Mann an meiner Stelle könnte geneigt sein, zu sagen, daß dieses Neufundländer Bootshaus eher eine matschige, schleimige, zugige, zweifelhafte Art von einem Aufenthaltsort ist, um darin Zuflucht zu suchen. Ein anderer Mann würde möglicherweise protestieren gegen fortwährende Neufundlandfrösche, fortwährenden Neufundländer Stockfisch, und fortwährende Neufundländer Hunde. Wir hatten einige sehr nette Bären am Nordpol. Macht nichts! Mir ist’s alles eins – ich murre nicht.“

„ Sind Sie fertig damit, diese Kiste zu verschnüren?“

Diesmal ist die Stimme eine Stimme von Autorität – der Mann am Türeingang ist Lieutenant Crayford persönlich. John Want antwortet seinem Offizier auf seine eigene heitere Art.

„ Ich hab’s gemacht, so gut ich kann, Sir – aber die Feuchtigkeit dieses Ortes fängt an, selbst unseren Seilen zuzusetzen. Ich sage nichts über unsere Lungen – ich sage nur unsere Seile.“

Crayford antwortet scharf. Er scheint seinen einstigen Gefallen an dem Humor von John Want verloren zu haben.

„ Puh! Wenn man Ihre Grimasse sieht, könnte man denken, daß unsere Rettung aus den arktischen Regionen ein vollkommenes Unglück war. Sie verdienen es, wieder zurückgeschickt zu werden.“

„Ich wäre so fröhlich wie immer, Sir, wenn ich wieder zurückgeschickt würde; hoffentlich bin ich dankbar, doch ich möchte nicht erfahren, daß der Nordpol zu einem derart zweifelhaften Ort wie diesem verkommt. Am Nordpol war es sehr sauber und verschneit – und hier ist es sehr feucht und sandig. Vermissen Sie niemals die Knochensuppe, Sir? Ich schon. Sie mag nicht kräftig gewesen sein, doch sie war sehr heiß; und die Kälte schien ihr eine Art von fleischigem Geschmack zu verleihen, wenn man sie schluckte. Waren Sie es, der letzte Nacht so lange gehustet hat, Sir? Ich nehme mir nicht heraus, etwas gegen die Luft dieser Breiten zu sagen; aber ich wäre froh, zu wissen, daß es nicht Sie waren, der so dumpf gehustet hat. Wären Sie so entgegenkommend, den Zustand dieser Seile mit Ihren Fingerspitzen festzustellen, Sir? Sie können sie sich hinterher an der Rückseite meiner Jackeabtrocknen.“

„ Eigentlich sollte man Ihnen mit einem Stock auf die Rückseite Ihrer Jacke schlagen. Bringen Sie die Kiste direkt hinunter aufs Boot. Sie jammernder Vagabund! Sie würden sogar im Garten Eden herumnörgeln.“

Der Philosoph der Expedition war kein Mann, der zum Schweigen gebracht werden konnte, indem man ihn auf den Garten Eden verwies. Selbst das Paradies war nicht perfekt für John Want.

„ Ich glaube, ich könnte überall fröhlich sein, Sir“, sagte der Schiffskoch. „Doch nehmen Sie zur Kenntnis – es muß im Garten Eden ziemlich viel mühsame Arbeit gegeben haben mit den Blumenbeeten.“

Diesen unbestreitbaren Protest eingelegt habend, schulterte John Want die Kiste und wanderte düster aus dem Bootshaus.

Mit sich alleingelassen, schaute Crayford auf seine Uhr, und rief draußen nach einem Seemann.

„ Wo sind die Ladies?“ fragte er.

„ Mrs. Crayford kommt hierher, Sir. Sie war just hinter Ihnen, als Sie eintraten.“

„ Ist Miß Burnham bei ihr?“

„ Nein, Sir; Miß Burnham ist unten am Ufer bei den Passagieren.

Ich hörte, wie die junge Lady nach Ihnen fragte, Sir.“

„ Sie fragte nach mir?“ Crayford überlegte, als er die Worte wiederholte. In tieferem und ernsterem Tonfall fügte er hinzu: „Sie sagen Miß Burnham besser, daß Sie mich hier gesehen haben.“

Der Mann salutierte und ging hinaus. Crayford beschäftigte sich im Bootshaus.

Vor dem Tod in den arktischen Einöden gerettet, und wiedervereint mit einer wunderschönen Ehefrau, sah der Lieutenant nichtsdestotrotz unerklärlicherweise besorgt und niedergeschlagen aus. Woran mochte er denken? Er dachte an Clara.

Am ersten Tag, als die geretteten Männer an Bord derAmazon empfangen wurden, hatte Clara nicht nur Crayford verwirrt und beunruhigt, sondern auch die anderen Offiziere der Expedition, mit der Art, auf welche sie sie bezüglich Francis Aldersley und Richard Wardour ausfragte. Sie hatte keine Anzeichen von Bestürzung oder Verzweiflung gezeigt, als sie hörte, daß man von den beiden vermißten Männern keine Neuigkeiten erhalten hatte. Sie hatte sogar traurig vor sich hin gelächelt, als Crayford (aus mitfühlender Rücksicht auf sie) erklärte, daß er und seine Kameraden die Hoffnung, Frank und Wardour wiederzusehen, noch nicht aufgegeben hatten. Erst als der Lieutenant sich mit diesen Worten geäußert hatte, und als zu hoffen war, daß das schmerzliche Thema fallengelassen worden war – hatte Clara jeden anwesenden erschreckt, indem sie verkündete, daß sie noch etwas zu sagen hatte in Bezug auf Frank und Wardour, das noch nicht gesagt worden sei. Obwohl sie sich vorsichtig ausdrückte, enthüllten ihre nächsten Worte, daß Vermutungen über unredliche Machenschaften in ihrem Verstand lauerten – die ähnliche Vermutungen, welche in Crayfords Verstand lauerten, genauestens widerspiegelten – was den Lieutenant dermaßen beunruhigte und seine Kameraden dermaßen überraschte, daß es ihnen völlig unmöglich war, ihr zu antworten. Außerdem waren die Warnungen des Sturms, welcher kurz danach über das Schiff hereinbrach, auf dem Meer und am Himmel sichtbar. Dies machte Crayford zu seiner Entschuldigung dafür, die Kabine abrupt zu verlassen, in welcher die Unterhaltung stattgefunden hatte. Seine Offizierskameraden, die von seinem Beispiel profitierten, beriefen sich auf ihre Pflichten an Deck, und folgten ihm hinaus.

Am nächsten Tag, und am übernächsten, wütete der Sturm noch immer – und die Passagiere waren nicht imstande, ihre Luxuskabinen zu verlassen. Doch nun, da das Wetter sich beruhigt hatte und das Schiff vor Anker gegangen war – nun, da Offiziere und Passagiere gleichermaßen am Ufer waren, mit freier Zeit zu ihrer Verfügung – hatte Clara Gelegenheiten, zum Thema der vermißten Männer zurückzukehren und Fragen zu stellen in Bezug auf sie, die es Crayford unmöglich machen würden, eine Entschuldigung vorzubringen dafür, ihr nicht zu antworten. Wie sollte er diesen Fragen begegnen? Wie konnte er sie dennoch in Unkenntnis der Wahrheit lassen?

Dies waren die Überlegungen, die Crayford nun Sorgen bereiteten, und welche ihn nach seiner Rettung in der sonderbaren, unpassenden Rolle eines niedergeschlagenen und besorgten Mannes präsentierten. Seine Offizierskameraden hofften, wie er sehr wohl wußte, daß er die Hauptverantwortung auf sich nahm. Wenn er es ablehnte, sie auf sich zu nehmen, würde er augenblicklich den schrecklichen Verdacht in Claras Verstand bestätigen. Der Notlage mußte entgegengetreten werden, doch wie ihr entgegenzutreten war – ehrlich und mitleidvoll zugleich – war mehr, als Crayford sagen konnte. Er war noch immer verloren in seinen eigenen trüben Gedanken, als seine Frau das Bootshaus betrat. Sich umwendend, um sie anzuschauen, sah er seine eigenen Beunruhigungen und Ängste deutlich in Mrs. Crayfords Gesicht reflektiert.

„ Hast du etwas von Clara gesehen?“ fragte er. „Ist sie noch am Strand?“

„Sie folgt mir hierher“, erwiderte Mrs. Crayford. „ich habe heute morgen mit ihr gesprochen. Sie ist noch genauso entschlossen wie immer, darauf zu bestehen, daß du ihr die Umstände erzählst, unter denen Frank vermißt wird. Wie die Dinge liegen, hast du keine andere Wahl, als ihr zu antworten.“

„ Hilf mir, ihr zu antworten, Lucy. Erzähl mir, bevor sie hereinkommt, wie diese schreckliche Ahnung zum ersten Mal Besitz von ihr ergriffen hat. Alles, was sie möglicherweise gewußt haben könnte, als wir England verließen, war, daß die beiden Männer verschiedenen Schiffen zugeteilt wurden. Was hätte sie dazu bringen können, zu vermuten, daß sie sich begegnen?“

„Sie war fest davon überzeugt, William, daß sie sich begegnen würden, als die Expedition England verließ. Und sie hat in Büchern über Arktisreisen von Männern gelesen, die von ihren Kameraden zurückgelassen wurden auf dem Marsch, und von Männern, die auf Eisbergen hilflos ihrem Schicksal preisgegeben waren. Mit ihren Gedanken voll von diesen Eindrücken und Prophezeiungen, sah sie Frank und Wardour (oder hat von ihnen geträumt) in einer ihrer Tranceattacken. Ich war an ihrer Seite; ich hörte, was sie derzeit sagte. Sie warnte Frank, daß Wardour die Wahrheit entdeckt hat. Sie rief ihm zu «Solange du stehen kannst, bleibe bei denanderenMännern, Frank!»“

„ Guter Gott!“ rief Crayford aus; „ich selbst warnte ihn, mit beinahe genau diesen Worten, als ich ihn zum letzten Mal sah!“

„ Gib es nicht zu, William! Laß sie im Unwissen über das, was du mir soeben erzählt hast. Sie wird es nicht als das nehmen, was es ist – eine erschreckende Übereinstimmung, und nichts weiter. Sie wird es auffassen als positive Bestätigung des Aberglaubens, des elenden Aberglaubens, der in ihr ist. Solange du nicht tatsächlich weißt, daß Frank tot ist und daß er durch Wardours Hand gestorben ist, leugne ab, was sie sagt – täusche sie zu ihrem eigenen Wohl – bestreite all ihre Schlußfolgerungen, wie ich sie bestreite. Hilf mir, sie zum besseren und nobleren Glauben an die Gnade Gottes anzuregen!“ Sie hielt inne, und schaute sich um. „Scht!, flüsterte sie. „Tu, was ich dir gesagt habe. Clara ist hier.“



Kapiteltrenner

Kapitel Siebzehn

Mißtrauisch zwischen Ehemann und Ehefrau hin und her blickend, hielt Clara am Türeingang an. Sie betrat das Bootshaus, näherte sich Crayford, nahm seinen Arm und führte ihn einige Schritte weg von der Stelle, wo Mrs. Crayford stand.

„ Jetzt gibt es keinen Sturm, und jetzt gibt es keine Pflichten zu erfüllen an Bord des Schiffes“, sagte sie, mit dem schwachen, traurigen Lächeln, welches zu sehen Crayford zutiefst schmerzte. „Du bist Lucys Ehemann, und dir ist um Lucys Willen etwas an mir gelegen. Schrecke deswegen nicht davor zurück, mir Kummer zu bereiten: Ich kann Kummer ertragen. Freund und Bruder! Wirst du mir glauben, daß ich Mut genug habe, um das Schlimmste zu hören? Wirst du mir versprechen, mich bezüglich Frank nicht zu täuschen?“

Die sanfte Resignation in ihrer Stimme, das traurige Flehen in ihrem Blick, erschütterte Crayfords Selbstbeherrschung aufs Äußerste. Er antwortete ihr auf die schlechteste Weise; er antwortete ausweichend.

„ Meine liebe Clara“, sagte er, „was habe ich getan, daß du mich verdächtigst, dich zu täuschen?“

Sie schaute ihm forschend ins Gesicht, warf dann mit erneuertem Mißtrauen einen Blick auf Mrs. Crayford. Einen Moment lang war es still. Noch bevor einer von ihnen wieder sprechen konnte, wurden sie unterbrochen vom Erscheinen eines Offizierskameraden von Crayford, gefolgt von zwei Seeleuten, die einen Eßkorb zwischen sich trugen. Augenblicklich ließ Crayford Claras Arm los und ergriff die willkommene Gelegenheit, von anderen Dingen zu sprechen.

„ irgendwelche Anweisungen vom Schiff, Steventon?“ fragte er, zu dem Offizier herantretend.

„ Nur mündliche Anweisungen“, erwiderte Steventon. „Das Schiff wird mit der Flut auslaufen. Wir werden ein Geschütz abfeuern, um die Leute zu versammeln, und ein weiteres Boot ans Ufer schicken. In der Zwischenzeit sind hier einige Erfrischungen für die Passagiere. Das Schiff ist in einem Zustand der Unordnung; hier werden die Ladies ihren Lunch gemütlicher einnehmen.“

Als sie dies hörte, ergriff als nächstes Mrs. Crayford ihre Gelegenheit, Clara zum Schweigen zu bringen.

„ Komm, meine Liebe“, sagte sie. „Laß uns den Tisch decken, bevor die Gentlemen hereinkommen.“

Clara war zu ernsthaft darauf versessen, das Ziel zu erreichen, welches sie im Blick hatte, um auf diese Art zum Schweigen gebracht zu werden. „ich werde dir sofort helfen“, antwortete sie – durchschritt dann den Raum und wandte sich an den Offizier, dessen Name Steventon war.

„ Können Sie einige Minuten für mich erübrigen?“ fragte sie. „Ich habe Ihnen etwas zu sagen.“

„ Ich stehe Ihnen vollkommen zu Diensten, Miß Burnham.“

Mit dieser Antwort entließ Steventon die beiden Seeleute. Mrs. Crayford schaute besorgt auf zu ihrem Ehemann. Crayford wisperte ihr zu „Sei nicht beunruhigt wegen Steventon. Ich habe ihn gewarnt; auf seine Umsicht kann man sich verlassen.“

Clara winkte Crayford zu, zu ihr zurück zu kommen.

„ Ich werde dich nicht lange belästigen“, sagte sie. „Ich werde versprechen, Mr. Steventon nicht zu bedrängen. So jung ich auch bin, so werden Sie beide feststellen, daß ich zur Selbstbeherrschung fähig bin. Ich werde Sie nicht bitten, zu der Geschichte Ihrer vergangenen Leiden zurückzukehren; ich möchte nur sicher sein, daß ich recht habe bei einer Sache – ich meine bei dem, was zu jener Zeit geschah, als das Erkundungskommando losgeschickt wurde auf die Suche nach Hilfe. Wie ich es verstehe, haben Sie untereinander ausgelost, wer mit dem Kommando gehen soll, und wer zurückbleiben soll. Frank hat das Los gezogen, zu gehen.“ Sie hielt inne, erschaudernd. „Und Richard Wardour“, fuhr sie fort, „hat das Los gezogen, zurückzubleiben. Auf Ihre Ehre als Offiziere und Gentlemen, ist dies die Wahrheit?“

„ Auf meine Ehre“, antwortete Crayford, „es ist die Wahrheit.“

„ Auf meine Ehre“, wiederholte Steventon, „es ist die Wahrheit.“

Sie schaute die beiden an, sorgfältig ihre Worte abwägend, bevor sie weitersprach.

„ Sie beide zogen das Los, in den Hütten zu bleiben“, sagte sie, an Crayford und Steventon gewandt. „Und Sie sind beide hier. Richard Wardour zog das Los, zu bleiben, und Richard Wardour ist nicht hier. Wie kommt sein Name zusammen mit dem von Frank auf die Liste der Vermißten?“

Die Frage war zu gefährlich, um sie zu beantworten. Steventon überließ es Crayford, etwas zu erwidern. Noch einmal antwortete er ausweichend.

„ Daß sie zufällig gemeinsam auf der Liste vorkommen, meine Liebe“, sagte er, „bedeutet nicht, daß die beiden gemeinsam vermißt werden.“

Augenblicklich zog Clara den unvermeidlichen Schluß aus dieser unklugen Erwiderung.

„ Frank war bei dem Befreiungskommando, als er verschollen ist“, sagte sie. „Soll ich es so verstehen, daß Wardour bei den Hütten war, als er verschollen ist?“

Beide, Crayford und Steventon, zögerten. Mrs. Crayford warf ihnen einen ungehaltenen Blick zu und sprach die notwendige Lüge aus, ohne einen Moment des Zögerns!

„ Ja!“, sagte sie. „Wardour ist in der Nähe der Hütten verschollen.“

So schnell sie es auch gesagt hatte, hatte sie es dennoch zu spät gesagt. Clara hatte das momentane Zögern von Seiten der beiden Offiziere bemerkt. Sie wandte sich an Steventon.

„ Ich vertraue Ihrem Ehrgefühl“, sagte sie leise. „Habe ich recht, oder unrecht, wenn ich glaube, daß Mrs. Crayford sich irrt?“

Sie hatte sich an den richtigen Mann der beiden gewandt. Bei Steventon war keine Ehefrau zugegen, die Autorität auf ihn ausübte. Steventon, bei seiner Ehre gepackt und gänzlich gezwungen, etwas zu sagen, gestand die Wahrheit. Wardour war für einen Offizier eingesprungen, den ein Unfall außerstande gesetzt hatte, das Befreiungskommando zu begleiten, und Wardour und Frank waren gemeinsam vermißt.

Clara schaute zu Mrs. Crayford.

„ Hörst du? Du bist es, die sich irrt, nicht ich. Was du ‚Zufall’ nennst, was ich ‚Schicksal’ nenne, brachte Richard Wardour und Frank also doch zusammen, als Mitglieder derselben Expedition.“ Ohne auf eine Erwiderung zu warten, wandte sie sich abermals um zu Steventon, und überraschte ihn, indem sie das schmerzvolle Objekt der Unterhaltung aus eigenem Antrieb änderte.

„ Waren Sie einmal in den Highlands von Schottland?“ fragte sie.

„ Ich war noch nie in den Highlands“, erwiderte der Lieutenant.

„ Haben Sie jemals, in Büchern über die Highlands, von so etwas wie dem Zweitem Gesicht gelesen?“

„ Ja.“

„ Glauben Sie an das Zweite Gesicht?“

Steventon lehnte es höflich ab, sich mit einer direkten Erwiderung festzulegen.

„ Ich weiß nicht, was ich getan hätte, wenn ich jemals in den Highlands gewesen wäre“, sagte er. „Wie die Dinge liegen, habe ich noch keine Gelegenheiten gehabt, dem Thema irgendeine ernsthafte Überlegung angedeihen zu lassen.“

„ Ich möchte nicht Ihre Leichtgläubigkeit auf die Probe stellen“, fuhr Clara fort. „Ich möchte Sie nicht bitten, irgend etwas Außergewöhnlicheres zu glauben, als daß ich einen seltsamen Traum hatte in England, vor nicht allzu langer Zeit. Mein Traum zeigte mir, was Sie soeben zugegeben haben – und mehr als das. Wie ist es dazu gekommen, daß die beiden vermißten Männer von ihren Kameraden getrennt wurden? Haben sie sich durch einen bloßen Zufall verirrt, oder wurden sie vorsätzlich auf dem Marsch zurückgelassen?“

Crayford machte einen letzten vergeblichen Versuch, ihre Erkundigungen an dem Punkt aufzuhalten, den sie nun erreicht hatten.

„ Weder Steventon noch ich waren Mitglieder des Befreiungskommandos“, sagte er. „Wie sollen wir dir da antworten?“

„ Eure Offizierskameraden, die Mitglieder des Kommandos waren , müssen euch erzählt haben, was geschehen ist“, erwiderte Clara. „Ich bitte dich und Mr. Steventon nur, mir zu erzählen, was sie euch erzählten.“

Mrs. Crayford trat abermals dazwischen, diesmal mit einem praktischen Vorschlag.

„ Das Mittagsmahl ist noch nicht ausgepackt“, sagte sie. „Komm, Clara! dies ist unsere Arbeit, und die Zeit verstreicht.“

„ Das Mittagsmahl kann noch einige Minuten länger warten“, antwortete Clara. „Hab Nachsicht mit meiner Hartnäckigkeit“, fuhr sie fort und legte ihre Hand tätschelnd auf Crayfords Schulter. „Erzähl mir, wie es dazu kam, daß diese beiden vom Rest getrennt wurden. Du warst immer der liebste Freund – fang jetzt nicht an, grausam zu mir zu sein!“

Der Tonfall, in welchem sie Crayford anflehte, traf den Seemann geradewegs ins Herz. Er gab den hoffnungslosen Kampf auf: er ließ sie einen Schimmer der Wahrheit sehen.

„ Am dritten Tag draußen“, sagte er, „verließ Frank seine Kraft. Er fiel vor Erschöpfung hinter den anderen zurück.“

„ Sicher haben sie auf ihn gewartet?“

„ Es war ein ernstliches Risiko, auf ihn zu warten, mein Kind. Ihre Leben (und die Leben der Männer, die sie in den Hütten zurückgelassen hatten) hingen, in diesem schrecklichen Klima, von ihrem Vorwärtskommen ab. Doch Frank war bei ihnen sehr beliebt. Sie warteten einen halben Tag lang, um Frank die Chance zu geben, seine Kraft wiederzuerlangen.“

Hier hielt er inne. Hier zeigte sich deutlich die Unvorsichtigkeit, in welche seine Zuneigung für Clara ihn geführt hatte, und verschloß ihm die Lippen.

Es war zu spät, um Zuflucht im Schweigen zu nehmen. Clara war entschlossen, mehr zu hören.

Sie fragte Steventon als nächstes.

„ Ist Frank weitergegangen nach der Halbtagsrast?“ fragte sie.

„ Er versuchte, weiterzugehen—“

„ Und scheiterte?“

„ Ja.“

„ Was taten die Männer, als er scheiterte? Haben sie sich feige umgedreht? Haben sie Frank im Stich gelassen?“

Sie hatte absichtlich eine Ausdrucksweise benutzt, die Steventon möglicherweise dazu provozierte, ihr offen zu antworten. Er war ein junger Mann – er tappte in die Falle, die sie für ihn gelegt hatte.

„ Nicht einer unter ihnen war ein Feigling, Miß Burnham!“, erwiderte er inbrünstig. „Sie sprechen grausam und ungerecht von einer der tapfersten Gruppen von Kameraden, die jemals gelebt hat! Der stärkste Mann unter ihnen setzte ein Beispiel; er meldete sich freiwillig, bei Frank zu bleiben, und ihn weiterzubringen in den Spuren des Kommandos.“

Da hielt Steventon inne – seinerseits wohl wissend, daß er zuviel gesagt hatte. Würde sie ihn fragen, wer dieser Freiwillige war? Nein. Sie ging geradewegs weiter zu der unbequemsten Frage, die sie bis jetzt gestellt hatte – und bezog sich auf den Freiwilligen, als ob Steventon seinen Namen bereits erwähnt hätte.

„ Was hat Richard Wardour dazu gebracht, so bereitwillig sein Leben für Franks Wohl zu riskieren?“ sagte sie zu Crayford. „Tat er es aus Freundschaft zu Frank? Sicher kannst du mir das sagen? Versetze deine Erinnerung zurück zu den Tagen, als ihr alle in den Hütten lebtet. Waren Frank und Wardour zu dieser Zeit Freunde? Hast du niemals gehört, daß irgendwelche bösen Worte zwischen den beiden gefallen sind?“

An dieser Stelle sah Mrs. Crayford ihre Gelegenheit, ihrem Ehemann einen rechtzeitigen Wink zu geben.

„ Mein liebes Kind!“, sagte sie; „wie kannst du von ihm erwarten, daß er sich daran erinnert? Es muß zweifellos eine menge Streitereien unter den Männern gegeben haben, alle zusammen eingeschlossen, wie sie waren, und alle der Gesellschaft der anderen überdrüssig.“

„ Eine Menge Streitereien!“ wiederholte Crayford; „und jede einzelne von ihnen wurde wieder beigelegt.“

„ Und jede einzelne von ihnen wurde wieder beigelegt“, wiederholte Mrs. Crayford ihrerseits. „Da hast du’s! eine deutlichere Antwort als diese kannst du dir gar nicht wünschen. Bist du nun zufriedengestellt? Mr. Steventon, kommen Sie und legen Sie mit Hand an (wie man auf See sagt) bei dem Eßkorb – Clara wird mir nicht helfen. William, steh nicht da und tu nichts. Dieser Eßkorb enthält eine ganze Menge; wir brauchen eine ganze Division an Arbeitskräften. Deine Division soll die Tischdecke auslegen. Hantiere nicht so ungeschickt damit herum! Du entfaltest eine Tischdecke, als ob du ein Segel ausbreiten würdest. Leg die Messer auf die rechte Seite, und die Gabeln auf die linke, und die Serviette und das Brot zwischen sie. Clara, wenn du nicht hungrig bist in dieser guten Luft, solltest du es aber sein. Komm und tu deine Pflicht, komm und iß etwas!“

Sie schaute auf, während sie sprach. Clara schien endlich der Verschwörung gestattet zu haben, sie im Dunkeln zu lassen. Sie war langsam zum Türeingang des Bootshauses zurückgekehrt, und nun stand sie allein an der Schwelle und schaute hinaus. Als sie sich ihr näherte, um sie zum Mittagstisch zu führen, konnte Mrs. Crayford hören, daß sie leise mit sich selbst sprach. Sie wiederholte die Abschiedsworte, welche Richard Wardour auf dem Ball zu ihr gesagt hatte.

„’ Der Zeitpunkt könnte kommen, da ich dir vergeben werde. Doch der Mann, der dich mir geraubt hat, wird den Tag bereuen, als du und er euch zum ersten Mal begegnet seid.’ Oh, Frank! Frank! lebt Richard noch, mit deinem Blut auf dem Gewissen, und meinem Bild in seinem Herzen?“

Plötzlich schlossen sich ihre Lippen. Sie schreckte zusammen und zog sich zurück vom Türeingang, heftig zitternd. Mrs. Crayford schaute hinaus auf die ruhige Szenerie des Meeres.

„ Ist dort irgend etwas, das dich erschreckt, mein Liebes?“, fragte sie. „Ich kann nichts sehen, ausgenommen die Boote, die auf den Strand hinaufgezogen werden.“

Ich kann auch nichts sehen, Lucy.“

„ Und immer noch zitterst du, als ob da irgend etwas Schreckliches in Sichtweite dieser Tür wäre.“

„ Da ist etwas Schreckliches! Ich fühle es, obwohl ich nichts sehe. Ich fühle es, es kommt immer näher in der leeren Luft, wird immer dunkler im Sonnenlicht. Ich weiß nicht, was es ist. Bring mich fort! Nein. Nicht hinaus zum Strand. Ich kann nicht durch die Tür gehen. Irgendwo anders hin! irgendwo anders hin!“

Mrs. Crayford schaute sich um und bemerkte eine zweite Tür am inneren Ende des Bootshauses. Sie sprach mit ihrem Ehemann.

„ Schau nach, wohin die Tür führt, William.“

Crayford öffnete die Tür. Sie führte in eine öde Umzäunung, halb Garten, halb Hof. Einige Netze, auf Pfählen aufgespannt, waren zum Trocken aufgehängt. Es waren keine weiteren Gegenstände zu sehen – nicht ein lebendes Wesen erschien auf dem Platz. „Es sieht nicht sehr einladend aus, mein Liebes“, sagte Mrs. Crayford. „Wie auch immer, ich stehe dir zur Verfügung. Was sagst du?“

Sie bot Clara ihren Arm, während sie sprach. Clara lehnte ab. Sie nahm Crayfords Arm, und klammerte sich an ihn.

„ Ich habe Angst, entsetzliche Angst!“ sagte sie schwach zu ihm. „Du bleibst bei mir – eine Frau ist kein Schutz; ich will bei dir sein.“ Sie schaute sich wieder um, zum Eingang des Bootshauses. „Oh!“ wisperte sie, „mir ist überall kalt – ich bin vor Angst wie erfroren an diesem Ort. Komm in den Hof! Komm in den Hof!“

„ Überlaß sie mir“, sagte Crayford zu seiner Frau. „Ich werde dich rufen, wenn es an der frischen Luft nicht besser wird.“

Er brachte sie sofort hinaus und schloß die Hoftür hinter ihnen.

„ Mr. Steventon, verstehen Sie das?” fragte Mrs. Crayford. „Wovor kann sie nur Angst haben?“

Sie stellte die Frage, während sie noch immer unbewußt auf die Tür starrte, durch welche ihr Ehemann und Clara hinausgegangen waren. Als sie keine Antwort erhielt, wandte sie sich um und warf einen flüchtigen Blick auf Steventon. Er stand an der gegenüberliegenden Seite des Mittagstisches, die Augen aufmerksam auf die Szenerie am Haupteingang des Bootshauses gerichtet. Mrs. Crayford sah dorthin, wohin Steventon schaute. Diesmal war da etwas zu sehen. Sie sah den Schatten einer menschlichen Gestalt, der auf die Fläche aus weichem, gelbem Sand vor dem Bootshaus geworfen wurde.

Nach einem weiteren Moment erschien die Gestalt. Ein Mann kam langsam in Sicht und hielt an der Schwelle der Tür an.



Kapiteltrenner

Kapitel Achtzehn

Der Mann war ein unheimlich und schrecklich anzusehendes Objekt. Seine Augen starrten durchdringend wie die Augen eines wilden Tieres; sein Kopf war unbedeckt; sein langes graues Haar war zerrauft und wirr; seine armseligen Kleider hingen in Fetzen um ihn herum. Er stand am Türeingang, eine stumme Gestalt aus Elend und Armut, auf den wohlgedeckten Tisch starrend wie ein hungriger Hund. Steventon sprach ihn an.

„ Wer sind Sie?

Er antwortete, mit einer heiseren, dumpfen Stimme:

„ Ein verhungernder Mann.“

Er ging einige Schritte vor, langsam und mühsam, als ob er vor Erschöpfung niedersinken würde.

„ Werft mir einige Knochen vom Tisch zu“, sagte er. „Gebt mir meinen Anteil zusammen mit den Hunden.“

Da war ebenso Wahnsinn wie auch Hunger in seinen Augen, während er diese Worte aussprach. Steventon schob Mrs. Crayford hinter sich, so daß er leicht imstande wäre, sie zu beschützen, falls es nötig sei, und nickte zwei Seeleuten zu, die soeben zur Tür des Bootshauses hereinkamen.

„ Gebt dem Mann etwas Brot und Fleisch“, sagte er, „und wartet neben ihm.“

Der Ausgestoßene ergriff das Brot und das Fleisch mit seinen mageren, mit langen Fingernägeln bewachsenen Händen, die wie Klauen aussahen. Nach seinem ersten Mundvoll Essen hielt er inne, überlegte geistesabwesend, und brach das Brot sowie das Fleisch in zwei Portionen. Eine Portion steckte er in eine alte Werkzeugtasche aus Segeltuch, die über seiner Schulter hing; die andere verschlang er gierig. Steventon fragte ihn aus.

„ Woher kommen Sie?“

„ Vom Meer.“

„ Gestrandet?“

„ Ja.“

Steventon wandte sich um zu Mrs. Crayford.

„ Es könnte etwas Wahres dran sein an der Geschichte des armen Teufels“, sagte er. „Ich hörte etwas von einem fremden Boot, welches dreißig oder vierzig Meilen die Küste hinauf an den Strand geworfen worden ist. Wann sind Sie gestrandet, Mann?“

Die verhungernde Kreatur schaute von ihrem Essen auf, und machte einen Versuch, die Gedanken zu sammeln – die Erinnerungen anzustrengen. Es war nicht zu schaffen. Er gab den Versuch verzweifelt auf. Als er sprach, war seine Aussprache so wild wie sein Aussehen.

„ Ich kann es Ihnen nicht sagen“, sagte er. „Ich bekomme das Branden des Meeres nicht aus meinen Ohren. Ich bekomme den Schein der Sterne jede Nacht, und die brennende Sonne jeden Tag nicht aus meinem Kopf. Wann bin ich gestrandet? Wann bin ich das erste Mal mit dem Boot abgetrieben? Wann habe ich die Ruderpinne in die Hand genommen und gegen Hunger und Schlaf gekämpft? Wann haben das Nagen in meiner Brust und das Brennen in meinem Kopf zum ersten Mal angefangen? Ich habe alle Erinnerung daran verloren. Ich kann nicht denken; ich kann nicht schlafen; ich bekomme das Branden des Meeres nicht aus meinen Ohren. Weshalb quält ihr mich mit Fragen? Laßt mich essen!“

Selbst die Seeleute bemitleideten ihn. Die Matrosen baten ihren Offizier um die Erlaubnis, ein wenig zu trinken zu seinem Mahl dazugeben zu dürfen.

„ Wir haben einen Tropfen Grog bei uns, Sir, in einer Flasche. Dürfen wir sie ihm geben?“

„ Gewiß.“

Er ergriff die Flasche ebenso ungestüm, wie er das Essen ergriffen hatte, trank ein wenig, hielt inne, und überlegte abermals. Er hielt die Flasche hoch ins Licht, markierte, wieviel Flüssigkeit sie enthielt, und trank genau nur die Hälfte davon. Dies getan, steckte er die Flasche in seine Segeltuchtasche zu dem Essen.

„ Heben Sie es auf für einen anderen Zeitpunkt?“ sagte Steventon.

„ Ich hebe es auf“, antwortete der Mann. „Wofür, hat nichts zu sagen. Das ist mein Geheimnis.“

Er schaute sich im Bootshaus um, als er dies erwiderte, und bemerkte Mrs. Crayford zum ersten Mal.

„ Eine Frau unter Ihnen!“ sagte er. „Ist sie Engländerin? Ist sie jung? Laßt mich sie näher anschauen.“

Er ging einige Schritte auf den Tisch zu.

„ Haben Sie keine Angst, Mrs. Crayford“, sagte Steventon.

„ Ich habe keine Angst“, erwiderte Mrs. Crayford. „Zuerst hat er mich erschreckt – jetzt interessiert er mich. Lassen Sie ihn mit mir sprechen, wenn er es wünscht!“

Er sprach überhaupt nicht. Er stand da, in Totenstille, lange und besorgt auf die wunderschöne Engländerin schauend.

„ Nun?“ sagte Steventon.

Er schüttelte traurig den Kopf, und zog sich mit einem schweren Seufzen wieder zurück.

„ Nein!“ sagte er zu sich selbst, „das ist nicht ihr Gesicht. Nein! noch nicht gefunden.“

Mrs. Crayfords Interesse war ernsthaft geweckt. Sie wagte es, ihn anzusprechen.

„ Wer ist es, die Sie finden möchten?“ fragte sie. „Ihre Frau?“

Wieder schüttelte er den Kopf.

„ Wer dann? Wie sieht sie aus?“

Er beantwortete die Frage in Worten. Seine heisere, dumpfe Stimme wurde nach und nach weicher, bis hin zu einem traurigen und sanften Tonfall.

„ Jung“, sagte er; „mit einem schönen, traurigen Gesicht – mit freundlichen, sanften Augen – mit einer weichen, klaren Stimme. Jung und liebevoll und barmherzig. Ich bewahre ihr Gesicht in meinem Geist, obgleich ich mir nichts anderes merken kann. Ich muß wandern, wandern, wandern – rastlos, schlaflos, heimatlos – bis ich sie finde! Über das Eis und über den Schnee; herumgeworfen auf dem Meer, über das Land wandern; die ganze Nacht wach, den ganzen Tag wach; wandern, wandern, wandern, bis ich sie finde!“

Er winkte in einer Geste des Abschieds mit der Hand und wandte sich erschöpft um, um hinauszugehen.

Im selben Moment öffnete Crayford die Hoftür.

„ Ich glaube, du solltest besser zu Clara kommen“, begann er, und hielt inne, als er den Fremden bemerkte. „Wer ist das?“

Eine andere Stimme im Raum hörend, schaute sich der schiffbrüchige Mann langsam über seine Schulter hinweg um. Von seinem Erscheinen wie vom Schlag getroffen, ging Crayford ein wenig näher auf ihn zu. Mrs. Crayford sprach zu ihrem Mann, als er an ihr vorbeiging.

„ Er ist nur eine arme, verrückte Kreatur, William“, flüsterte sie – „schiffbrüchig und verhungernd.“

„ Verrückt?“ wiederholte Crayford, immer näher auf den Mann zu gehend. „Bin ich noch richtig bei Sinnen?“ Er sprang plötzlich auf den Ausgestoßenen zu und packte ihn an der Kehle. „Richard Wardour!“ schrie er, mit einem Ausdruck von Raserei in der Stimme. „Am Leben! – am Leben, um Rechenschaft abzulegen für Frank!“

Der Mann wand sich. Crayford hielt ihn fest.

„ Wo ist Frank?“ sagte er. „Du Schurke, wo ist Frank?“

Der Mann sträubte sich nicht länger. Er wiederholte geistesabwesend: „Schurke? und wo ist Frank?“

Sowie der name über seine Lippen kam, erschien Clara an der offenen Hoftür und eilte in den Raum.

„ Ich habe Richards Namen gehört!“ sagte sie. „Ich habe Franks Namen gehört! Was bedeutet das?“

Bei dem Klang ihrer Stimme nahm der Ausgestoßene den Kampf, sich zu befreien, wieder auf, mit einer plötzlichen rasenden Stärke, der Widerstand zu leisten Crayford nicht imstande war. Er riß sich los, noch ehe die Seeleute ihrem Offizier zu Hilfe kommen konnten. Auf halbem Weg durch die Länge des Raumes trafen er und Clara von Angesicht zu Angesicht aufeinander. Ein neues Licht blitzte auf in den Augen des armen Teufels; ein Schrei des Wiedererkennens brach zwischen seinen Lippen hervor. Er warf eine Hand wild hoch in die Luft. „Gefunden!“ rief er aus, und stürzte hinaus, zum Strand, noch ehe einer der anwesenden Männer ihn aufhalten konnte.

Mrs. Crayford legte ihre Arme um Clara und hielt sie aufrecht. Sie hatte sich nicht bewegt: sie hatte nicht ein Wort gesprochen. Der Anblick von Wardours Gesicht hatte sie erstarren lassen.

Die Minuten verstrichen, und da erhob sich ein plötzlicher Ausbruch des Beifalls von den Seeleuten am Strand, nahe der Stelle, wo die Boote der Fischer ans Ufer gezogen worden waren. Jedermann verließ seine Arbeit. Jedermann warf seine Mütze in die Luft. Die Passagiere, die gleich daneben standen, wurden angesteckt vom Einfluß des Enthusiasmus und schlossen sich der Mannschaft an. Ein weiterer Moment, und Richard Wardour erschien erneut am Türeingang, einen Mann auf seinen Armen tragend. Atemlos ob der Anstrengung, die er unternahm, wankte er zu der Stelle, wo Clara stand, die von Mrs. Crayfords Armen aufrecht gehalten wurde.

„ Gerettet, Clara!“ schrie er. „Gerettet für dich !“

Er ließ den Mann hinunter, und gab ihn Clara in die Arme.

Frank! mit wunden Füßen und erschöpft – doch lebendig – gerettet, gerettet für sie!

„ Nun, Clara!“ rief Mrs. Crayford aus, „wer von uns hat recht? Ich, die ich an die Gnade Gottes geglaubt habe? oder du, die du an einen Traum geglaubt hast?“

Sie antwortete nicht; sie klammerte sich in sprachlosem Freudentaumel an Frank. Sie hatte noch nicht einmal einen Blick auf den Mann geworfen, der ihn gerettet hatte, in der ersten verschlingenden Freude, Frank am Leben zu sehen. Schritt für Schritt, immer langsamer, zog sich Wardour zurück, und überließ die beiden sich selbst.

„ Nun kann ich ruhen“, sagte er schwach. „Endlich kann ich schlafen. Die Aufgabe ist erfüllt. Der Kampf ist vorbei.“

Seine letzten Kraftreserven hatte er für Frank gegeben. Er hielt an – er wankte – seine Hände bewegten sich kraftlos hin und her in der Suche nach Halt. Wäre der einzige treue Freund nicht gewesen, wäre er gefallen. Crayford fing ihn auf. Crayford legte seinen früheren Kameraden sachte auf einige in einer Ecke ausgelegte Segel und bettete Wardours müdes Haupt an seine eigene Brust. Tränen strömten ihm über sein Gesicht. „Richard! lieber Richard!“ sagte er. „Erinnere dich – und vergib mir.“

Weder beachtete Richard ihn, noch hörte er ihn. Seine trüben Augen schauten noch immer quer durch den Raum auf Clara und Frank.

„ Ich habe sie glücklich gemacht“, murmelte er. „Nun kann ich mein müdes Haupt niederlegen auf die Mutter Erde, die letzten Endes alle ihre Kinder zur Ruhe bringt. Sinke, Herz! sinke, sinke zur Ruhe! Oh, schau sie an!“, sagte er zu Crayford, mit einem Ausbruch des Kummers. „Mich haben sie bereits vergessen.“

Es war wahr! Die Anteilnahme war gänzlich bei den beiden Liebenden. Frank war jung und stattlich und beliebt. Offiziere, Passagiere, und Seeleute, sie alle scharten sich um Frank. Sie alle vergaßen den gequälten Mann, der ihn gerettet hatte – der Mann, der in Crayfords Armen starb.

Crayford versuchte abermals, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen – sein Wiedererkennen zu erringen, solange noch Zeit war. „Richard, sprich mit mir! Sprich mit deinem alten Freund!“

Er sah sich um; er wiederholte ausdruckslos Crayfords letzte Worte.

„ Freund?“ fragte er. „Meine Augen sind trübe, Freund – mein Verstand ist träge. Ich habe all meine Erinnerungen verloren außer der Erinnerung an sie . Tote Gedanken – alles tote Gedanken außer einem. Und dennoch schaust du mich freundlich an! Warum ist dein Gesicht untergegangen mit den Trümmern des ganzen Rests?“

Er hielt inne; sein Gesichtsausdruck veränderte sich; seine Gedanken drifteten von der Gegenwart zurück in die Vergangenheit; er sah Crayford geistesabwesend an, verloren in den schrecklichen Erinnerungen, die in ihm aufstiegen, wie die Schatten aufsteigen mit der kommenden Nacht.

„ Hör zu, Freund“, wisperte er. „Laß Frank es niemals wissen. Es gab eine Zeit, als der Teufel in mir nach seinem Leben hungerte. Ich hatte meine Hände am Boot. Ich hörte die Stimme des Verführers zu mir sprechen: ‚Laß es zu Wasser, und laß ihn zum Sterben zurück!’ Ich wartete mit den Händen am Boot, und mit meinem Blick auf der Stelle, wo er schlief. ‚Verlaß ihn! verlaß ihn!’ wisperte die Stimme. ‚Liebe ihn’, antwortete die Stimme des Jungen, im Schlaf jammernd und murmelnd. ‚Liebe ihn, Clara, dafür, daß er mir geholfen hat!’ Ich hörte den Morgenwind aufkommen in der Stille über dem weiten Meer. Fern und nah hörte ich das Knarren des treibenden Eises; treibend, treibend mit dem klaren Wasser und der milden Luft. Und die niederträchtige Stimme trieb mit ihm davon – fort, fort, fort für immer! ‚Liebe ihn! Liebe ihn, Clara, dafür, daß er mir half!’ Kein Wind konnte das fortwehen! ‚Liebe ihn, Clara“

Seine Stimme versank in Schweigen; sein Kopf fiel auf Crayfords Brust. Frank sah es. Frank kämpfte sich hoch auf seine blutenden Füße und teilte die freundliche Menschenmenge um ihn herum. Frank hatte den Mann, der ihn rettete, nicht vergessen.

„ Laßt mich zu ihm gehen!“ schrie er. „Ich muß und werde zu ihm gehen! Clara, komm mit mir.“

Clara und Steventon stützten ihn zwischen sich. An Wardours Seite fiel er auf seine Knie; er legte seine Hand auf Wardours Brust.

„ Richard!“

Die müden Augen öffneten sich wieder. Die schwindende Stimme war noch einmal schwach zu hören.

„ Ah! armer Frank. Ich habe dich nicht vergessen, Frank, als ich hierherkam, um zu betteln. Ich habe daran gedacht, daß du draußen unten im Schatten der Boote gelegen hast. Ich habe dir deinen Anteil an Essen und Trinken aufgehoben. Zu schwach, um jetzt dranzukommen! Ein wenig Ruhe, Frank! Ich werde bald wieder kräftig genug sein, um dich hinunter zu dem Schiff zu tragen.“

Das Ende war nahe. Sie alle sahen es jetzt. Ehrfurchtsvoll entblößten die Männer ihre Häupter in der Gegenwart des Todes. In einer Agonie der Verzweiflung appellierte Frank an die Freunde um ihn herum.

„ Holt etwas, um ihn zu kräftigen, um Gottes Willen! Oh Männer! Männer! Ich wäre niemals hier angekommen ohne ihn! Er hat seine ganze Kraft gegeben für meine Schwäche; und nun, seht, wie kräftig ich bin, und wie schwach er ist! Clara, ich hielt mich an seinem Arm fest, die ganze Zeit über auf dem Eis und dem Schnee. Er hielt Wache, als ich besinnungslos war in dem offenen Boot. Seine Hand schleppte mich aus den Wellen heraus, als wir schiffbrüchig waren. Sprich mit ihm, Clara! sprich mit ihm!“ Seine Stimme versagte ihm, und sein Kopf sank auf Wardours Brust.

Sie sprach, soweit ihre Tränen sie lassen wollten.

„ Richard, hast du mich vergessen?“

Er raffte sich auf bei dem Klang der geliebten Stimme. Er schaute auf zu ihr, als sie sich neben seinem Kopf niederkniete.

„ Dich vergessen?“ Sie noch immer anschauend, hob er mühsam seine Hand und legte sie auf Frank. „Wäre ich stark genug gewesen, ihn zu retten, wenn ich dich vergessen hätte?“ Er wartete einen Moment lang und wandte sein Gesicht kraftlos Crayford zu. „Bleib!“ sagte er. „Jemand war hier und hat zu mir gesprochen.“ Ein schwaches Licht des Wiedererkennens schimmerte in seinen Augen. „Ah, Crayford! Jetzt erinnere ich mich. Lieber Crayford! Komm näher! Mein Verstand klärt sich, doch meine Augen werden schwächer. Du wirst dich freundlich an mich erinnern, um Franks Willen? Armer Frank! warum verbirgt er sein Gesicht? Weint er? Näher, Clara – als letztes möchte ich dich sehen. Meine Schwester, Clara! Küß mich, Schwester, küß mich, bevor ich sterbe!“

Sie beugte sich nieder und küßte seine Stirn. Ein schwaches Lächeln zitterte auf seinen Lippen. Es verging; und Ruhe beherrschte das Gesicht – die Ruhe des Todes.

Crayfords Stimme war in der Stille zu hören.

„ Der Verlust ist der unsere“, sagte er, „der Gewinn ist der seine. Er hat den größten aller Siege errungen – den Sieg über sich selbst. Und er ist im Moment des Triumphes gestorben. Dennoch dürfte ihn keiner von uns, die wir hier leben, um seinen glorreichen Tod beneiden.“

Der ferne Knall eines Geschützes kam von dem Schiff auf offener See und gab das Zeichen zur Rückkehr nach England und nach Hause.



ENDE



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