Die Blinde



Neuntes Kapitel - Er überschreitet den Rubikon

Ich schwankte noch, ob ich in das Zimmer gehen oder draußen warten solle, bis sie wieder herauskommen werde, um nach dem Pfarrhause zurückzukehren, als Lucilla’s scharfes Gehör mein Bedenken beseitigte. Die Thür des Zimmers öffnete sich und Oscar trat auf den Vorplatz hinaus.

»Lucilla behauptet bestimmt, draußen Jemand zu hören«, sagte er. »Wer hätte denken können, daß Sie das seien? Warum stehen Sie hier auf dem Vorplatz? Treten Sie doch näher!«

Er öffnete die Thür, ich trat ein und er sagte zu Lucilla, daß ich es gewesen sei, die sie draußen gehört habe. Sie nahm keine Notiz von mir. In ihrem Schoße lagen Blumen aus Oscar’s Garten. Mit ihren geschickten Fingern sortirte sie dieselben, um ein Bouquet daraus zu machen, so rasch und so geschmackvoll, wie wenn sie sehen könne. Ihr reizendes Gesicht aber hatte, so lange ich sie kannte, keinen so harten Ausdruck gehabt wie jetzt. Niemand würde sie in diesem Augenblicke der sixtinischen Madonna ähnlich gefunden haben. Sie fühlte sich von mir beleidigt, tödtlich beleidigt, das sah ich mit einem Blick.

»Ich hoffe, Sie werden mein Eindringen hier vergeben, Lucilla, wenn Sie meinen Grund erfahren«, sagte ich. »Ich bin Ihnen hierher gefolgt, um mich bei Ihnen zu entschuldigen.

»O, es bedarf keiner Entschuldigung«, warf sie hin, ohne von ihren Blumen aufzublicken. »Es ist schade, daß Sie sich hierher bemüht haben. Ich bin ganz mit dem einverstanden, was Sie mir in unserm Garten sagten. In Betracht des Zweckes, den ich in Browndown hatte, durfte ich unmöglich erwarten, daß Sie mich begleiten würden. Das ist wahr, sehr wahr!«

Ich behielt meinen Gleichmuth. Nicht als ob ich, von Natur geduldig wäre, als ob ich ein sanftes Temperament besäße, weit entfernt, wie ich zu meinem Bedauern gestehen muß. Aber doch behielt ich noch meinen Gleichmuth.

»Ich wollte mich wegen dessen, was ich im Garten zu Ihnen gesagt habe, entschuldigen«, nahm ich wieder auf. »Ich habe in den Tag hineingesprochen, Lucilla. Aber Sie unmöglich glauben, daß ich Sie absichtlich habe beleidigen wollen.«

Aber ich hätte ebenso gut einen Stuhl anreden können. Ihre ganze Aufmerksamkeit war durch das gespannte Interesse, mit welchem sie an ihrem Bouquet arbeitete, absorbirt.

»War ich denn beleidigt?« fragte sie, fortwährend auf ihre Blumen blickend. »Wenn ich es war, so war es außerordentlich thöricht von mir.« Plötzlich schien sie sich meiner Gegenwart bewußt zu werden. »Sie hatten ja das vollkommenste Recht, Ihre Meinung zu äußern«, sagte Sie im Tone vornehmer Herablassung. »Ich muß mich bei Ihnen entschuldigen, wenn es den Anschein gehabt, als wolle ich Ihnen dieses Recht bestreiten.«

Dabei warf sie ihr niedliches Köpfchen in den Nacken, erröthete tief und stampfte mit ihren zierlichen Füßchen ungestüm auf den Boden. O, Lucilla! Lucilla! Ich blieb noch immer. Dieses Mal, wie ich bekennen muß, mehr um Oscar’s als um LucillaIs willen. Der arme Mensch sah so unglücklich aus, so ängstlich beflissen, sich ins Mittel zu legen, ohne recht zu wissen warum.

»Liebe Lucilla«, fing er an, »Du könntest doch wohl Madame Pratolungo eine Antwort geben.«

Ungestüm unterbrach sie ihn, indem sie den Kopf noch heftiger in den Nacken warf als vorher.

»Ich unternehme es gar nicht, Madame Pratolungo zu antworten. Ich ziehe es vor, zuzugeben, daß Madame Pratolungo vielleicht ganz Recht gehabt hat. Es ist gewiß wahr, daß ich mich in den ersten besten Mann, der meines Weges kommt, verliebe. Ich glaube auch, daß wenn ich Deinem Bruder eher als Dir begegnet wäre, ich mich in ihn verliebt haben würde — sehr wahrscheinlich.«

»Sehr wahrscheinlich, wie Du richtig sagst«, erwiderte der arme Oscar ganz demüthig. »Ich betrachte es als ein großes Glück für mich, daß Du nicht Nugent früher als mir begegnet bist.«

Sie warf ihren Schoß voll Blumen auf den Tisch, vor welchem sie saß. Sie war ganz wüthend auf ihn, weil er meine Parthie nahm. Ich gestattete mir ein harmloses Lächeln, das ja das arme Kind nicht sehen konnte.

»Du bist also Madame Pratolungo’s Meinung sagte sie grimmig. »Madame Pratolungo findet Deinen Bruder viel liebenswürdiger als Dich.

Der demüthige Oscar nickte melancholisch mit dem Kopfe zum Zeichen der Anerkennung dieser selbstverständlichen Thatsache. »Darüber kann es ja gar keine zwei Meinungen geben«, sagte er resignirt.

Sie stampfte mit dem Fuße so heftig auf den Teppich, daß der Staub wie in einer kleinen Wolke aufwirbelte. Meine Lungen sind bisweilen delicat. Ich gestattete mir dieses Mal ebenso harmlos ein leichtes Husten. Das Husten entging ihr natürlich nicht und sie nahm sich plötzlich zusammen. Ich fürchte, sie nahm mein Husten für einen Commentar zu dem, was vorging.

»Komm’ her, Oscar«, sagte sie mit völlig verändertem Tone und Wesen. »Komme her und setze Dich zu mir.«

Oscar gehorchte.

»Schlinge Deinen Arm um mich.«

Oscar sah mich an. Da er sehen konnte, war er sich bewußt, wie albern die von ihm verlangte Zärtlichkeitsbezeugung in Gegenwart einer dritten Person sich ausnehmen müsse. Das arme Kind aber war in seiner Blindheit ganz unempfindlich gegen alle nur dem Auge zugänglichen Eindrücke des Lächerlichsten und machte sich nichts aus der Gegenwart einer dritten Person. Este wiederholte ihre Befehle in einem Ton, der deutlich sagte: »Umarme mich, ich lasse nicht mit mir spaßen!«

Oscar schlang schüchtern seinen Arm um sie, während er mir einen bittenden Blick zuwarf. Sofort erließ sie einen zweiten Befehl .

»Sage, daß Du mich liebst.« Oscar zauderte.

»Sprich doch, sage, daß Du mich liebst.«

Oscar flüsterte die verlangten Worte.

»Heraus damit, laut!«

Die Geduld hat ihre Grenzen; ich fing an die meinige zu verlieren. Sie hätte nicht rücksichtsloser ihre Gleichgültigkeit gegen die Gegenwart eines dritten Geschöpfes an den Tag legen können, wenn statt meiner eine Katze im Zimmer gewesen wäre.

»Erlauben Sie mir, Sie darauf aufmerksam zu machen«, sagte ich, »daß ich das Zimmer nicht, wie Sie anzunehmen scheinen, verlassen habe.«

Sie nahm auch von dieser Aeußerung keine Notiz. Sie fuhr mit ihren Erlassen fort und schien dabei von einem unwiderstehlichen Drang zu immer gesteigerten Ansprüchen an Oscar’s Zärtlichkeit getrieben zu werden.«

»Küsse mich.«

Der unglückliche Oscar, der sich zwischen zwei Feuer gestellt fand, erröthete, wie ich trotz seiner Gesichtsfarbe deutlich zu erkennen vermochte.

Ich hielt es für nöthig, Lucilla noch einmal auf meine Gegenwart aufmerksam zu machen.

»Mich hält nur Eines hier im Zimmer zurück, Fräulein Finch, ich möchte nur wissen, ob Sie sich weigern, meine Entschuldigungen anzunehmen.«

»Oscar küsse mich.«

Er zauderte noch immer. Sie umschlang ihn mit ihrem Arm. Jetzt konnte ich über das, was ich mir selbst schuldig war, nicht länger zweifelhaft sein; ich mußte hinausgehen.

»Adieu, Herr Dubourg«, sagte ich und ging nach der Thür. Sie hörte mich durchs Zimmer gehen und rief mich zurück. Ich stand still. An der Wand mir gegenüber hing ein Spiegel, der mir sagte, daß ich beim Stillstehen eine sehr passende Stellung angenommen hatte. In meiner Haltung lag durch Würde erhöhte Grazie und durch Grazie erhöhte Würde.

»Madame Pratolungo.

»Fräulein Finch?«

»Hier sehen Sie den Mann, der nicht halb so liebenswürdig ist wie sein Bruder.«

Sie drückte ihn noch enger an sich und gab ihm mit Ostentation den Kuß, den ihr zu geben er sich geschämt hatte. Mit dem Ausdruck der Verachtung ging ich schweigend weiter der Thür zu. Jetzt drückte meine Haltung eine Mischung von Verachtung und Betrübniß aus.

»Madame Pratolungo!«

Ich gab keine Antwort.

»Sehen Sie doch, hier ist der Mann, den ich nie geliebt haben würde, wenn ich zufällig seinem Bruder zuerst begegnet wäre!«

Dabei umschlang sie ihn mit beiden Armen und überschüttete ihn mit Küssen. Die Thür, die schon bei meinem Eintritt nicht fest geschlossen gewesen war, stand auch jetzt nur angelehnt Ich stieß sie auf, ging auf den Vorplatz hinaus und fand mich Nugent Dubourg gegenüber, der, seinen Brief aus Liverpool in der Hand haltend, am Tische stand. Er mußte, wenn nicht mehr, doch mindestens die letzten Worte Lucilla’s, mit welchen sie meine eigenen, früher gesprochenen Worte verhöhnte, gehört haben. Ich blieb stehen und sah ihn überrascht und schweigend an. Er lächelte und hielt mir den geöffneten Brief hin. Bevor noch, einer von uns ein Wort hatte sagen können, hörten wir, wie Oscar die Thür im Hinausgehen geschlossen hatte und mir gefolgt war, um Lucilla’s Benehmen bei mir zu entschuldigen. Er erklärte seinem Bruder, was vorgefallen sei. Nugent lächelte und klopfte mit schlauem Blick auf seinen geöffneten Brief. »Laß mich nur machen. Ich werde Euch etwas Besseres zu thun geben, als Euch mit einander zu zanken. Was es ist, sollt Ihr gleich hören. Inzwischen möchte ich etwas an unsern Freund im Gasthof ausgerichtet haben. Gootheridge wird gleich herkommen, um mit mir über eine Veränderung seines Stalles zu reden. Bitte, sage ihm sogleich Bescheid, daß ich etwas anderes zu thun habe und ihn heute nicht sprechen könne. Halt! Gieb ihm doch auch dies und bitte ihn, es im Pfarrhause abzugeben.«

Er nahm eine Visitenkarte aus seinem Etui, schrieb mit einem Bleistift ein paar Zeilen auf dieselbe und gab sie seinem Bruder Oscar, der immer bereit, Besorgungen für seinen Bruder zu machen, unverzüglich dem Gasthaus entgegenging; Nugent aber wandte sich zu mir und sagte:

»Der Deutsche ist in England angekommen, jetzt darf ich reden.«

»Mit einem Mal?« rief ich aus.

»Ja! Ich habe, wie Sie gehört haben, meine eigenen Angelegenheiten dieser Sache wegen hintenangesetzt. Mein Freund trifft morgen in London ein. Ich denke mir noch heute Ermächtigung, ihn zu consultiren, auszuwirken und morgen nach London abzureisen. Machen Sie sich darauf gefaßt, eine der sonderbarsten Persönlichkeiten kennen zu lernen, die Ihnen je vorgekommen ist. Sie haben ja gesehen, daß ich etwas auf meine Visitenkarte geschrieben habe. Es war eine Botschaft an Herrn Finch, den ich gebeten habe, sich sofort wegen einer wichtigen Familienangelegenheit zu uns nach Browndown zu bemühen. Als Lucilla’s Vater hat er eine Stimme bei dieser Angelegenheit. Wenn Oscar zurückkommt und wenn der Pfarrer sich einstellt. wird unser häuslicher Familienrath beisammen sein.

Er sprach und bewegte sich wieder mit seiner gewohnten Lebhaftigkeit und war wieder ganz derselbe geworden .

»Ich war in Gefahr, hier einzurosten,«, fuhr er fort, als er sah, daß mir die mit ihm vorgegangene Veränderung auffiel. »Jetzt macht mich die Aussicht, etwas zu thun zu haben, wieder lebendig. Ich bin nicht wie Oscar, ich muß eine Thätigkeit haben, die mein Blut aufregt, die mich vor dem Brüten über meine Sorgen bewahrt. Was meinen Sie, wie ich bei dem Proceß meines Bruders die Zeugen gefunden, welche seine Unschuld bewiesen? Ich will es Ihnen sagen. Ich sagte mir, ich werde wahnsinnig, wenn ich nicht etwas zu thun habe; ich machte mir etwas zu thun und rettete Oscar das Leben. Jetzt werde ich mir wieder etwas zu thun machen. Merken Sie wohl, was ich sage! Jetzt, wo ich mich der Sache annehme, wird Lucilla ihre Sehkraft wieder erlangen.«

»Es handelt sich da um eine ernste Angelegenheit«, sagte ich, »bitte, lassen Sie ihr eine reifliche Erwägung angedeihen.«

»Reifliche Erwägung?« wiederholte er, »das Wort hasse ich. Ich entscheide mich immer im Augenblick Wenn ich Lucilla’s Fall falsch beurtheile, so kann doch Erwägung da zu nichts helfen. Wenn ich aber in meiner Auffassung recht habe, so ist jeder Tag Aufschub ein Tag verlängerter Blindheit für unsere arme Freundin. Ich erwarte nur noch Oscar und Herrn Finch, um die Verhandlung über diese Angelegenheit zu eröffnen. Aber warum stehen wir hier auf dem Vorplatz? Treten Sie doch näher.

Er ging voran in«s Wohnzimmer.

Ich hatte jetzt nur noch mehr Grund zurückzubleiben. Lucilla’s Benehmen präoccupirte mich noch immer. Wie, wenn sie mich mit erneueter Kälte und noch ausgesprochenerer Geringschätzung behandeln? Ich blieb an dem Tische auf dem Vorplatz stehen. Nugent sah sich über seine Schulter hinweg nach mir um.

»Unsinn, ich will die Sache schon wieder in’s Gleiche bringen. Es ist unter der Würde einer Frau wie Sie, Notiz von dem zu nehmen, was ein Mädchen in ihrer üblen Laune sagt. Kommen Sie herein!«

Ich zweifle, ob ich irgend einem anderen Menschen zu Gefallen nachgegeben haben würde; aber einige Menschen üben unleugbar eine magnetische Herrschaft über andere aus. So war es mit Nugent und mir. Gegen meinen Willen, denn ich fühlte mich wirklich durch Lucilla’s Benehmen gegen mich verletzt und beleidigt, kehrte ich mit ihm wieder in das Zimmer zurück.

Lucilla saß noch an derselben Stelle, wo sie gesessen hatte, als ich hinausgegangen war. Als sie die Thür sich öffnen und die Fußtritte eines Mannes erschallen hörte, nahm sie natürlich an, der Mann sei Oscar. Sie hatte, als er das Zimmer verließ, um mir zu folgen, seine Absicht errathen und das hatte ihre Laune nicht verbessert.

»O«, sagte sie, »bist Du endlich wieder da? Ich dachte, Du hättest Dich Madame Pratolungo als Begleiter nach dem Pfarrhause angeboten.« Plötzlich runzelte sie die Stirn und hielt inne. Mit ihrem feinen Ohr hatte sie auch mein Wiedereintreten ins Zimmer gehört. »Oscar«, rief sie aus, »was hat das zu bedeuten? Madame Pratolungo und ich haben uns einander nichts mehr zu sagen. Warum ist sie wieder hergekommen? Warum antwortest Du mir nicht? Das ist ja abscheulich. Ich werde das Zimmer verlassen!«

Sie brachte diese Drohung so rasch zur Ausführung daß; noch ehe Nugent, der zwischen ihr und der Thür stand, ihr aus dem Wege gehen konnte, sie heftig gegen ihn anlief.

Sie ergriff sofort seinen Arm und schüttelte ihn zornig. »Was hat Dein Schweigen zu bedeuten? Insultirst Du mich auf Madame Pratolungo’s Antrieb?«

Ich hatte eben den Mund geöffnet, um mit einigen beruhigenden Worten noch einen Versuch zur Versöhnung zu machen — als sie mir den letzten Stich versetzte.

Mein französisches Blut vermochte nicht mehr zu ertragen. Wüthend kehrte ich ihr den Rücken.

In demselben Augenblick erglänzten Nugent’s Augen, als ob ihm auf einmal eine neue Idee aufgegangen wäre. Er warf mir einen bedeutungsvollen Blick zu und antwortete ihr in der Person seines Bruders. Ob ihn in jenem Augenblick ein böser Dämon besaß, oder ob er die Absicht hatte, für Oscar, bevor er zurückkäme, Verzeihung zu erwirken — das vermag ich nicht zu sagen. Ich hatte dem Einhalt thun sollen, ich weiß es wohl. Aber ich war leidenschaftlich erregt; ich war boshaft wie eine Katze und grimmig wie ein Bär. Ich dachte bei mir, sie muß geduckt werden. Ganz recht, Herr Nugent, ducken Sie sie nur. Das war abscheulich, schmachvoll von mir! Keine Worte sind stark genug, mein Betragen zu richten, schone mich nicht, lieber Leser. O Himmel! Was ist ein wüthender Mensch? Nichts als eine Bestie. Das nächste Mal, wo es Dir, lieber Leser, begegnet, in Wuth zu gerathen, sieh Dich im Spiegel und Du wirst finden, daß der Ausdruck Deiner menschlichen Seele von Deinem Gesichte gewichen und nichts übrig geblieben ist, als ein Thier und zwar ein bösartiges nichtswürdiges Thier!

»Du fragst, was mein Schweigen zu bedeuten hat?« sagte Nugent.

Er brauchte nur seine Articulation ein wenig nach der langsameren Weise seines Bruders umzuwandeln, um ganz wie dieser zu reden. Er that das schon bei ihren ersten Worten so geschickt, daß ich, wenn ich ihn nicht vor mir stehen gesehen hätte, geschworen hätte, daß Oscar im Zimmer sei.

»Ja«, sagte sie, »das frage ich.

»Ich schweige«, antwortete er, »weil ich warte.«

»Und worauf wartest Du?«

»Darauf, daß Du Dich bei Madame Pratolungo entschuldigst.

Sie fuhr einen Schritt zurück. Zum ersten Mal in seinem Leben nahm der so demüthig ergebene Oscar einen gebietenden Ton gegen sie an. Und der ergebene Oscar fuhr, anstatt ihr Zeit zum Reden zu lassen, rücksichtslos fort.

»Madame Pratolungo hat sich bei Dir entschuldigt. Du solltest ihre Entschuldigung annehmen und dieselbe erwidern. Es ist betrübend, Dich zu sehen und zu hören. Du benimmst Dich undankbar gegen Deine beste Freundin.«

Sie richtete sich hoch auf und schien starr vor Staunen, sie sah aus, als ob sie ihren eigenen Ohren nicht traue.

»Oscar!« rief sie aus.

»Da bin ich«, sagte in demselben Augenblick der in die Thür tretende Oscar.

Wie ein Blitz flog sie nach der Stelle hin, von wo er gesprochen hatte. Durch einen geltenden Schrei der Entrüstung gab sie zu erkennen, daß sie den Betrug, den Nugent sich mit ihr erlaubt hattet entdeckt habe. Oscar eilte bestürzt auf sie zu. Heftig stieß sie ihn von sich.

»Ein schlechter Streich«, rief sie. »Ein gemeiner, niederträchtiger, feiger, meiner Blindheit gespielter Streich! Oscar! Dein Bruder hat Dich nachgeahmt; Dein Bruder hat mit Deiner Stimme zu mir gesprochen. Und diese Frau, die sich meine Freundin nennt, stand dabei und sagte mir nichts. Sie ermuthigte ihn dazu, sie freute sich darüber. Die Nichtswürdigen! Führe mich fort von ihnen. Sie sind jedes Betruges fähig. Sie hat Dich, lieber Oscar von Anfang an gehaßt, von dem Augenblick an, wo Dein Bruder herkam, hat sie es mit ihm gehalten, wir wollen uns auch nicht in Dimchurch, wir wollen uns an einem Orte trauen lassen, von dem sie nichts wissen. Sie haben sich mit einander gegen Dich und gegen mich verschworen. Hüte Dich, hüte Dich vor ihnen! Sie hat gesagt, ich würde mich in Deinen Bruder verliebt haben, wenn ich ihm zuerst begegnet wäre. Dahinter steckt, daß sie uns veruneinigen wollen, wenn sie können. Ha! Ich höre Jemand sich bewegen! Hat er sich an Deinen Platz gestellt? Rede ich jetzt mit Dir? O, meine Blindheit, meine Blindheit O Gott, von allen Deinen Geschöpfen sind die hilflosesten, die elendesten, die nicht sehen können!«

Noch nie in meinem ganzen Leben hatte ich etwas so Klägliches und Schreckliches gehört, wie die Aeußerungen wahnsinnigen Argwohns und Jammers, welche sich ihrem Innern in jenen Worten entrungen. Ihre Klagetöne zerschnitten mir das Herz. Ich war voreilig in meinen Worten gewesen, ich hatte mich schlecht benommen, aber das hatte ich nicht verdient. Ich warf mich in einen Sessel und brach in Thränen aus. Meine Thränen brannten wie Feuer; mein Schluchzen drohte mich zu ersticken. Hätte ich Gift bei der Hand gehabt, ich hätte es genommen, so außer mir und so namenlos unglücklich, so tief gekränkt in meiner Ehre und so bis in das innerste Herz verwundet fühlte ich mich.

Der Einzige, der ihr zu antworten wagte, war Nugent. Ohne im Mindesten an die Folgen zu denken, richtete er von dem anderen Ende des Zimmers aus mit seiner unverstellten Stimme die inhaltsschwere Frage an sie, welche noch nie ein menschliches Wesen gethan hatte.

»Wissen Sie so gewiß, Lucilla, daß Sie dazu verurtheilt sind, Ihr Lebelang blind zu sein?«

Tiefes Schweigen folgte diesen Worten.

Ich wischte mir die Thränen aus den Augen und blickte auf.

Oscar hatte sie in seinen Armen gehalten und sie schweigend zu beschwichtigen gesucht, während sein Bruder sprach.

In dem Augenblick, wo ich meine Blicke wieder auf sie richtete, hatte sie sich gerade von ihm losgemacht. Sie that einen Schritt vorwärts, nach der Stelle zu, wo Nugent stand und blieb dann wieder, das Gesicht ihm zugekehrt, stehen. Ihr ganzes Wesen schien durch den Gedanken, den er in ihr wachgerufen hatte, wie in der Schwebe gehalten. Noch nie seit ihrer frühesten Kindheit, während all’ der Jahre ihres jungfräulichen Lebens, hatte ihr bis zu diesem Augenblick weder wachend noch träumend die Aussicht einer Wiederherstellung ihrer Sehkraft als möglich vorgeschwebt. Keine Spur von dem Ausdruck der Entrüstung, welchen Nugent noch einen Augenblick vorher in ihr hervorgerufen hatte, war in ihrem Gesichte mehr zu lesen. Kein Anzeichen einer Wiederkehr des qualvollen nervösen Unbehagens, welches ihr das Bewußtsein seiner Gegenwart einige Stunden früher bereitet hatte, war jetzt an ihr wahrzunehmen. Die einzige Empfindung, die sich ihrer ganz bemächtigt hatte, war Erstaunen, stummes Erstaunen, das, athemlos aufhorchend, mehr zu hören verlangte.

Mein nächster Blick galt Oscar. Seine Augen waren auf Lucilla geheftet, ganz in ihre Betrachtung versunken. Ohne Nugent anzusehen, sagte er, getrieben wie es schien von einer vagen Furcht für Lucilla, welche sich langsam zu einer vagen Furcht für ihn selbst entwickelte:

»Bedenke wohl, was Du thust, Nugent! Sieh sie an, sieh sie an.«

Nugent näherte sich seinem Bruder auf einem Umwege, so daß Oscar zwischen ihm und Lucilla zu stehen kam.

»Habe ich Dich beleidigt?« fragte er.

Oscar sah ihn erstaunt an. »Mich beleidigt?« erwiderte er, »nach Allem, was Du mir vergeben und für mich gelitten hast?«

»Aber doch«, beharrte Nugent, »ist Dir etwas nicht recht.«

»Ich bin erschrocken, Nugent!«

»Erschrocken — wodurch?«

»Durch die Frage, die Du eben an Lucilla gerichtet hast.«

»Ihr werdet mich beide gleich verstehen.«

Während die Brüder diese Worte wechselten, beobachtete ich Lucilla mit gespannter Aufmerksamkeit. Sie hatte ihren Kopf langsam der Stelle zugekehrt, von der aus Nugent eben mit Oscar gesprochen hatte. Das war das einzige, was ihr nicht entgangen war. Von dem, was die beiden Männer miteinander gesprochen hatten, schien sie keine Ahnung zu haben. Allem Anscheine nach hatte sie seit dem Augenblicke, wo Nugent den ersten Zweifel, ob sie ihr Lebelang in Blindheit verharren müsse, in ihr geweckt hatte, nichts mehr gehört.

»Sprecht mit ihr«, sagte ich. »Um Gottes willen, laßt sie jetzt nicht länger in Ungewißheit!«.

Nugent redete sie an.

»Sie haben Ursache gehabt, böse auf mich zu sein, Lucilla. Lassen Sie mich Ihnen jetzt wo möglich Ursache geben, mir dankbar zu sein. Während meines Aufenthalts in Newport wurde ich mit einem deutschen Arzte bekannt, der sich durch seine Geschicklichkeit in der Behandlung von Augenkrankheiten einen großen Ruf erworben hatte. Seine glänzendsten Erfolge hat er durch die Heilung von solchen Erblindungen errungen, welche von anderen Aerzten für hoffnungslos erklärt worden waren. Ich sprach mit ihm von Ihrem Falle. » Er konnte selbstverständlich, ehe er Ihre Augen untersucht hatte, nichts Positives sagen. Alles was er thun konnte war, daß er mir für die Zeit seines Aufenthaltes in England seine Dienste zur Verfügung stellte. Ich meinesteils kann mich nicht entschließen, Sie als zu lebenslänglicher Blindheit verurtheilt zu betrachten, Lucilla, bis dieser ausgezeichnete Mann Ihren Fall für ebenso hoffnungslos erklärte, wie es die englischen Aerzte gethan haben. Wenn noch die entfernteste Möglichkeit vorhanden ist, Ihre Sehkraft wieder herzustellen, so ist seine Hand, davon bin ich fest überzeugt, die einzige, die dazu im Stande ist. Er ist augenblicklich in England. Sprechen Sie das Wort aus und ich bringe ihn zu Ihnen nach Dinrchurch.«

Langsam erhob sie die Hände und legte sie an ihren Kopf, wie wenn sie sich ihres Verstandes versichern wollte. Noch einmal wurde sie abwechselnd blaß und roth. Dann that sie einen langen schweren Athemzug, schien sich von ihrer Bestürzung zu erholen und ließ die Hände wieder sinken. Und nun ging eine Veränderung mit ihr vor, die wir Alle in athemloser Spannung mit ansahen. Es war ein schöner, ein furchtbarer Anblick. Eine stumme Ekstase der Hoffnung verklärte ihr Antlitz, ein himmlisch heiteres Lächeln umspielte ihre Lippen. Sie stand unter uns und schien doch fern von uns zu sein. In dem ruhigen Licht der Abendsonne, welches durch das Fenster auf sie fiel, stand sie da, wie verzückt, als sähe sie sich im Geiste in ferne, schöne Sphären entrückt. Einen Augenblick erfüllte sie mich mit Bewunderung, im nächsten mit Furcht. Beide Männer hatten denselben Eindruck, Beide gaben mir ein Zeichen, sie zuerst anzureden.

Ich trat einige Schritte vor, während ich mir zu überlegen versuchte, was ich sagen solle. Umsonst; ich konnte weder denken noch sprechen. Ich konnte sie nur ansehen; ich konnte nichts thun, als in nervöser Erregung »Lucilla« rufen.

Sie fuhr leicht zusammen, erröthete abermals und war wieder auf der Erde, war wieder bei uns. Sie wandte sich der Stelle zu, von der aus ich sie angeredet hatte und flüsterte:

»Kommen Sie her.«

Im nächsten Augenblick hatte ich sie mit meinen Armen umschlungen, und ließ ihren Kopf an meinen Busen sinken. Ohne ein Wort gesprochen zu haben, hatten wir uns versöhnt. In einem Augenblick waren wir wieder Freundinnen, Schwestern.

»War ich ohnmächtig? habe ich geschlafen?« fragte sie mich mit schwacher Stimme. »Bin ich eben aufgewacht? Ist dies Browndown?« Plötzlich richtete sie sich auf: »Nugent! sind Sie da?«

»Ja.«

Sanft entwand sie sich meiner Umarmung und näherte sich Nugent.

»Haben Sie eben mit mir gesprochen? Waren Sie es, der den Zweifel in mir wachrief, ob ich wirklich zu lebenslänglicher Blindheit verurtheilt sei? Ich habe mir das doch nicht eingebildet? Sie haben doch wirklich gesagt, der Mann werde herkommen und die Zeit werde kommen?« Plötzlich wurde ihre Stimme lauter: »Der Mann, der mich vielleicht heilen wird! Die Zeit, wo ich vielleicht wieder sehen werde!«

»Das habe ich gesagt, Lucilla! und das habe ich gemeint!«

»Oscar! Oscar!« Ich trat auf sie zu, um sie zu ihm zu führen. Nugent berührte mich leicht und deutete auf Oscar, als ich ihre Hand ergriff. Er stand mit einem Ausdruck der Verzweiflung, den ich noch deutlich vor mir sehe, während ich diese Zeilen schreibe, dicht vor dem Spiegel und betrachtete schweigend das widerwärtige Abbild seines Gesicht’s. Von Mitleid überwältigt, zauderte ich, sie zu ihm zu führen. Aber sie trat vor, streckte die Hand aus und berührte seine Schulter. Das Bild ihres reizendes Gesichts erschien über dem seinigen im Spiegel. Fröhlich neigte sie sich, beide Hände auf seine Schultern legend, über ihn hin und, sagte: »Die Zeit wird kommen, mein Liebsten wo ich Dich sehen werdet!«

Mit einem Freudenschrei zog sie sein Gesicht an sich heran und küßte ihn auf die Stirn. Kaum aber hatte sie seinen Kopf wieder losgelassen, als er denselben auf die Brust sinken ließ, sein Gesicht mit beiden Händen bedeckte, und für den Augenblick jeden äußeren Ausdruck seines Kummers gewaltsam niederdrückte. Ich zog sie rasch von ihm weg, bevor ihr feines Gefühl Zeit haben möchte, sie merken zu lassen, daß hier etwas nicht in Ordnung sei. Aber schon jetzt widersetzte sie sich mir, schon jetzt fragte sie argwöhnisch: »Warum ziehen Sie mich von ihm fort?«

Was sollte ich zu meiner Entschuldigung sagen? Ich wußte mir nicht zu helfen. Sie wiederholte die Frage; aber dieses eine Mal war uns das Glück günstig. Ein rechtzeitiges Klopfen an die Thür that ihr gerade in dem Augenblick, wo sie sich von mir loszumachen versuchte, Einhalt.

»Es klopft Jemand«, sagte ich. In demselben Augenblick trat der Diener mit einem Brief aus dem Pfarrhaufe ein.


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