Wilkie Collins - Ein biographisch-kritischer Versuch

von Ernst Freiherr von Wolzogen (1855-1934)

Kapitel 1



Als die Aufgabe an mich herantrat, Charakterbilder aus der gegenwärtigen englischen Literatur zu schreiben, war ich keinen Augenblick darüber im Zweifel, welcher Autor nach den drei großen Toten des letzten Jahrzentes, Dickens, Thackeray, George Eliot, am meisten Anspruch darauf habe, für einen wirklichen Charakterkopf zu gelten. Und dennoch wurde ich mißtrauisch angesehen, wo immer ich als solchen Wilkie Collins nannte. Der Sensationsromancier, dessen zahlreiche Mord- und Gespenstergeschichten zu den abgegriffensten Bänden unserer Leihbibliotheken gehören, mit welchem unsere vornehmen Revuen und Literaturblätter sich wenig oder gar nicht beschäftigen, der sollte würdig sein, in eine Reihe mit so gewichtigen Namen, wie den eben genannten, gestellt zu werden? Meiner unbescheidenen Meinung nach – ja!

Es gibt wohl kaum einen Romanleser, welcher nicht Wilkie Collins manche in erregtester Spannung rasch verflossene Stunde verdankte; aber gerade diejenigen, welche sich auf ihren wählerischen Geschmack etwas zugute tun, werden am wenigsten geneigt sein, diesen Autor, der sie so prächtig unterhalten hat, für einen bedeutenden Künstler zu erklären. Die Ansicht, daß die unterhaltendste Lektüre gewiß eine nicht kritisch ernst zu nehmende sei, sitzt dem gebildeten Deutschen im Blut und von der Schule her schleppt er die Vorstellung in seine spätesten Jahre hinüber, daß zur höheren Literatur eine gewisse Langeweile absolut gehöre, gleich wie ein bißchen Nacktheit zur höheren Malerei. Freilich ist Langeweile etwas Subjektives: den einen interessiert, was den anderen zum Gähnen bringt. Aber gerade derjenige ehrliche Mann, welcher sich gesteht, daß der Grund der Langweiligkeit so vieler hochgepriesener Bücher mangelndes Interesse und Verständnis seinerseits sei – gerade der wird den höchsten Respekt vor der vornehmen Langeweile haben und das schlechthin Unterhaltsame am ehesten geringschätzen. Und selbst, wenn er seinen Zeitvertreiber im Grunde gerade dieser Fähigkeiten halber liebt und bewundert, wird er meinen, es müsse doch diese Fähigkeit nichts Besonderes sein, da die Leute, welche so etwas verstehen müssen, so wenig Aufhebens davon machen. Diese wiederum, also die Kritiker vom Fach, lesen entweder die verbreitetsten Unterhaltungsbücher gar nicht, weil sie anderes zu tun haben und die Gattung unbesehen für unter ihrer Würde erklären zu dürfen glauben, oder wenn sie sie lesen, so sagen sie nichts darüber und behalten ihre Meinung für sich, weil es doch am Ende einem Teil ihres Publikums ihren kritischen Ernst verdächtigen könnte, wenn sie sich mit solchen Allotriis aufhielten. Die Franzosen besitzen das Vorrecht, die Leute bewundern zu dürfen, über welche sie sich amüsieren – und umgekehrt; und sie tun dies trotz ihrer Akademie, welche Prämien für die Langweiligkeit verteilt. Wir Deutsche amüsieren uns mit möglichst saurer Miene, d.h. wir gebildeten, kritischen Deutschen. Wie könnte es auch anders sein, da wir ja, wenn wir am fröhlichsten sind, zu singen pflegen: „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, daß ich so traurig bin.“ Der Engländer, welcher im Allgemeinen nicht so unter seiner Bildung leidet, wie wir, weiß daher auch die Gabe der Unterhaltung mehr zu schätzen, als wir, besonders da er schon durch seinen religiösen Anstand (religious propriety würde ich es englisch nennen) genötigt wird, sich mindestens einmal wöchentlich gründlich zu langweilen.

Der Grund nun, warum die Verfasser von Unterhaltungslektüre und speziell, um unserem Thema näherzukommen, von Sensationsromanen bei uns so leicht der kritischen Nichtachtung anheim fallen, ist von Haus aus wohl die ganz richtige Erkenntnis, daß es in der wahren Kunst zumeist auf das Wie, und erst in zweiter Linie auf das Was ankomme. Da aber die Unterhaltung, welche der Sensationsroman erstrebt, zumeist lediglich auf einer durch unvorhersehbare Lösungen verwickelte Intrigen fortwährend nachzuhaltenden Spannung des Lesers beruht, so wird natürlich die Erfindung der Handlung für diese Gattung das wichtigste Moment sein. Je aufregender und an Überraschungen reicher die Handlung eines solchen Romanes ist, desto leichter wird der ungeduldige Leser über die Form hinwegsehen. Und damit legt er es auch dem Autor nahe, sich der Sorge um dieselbe zu entschlagen. Als ein weiterer Grund kommt hinzu, daß der wirklich künstlerisch von innen heraus schaffende Romandichter eben von der Idee ausgeht, sei dieselbe nun ein psychologisches, religiöses, soziales oder sonst welches Problem, und die Handlung hernach darum herum erfindet, wie er sie eben braucht, während der Sensationalist die Handlung als Gegebene nimmt und Charaktere und Ideen, wenn er solche für nötig hält, da hinein setzt. Auch hieraus geht hervor, daß bei Letzterem die Handlung gar leicht den ideellen Inhalt überwuchern, die künstlerische Form unterdrücken wird. Das Vorurteil gegen die literarische Würde des Sensationsromans ist also ein durchaus verzeihliches, zumal da es durch die große Mehrzahl der Beispiele nur allzusehr gerechtfertigt wird.

Was stellen wir uns nun eigentlich unter einem Sensationsroman vor? Ich möchte versuchen, den Inhalt des Begriffs folgendermaßen zu formulieren: der Sensationsroman ist die episch breite Erzählung eines ungewöhnlichen Ereignisses, dessen Ursachen in ein scheinbar undurchdringliches Dunkel gehüllt sind, welches der Verfasser möglichst allmählich und in möglichst unerwarteter Weise zu lösen sucht, indem er den Leser geschickt auf solche Fährten führt, ihn bald durch einen Zufall den Weg finden, bald wieder verlieren läßt, um endlich an einer vorher unbeachteten Stelle das Gewirr der Fäden seiner Intrige zu durchbrechen und auf glatter Fahrstraße rasch dem deutlichen Ziele zuzueilen.

Jeder Roman soll im Grunde spannend sein, d.h. er soll das Interesse des Lesers an der Lösung der angezettelten Konflikte, der aufgeworfenen Fragen wach erhalten; der Sensationsromancier geringerer Qualität ist aber zufrieden, wenn dieses Interesse bloße Neugier ist, und diese bis zur nervösen Unruhe zu steigern, gilt ihm als ein Triumph seiner Kunst. Die Lust der Menschen am Geheimnisvollen, Schauerlichen, Entsetzlichen weiß er auszunutzen, und mysteriöse Familiengeschichten, seltsame Kriminalfälle u. dgl. Geben ihm reichlich Stoff zu immer neuen, kühnen Phantasiegebilden. Die Erfindungskraft dolvhrt Lruzr, erlvhr ogz sud msgrtrn Polizeiberichten, oder selbst ganz ohne jeden realen Anhalt ihre bänderreichen Romane spinnen, ist nicht selten staunenswert – aber dennoch ist ihr Genre der Nichtachtung welche es genießt wert, so lange sie am Stofflichen kleben bleiben. Wenn man den ästhetischen Gehalt eines Romanes nach dem Quantum von Poesie und Wahrheit bestimmt, welches er enthält, so wird man den Sensationsroman wohl oft solchen Gehaltes gänzlich bar erfinden, da das bloße Geschehnis niemals poetisch sein kann, sondern nur das Spiegelbild des Geschehnisses in einer Menschenseele. Wo wir in einem solchen Roman von wirklichen Menschenseelen nichts zu sehen bekommen, da, können wir getrost behaupten, ist auch für den Ästhetiker nichts zu holen.

Gesetzt nun aber, es besitze ein Schriftsteller neben einer sensationellen Erfindungskraft eine ungewöhnliche Gabe der Charakterschilderung, ein ernstes, zweckbewußtes künstlerisches Empfinden, einen eigenartigen Stil und womöglich gar noch einen ausgezeichneten Humor – wird der nicht im Stande sein, Sensationsromane zu schreiben, welche für würdige Kunstwerke gehalten zu werden verdienen?

Ganz ohne Zweifel. Seine Erfindungskraft wird ihn vielleicht am langen Verweilen bei mancherlei Schilderungen, auch psychologischen, hindern, aber kaum zum Schaden des Werkes. Er wird ein weit größeres Publikum finden, als der erfindungsarme Psychologe, und wird doch diesem Publikum, wenn es ihn nur mit offenen Augen liest, wahren künstlerischen Genuß gewähren können.

Ein solcher reichbegabter, vielseitiger Schriftsteller ist vor allen Anderen Wilkie Collins ganz entschieden. Er besitzt eine Erfindungskraft, welche derjenigen eines Balzac, Dumas, sue u.s.w nicht nachsteht und zugleich eine ganz hervorragende Gabe der Charakterschilderung, welche nicht selten in die verstecktesten Winkel der Seele eindringt, um die Beweggründe der Handlungen zu Tage zu fördern. Er versteht es, wie wenige, den Leser zu unterhalten, aber fast überall verbindet er einen höheren Zweck damit; meistens den der Aufdeckung eines schreienden Mißstandes in der öffentlichen Moral oder in den Gesetzen seines Landes, der Bekämpfung eines landläufigen gefährlichen Vorurteils oder etwas dergleichen. Und er ist endlich ein Künstler, welcher die Form durchaus beherrscht und sie fast immer stilvoll dem Gegenstand anzupassen weiß, und welcher über einen Humor gebietet, der oft auch in seine schaurigsten Nachtstücke freundliche Streiflichter fallen läßt. – Und trotz alledem wirft die Oberflächlichkeit kritischer Gleichmacher ihn nicht selten in einen Topf mit den gewöhnlichsten Mordgeschichtenschreibern.

Collins hat zwar mehrere Sensationsromane geschrieben, aber die Mehrzahl seiner Bücher sind ebenso wohl Tendenz- und Charakterromane zu nennen, und von jenen wirklichen Sensationsromanen sind einige so gut, daß er schon um ihretwillen der ernstesten Würdigung wert wäre.

Wirkliche Sensationsromane sind nämlich nur, nach der oben gegebenen Definition: The dead Secret (Ein tiefes Geheimnis), The Woman in White (Die Frau in Weiß), The Moonstone (Der Mondstein), No Name (Namenlos), The Law & The Lady (Gesetz und Frau), The Two Destinies (Zwei Schicksalswege), Miss or Mrs?, Jezebels Daughter.

Dagegen ist „Antonina“ ein historischer, „Mann und Weib“, „Welke Blätter“ und „Der schwarze Rock“ soziale Tendenz- und „Hide and Seek“ (Verstecken und Suchen), „Die neue Magdalena“, „Die Blinde“ (Poor Miss Finch) und der neueste „Herz und Wissen“ sind Charakterromane bester Art mit pathologischem oder sozial-tendenziösem Hintergrunde. Wer möchte aber nach einer aufmerksamen Lektüre der wirklichen Sensationsromane behaupten, daß dieselben nicht, mit alleiniger Ausnahme von „Zwei Schicksalswege“ alle Eigenschaften guter Charakterromane an sich trügen? „Die Frau in Weiß“ hätte sich nicht diesen festen Platz im Gedächtnis der Romanleser der ganzen gebildeten Welt erobert, wenn nicht die großartige Erfindung der Fabel durch eine nur höchst selten erreichte Plastik der Charakterschilderung unterstützt würde. Und wird „Armadale“, welcher Roman innerhalb der Werke Collins eine Gattung für sich ausmacht, und welchen ich einen auf eine Sensationsgeschichte aufgebauten Charakterroman nennen möchte – wird er durch seine phantastische Vorgeschichte und durch das allerdings übermäßig gestattete Hineinspielen eines unheimlichen Zufalls etwa so in seinem wesentlichen Gehalt geschädigt, daß die großartigen psychologischen Schilderungen der Bekehrung Midwinters vom Aberglauben und der Lydia Gwilt zur Liebe deshalb nicht für eine große künstlerische Leistung zu halten wären? Bei der Besprechung der einzelnen Werke werde ich es mir angelegen sein lassen, immer wieder diese wahrhaft künstlerische Seite in Collins’ Schöpfungen hervorzuheben, da ich die allgemeine Erkenntnis von, und Bewunderung für seine unerschöpfliche Erfindungskraft doch wohl voraussetzen darf.

Wie sehr Wilkie Collins verdient ein Charakterkopf in der neuesten englischen Literatur genannt zu werden, das sieht man erst recht, wenn man sich die Erzeugnisse seiner Nachahmer näher betrachtet, welche in unerschöpflicher Menge die Feuilletons unzähliger Zeitungen und untergeordneter Zeitschriften füllen. „Die Frau in Weiß“ hat Schule gemacht, wie nur sehr wenige Romane dieser letzten Jahrzehnte; aber man lese nur einmal einen Mordroman der Braddon nach einem von Collins und man wird den himmelweiten Abstand sofort erkennen. Eine fruchtbare Phantasie und großes technisches Geschick ist vielen dieser Nachahmer nicht abzusprechen, aber keiner hat je die dramatisch gesteigerte Wirkung der Intrige, die knappe Erzählungsweise, in der jedes Wort, jede unbedeutende Handlung, „to the purpose“ ist, und den sauber ausgefeilten, den Personen und dem Gegenstande stets so trefflich angepaßten Stil des Vorbildes zu erreichen vermocht. Und dann noch eins: Der Meister hat fast in jedem Werke etwas Neues in der Erfindung, in der Tendenz, im Stil vorzudringen – die Nachahmer machen Fabrikarbeit nach einem erprobten Rezept und ihre Produkte sehen sich untereinander wie denen ihrer Mitfabrikanten verzweifelt ähnlich.

Wir werden im Folgenden sehen, daß allerdings auch Collins von einigen dem Wesen des Sensationsromans anhaftenden Gefahren nicht unberührt geblieben ist – ich will hier nur auf seine Vorliebe für das Übernatürliche hinweisen, sowie auf die Gleichartigkeit mancher oft wiederkehrender Figuren: so der energischen Frauen, der klugen Advokate und Ärzte – trotz alledem aber hoffe ich im Stande zu sein, den Leser bei der Besprechung der einzelnen Werke auf eine solche Fülle des Bedeutenden hinweisen zu können, daß er die Berechtigung meines Unterfangens, Collins unter die hervorragendsten Erscheinungen der zeitgenössischen Literatur Englands zu stellen, wohl anerkennen dürfte.

Und nun zu einem kurzen Abriß des Lebens und Arbeitens unseres Autors, welchen ich seinen eigenen liebenswürdigen Mitteilungen verdanke.

Nächstes Kapitel
Inhaltsverzeichnis für diese Geschichte