Herz und Wissen



Capitel LXII.

Zeit und geschickte, sorgfältige Pflege hatten Carmina so weit zu Kräften gebracht, daß sie täglich einige Stunden in einem nach Ovids Anweisung angefertigten Krankenstuhle im Wohnzimmer verbringen konnte. Der willkommene Anblick der nach den in Schottland verlebten glücklichen Herbsttagen ordentlich aufgeblühten Zo rief eine lebhafte Farbe auf ihrem Gesicht hervor und beschleunigte ihren Puls, den Ovid als Vorwand, um ihre Hand halten zu können, fühlte. Diese Zeichen außerordentlicher nervöser Erregbarkeit warnten Ovid den Besuch der Kleinen zu lange währen zu lassen. Da weder Miß Minerva noch Teresa sich im Zimmer befanden, so konnte Carmina ihre kleine Freundin ganz für sich selbst haben.

»Nun, mein Schatz« sagte sie, das Kind küssend, »erzähle mir von Schottland.«

»Schottland,« antwortete Zo mit Würde, »gehört Onkel Northlake. Er bezahlt Alles; und ich bin die Herrin«

.

»Es ist wahr,« bestätigte Mr. Gallilee mit Stolz. »Der Graf sagt, es nütze. nichts, seinen eigenen Willen zu haben, wo Zo sei. Wenn er sie Jemandem auf dem Gute vorstellt, sagt er: ,Hier ist die Herrin.«

Die Kleine hatte dem Zeugnisse ihres Vaters kritisch zugehört und sagte zu Ovid: »Siehst Du, er weiß es. Es ist nichts dabei zu lachen.«

»Hast Du auch an mich gedacht, als Du so weit fort warst?« fragte Carmina.

»Ob ich an Dich gedacht habe?« antwortete Zo. »Du sollst in meinem Zimmer schlafen, wenn wir wieder nach Schottland gehen —— und ich und noch einer werden aufbleiben, wenn Du Deine erste schottische Mahlzeit ißt. Soll ich Dir sagen, was auf dem Tische stehen wird? Eine Schüssel mit einem großen, braunen, dampfenden Beutelchen werde ich mit einem Messer aufschneiden, und Du sollst mal sehen, wie das Fett herausquillt —— und dazu der heiße Brodem —— und wie das riecht. Das ist ein schottisches Gericht. Ach!« rief sie, über einer neuen Idee ganz ihre Würde vergessend, »ach, Carmina, weißt Du noch den kleinen Italiener und seinen Gesang?«

Ovid, der nur auf ein solches, mit der glücklichen Zusammenhanglosigkeit eines Kindes vorgebrachtes Erinnern an eine unbedeutende Sache aus der Vergangenheit gewartet hatte, blickte gespannt auf Carmina. Zu seiner unaussprechlichen Erleichterung lachte dieselbe und antwortete:

»Natürlich weiß ich das noch. Wer könnte wohl den Knaben vergessen, wie er sang und grinste —— mit seinem »Schenken Sie mir etwas!««

»Ja, den meine ich,« rief Zo. »Sein Gesang war ja in seiner Art gut, aber ich habe in Schottland was Besseres gelernt. Hast Du etwas von Donald gehört, ja?«

»Nein.«

Zo wandte sich indigniert an ihren Vater. »Warum hast Du ihr nichts von Donald gesagt?«

Mr. GalIilee gestand demüthig ein, daß es unrecht von ihm gewesen sei. Dann fragte Carmina, wer und was Donald sei; und Zo stellte ihr Gedächtniß zum zweiten Mal auf die Probe.

»Weißt Du noch den Tag, als Joseph etwas vom Kaufmann besorgen sollte und ich mit ihm ging, wofür mich Miß Minerva dann ausschalt?«

Auch dieser unbedeutenden Sache erinnerte sich Carmina ohne Schwierigkeit »Ich weiß,« antwortete sie; »Du erzähltest mir, daß Joseph und der Kaufmann Dich auf der großen Wage gewogen hätten.«

Zo entzückte Ovid durch eine neue Probe. »Und weißt Du auch noch, wieviel ich gewogen habe?«

»Ungefähr zweiunddreißig Pfund.«

»Volle zweiunddreißig Pfund. Donald wiegt hundertundzwölf. Was sagst Du dazu?«

»Der dickste Pfeifer auf dem Gute des Grafen,« erklärte Mr. Gallilee wieder; »ein geborener Hochländer, den der Vater des Grafen mit ins Unterland gebracht hatte. Ein großer Spieler ——«

»Und mein Freund,« nahm ihm Zo das Wort ab. »Er hat in einem Kuhhorn Schnupftabak, den er mit einem Löffel in seine dicke Nase schaufelt —— sieh, so. Er wackelt immer mit der Nase und fragt Jeden: Eine gefällig? Wenn Onkel Northlake mit ihm spricht, stößt er beinahe mit der Nase auf die Erde. Wenn Du ihn zum ersten Mal auf der Pfeife hörst, wirst Du Magenschmerzen bekommen, aber Du wirst Dich daran gewöhnen und ihn gern haben. Er trägt einen Beutel und einen Unterrock, Hosen hat er noch nie angehabt. Stolz ist er gar nicht, Du kannst ihn an die Nase zupfen und auf die Beine klatschen ——«

Hier sah sich Ovid genöthigt, der Schilderung Donalds ein Ende zu machen, da Carmina immer lauter lachte und ihre Erregtheit die Grenzen ihrer Kraft schnell zu überschreiten drohte. Um eine Ablenkung zu bewirken, sagte er zu Zo: »Erzähle uns etwas von Deinen Cousinen und Cousins.«

»Von den großen?«

»Nein; von den kleinen in Deinem Alter.«

»Nette Mädchen —— sie spielen Alles, was ich ihnen sage. Auch die Jungen sind lustig. Wenn sie ein Mädchen umgeworfen haben, heben sie es wieder auf und klopfen es ab.«

Carmina war wieder in Gefahr, die Grenzen zu überschreiten, so daß Ovid wieder ablenken mußte. »Was ist das für ein Lied, das Du in Schottland gelernt hast?« fragte er rasch.

»Es ist Donalds Lied; er hat es mich gelehrt.«

Bei dem Namen Donald sah Ovid nach der Uhr und sagte, daß für das Lied keine Zeit mehr sei. Und Mr. Gallilee unterstützte ihn. »Weiß der Himmel, wie sie nach dem Essen zwischen die Leute kann« sagte er. »Lady Northlake hat Donald verboten, ihr noch mehr Lieder beizubringen, und ich habe ihn gebeten, mir zu Gefallen nicht mehr zu leiden, daß sie ihn auf die Beine klatscht. Komm, mein Kind, es ist Zeit, daß wir nach Haus gehen.«

Es war von Beiden sehr gut gemeint —— aber zu spät. Zo hatte sich den Hut auf die eine Seite gestülpt, hob die runden Arme gebogen in die Höhe und schloß die runden Augen unter scherzhaftem Zwinkern. »Ich bin Donald,« kündete sie an und gab dann ihr Lied zum Bestem »Hei wir sind fröhlich, hei wir sind fröhlich; und wir sind brave Leut«; und ein braver Mann, der zecht stets, wenn er lustig ist und sich freut.« Dabei erfaßte sie Carmina's Medizinglas und schwang es mit bacchanalischem Juchhe über ihrem Kopf. »Schenk ein, Tammie! Prost Rothschenkel!«

»Wer ist denn Rothschenkel?« fragte eine Stimme von der Thür her.

Zo wandte sich um —— und schrumpfte sofort zusammen, denn eine gefürchtete Gestalt, an die sich die schreckliche Vorstellung von Unterricht und Strafe knüpfte, stand vor ihr. Aus der geselligen Freundin Donalds, der Herrin des schottischen Grafensitzes, wurde plötzlich eine demüthige Schülerin. »Rothschenkel ist ein Beiname für die Hochländer, Miß Minerva.« Wer hätte die Sängerin von: »Hei, wir sind fröhlich!« in dem unterwürfigen Wesen, welches diese Antwort gab, wiedererkannt?

Wieder öffnete sich die Thün Noch ein unngenehmer Eindringling? Ja, noch einer! Diesmal war es Teresa, die auf das Kind zueilte und ihm einen Kuß gab, der durch das ganze Zimmer schallte. »O mja giooosa!« rief die alte Amme, zu glücklich, um anders als in ihrer Muttersprache sprechen zu können.

»Was heißt das?« fragte so, indem sie ihr in Unordnung gerathenes Kleid wieder zurecht zog.

»Es heißt: O Du mein Püppchen» antwortete Teresa. Man denke sich, Püppchen nannte sie eine junge Dame, die eine Leberwurst aufschneiden konnte —— die einzige Person, welche das Privilegium besaß, Donald auf die Beine zu klatschen! Zo wandte sich zu ihrem Vater und fand ihre Würde wieder. »Ich wünsche nach Haus zu gehen.«

Ovid brauchte nur Carmina anzusehen, um die Nothwendigkeit zu erkennen, seinem Schwesterchen sofort zu willfahren. Sie durfte sich nicht weiter erregen; deshalb führte er selbst die Kleine hinaus und übergab sie unten vor der Thür zu seinen Zimmern ihrem Vater.

Als Zo aus der Nähe Miß Minerva's und der Amme war, heiterte sie sich schnell wieder auf; sie wünschte zu wissen, wer hier unten wohnte und als sie hörte, daß es Ovids Zimmer seien, bestand sie darauf, dieselben zu sehen. So traten sie denn zusammen ein.

Ovid zog Mr. Gallilee zur Seite und sagte: »Ich bin jetzt Carmina's wegen ruhig. Die Gedächtnißschwäche erstreckt sich nicht auf die Vergangenheit, sondern beginnt erst mit der Erschütterung, die sie an dem Tage erlitt, da Teresa sie hierher brachte, und wird —— davon bin ich fest überzeugt —— mit der Krankheit endigen.«

Mr. Gallilee's Aufmerksamkeit wurde plötzlich abgelenkt. »Zo!« rief er, »komme nicht an Ovids Papier.«

Der einzige Gegenstand, welcher die Neugier des Kindes erregte, war der Arbeitstisch, über welchen Dutzende von beschriebenen Blättern zerstreut lagen, auf denen häufig Stellen gestrichen oder unterstrichen waren und hier und da Kleckse die Buchstaben verschwinden ließen. Verschiedene dieser Blätter hatten auf dem Fußboden einen Ruheplatz gefunden, und Zo fand nun ein Vergnügen daran, dieselben aufzulesen. »Aber hör« mal,« sagte sie, dieselben gehorsamst Ovid überreichend, »ich habe manchen Schlag auf die Finger bekommen, wenn ich noch nicht halb so schlecht geschrieben hatte, als Du.«

Diese Bemerkung seiner Tochter veranlaßte Mr. Gallilee, einen Blick auf das Manuskript zu werfen. »Welch entsetzliche Krähenfüße!« rief er. »Darf ich versuchen, ob ich ein Wort herausbringen kann?«

»Versuchen kannst Du es schon,« antwortete Ovid lächelnd; »Du wirst dabei wenigstens die Entdeckung machen, daß die geduldigsten Menschen auf der civilisirten Erde die Buchdrucker sind.«

Mr. Gallilee versuchte es mit einer Rede, gab es aber auf, ehe er schwindelig wurde. »ist es nicht unbescheiden, zu fragen, was es ist?«

»Etwas leicht zu Fühlendes, aber schwer Auszudrückendes,« antwortete Ovid. »Diese schlecht geschriebenen Zeilen sind die von mir dem Andenken eines unbekannten und Unglücklichen gebrachte Dankesgabe.«

»Von welchem Du mir erzählt hast? —— der in Montreal gestorben ist?«

»Ja.«

»Du hast nie seinen Namen erwähnt.«

»Seine letzten Wünsche untersagten mir, denselben gegen irgend Jemanden zu erwähnen. Weiß Gott, er hatte wirklich erbärmliche Gründe, unbekannt zu sterben! Sein Grabstein trägt nur seine Anfangsbuchstaben und das Datum seines Todes. Aber,« fuhr Ovid mit Wärme fort, indem er die Hand auf sein Manuskript legte, »die Entdeckungen dieses großen Arztes sollen der Menschheit zu Gute kommen und was ihm zu verdanken ist, soll mit der Bewunderung und Ergebenheit, die ich wirklich für ihn empfinde, anerkannt werden!«

»In einem Buche?« fragte Mr. Gallilee.

»Ja, in einem Buche, das bereits im Druck ist und noch vor Neujahr erscheinen wird.«

Währenddessen hatte Zo, die hier im Zimmer nichts gefunden, was sie interessierte, die anliegende Kammer untersucht und kehrte nun aus derselben mit einem langem weißen, Alpenstock ähnlichen Stocke zurück, den sie hinter sich herzog. »Was ist dies hier?« fragte sie. »Ein Besenstiel?«

»Das ist ein Exemplar eines seltenen kanadischen Holzes, mein Schuß. Möchtest Du ihn gern haben?«

Zo nahm das Anerbieten als Ernst; sie sah das Exemplar an, das dreimal so groß war wie sie, und schüttelte den Kopf. »Ich bin noch nicht groß genug dazu,« meinte sie. »Sieh doch mal, Papa! Hiergegen ist Benjulia's Stock gar nichts.«

Dieser Name im Munde seiner Schwester hatte etwas Empörendes für Ovid. »Sprich nicht von dem Menschen,« sagte er ziemlich heftig.

»Darf ich nicht von ihm sprechen, wenn ich wünsche, daß er mich kitzeln soll?« fragte Zo.

Ovid schob sie ihrem Vater zu. »Bring’ sie jetzt fort,« flüsterte er demselben zu, »und laß sie diesen Menschen nie wiedersehen.«

Die Warnung war unnöthig, das Schicksal hatte entschieden, daß der Doktor und Zo sich nie wieder begegnen sollten.


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