Wilkie Collins - Ein biographisch-kritischer Versuch

von Ernst Freiherr von Wolzogen (1855-1934)

Kapitel 9



„The new Magdalen“ (Die neue Magdalena) behandelt das bei den modernen französischen Dramatikern so beliebte Sujet des Ringens einer Gefallenen nach Wiederaufnahme in die Gesellschaft. Er gehört zu einer Gattung, welche Collins sonst nicht kultiviert, und welche ich den Gouvernantenroman nennen möchte. Ich meine damit jene von unzählingen englischen Damen breit getretene Geschichte des alleinstehenden Weibes und ihres Kämpfens gegen die Lieblosigkeit und Versuchungen aller Art. Collins wollte einmal das Interesse mehr der Charakterentwicklung als der Intrige zuwenden. Der Versuch ist ihm zwar geglückt, denn seine Hauptcharaktere sind vortrefflich durchgeführt, aber den warmen, künstlerischen Eindruck schädigt er durch die Anwendung jener allzu knappen, schlechtweg referierenden Darstellungsweise, welche in seinen letzten Werken zur Manier geworden ist.

„Die neue Magdalena“ ist ein Mädchen, das nach einem abenteuerlichen Lebenslauf ohne ihr Verschulden der Prostitution anheimgefallen, aber in einem Refuge (Magdalenenstift) gebessert worden ist. Es gelang ihr vermöge ihrer Bildung anständige Stellungen zu erhalten, doch muß sie eine nach der anderen aufgeben, sowie ihre Vergangenheit an den Tag kommt. Sie begibt sich schließlich unter dem Zeichen des roten Kreuzes als Krankenpflegerin in die französischen Feldlazarette (1870-71). In einem solchen trifft sie mit einer Waise zusammen, welche zu einer entfernten Verwandten in England reist, um deren Gesellschafterin zu werden. Die junge Dame wird an ihrer Seite durch einen Granatsplitter schwer verwundet und für tot liegengelassen. Miß Merrick, so heißt die neue Magdalena, kann der Versuchung nicht widerstehen, sich die Papiere der Fremden anzueignen, deren Erzählungen sie vorher vergewissert hatten, daß dieselbe keinen Bekannten in England habe, welcher sie etwa rekognoszieren könnte. Das Quiproquo gelingt vollkommen. Miß Merrick als Grace Roseberry erobert im Sturm das ganze Herz ihrer Beschützerin, welche sie nicht als Gesellschafterin, sondern bald als Tochter behandelt. Überdies verlobt sie sich mit einem reichen, sehr vorurteilsvollen „Mann von Familie“ und flößt einem ganz vorurteilslosen, vortrefflichen Geistlichen eine unbezwingliche Leidenschaft ein. Da taucht plötzlich die wirkliche Grace Roseberry wieder auf und klagt die Falsche vor Lady Janet, dem Bräutigam und dem Prediger des Betrugs an, aber Niemand will ihr glauben, man behandelt sie wie eine Wahnsinnige. Dem Einfluß des Pastors gelingt es, Miß Merrick zu einem Geständnis ihm gegnüber zu bewegen. Trotzdem will Lady Janet sie nicht aufgeben, sondern sie kauft vielmehr der echten Grace Roseberry ihre Ansprüche mit Geld ab. Dennoch verläßt Miß Merrick das Haus und kehr in ihr Asyl, das Magdalenenstift zurück. Ihr Verlobter gibt sie natürlich sofort auf, ihr geistlicher Freund dagegen bietet ihr seine Hand an, welche sie nach langem Schwanken annimmt. Aber sie muß wieder die Erfahrung machen, daß die Gesellschaft unversöhnlich ist. In einer gänzlich neuen Umgebung in Amerika findet sie endlich in einer glücklichen Ehe den Frieden ihrer Seele wieder. Mit großer psychologischer Feinheit ist in diesem Werk besonders die Handlungsweise Lady Janets nach der Entdeckung des Betruges geschildert. Überhaupt ist diese Figur so recht aus einem Stück gemeißelt, liebenswürdig und lebensvoll. Den Beweis, daß er einen Charakterroman ersten Ranges zu schreiben im Stande sei, hat Collins aber doch erst später erbracht. Der neuen Magdalene haften noch manche Allüren des Sensationsromans an. Trotzdem ist es ein lesenswertes, fesselndes Buch.

In dem Roman „The law and the lady“, welcher in der übrigens guten Übersetzung von A. v. Winterfeld den geschmacklosen Titel „Gesetz und Frau“ führt, ist die Heldin wiederum jene Lieblingsfigur Wilkie Collins', die resolute, vor keinem Hindernis zurückschreckende Frau, welche sich die Aufgabe gestellt hat, ein Geheimnis aufzudecken, dessen Schlüssel längst verloren schien. Das Buch ist ein Ich-Roman und gewinnt dadurch ein über den bloßen Spannungsreiz hinausgehendes Interesse, indem die Gefühle der Schreiberin, wie sie durch den Gang der Handlung beeinflußt werden, sich aufs Deutlichste in ihrer Schreibweise spiegeln.

Mrs. Valeria Woodville entdeckt einige Tage nach ihrer Hochzeit, daß ihr Mann sie unter einem falschen Namen geheiratet hat. Er bittet sie um ihrer selbst willen davon abzusehen, seine Gründe für die Namensveränderung erforschen zu wollen. Sie aber will lieber das Schlimmste wissen, als ihr Glück durch den finsteren Schatten eines Geheimnisses verdunkelt sehen. Sie bringt denn auch durch ihre kluge Behandlung eines übergalanten Freundes ihres Mannes heraus, daß derselbe eigentlich Macallan heißt und unter der Anklage des Giftmordes an seiner ersten Frau vor Gericht gestanden hat. Das Verdikt der Geschworenen hatte ihn nicht freigesprochen, sondern nur verkündigt, daß seine Schuld nicht bewiesen sei. Mrs. Macallan zweifelt keinen Augenblick an der Unschuld ihres Gemahls und macht es zu ihrer heiligsten Pflicht, rechtskräftige Beweise derselben beizubringen. Mr. Macallan verläßt sie, weil er sich außer Stande fühlt, das Weib, welches die Mitwisserin seiner Schande geworden ist, zu beglücken. Ihre Liebe zu ihm ist aber durch nichts zu erschüttern und trotzdem alle ihre Freunde ihr abreden, macht sie sich mit wahrem Feuereifer an ihre verzweifelte Aufgabe. Mit großem Scharfblick erkennt sie die schwachen Punkte der Belastungszeugnisse und weiß die richtigen Personen ausfindig zu machen, welche ihr vielleicht asl Führer durch die Irrgänge der Vermutung dienen können. Aus diesen Personen ist die merkwürdigste ein Mann namens Miserrimus Dexter, ein halb wahnsinniges Geschöpf ohne Beine, welcher von einem Extrem ins andere fällt, bald wie im Fieber phantasiert, bald sehr vernünftig und gebildet redet; ein Mann welcher sehr gut singt, Gedichte improvisiert, kocht, häkelt und auf seinen Händen Turnerkunststücke macht. Dies phantastische Wesen hat einen ebenso phantastischen dienstbaren Geist, seinen Ariel, in Gestalt eines halb blödsinnigen Mannweibs, welches seinem Herrn mit rührender Hundetreue ergeben ist. Ich führe hier die Beschreibung des ersten Besuches der Mrs. Macallan bei Mr. Dexter an, um damit ein Beispiel zu geben von der Verve mit der Wilkie Collins die phantastischsten Ungeheuerlichkeiten vorträgt:

Ich erblickte ein langes dunkles Zimmer mit niedriger Decke. Der ersterbende Glanz eines schlecht erhaltenen Feuers bildete die einzige Erleuchtung, die mich Gegenstände und Entfernungen beurteilen ließ. Die Mitte des Zimmers, unserer Stellung gegenüber, schwamm in unbestimmt rötlichem Licht, während die Umgebungen in totale Finsternis gehüllt waren. Kaum hatte ich diese Bemerkung gemacht, als ich das seltsame Rollen näher kommen hörte. Ein hoher Rollstuhl fuhr durch den rötlichen Schein, und ein Mann saß darin mit lang wallendem Haar, wild mit den Armen gestikulierend und die Maschine zur äußersten Schnelligkeit antreibend.

„Ich bin Napoleon beim Sonnenaufgang von Austerlitz!“ rief der Mann in dem Stuhl, als er durch den Feuerschein rollte. „Ich spreche ein Wort, und Throne sinken, und Könige fallen, und Nationen zittern und Tausende fechten und sinken blutend dahin!“

Der Stuhl rollte vorbei, und der Mann in demselben wurde ein anderer Held.

„Ich bin Nelson“, rief die gellende Stimme weiter. „Ich führe die Flotte nach Trafalgar. Ich weiß bestimmt, daß ich siegen und sterben werde. Ich sehe meine eigenen Apotheose, mein öffentliches Begräbnis, die Tränen meiner Nation. Die Zeit wird meinen Namen forttragen auf ihren Schwingen, und Dichter werden mir lobsingen in unsterblichen Versen!“

Der Stuhl verschwand und kam wieder; der moderne Centaur, halb Mensch, halb Maschine, flog wieder durch das ersterbende Licht.

„Ich bin Shakespeare!“ rief das phantastische Geschöpf. „Ich schreibe den König Lear, die Tragödie der Tragödien. Ich bin der Dichter aller Dichter! Die Zeilen fließen wie Lava aus dem Krater meiner vulkanischen Seele!“

Als er sich dem Kamin näherte, flammte ein unversehrtes Stück Kohle plötzlich auf, und zeigte ihm unsere Gestalten in der offenen Tür. Mit gewaltigem Ruck hielt er seinen Rollstuhl an, gab ihm eine andere Richtung und flog wie ein wildes Tier auf uns zu. Wir traten beiseite, und der Stuhl rannte in die herunterhängende Tapete. Das seltsame Wesen gebot seinen Rädern Stillstand und blickte uns an, daß das Blut in meinen Adern erstarrte.

„Habe ich sie zu Staub zermalmt?“ sagte er zu sich selbst. Dann uns abermals erblickend fuhr er fort: „Goneril und Regan! Meine beiden unnatürlichen Töchter, welche gekommen sind, mich in die düstere Nacht hinaus zu treiben!“

„Durchaus nicht“, sagte meine Schwiegermutter so ruhig, als wenn sie ein vernünftiges Wesen anredete, „ich bin Ihre alte Freundin, Mrs. Macallan, und ich habe Eustace Macallans zweite Frau mitgebracht, die Ihre Bekanntschaft zu machen wünscht.“

Bei den Worten „Eustace Macallans zweite Frau“ stieß der Mann in dem Rollstuhl einen entsetzlichen Schrei aus und sprang in die Luft, als wenn er von einem Schuß getroffen worden sei. Einen Augenblick sah man ein menschliches Wesen in der Luft schweben, das gänzlich beider Beine beraubt war. In der nächsten Sekunde sank das entsetzliche Geschöpf, mit der Geschicklichkeit eines Affen, auf seine beiden Hände herab und hüpfte so, mit bewunderungswürdiger Schnelle durch das Zimmer bis an den Kamin. Dann kroch er über die verglimmenden Kohlen, schüttelte sich, als wenn ihn fröre und rief wohl ein dutzendmal hintereinander: „O! O! Habt Mitleid mit mir! Habt Mitleid mit mir!“

Das war der Mann, dessen Rat ich hatte erbitten, dessen Beistand ich hatte in Anspruch nehmen wollen in der Stunde der Not.

„Ich hatte Unrecht und Sie hatten Recht“, flüsterte ich erschreckt meiner Schwiegermutter zu. „Lassen Sie uns gehen.“

„Nein“ rief Mr. Dexter, der es gehört hatte, „Eustace Macallans zweite Frau soll hier bleiben. Ich bin ein Gemtleman, ich muß sie um Entschuldigung bitten. Ich bin ein Kenner weiblicher Charaktere, ich wünsche sie zu sehen.“

Der Mann schien wie mit einem Zauberschlage verändert. Er sprach so weich, wie ein Weib, das eben Tränen vergossen. War es neubelebter Mut oder war es neubelebte Neugierde? Als Mrs. Macallan mich fragte: „Wollen Sie noch gehen? Der Anfall ist jetzt vorüber – antwortete ich: „nein, lassen Sie uns wieder eintreten.“

„Es tut mir leid, Sie erschreckt zu haben,“ sagte die sanfte Stimme am Kamin. „Es gibt Menschen, die mich für periodisch wahnsinnig halten. Wenn jene Leute Recht haben, kamen Sie gerade zu einer solchen Zeit. Meine Einbildungskraft läuft manchmal mit mir fort und ich sage seltsame Dinge. Wenn man bei diesen Gelegenheiten jenes entsetzlichen Prozesses erwähnt, werde ich in die Vergangenheit zurückgeworfen und bekomme Nervenschmerzen. Ich bin ein sehr gefühlvoller Mensch. Nehmen Sie also meine Entschuldigung an, treten Sie näher und haben Sie Mitleid mit mir.“

Er würde jetzt kein Kind mehr erschreckt haben. Das Zimmer wurde dunkler und dunkler. Wir konnten nichts unterscheiden, als die hockende Figur am Kamin.

„Wollen Sie kein Licht anzünden lassen?“ fragte Mrs. Macallan. „Und soll diese Dame, wenn das Zimmer erleuchtet ist, Sie außerhalb Ihres Stuhles sehen?“

Er nahm etwas Glänzendes, das um seinen Hals hing und blies eine Reihenfolge schriller, vogelartiger Töne hinein. Eine kurze Pause, und der Ruf bekam ein entferntes, abgeschwächtes Echo.

„Ariel kommt schon“, sagte er. „Gedulden Sie sich nur noch ein wenig, Mama Macallan, Ariel wird mich sofort kurfähig machen.“

Er hüpfte auf seinen Händen in die tiefe Dunkelheit an das Ende des Zimmers.

„Noch ein wenig Geduld“, sagte Mrs. Macallan; „dann kommt eine andere Überraschung, die zarte Ariel.“

Wir hörten schwere Fußtritte in dem Vorzimmer.

„Ariel!“ seufzte Miserrimus Dexter aus der Dunkelheit heraus, in seinen sanftesten Worten.

„Hier!“ rief die heisere Stimme der Cousine mit dem Männerhut.

„Meinen Stuhl, Ariel!“

Die gerufene Person zog die herunterhängende Tapete etwas beiseite, indem sie einen Lichtstrom einließ und den Rollstuhl vor sich herschob. Dann hielt sie still und hob Miserrimus Dexter wie ein Kind vom Boden auf. Ehe sie ihn noch auf den Stuhl setzen konnte, sprang er mit einem fröhlichen Schrei von ihrem Arm auf seinen Sitz, wie ein Vogel, der von einem Zweig zum anderen flattert.

„Die Lampe“, sagte Miserrimus Dexter. „Und den Spiegel. Verzeihen Sie mir, meine Damen, daß ich Ihnen den Rücken kehre. Sie dürfen mich nicht eher sehen, bis mein Haar in Ordnung ist. Ariel! Den Kamm, die Bürste und die Pomaden.“

Die Lampe in der einen, Spiegel, Bürste und Pomade in der anderen Hand und den Kamm zwischen den Zähnen, erschien Mr. Dexters Cousine zum ersten Mal im vollen Licht. Ich sah nun des Frauenzimmers fleischiges, ausdrucksloses Gesicht, die stieren glanzlosen Augen, die plumpe Nase, das schwere Kinn. Ein nur halb lebendes Wesen; ein unvollkommen entwickeltes Tier, gekleidet in eine Matrosenjacke, einen roten Flanellunterrock und ein paar Stulpenstiefeln. In dem wirren, sandblonden Haar trug sie einen zerbrochenen Kamm. Diese wundervolle Erscheinung gab ihrem Herrn den kleinen Spiegel in die Hand und machte sich dann an das Werk des Frisierens.

Sie kämmte, sie bürstete, sie ölte und parfümierte die wallenden Locken und den langen seidigen Bart Mr. Dexters mit einem seltsamen Gemisch von Schlechtlaunigkeit und Geschick. Nachdem das Werk künstlerisch und zur vollen Zufriedenheit Dexters vollendet, blieb er dennoch eine Weile mit dem Antlitz uns abgewendet.

„Mama Macallan“, sagte er, „welches ist der Vorname Ihrer zweiten Schwiegertochter?“

„Weshalb wollen Sie ihn wissen?“ fragte Mrs. Macallan.

„Weil ich sie nicht Mrs. Eustace Macallan anreden kann.“

„Und weshalb nicht?“

„Weil es mich an die andere Mrs. Eustace Macallan erinnert. Weil ich dann wieder an jene entsetzlichen Tage in Gleninch denken muß.“

„Ich heiße Valeria“, antwortete ich für mich selber.

„Ein römischer Name“, bemerkte Dexter. „Ich finde ihn hübsch. Ich würde den Körper eines Römers gehabt haben, wenn ich mit Beinen auf die Welt gekommen wäre. Wenn Sie erlauben, werde ich Sie also Mrs. Valeria nennen. Mrs. Valeria, darf ich Sie zunächst fragen, ob Sie das Gesicht dieses Geschöpfes sehen können?“

Er deutete bei diesen Worten mit dem Spiegel auf seine Cousine, ungefähr wie er auf einen Hund gedeutet haben würde, und die Cousine ihrerseits nahm nicht mehr Notiz davon, als ein Hund der beleidigenden Äußerung geschenkt hätte.

„Ist das nicht das Gesicht einer Blödsinnigen?“ fuhr Dexter fort. „Sehen Sie sie an! Ein Kohlkopf in meinem Garten hat in diesem Augenblick mehr Leben und Ausdruck als dieses Frauenzimmer. Würden Sie glauben, daß in diesem nur halb entwickelten Wesen Intelligenz, Zuneigung, Stolz und Treue wohne?“

Ich wußte nicht, was ich ihm darauf antworten sollte.

„ich habe diese Zuneigung, diesen Stolz, diese Treue in meiner Hand“, sprach Dexter weiter. „Ich besitze den Schlüssel zu dieser schlafenden Intelligenz. Jetzt sehen Sie sie an, während ich spreche. Sie kenn ihren Namen, den ich ihr gegeben, wie ein Hund den seinigen. Nun sehen Sie und hören Sie. Ariel?“

Des Frauenzimmers ausdrucksloses Gesicht begann sich zu erleuchten.

„Ariel! Hast du gelernt mich zu frisieren?“

„Ja! Ja! Ja!“ antwortete sie, mit noch strahlenderen Zügen. „Und Sie sagen, daß ich es gut mache.“

„Das sage ich. Würdest du es gerne einen anderen tun lassen?“

Ihre Augen wurden schmelzend und sanft. Ihre seltsame unweibliche Stimme sank zu leisen Tönen herab.

„Niemand anderes darf es tun“, sagte sie mit Stolz und Zärtlichkeit. „Solange ich lebe, soll Sie kein anderer berühren als ich.“

„Auch nicht die Dame dort?“ fragte Mr. Dexter, auf mich deutend.

Ihre Augen flammten plötzlich auf, und ihre Hand schüttelte in drohender Eifersucht den Kamm gegen mich.

„Daß sie es nicht versuche!“ schrie das arme Geschöpf.

Dexter brach in Lachen aus.

„Nun entlasse ich wieder deine Intelligenz“, sagte er. „Kehre zu deinem eigenen Selbst zurück.“

Der Glanz ihrer Augen erlosch allmählich, der Ausdruck ihrer Züge verhärtete sich und erstarb. Eine Minute später und das Gesicht war wieder starr und stumpfsinnig wie zuvor.

„Ich dachte, mein kleines Experiment würde Sie interessieren“, sagte Mr. Dexter. „Die schlafende Intelligenz in meiner seltsamen Cousine gleicht dem schlafenden Ton in einem musikalischen Instrument. Ich spiele darauf und es antwortet meiner Berührung. Ihr größtes Vergnügen ist, mich Geschichten erzählen zu lassen. Sie müssen das einmal mit anhören.“

Dexter warf noch einen prüfenden Blick in den Spiegel.

„Verschwinde!“ rief er dann seiner Cousine zu, und diese tappste mit ihren schweren Stiefeln aus dem Zimmer, ohne die geringste Notiz von uns zu nehmen.

Während ich der Abgehenden nachblickte, hatte Mr. Dexter seinen Stuhl umgewandt, und das Licht der Lampe fiel jetzt voll auf seine Gestalt. Ich sah deutlich das schöne, intelligente Antlitz und die großen, blauen Augen, das wallende, kastanienbraune Haar, die schmalen, weißen Hände und den schön gebauten Oberkörper. Die Verkrüppelung der fehlenden Gliedmaßen war durch eine bunte, orientalische Decke verhüllt, welche über seinem Rollstuhl lag. Er trug eine Jacke von schwarzem Sammet mit großen Malachitknöpfen, und die Wäsche nach der Mode des verflossenen Jahrhunderts. Ich konnte auch nicht das geringste Seltsame mehr an ihm wahrnehmen. Das Einzige, was mir nicht ganz gefallen wollte, war beim Lachen und Lächeln ein fremdartiges Faltenziehen in den äußeren Augenwinkeln, welches zu dem jugendlichen Antlitz unschön kontrastierte. Der Mund, soweit der Bart ihn zu sehen erlaubte, war klein und schön geformt: die Nase, nach griechischem Modell im Vergleich zu der breiten Stirn und den vollen Wangen vielleicht etwas zu dünn. Im Ganzen aber war er ein schöner Mann. Ein Maler würde ihn als Modell zum heiligen Johannes gebraucht haben, und ein junges Mädchen, unbekannt mit seiner Verkrüppelung, hätte beim ersten Anblick ausgerufen: „Das ist das Ideal meiner Träume!“

Trotzdem Dexter Valeria absichtlich auf eine falsche Fährte führte, trotzdem die größten Hindernisse sich ihr überall in den Weg stellen, trotzdem sie lange Zeit an das Krankenlager ihres Gatten in Spanien gefesselt ist und dadurch ihre Nachforschungen unterbrechen muß, beharrt sie doch auf ihrem Vorsatz und bringt wirklich die Wahrheit an den Tag, mit Hilfe eines befreundeten Advokaten und durch gewisse Andeutungen, welche Dexter in einem Anfall von Geistesverwirrung entschlüpfen. Die Sache verhielt sich danach so: Macallans erste Frau war häßlich und er hatte sie nur geheiratet um ihren guten Ruf zu retten, welchen sie selbst unvorsichtiger Weise kompromittiert hatte. Doch gelingt es der Unglücklichen, welche ihren Mann wahnsinnig liebt, niemals seine Gegenliebe zu erringen, und das bringt sie zur Verzweiflung. Dexter, welcher des Mannes Gast ist, will ihr trauriges Verhältnis dazu mißbrauchen, sich selbst ihre Gunst zuzuwenden und gibt ihr, um sie von der Aussichtslosigkeit ihres Ringens um des Gatten Neigung zu überzeugen, dessen Tagebuch zu lesen, in dem sie Dexters Aussagen bestätigt findet. Sie gibt jetzt alle Hoffnung auf und beschließt, sich mit Arsenik, welches sie als Mittel gegen schlechten Teint besitzt, zu vergiften. Ehe sie dieses ausführt, schreibt sie ihrem Gemahl einen langen Abschiedsbrief, welcher ihr verzweifeltes Sehnen nach seiner Liebe, Dexters Nichtswürdigkeit und ihren Selbstmord in ergreifenden Worten schildert. Diesen Brief hat aber Dexter beiseite zu bringen gewußt, ehe Macallan ihn gelesen hatte. Ein Zufall machte es ihm unmöglich, ihn zu verbrennen. Die Stücke davon werden aus einem Müllhaufen (nach fünf Jahren!) wieder herausgesucht und zusammengesetzt. Macallan jedoch verzichtet darauf, den Brief zu lesen, nachdem seine Frau ihm erklärt, daß der Inhalt zwar seine Unschuld beweise, ihm aber sehr schmerzlich sein müsse. So bleibt er denn als Vermächtnis für ihre Nachkommenschaft versiegelt liegen.

Der Roman gehört zu den besseren Werken unseres Autors, die Kraft der Erfindung ist wieder ein ganz erstaunliche. Unüberwindlich scheinende Hindernisse werden auf die überraschendste Weise weggeräumt. An ganz unscheinbare Äußerlichkeiten knüpften sich später die wichtigsten Folgen. Wie in allen Collins‘schen Kriminalromanen müssen wir auch hier wieder über die ganz einzige Geschicklichkeit staunen, mit welcher jedes, auch das fernste Ereignis, von Anfang an vorbereitet wird.

Ob alle diese erstaunlichen Dinge in der Wirklichkeit möglich sind, das läßt sich wohl nur unter Berufung auf Präzedenzfälle von Polizeipraktikern entscheiden, jedenfalls gelingt es dem Erzähler durch seine Kunst, das Unglaublichste glaublich zu machen. Was uns an diesem Roman noch besonders angenehm berührt, ist, daß wir von Geistererscheinungen, Prophezeiungen und dergleichen verschont bleiben, und es dafür (mit Ausnahme des oben geschilderten hyperphantastischen Dexter und seines Ariel) nur mit trefflich gezeichneten, greifbaren Gestalten zu tun haben, welche uns teilweise auch psychologisch interessieren. Von der Heldin empfangen wir durch ihren unaffektierten, von jedem sentimentalen Beiwerk freien Bericht, einen Eindruck, welcher uns die größte Bewunderung für ihre Energie und unerschütterliche Liebeskraft abnötigt. Auch ihr Mann interessiert uns, obwohl sein übertriebenes Ehrgefühl ihm zur tadelnswerten Schwäche wird und unter den Nebenfiguren finden sich zwei, welche durch den Humor des Autors ein wirkungsvolles Relief bekommen, nämlich der alte Don Juan Fitz David und die auf seine Kosten zur Sängerin sich ausbildende Büffetmamsell, welche ihren unglücklichen Wohltäter sehr schlau zur Heirat zu verleiten weiß.

Die obengenannte Übersetzung ist bei Wedekind und Schwieger, Berlin 1875, erschienen.


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