Blinde Liebe

Sechsundvierzigstes Kapitel

In früher Morgenstunde empfing Lord Harry ein Telegramm des Doktors. Da Iris noch nicht aufgestanden war, ließ er Fanny Mere rufen und befahl ihr, das Fremdenzimmer zur Aufnahme eines Gastes bereit zu halten.

Iris selbst traf mit ihrem Gatten am Frühstückstisch zusammen. In ihrem Gesicht war eine gewisse Unruhe zu lesen.

»Wie ich höre, kommt jemand zu Besuch«, sagte sie. »Ich hoffe mit Bestimmtheit, dass es nicht wieder Mr. Vimpany ist.«

Lord Harry gab ihr den gewohnten Morgenkuss und sagte dann mit gewinnendem Lächeln:

»Warum sollte denn mein treuer alter Freund nicht wieder hieher kommen und mich besuchen?«

»Bitte«, antwortete sie, »sprich von diesem verhassten Menschen nicht in einer Weise, als ob er wirklich Dein Freund wäre. Mr. Vimpany ist ein schlechter Mensch. Er ist der schlimmste Freund, den Du um Dich haben konntest - und nun besonders noch zu einer Zeit, in der Du Deine ganze Kraft und Aufmerksamkeit nötigeren Dingen zuwenden solltest.«

»Ein Wort, Iris! Je beredter Du bist, um so mehr bewundere ich Dich. Nur erwähne nie wieder die, wie Du zu sagen beliebst, für mich nötigen Dinge!«

Sie ließ die Unterbrechung unbeachtet.

»Lieber Harry«, fuhr sie freundlich fort, »Du bist immer so gut mit mir. Bin ich daher im Unrecht, wenn ich glaube, dass mir die Liebe immer noch einigen Einfluss auf Dich gewährt? Frauen sind eitel, und ich bin nicht besser als alle übrigen. Schmeichle der Eitelkeit Deiner Frau, Harry, indem Du ihrer Meinung wenigstens einige Berechtigung zugestehst. Lass Mr. Vimpany, wenn er nun doch einmal unabänderlich hieherkommen soll, wenigstens nicht in unserem Hause wohnen! Ich werde schon irgendeine passende Entschuldigung finden und für ihn in der Nachbarschaft ein Unterkommen suchen, solange er hier zu bleiben hat. Es überläuft mich kalt, wenn ich daran denke, dass er mit uns unter ein und demselben Dache schlafen soll. Nur nicht zu uns, Harry, nur nicht zu uns!«

Ihre Augen suchten eifrig in dem Gesicht ihres Gatten zu lesen; sie wollte darin Nachgiebigkeit, sie wollte darin Überzeugtsein finden. Aber nichts dieser Art stand darin.

»Auf mein Ehrenwort!« rief er laut aus. »Du bereitest mir eine ungeahnte Überraschung. Welch reiche Phantasie besitzest Du! Eines Tages werde ich noch viel stolzer auf Dich sein dürfen als bisher; ich werde Dich als eine berühmte Schriftstellerin begrüßen können.«

»Ist das alles, was Du mir zu erwidern hast?« fragte sie.

»Was soll ich denn anders sagen? Du wirst doch nicht etwa verlangen, dass ich das für ernst nehmen soll, was Du soeben über Vimpany gesagt hast?«

»Und warum nicht?«

»Ach, geh doch, geh doch, mein Liebling! Überlege Dir's, bitte, nur einmal! Wir haben oben noch Zimmer leer stehen und auch hinreichend Dienerschaft, und da soll ich meinen alten Freund für die paar Nachtstunden zu fremden Leuten schicken? Ich möchte um alles in der Welt nicht unfreundlich gegen Dich sein, Iris, und ich leugne ja auch nicht, dass der lustige Doktor zuweilen etwas zu sehr sein Gläschen Grog liebt. Du wirst mir vielleicht sagen, dass er sich nicht gut gegen seine Frau benommen hat; ich gebe das auch zu. Aber es gibt eben nicht viel Menschen, die ein so schönes Beispiel einer musterhaften Ehe geben wie wir beide. Wenn Du mir aber entgegenhältst, dass Vimpany ein schlechter Mensch ist und der schlimmste Freund, den ich möglicherweise haben könnte und so weiter, was kann ich da anderes tun, als solche Reden für Erzeugnisse Deiner blühenden, regen Einbildungskraft ansehen! Nun, was ist denn? Du hast doch gewiss noch nicht gefrühstückt?«

»Doch.«

»Willst Du mich denn allein lassen?«

»Ich will auf mein Zimmer gehen.«

»Du hast ja gewaltige Eile, hinweg zu kommen. Ich wollte Dich ganz gewiss nicht kränken, Iris. Ich möchte wirklich wissen, was Du eigentlich auf Deinem Zimmer zu tun hast!«

»Meine Einbildungskraft zu pflegen und weiter auszubilden«, antwortete sie, zum erstenmale ihrer Bitterkeit Luft machend.

Sein Gesicht nahm einen finsteren und harten Ausdruck an.

»Das klingt ja gerade so, als ob darin etwas wie Groll läge? Das wäre ja das erstemal, dass Du mich ungnädig, feindselig behandelst! Wodurch habe ich das verdient?«

»Nenne es einfach eine Verstimmung meinerseits«, versetzte sie ruhig und verließ das Zimmer.

Lord Harry wandte sich seinem Frühstück wieder zu. Seine Eifersucht war von neuem wachgerufen.

»Sie vergleicht mich mit ihrem abwesenden Freunde«, sagte er zu sich selbst, »und wünscht jedenfalls, sie hätte den liebenswürdigen Mountjoy anstatt mich geheiratet.«

So endete der erste Zwist in dieser Ehe, und Mr. Vimpany war die Ursache desselben gewesen.


Vorheriges Kapitel
Nächstes Kapitel
Inhaltsverzeichnis für diese Geschichte