Zwei Schicksalswege

Dreiunddreißigstes Kapitel

Ein letzter Blick auf die Grünwasserfläche

Der Weg durch die hellen, leeren Straßen und das Einatmen der frischen Morgenluft ermutigten mich.

Indem ich in der Richtung nach Osten die große Stadt durchschritt, ging ich in das erste Reisebüro, das ich antraf, um mir einen Platz in dem Postwagen nach Ipswich zu sichern. Von dort reiste ich mit Postpferden nach dem der Grünwasserfläche zunächst gelegenen Marktflecken. Am kühlen Abende durchwanderte ich einige Meilen weit die wohlbekannten Nebenwege, die mich zu unserem alten Hause führten. Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne beleuchteten die wohlbekannte Fensterreihe an der Front des Hauses und ich sah, dass alle Laden geschlossen waren. Ringsumher war kein lebendes Wesen zu sehen. Als ich an der großen Türklingel schellte, bellte nicht einmal ein Hund. Die Besitzung war verlassen, das Haus verschlossen.

Nach langem Warten vernahm ich auf dem Flur schwere Fußtritte. Ein alter Mann öffnete die Tür. Ich erkannte ihn, trotzdem er sich verändert hatte, als einen unserer Pächter aus früherer Zeit. Zu seinem Erstaunen redete ich ihn bei seinem Namen an. Er, seinerseits, strengte sich ernstlich, aber vergebens an, mich wieder zu erkennen. Ohne Zweifel war ich es von uns beiden, mit dem die schmerzlichste Veränderung vorgegangen war - es blieb mir nichts übrig, als mich selbst vorzustellen Das welke Gesicht des armen Burschen erhellte sich langsam und schüchtern, als wäre er halb unfähig, halb besorgt, sich den ungewohnten Luxus eines Lächelns zu gestatten. Er begrüßte mich in seiner Verwirrung mit einem: »Willkommen daheim,« als ob das Haus mir noch gehörte!

Der gute alte Mann führte mich in die kleine Hinterstube, die er bewohnte, und gab mir Alles, was er zu bieten hatte - ein Abendessen von Speck und Eiern und dazu ein Glas selbst gebrauten Bieres. Augenscheinlich war es ihm schwer, zu begreifen, dass der einzige Zweck meines Besuches, wie ich ihm versicherte, nur darin bestand, dass ich noch einmal die traulichen Umgebungen meiner alten Heimat wiedersehen wollte. Er stellte mir aber bereitwilligst seine Dienste zur Verfügung und versprach, wenn ich es wünschte, sein bestes zu tun, um mir für die Nacht ein Bett aufzuschlagen.

Seit länger als einem Jahre war das Haus geschlossen und die Dienerschaft entlassen. Der reiche Kaufmann, der sich zur Zeit unserer häuslichen Sorgen hierher zurückgezogen hatte und uns das Haus abmietete, hatte noch im späteren Leben eine Leidenschaft für Rennpferde gefasst und sich dadurch zu Grunde gerichtet. Er war mit seiner Frau in das Ausland gegangen und lebte dort von dem kleinen Einkommen, das aus den Trümmern seines Vermögens gerettet war; das Haus und die Ländereien hatte er in einem so verwahrlosten Zustande zurückgelassen, dass sich bisher noch kein neuer Pächter dafür gefunden hatte. Mein alter Freund nun, der nicht mehr arbeitsfähig war, beaufsichtigte die Besitzung. Dermodys Häuschen war ebenfalls leer und so konnte ich es nach Wohlgefallen ganz und gar durchwandern. Der Hausschlüssel war mit anderen Schlüsseln an einem Bunde befestigt und der alte Mann stand, mit seinem alten Hut auf dem Kopfe, bereit mich zu begleiten, wohin ich immer gehen wollte. Ich lehnte seine Begleitung sowohl, als seine Absicht, mir in dem einsamen Hause ein Bett zu bereiten, ab, weil ich ihn nicht bemühen wolle. Die Nacht war schön, der Mond ging eben auf. Ich hatte zu Abend gegessen und mich ausgeruht. Wenn ich die Orte aufgesucht hatte, die ich wiederzusehen wünschte, so konnte ich sehr wohl nach dem Marktflecken zurückgehen und dort in meinem Gasthause übernachten.

Ich begab mich, mit dem Schlüssel in der Hand, allein durch die Felder auf den Weg nach Dermodys Hause.

Wiederum verfolgte ich nun den Waldweg, auf dem ich einst so glücklich mit meiner kleinen Mary dahinwanderte. Bei jedem Schritt erblickte ich irgend etwas, was mich an sie erinnerte. Hier stand die ländliche Bank, auf der wir im Schatten des alten Zederbaumes saßen und uns Treue bis an unser Lebensende schworen. Dort plätscherte der kleine, klare Bach, aus dem wir an schwülen Sommertagen, wenn wir müde und durstig waren, zu trinken pflegten, fröhlich wie sonst in den See herab. Mir war es immer, wie ich seinem kameradschaftlichen Gemurmel lauschte, als müsste sie in ihrem einfachen, weißen Kleide und Strohhut hier erscheinen, wie sonst, wo sie die Musik des Baches mit ihrem Gesang begleitete und ihren Strauß von Feldblumen erfrischte, indem sie ihn in das kühle Wasser tauchte. Einige Schritte weiter vorwärts erreichte ich eine Lichtung im Walde und stand auf einem kleinen Vorgebirge, das die lieblichste Aussicht über den Grünwassersee bot. Von dem Ufer aus war ein hölzernes Gerüst angebracht, das für gute Schwimmer, die einen Sprung in das tiefe Wasser nicht fürchteten, Gelegenheit zum Baden bot. Dahin stellte ich mich und schaute rings umher. Die Bäume, die das Ufer von beiden Seiten einfassten, rauschten ihren süßen Waldgesang durch die nächtliche Stille, das Licht des Mondes zitterte leise auf den plätschernden Wellen. Weiter zur Rechten erblickte ich gerade das alte hölzerne Dach, unter dessem Schutze in jenen Tagen, wo Mary mit mir in den See hinaus fuhr und mir die grüne Flagge stickte, mein Boot lag. Zu meiner Linken lag der hölzerne Zaun, der den Windungen der sich schlängelnden kleinen Bucht folgte, und dahinter erhoben sich die braunen Bogen des Entenfanges, der, weil er nicht benutzt wurde, im Begriff stand, zu verfallen. Von dem strahlenden Mondlicht begünstigt, konnte ich die Stelle sehen, wo Mary und ich gestanden hatten, um das Einfangen der Enten zu beobachten. Jetzt schritt durch das Loch im Zaun, durch das der zum Entenfang dressierte Hund sich auf Dermodys Signal gezeigt hatte, wie ein düsterer Schatten auf dem erleuchteten Boden, eine Wasserratte und verschwand im See. Wohin ich meine Blicke auch wenden mochte, von überall her blickte die Vergangenheit mich wie höhnend an und ihre Stimmen trafen vorwurfsbeladen an mein Ohr: Sieh, wie Dein Leben einst war! Ist jetzt Dein Leben des Lebens noch wert?

Ich hob einen Stein auf und warf ihn in das Wasser. Dann beobachtete ich, wie das Wasser sich um die Stelle ringelte, an er er versank. Ich überdachte mir, ob wohl je ein geübter Schwimmer, wie ich es war, versucht hatte, sich durch Ertrinken den Tod zu geben und an seinem Entschluss zu sterben so fest gehalten hätte, dass er der Versuchung, sich durch seine eigene Geschicklichkeit vor dem Versinken zu bewahren, widerstanden. Ich fühlte mich sehr erregt, ob durch den Anblick des Sees oder durch irgend etwas, was mit den Gedanken in Verbindung stand, die er in mir erweckt hatte, weiß ich nicht. Ich kehrte aber plötzlich der schönen Aussicht den Rücken und schlug den Waldweg ein, der zu dem Hause des Vogtes führte.

Als ich die Tür aufgeschlossen hatte, tastete ich mich bis zu dem wohlbekannten Wohnzimmer vorwärts und öffnete die Fensterladen, um das Mondlicht hineinscheinen zu lassen.

Mit schwerem Herzen blickte ich um mich her. In jedem Teil des Zimmers machte die veraltete Einrichtung, die an einer oder zwei Stellen erneuert war, ihr stummes Anrecht an meine alte Bekanntschaft geltend. Das sanfte Mondlicht strömte quer durch das Zimmer in die Ecke, in der Mary und ich zusammenzusitzen pflegten, während Dame Dermody am Fenster in ihren mystischen Büchern las. In der entgegengesetzten Ecke entdeckte ich, von der Dunkelheit verhüllt den hochlehnigen Armstuhl von geschnitztem Eichenholz, in welchem die Sybille des Hauses an jenem denkwürdigen Tage saß, als sie uns von unserer bevorstehenden Trennung sprach und zum letzten Male ihren Segen gab. Als ich dann eine Umschau an den Wänden des Zimmers hielt, entdeckten meine Blicke, wohin ich sie auch richtete, alte Freunde: da die buntfarbigen Bilder, dort die eingerahmten Stickereien, die wir für wundervolle Kunstleistungen hielten, und den alten runden Spiegel, zu dem ich Mary oftmals emporheben musste, wenn sie »ihr Gesicht im Spiegel zu sehen« wünschte. Überall, wohin das Mondlicht drang, zeigte es mir wohlbekannte Gegenstände, die mich an die glücklichsten Tage meines Lebens erinnerten. Wiederum blickte die Vergangenheit mich höhnisch an. Wiederum hörte ich die Stimme aus alter Zeit mich voller Vorwurf fragen: Sieh, wie einst Dein Leben war! Ist es jetzt noch des Lebens wert?

Ich setzte mich am Fenster, von wo aus ich hin und wieder das Wasser des Sees durch die Bäume schimmern sah, nieder und dachte bei mir selbst: »So weit habe ich meine Lebensreise zurückgelegt. Warum soll ich sie nicht hier beschließen?«

Wenn morgen mein Selbstmord bekannt wird, wer würde um mich trauern? Von allen lebenden Menschen war ich es vielleicht, der die geringste Zahl von Freunden besaß; ich hatte die wenigsten Pflichten gegen Andere, hatte keinen Grund zu zögern, wenn ich eine Welt verlassen wollte, die mir für meinen Ehrgeiz kein geeignetes Feld, für meine Liebe keinen Gegenstand bot.

Und warum brauchte es überhaupt bekannt zu werden, dass ich selbst den Tod gesucht hatte? Ich konnte es sehr wohl so einrichten, dass man einem unglücklichen Zufall die Schuld beimaß.

War es nicht natürlich, dass ich an diesem schönen Sommerabende, ehe ich nach der langen Reise zu Bett ging, ein Bad in den kühlen Fluten des Sees nahm? Und konnte es mir nicht, trotzdem ich ein gewandter Schwimmer war, begegnen, dass mich unglücklicherweise ein Krampf befiel? An dem einsamen Ufer der Grünwasserfläche musste der Hilferuf eines Ertrinkenden in der Nacht ohne Erfolg bleiben, so erklärte sich also der »unglückliche« Zufall von selbst. Es stand mir also nur die Schwierigkeit im Wege, die ich mir vorhin schon vergegenwärtigt hatte. Würde ich stark genug sein, dem tierischen Instinkt der Selbsterhaltung zu widerstehen und meinem Untergehen bei dem ersten Sprunge nicht zu wehren?

Die Luft im Zimmer war dick und schwer. Ich verließ es und ging draußen, bald im Schatten, bald im Mondschein, unter den Bäumen vor der Haustür auf und ab.

In diesem Augenblick hatte keiner der moralischen Gründe, die gegen den Selbstmord sprechen, irgend einen Einfluss auf mich. Ich, der ich einst weder eine Entschuldigung noch auch nur ein Verständnis für die Verzweiflung finden konnte, die Frau van Brandt zu dem Versuche, sich das Leben zu nehmen, trieb, ich betrachtete jetzt mit voller Ruhe die Tat, die mich mit Entsetzen erfüllt hatte, als ich sie von einem anderen Wesen ausführen sah! Wir sollten aus dem einen unerklärlichen Grunde recht zögern, ehe wir die Fehltritte unserer Mitmenschen verdammen, dass wir nämlich nie sicher sein können, ob nicht ähnliche Versuchungen uns verleiten, dieselben Fehltritte auch zu begehen. Wenn ich jetzt an die Ereignisse jener Nacht zurückdenke so erinnere ich mich nur, dass eine Erwägung meinen Fuß von dem verhängnisvollen Pfade zurückhielt, der zum See führte. Ich zweifelte immer wieder, ob es für einen so geübten Schwimmer, wie ich es war, überhaupt möglich sei, sich zu ertränken. Das allein beunruhigte mich. Übrigens war mein Testament gemacht und es blieben nur wenige meiner Angelegenheiten ungeordnet zurück. Ich hegte auch nicht die geringste Hoffnung für eine Wiedervereinigung mit Frau van Brandt.

Sie hatte mir nie wieder geschrieben und seit unserer letzten Trennung war sie mir auch in meinen Träumen nie wieder erschienen. Sie war wohl ohne Zweifel mit ihrem Leben im Auslande ausgesöhnt. Ich verzieh ihr, dass sie mich vergessen hatte. Ich gedachte an sie und an Andere mit den versöhnlichen Gefühlen eines Menschen, dessen Geist schon dieser Welt entrückt ist und dessen Vorstellungen sich immer enger nur um den Gedanken an seinen eigenen Tod sammeln.

Das Auf- und Abgehen fing an mich zu ermüden. Die Einsamkeit des Ortes bedrückte mich. Meine Nerven wurden durch das Bewusstsein meiner eigenen Unentschlossenheit verstimmt. Endlich, nachdem ich noch einen langen Blick durch die Bäume auf den See geworfen hatte, kam ich zu einem festen Entschluss. Ich wollte versuchen, ob ein guter Schwimmer sich wirklich ertränken kann.


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