Herz und Wissen



Capitel I.

Das altersmüde neunzehnte Jahrhundert war in die letzten Zwanzig eingetreten.

Gegen zwei Uhr Nachmittags stand Ovid Vere, Mitglied des königlichen Collegiums der Wundärzte, in seinem Londoner Sprechzimmer am Fenster und sah hinaus in den sommerlichen Sonnenschein und auf die stille staubige Straße.

Trotz seiner Jugend hatte er bereits jene Mahnung empfangen, wie sie den Vielbeschäftigten unserer Zeit leider ein guter Bekannter ist - jene Mahnung von der überanstrengten Natur zur Ruhe nach übermäßiger Arbeit. Mit einer vielversprechenden Carriere vor sich, erst einunddreißig Jahr alt, hatte er einen Collegen bitten müssen, seine Praxis zu übernehmen, damit er selbst seinem abgearbeiteten Kopf einige Monate Ruhe verschaffen könnte, und nun beabsichtigte er, sich am folgenden Tage auf der Yacht eines Freundes nach dem mittelländischen Meer einzuschiffen.

Für einen thätigen, mit Herz und Seele an seinem Berufe hängenden Mann ist es aber schwierig, die glückliche Kunst des Müßigseins im Handumdrehen zu erlernen.

Das bloße Aus-dem-Fenster-Sehen und Grübeln über das, was er zunächst thun solle, bewies sich für Ovid’s Geduld als eine zu starke Zumuthung und er setzte sich an seinen Arbeitstisch. Hätte er eine sorgende Gefährtin gehabt, so würde ihn dieselbe daran erinnert haben, daß er und sein Arbeitstisch unter den obwaltenden Verhältnissen nichts mit einander gemein hätten; ihm fehlte aber die Aufsicht einer Gattin und so durchbrach er die sich selbst gesetzten Regeln. Seine ruhelose Hand schloß eine Schublade auf und nahm aus derselben das Manuskript einer medicinischen Arbeit, an der er noch vor seiner Abreise ein Kapitel zu vollenden gedachte.

Bald aber begann ihm sein Kopf zu schwindeln der vorher bei dem bloßen Auf-die-Straße-Sehen ziemlich frei gewesen war. Die letzten Sätze des unvollendeten Kapitels bezogen sich auf etwas, von dem er sich noch nicht selbst durch den Augenschein überzeugt hatte. Er war aber ein geduldiger Mann, der sich zu helfen wußte, und durch eine Erkundigung beim Curator des Collegiums sowie durch Untersuchung eines in den Sammlungen des Collegs befindlichen Präparats konnte er sich die nöthige Bestätigung verschaffen. Da hatte er also ein Motiv zum Ausgehen, schloß das Manuskript wieder ein und machte sich auf den Weg nach Lincoln’s Inn-Fields.


Nächstes Kapitel
Inhaltsverzeichnis für diese Geschichte