Armadale



Drittes Kapitel.

Als Allan zu Hause anlangte, wurden ihm zwei Aufträge ausgerichtet. Der eine war von Midwinter hinterlassen worden: »Er sei zu einem langen Spaziergang ausgegangen, und Mr. Armadale möge sich nicht beunruhigen, wenn er erst spät wieder heimkehrte.« Der zweite von einem Manne aus Mr. Pedgift’s Bureau, der nach Verabredung erschienen war, während sich die beiden Herren beim Major befanden. »Mr. Bashwoods Empfehlung, und er werde sich die Ehre geben, Mr. Armadale im Verlaufe des Abends nochmals seine Aufwartung zu machen.«

Gegen fünf Uhr kam Midwinter bleich und schweigsam heim. Allan beeilte sich, ihm zu versichern, daß sein Friede mit dem Parkhäuschen geschlossen sei, und erwähnte dann, um das Thema zu wechseln, des Besuchs von Mr. Bashwood. Midwinter war aber entweder so zerstreut oder so erschöpft, daß er sich kaum des Namens zu entsinnen schien. Allan mußte ihn deshalb daran erinnern, daß Mr. Bashwood jener ältliche Schreiber sei, den Mr. Pedgift ihm zur Orientierung in seinen Verwalterpflichten gesandt habe. Er hörte zu, ohne etwas zu bemerken, und begab sich dann auf sein Zimmer, um bis zur Tischzeit zu ruhen.

Auf sich allein angewiesen, ging Allan in die Bibliothek, um zu versuchen, ob er sich nicht mit einem Buche die Zeit vertreiben könne. Er nahm viele Bände von den Brettern herab und stellte einige wieder an ihre Plätze —— doch dabei blieb es. Auf irgend eine geheimnißvolle Weise drängte sich Miß Milroy zwischen den Leser und seine Bücher. Ihre steife Verbeugung und ihre ungnädigen letzten Worte wollten Allan nicht aus dem Sinne kommen, so sehr er sich auch bemühte, sie zu vergessen; von Stunde zu Stunde ward sein Verlangen, den verlorenen Platz in ihrer Gunst wieder zu gewinnen, immer heftiger. Heute noch einmal einen Besuch im Parkhäuschen zu machen und sie zu fragen, ob er so unglücklich gewesen, sie zu beleidigen, war unmöglich. Die Frage mit der nothwendigen Zartheit schriftlich zu thun, erwies sich, nachdem er das Experiment versucht, als eine weit über seine literarischen Fähigkeiten hinausgehende Aufgabe. Nachdem er ein paarmal mit der Feder im Munde im Zimmer auf und ab gegangen war, entschied er sich für den diplomatischen Weg, der in diesem Falle zufällig zugleich der leichteste war, an Miß Milroy zu schreiben, als wenn gar nichts vorgefallen sei, und seine Staffel in ihrer Gunst nach der Antwort zu bemessen, die sie ihm zurücksenden würde. Eine Einladung irgend einer Art, die natürlich auch ihren Vater mit einschloß, obgleich unmittelbar an sie selbst gerichtet, war offenbar das Rechte, um eine schriftliche Antwort von ihr zu erzwingen —— doch hier erhob sich die Schwierigkeit, welche Art von Einladung dies sein solle. An einen Ball war, bei seiner gegenwärtigen Stellung zu den benachbarten Familien, nicht zu denken. Eine Mittagsgesellschaft lag, da sich keine unentbehrliche ältliche Dame im Hause befand, um Miß Milroy zu empfangen —— Mrs. Gripper ausgenommen, die sie doch nur in der Küche empfangen konnte —— ebenfalls außer Frage. Welche Art. von Einladung also konnte es sein? Niemals blöde, wenn er Beistandes bedurfte, diesen rechts und links und in allen Richtungen zu suchen, zog Allan, da er sich am Ende seiner eigenen Hilfsmittel sah, ganz ruhig die Klingel und verblüffte den darauf erscheinenden Diener durch die Frage, wie die frühere Familie zu Thorpe-Ambrose sich zu amüsieren und welche Einladungen sie an ihre Bekannten ergehen zu lassen pflegte.

»Die Familie machte es wie die andern Gutsherrschaften, Sir«, sagte der Mann, seinen Herrn in äußerster Verblüffung anstierend. »Sie gab Mittagsgesellschaften und Bälle. Und im schönen Sommerwetter, wie jetzt, Sir, hatte sie zuweilen Gartengesellschaften und Picknicks.«

»Das ist’s«, rief Allan. »Ein Picknick ist genau das, was ihr Vergnügen machen wird. Richard, Du bist ein unschätzbarer Mensch; Du kannst Dich jetzt wieder hinabbegeben.«

Richard zog sich ganz verwundert zurück, und Richard’s Herr ergriff die Feder.

»Liebe Miß -Milroy. —— Seit ich Sie verlassen, ist es mir plötzlich eingefallen, daß wir ein Picknick arrangieren sollten. Nach so langer Einsperrung in Mrs. Milroy’s Krankenzimmer kann nichts besser für Sie sein, als etwas Abwechselung und Vergnügen (ein gutes Aufrütteln würde ich es nennen, wenn ich nicht an eine junge Dame schriebe). Ein Picknick ist eine Abwechselung und, wenn der Wein gut ist, auch ein Vergnügen. Wollen Sie den Herrn Major fragen, ob er mit diesem Picknick einverstanden ist und mitkommen will? Und falls Sie Bekannte in der Umgegend haben, die an einem Picknick Freude finden, bitte, laden Sie dieselben ebenfalls ein, denn ich selbst habe keine Bekannten. Es soll Ihr Picknick sein, aber ich will für Alles sorgen und Alle mitnehmen. Sie sollen den Tag bestimmen und den Ort zum Picknick wählen. Ich habe mein ganzes Herz an dieses Picknick gehangen.

Immer der Ihre
Allan Armadale.«

Den Brief, ehe er ihn versiegelte, noch einmal überlesend, mußte Allan sich diesmal offen eingestehen, daß der Stil nicht ganz tadellos sei. »Das Wort »Picknick« kommt etwas zu oft darin vor«, sagte er. »Doch einerlei, wenn ihr die Idee gefällt, wird sie sich daran nicht stoßen.« Er sandte den Brief auf der Stelle ab und gab dem Boten strengen Befehl, auf die Antwort zu warten.

In einer halben Stunde war dieselbe da, auf parfümiertem Papier, ohne eine radierte Stelle, lieblich duftend und lieblich anzuschauen.

Das Bekenntniß der nackten Wahrheit ist eins von denen, gegen die das angeborene Zartgefühl des Frauensinnes sich instinctmäßig zu empören scheint. Noch nie waren die wahren Gedanken geschickter verborgen, als jetzt durch Allan’s schöne Correspondentin. Macchiavelli selbst hätte aus Milroy’s Briefe nun und nimmermehr argwöhnen können, daß sie ihr gereiztes Benehmen gegen den jungen Squire, sowie dieser nur den Rücken gewendet, schon von Herzen bereut hatte und hoch entzückt gewesen war, als ihr seine Einladung zukam. Ihr Brief war die Composition einer musterhaften jungen Dame, deren Gefühle alle unter väterlichem Schloß und Riegel gehalten und je nach den Umständen bei Gelegenheit wohl überlegt aufgetischt werden. »Papa« erschien ebenso oft in Miß Milroy’s Antwort, wie »Picknick« in Allan’s Einladung vorgekommen war. »Papa« habe mit Mr. Armadale an rücksichtsvoller Güte gewetteifert, indem auch er daran gedacht, ihr ein wenig Abwechselung und Vergnügen zu verschaffen, und sich deshalb erboten, seine gewohnte ruhige Lebensweise zu unterbrechen und an dem Picknick theilzunehmen. Sie nehme deshalb mit »Papas« Einwilligung Mr. Armadale’s Vorschlag mit Vergnügen an, und auf »Papas« Rath werde sie von Mr. Armadale’s Güte Gebrauch machen und zwei Bekannte, die sich kürzlich in Thorpe-Ambrose niedergelassen, eine Wittwe und ihren Sohn, einen ordinierten Geistlichen von schwächlicher Gesundheit, dazu einluden. Wenn Mr. Armadale der nächste Dienstag gelegen sei, so werde dieser Tag dem »Papa« ebenfalls passen, da dieser bis dahin mit Ausbesserungen an seiner Uhr beschäftigt sei. Das Uebrige wolle sie, auf »Papas« Rath, gänzlich Mr. Armadale überlassen und verbleibe inzwischen, mit »Papas« Empfehlung, Mr. Armadale’s aufrichtige »Eleonor Milroy.« Wer hätte sich jemals gedacht, daß die Schreiberin dieses Briefes vor Freude hochaufgesprungen war, als Allan’s Einladung kam? Wer hätte geahnt, daß bereits unter dem heutigen Datum Folgendes in Miß Milroy’s Tagebuche eingetragen stand: —— »Ich habe den herzigsten, liebsten Brief von Ich-weiß-wohl-Wem erhalten; ich will nie wieder unfreundlich gegen ihn sein, so lange ich lebe.« Allan seinerseits war entzückt über den Erfolg seines Manövers Miß Milroy hatte seine Einladung angenommen, folglich fühlte sie sich nicht von ihm beleidigt. Eine Erwähnung des Briefwechsels schwebte ihm auf der Zunge, als er mit seinem Freunde bei Tische zusammentraf. Aber es lag in Midwinters Gesicht und Wesen etwas, das, selbst für Allan deutlich genug sichtbar, ihn zu warten mahnte, ehe er den peinlichen Gegenstand ihres Besuchs im Parkhäuschen wieder zur Sprache brächte. Wie in stillschweigender Uebereinkunft mieden sie in ihrem Gespräche alles, was sich auf Thorpe-Ambrose bezog, selbst des Besuchs von Mr. Bashwood erwähnten sie nicht, der für den Abend bevorstand. Während der ganzen Mahlzeit versenkten sie sich vielmehr in das alte endlose Thema von ehedem, über Schiffe und Segelfahrten.

Die beiden jungen Leute hatten länger als gewöhnlich bei Tische gesessen. Wie sie mit ihren Cigarren in den Garten hinausgingen, fiel das Sommerzwielicht grau und trübe auf Rasen und Blumenbeet und verengerte allmälig den sanft schwindenden Kreis ihres Horizonts. Der Thau fiel reichlich, und nach wenigen Minuten Weilens im Garten begaben sie sich auf den trocknen Platz der Auffahrt vor dem Hause zurück. Eben waren sie hart an der Biegung, die in das Gebüsch führte, als plötzlich eine leise auftretende schwarze Gestalt hinter dem Laube hervor zu ihnen herausglitt —— ein Schatten, der sich dunkel durch das undeutliche Abendlicht bewegte. Midwinter fuhr beim Anblicke der Erscheinung zurück, und selbst die weniger zarten Nerven seines Freundes waren für den Augenblick erschüttert.

»Wer, zum Teufel, seid Ihr?«. rief Allan.

Die Gestalt entblößte ihr Haupt und trat langsam einen Schritt näher. Midwinter kam seinerseits einen Schritt weiter heran und betrachtete sie scharf. Es war der Mann mit den schüchternen Manieren und in den Trauerkleidern, den er an der Stelle, wo die drei Wege zusammenstießen, um den Weg nach Thorpe-Ambrose gefragt hatte.

»Wer seid Ihr?« wiederholte Allan.

»Ich bitte demüthigst um Verzeihung, Sir«, antwortete der Fremde mit unsicherer Stimme, während er verlegen wieder zurücktrat. »Die Bedienten sagten mir, ich werde Mr. Armadale ——«

»Was, sind Sie Mr. Bashwood?«

»Ja, wenn Sie’s erlauben, Sir.«

»Ich bitte um Entschuldigung, Sie so barsch angeredet zu haben«, sagte Allan; »aber die Wahrheit zu gestehen, Sie haben mich ein wenig erschreckt. Mein Name ist Armadale —— bitte, bedecken Sie sich —— und dies ist mein Freund, Mr. Midwinter, der Ihren, Beistand im Verwaltungsbureau bedarf.«

»Es bedarf kaum des Vorstellens für uns«, sagte Midwinter. »Ich begegnete Mr. Bashwood vor wenigen Tagen aus dem Spaziergange, und er hatte die Freundlichkeit mich zurechtzuweisen, da ich meinen Weg verloren hatte.«

»Setzen Sie Ihren Hut aus«, wiederholte Allan, da Mr. Bashwood noch immer unbedeckten Hauptes dastand und sich sprachlos bald gegen den einen und bald gegen den andern der beiden jungen Männer verbeugte. »Mein guter Herr, setzen Sie Ihren Hut auf und lassen Sie uns zusammen nach dem Hause zurückgehen. Verzeihen Sie mir die Bemerkung«, fügte Allan hinzu, als der Mann aus reiner nervöser Unbehilflichkeit seinen Hut fallen ließ, anstatt mit demselben seinen Kopf zu bedecken; »aber Sie scheinen ein wenig angegriffen zu sein —— ein gutes Glas Wein kann Ihnen nicht schaden, ehe Sie sich mit meinem Freunde ans Geschäft machen. Wo ungefähr trafst Du Mr. Bashwood, als Du Dich verirrt hattest?«

»Ich. kenne die Gegend zu wenig, um dies zu wissen. Ich muß Dich deshalb an Mr. Bashwood verweisen«, antwortete Midwinter.

»Kommen Sie, erzählen Sie uns, wo es war«, sagte Allan, etwas allzu direct versuchend, dem Manne seine Unbefangenheit wiederzugeben, während sie alle Drei zum Hause zurückgingen.

Das Maß von Mr. Bashwood’s angeborener Schüchternheit schien durch Allan’s laute Stimme und unumwundenes Ersuchen bis an den Rand gefüllt zu sein. Mit demselben schwachen Wortstrome floß es über, mit dem er Midwinter überflutet, als sie einander zum ersten Male begegnet waren.

»Es war auf dem Wege, Sir«, begann er, sich abwechselnd an Allan, den er »Sir«, und Midwinter wendend, welchen er beim Namen nannte; »ich meine auf dem Wege nach Little Gill Beek. Ein sonderbarer Name, Mr. Midwinter, und ein sonderbarer Ort; ich spreche nicht vom Dorf, ich spreche von der Umgegend —— ich bitt’ um Vergebung, ich meine die »Breiten«, weiter drüben. Sie haben vielleicht von den Norfolker Breiten gehört, Sir? Was man anderswo in England Seen nennt, nennen die Leute hier »Breiten«. Die Breiten sind sehr zahlreich; ich denke, sie wären wohl der Mühe eines Besuchs werth. Sie würden die erste derselben gesehen haben, Mr. Midwinter, wenn Sie von der Stelle, an der ich die Ehre hatte, Ihnen zu begegnen, ein paar Meilen weiter gegangen wären. Außerordentlich zahlreich, die Breiten, Sir, —— zwischen hier und dem Meere gelegen. Ungefähr drei Meilen vom letzteren, Mr. Midwinter, —— ungefähr drei Meilen. Meistens seicht, Sir, und durch Flüsse mit einander verbunden. Sehr schön; einsam. Eine ganz wässerige Gegend, Mr. Midwinter, eine Gegend ganz für sich, so zu sagen. Es werden zuweilen Partien dahin gemacht, Sir —— Vergnügungspartien zu Nachen. Es ist ein wahres kleines Netz von Seen, oder vielleicht, ja wohl richtiger gesprochen, von Teichen. Im kalten Wetter ist dort gute Jagd. Wildes Geflügel ist da überaus zahlreich. Ja. Die Breiten würden sich eines Besuchs verlohnen, Mr. Midwinter, wenn Sie das nächste Mal einen Spaziergang nach jener Richtung hin machen. Die Entfernung von hier nach Little Gill Beek und dann von Little Gill Beck nach der Girdler Breite, welches die erste ist, zu der man kommt, ist im Ganzen nicht mehr, als ——« In seinem rein nervösen Unvermögen, ein Ende zu finden, würde er den ganzen Abend von den Norfolker Breiten gesprochen haben, wäre nicht der eine seiner Zuhörer ihm ohne alle Umstände ins Wort gefallen, ehe er seine Periode schließen konnte.

»Kann man von hier aus die Hin- und Herfahrt nach den Breiten bequem in einem Tage machen?« fragte Allan, überzeugt, daß in diesem Falle der Ort für das Picknick gefunden war.

O, ja, Sir; eine hübsche, bequeme Fahrt —— eine sehr bequeme Fahrt von diesem schönen Orte aus.«

Sie stiegen jetzt die Vorhallenstufen hinan; Allan ging voran und rief Midwinter und Mr. Bashwood zu, ihm nach der Bibliothek zu folgen, wo eine Lampe brenne. In der Zwischenzeit, die verstrich, ehe der Wein gebracht wurde, betrachtete Midwinter seine zufällige Bekanntschaft von der Landstraße mit einer seltsamen Mischung von Mitleid und Argwohn —— von Mitleid, das wider seinen Willen stieg, und von Argwohn, welcher beharrlich schwand, wie sehr er auch ihn zu nähren suchte. Da, höchst unbequem auf der äußersten Kante seines Stuhls, saß das verkommene, ängstlich arme Geschöpf in seinen abgetragenen schwarzen Kleidern, mit seinen wässerigen Augen, seiner ehrlichen alten Perücke, seiner elenden wollenen Cravatte und seinen falschen Zähnen, die Niemanden zu täuschen vermochten —— da saß er in höflicher Befangenheit, bald vor dem hellen Lichte der Lampe zurückbebend, bald bei Allan’s kräftiger Stimme zusammenfahrend; ein Mann mit den Falten von sechzig Jahren im Gesicht und den Manieren eines Kindes in Gegenwart von Fremden, sicherlich ein Gegenstand des Mitleids, wenn es je einen solchen gab!

»Wovor Sie sich sonst immer fürchten mögen, Mr. Bashwood«, rief Allan, ein Glas Wein einschenkend, »vor dem da fürchten Sie sich nicht! In einem ganzen Oxhoft davon steckt kein einziges Kopfweh! Machen Sie sich’s gemüthlich; ich will Sie mit Mr. Midwinter allein lassen, damit Sie sich zusammen über Ihr Geschäft besprechen. Es ruht ganz in Mr. Midwinters Händen; er handelt für mich und arrangiert Alles nach eigenem Gutachten.«

Er sprach diese Worte mit einer sorgfältigen Wahl seiner Ausdrücke, die ihm sonst durchaus nicht eigen war, und wandte sich dann ohne jede fernere Erklärung der Thür zu. Midwinter, der neben derselben saß, bemerkte sein Gesicht, wie er hinaus ging. Wie leicht es sonst war, den Weg zu Allan’s Gunst zu finden, Mr. Bashwood hatte ihn ohne Zweifel und unbegreiflicherweise nicht finden können!

Die beiden seltsamen Gefährten blieben mit einander allein —— wie es aus den ersten Blick schien, in gegenseitiger Sympathie himmelweit von einander geschieden und nichtsdestoweniger innerlich durch gleiches Temperament zu einander hingezogen, mit jener magnetischen Gewalt, die über allen Alters- und Standesunterschied sich hinweg setzt und allen anscheinenden Gemüths- und Charakter-Verschiedenheiten Trotz bietet. Von dem Augenblicke an, da Allan das Zimmer verließ, begann der geheime Einfluß, der im Dunkeln wirkt, die beiden Männer langsam über die große soziale Kluft zu einander hinzuziehen, die bis zu diesem Tage zwischen ihnen gegähnt hatte.

Midwinter war der erste, der den Zweck ihrer Zusammenkunft zur Sprache brachte.

»Darf ich fragen«, sagte er, »ob man Sie mit meiner Stellung hier bekannt gemacht hat und ob Sie wissen, weshalb ich Ihres Beistandes bedarf?«

Mr. Bashwood, wenngleich noch immer zögernd und schüchtern, aber durch Allan’s Fortgehen sich sichtlich erleichtert fühlend, setzte sich weiter zurück in seinem Stuhl und wagte es, sich durch einen kleinen Schluck Wein zu starken.

»Ja, Sir«, erwiderte er, »Mr. Pedgift hat mich von Allem in Kenntniß gesetzt. Ich soll Sie unterweisen, oder ich sollte vielmehr sagen, Ihnen Rath ertheilen ——«

»Nein, Mr. Bashwood; das erste Wort war das richtigere von den beiden. Ich bin völlig unwissend in den Geschäften, die mir anzuvertrauen Mr. Armadale in seiner Güte sich bewogen gefühlt hat. Wenn ich recht verstanden, so unterliegt Ihre Lehrfähigkeit keinem Zweifel, denn Sie haben selbst eine Verwalterstelle eingenommen. Darf ich fragen, wo dies war?«

»Bei Sir John Mellowchip, Sir, in West-Norfolk. Vielleicht möchten Sie mein Zeugniß sehen, Sir —— ich habe es hier bei mir. Sir John hätte sich wohl etwas freundlicher gegen mich erweisen können, aber ich darf mich nicht beklagen; es ist jetzt Alles geschehen und vorüber!« Seine wässerigen Augen sahen noch wässeriger aus und das Zittern seiner Hände theilte sich seinen Lippen mit, während er einen alten schmutzigen Brief aus seinem Taschenbuche nahm und offen auf den Tisch legte.

Das Zeugniß war sehr kurz und sehr kalt abgefaßt, doch völlig unzweideutig so weit es ging. Sir John hielt es für nicht mehr als recht. zu sagen, daß er sich über keinen Mangel an Fähigkeit oder Rechtlichkeit in seinem Verwalter zu beklagen habe. Hätte sich Mr. Bashwoods häusliche Lage mit seiner ferneren Stellung auf den Gütern vertragen, so würde Sir John ihn gern behalten haben. So aber hatten es gewisse, durch Mr. Bashwoods persönliche Angelegenheiten herbeigeführte Mißhelligleiten nicht wünschenswerth gemacht, daß er noch länger in Sir John’s Diensten verbliebe; und aus diesem Grunde, und nur aus diesem, hatten er und sein Herr sich getrennt. So lautete Sir John’s Zeugniß über Mr. Bashwoods Charakter. Als Midwinter die letzten Zeilen las, gedachte er eines andern Zeugnisses, das sich noch in seinem Besitze befand, des schriftlichen Zeugnisses, das ihm in der Schule gegeben worden, als man den kranken Unterlehrer in die Welt hinausgestoßen hatte. Sein Aberglaube, der ihn allen neuen Ereignissen und neuen Gesichtern zu Thorpe-Ambrose mißtrauen ließ, beargwöhnte den Mann, der vor ihm saß, noch ebenso hartnäckig wie zuvor. Doch wie er diesem Argwohn jetzt Worte leihen wollte, machte sein Herz ihm Vorwürfe, und er legte den Brief schweigend auf den Tisch.

Die plötzliche Pause in der Unterhaltung schien Mr. Bashwood aufzufallen. Er stärkte sich durch einen abermaligen Schluck Wein und brach, den Brief unangerührt liegen lassend, unbezwinglich in Worte aus, als wenn das Schweigen ihm unerträglich wäre.

»Ich bin jede Frage zu beantworten bereit, Sir«, begann er. »Mr. Pedgift sagte mir, daß ich verschiedene Fragen würde beantworten müssen, wenn ich mich um einen Vertrauensposten bewürbe. Mr. Pedgift meinte, daß weder Sie noch Mr. Armadale mit dem Zeugnisse allein zufrieden sein würden. Sir John sagt nicht —— er hätte sich freundlicher darüber ausdrücken können, doch beklage ich mich nicht —— Sir John sagt nicht, welcher Art die häuslichen Bedrängnisse waren, die mich um meine Stelle brachten. Sie wünschen vielleicht zu erfahren ——« Er hielt verlegen inne, sah das Zeugniß an und sagte nichts weiter.

»Wenn es sich in der Sache nur um mein eigenes Interesse handelte«, entgegnete Midwinter, »so gebe ich Ihnen die Versicherung, daß dies Zeugniß mich völlig zufrieden stellen würde. Doch während ich mich mit meinen neuen Pflichten bekannt mache, wird die Person, welche mich darin unterweist, in Wirklichkeit der Gutsverwalter meines Freundes sein. Ich veranlasse Sie sehr ungern, von einem Gegenstand zu sprechen, der Ihnen vielleicht schmerzlich ist, und ich weiß leider gar nicht, was für Fragen ich zu stellen habe; aber in Mr. Armadale’s Interesse müßte ich wohl etwas mehr erfahren, entweder von Ihnen selber, oder von Mr. Pedgift, wenn Sie dies vorziehen ——« Auch er schwieg verlegen, blickte auf das Zeugniß und sagte nichts weiter.

Abermals herrschte momentanes Schweigen. Es war ein warmer Abend und Mr. Bashwood zählte zu seinen sonstigen Uebeln noch das beklagenswerthe Leiden, in den Handflächen zu transpirieren. Er nahm ein elendes kleines baumwollenes Taschentuch aus der Tasche, rollte es zu einem Ballen zusammen und betupfte damit regelmäßig wie ein Pendel erst die eine und dann die andere Hand. Bei einem andern Manne und unter anderen Umständen würde dies lächerlich erschienen sein. Bei diesem Manne aber und in dieser Krisis der Unterredung hatte es etwas Schauerliches.

»Mr. Pedgift’s Zeit ist zu kostbar, Sir, als daß er sie an mich vergeuden könnte«, sprach er. »Wenn Sie erlauben, will ich selber sagen, was zu sagen ist. Ich habe Unglück gehabt in meiner Familie. Es war sehr schwer zu ertragen, obgleich nicht viel davon zu erzählen ist. Meine Frau ——« eine seiner Hände schloß sich fest um das Taschentuch; er befeuchtete seine trockenen Lippen, kämpfte mit sich und fuhr fort:

»Meine Frau, Sir«, begann er wieder, »stand mir ein wenig im Wege; sie hat mir, ich muß es leider zugeben, bei Sir John geschadet. Bald nachdem ich die Verwalterstelle angetreten, verfiel sie —— gewöhnte sie sich —— ich weiß kaum, wie ich es sagen soll —— den Trunk an. Ich konnte sie nicht davon heilen, und ich konnte es auch nicht immer vor Sir John verbergen. Sie verlor alle Selbstbeherrschung und —— und —— stellte seine Geduld ein paarmal auf die Probe, als er in Geschäften auf mein Bureau kam. Sir John hatte Nachsicht, freilich nicht in sehr freundlicher Weise, aber er hatte Nachsicht. Ich klage nicht über Sir John; ich klage jetzt auch nicht über meine Frau.« Er deutete mit zitterndem Finger auf seinen schäbigen alten, mit Krepp umwundenen Castorhut, der neben ihm am Boden stand. »Ich trage Trauer um sie«, sagte er mit schwächer Stimme. »Sie starb vor fast einem Jahre hier im Grafschafts-Irrenhause.«

Sein Mund begann krampfhaft zu arbeiten. Er nahm das Glas Wein in die Hand und leerte es diesmal bis auf den Grund. »Ich bin nicht sehr an Wein gewöhnt, Sir«, sagte er, offenbar fühlend, wie ihm nach dem Trinken die Glut ins Gesicht stieg, und inmitten aller der schmerzlichen Erinnerungen, die er wachgerufen, doch die Pflichten der Höflichkeit nicht aus den Augen verlierend.

»Bitte, Mr. Bashwood, ersparen Sie sich den Schmerz mir noch mehr mitzutheilen«, sagte Midwinter, dem es widerstrebte, seinerseits auf weitere Bekenntnisse zu bestehen, die bereits den Kummer des unglücklichen Mannes vor ihm bis ins Innerste enthüllt hatten.

»Ich bin Ihnen sehr verpflichtet, Sir«, erwiderte Mr. Bashwood. »Doch wenn ich Sie nicht zu lange belästige und wenn Sie sich gefälligst erinnern wollen, daß die mir von Mr. Pedgift ertheilten Instructionen sehr specielle waren —— übrigens erwähnte ich meiner verstorbenen Frau nur, weil vielleicht Alles anders gekommen wäre, wenn sie nicht von vornherein Sir John ungeduldig gemacht hätte ——« er schwieg, gab den unzusammenhängenden Satz auf, in den er sich verwickelt hatte, und versuchte einen andern. »Ich hatte nur zwei Kinder, Sir«, fuhr er fort, zu einem neuen Punkte in seiner Erzählung fortschreitend; »einen Knaben und ein Mädchen. Das Mädchen starb in zartester Kindheit. Mein Sohn wuchs zum Manne heran —— und mein Sohn war es, durch den ich meine Stelle verlor. Ich that mein Möglichstes für ihn; ich verschaffte ihm eine Stelle auf einem respectablen Comptoir in London. Man wollte ihn ohne Caution nicht aufnehmen. Wohl war es unvorsichtig von mir; aber ich hatte keine reichen Freunde, von denen ich Hilfe erwarten durfte —— und ich bürgte für ihn. Mein Sohn gerieth auf Abwege, Sir. Er —— vielleicht werden Sie mich gütigst verstehen, wenn ich sage, daß er unredlich handelte. Auf mein inständiges Bitten ließen ihn seine Herren gehen, ohne gegen ihn einzuschreiten. Ich mußte flehentlich darum bitten —— ich hatte meinen Sohn James sehr lieb —— und ich nahm ihn mit mir nach Hause und suchte ihn zu bessern. Aber er wollte nicht bei mir bleiben; er ging wieder nach London; er verzeihen Sie, Sir! Ich wirre wohl leider die Dinge durcheinander; ich komme wohl von der Hauptsache ab?«

»Nein, nein«, sagte Midwinter freundlich. »Wenn es Ihnen nöthig erscheint, mir diese traurige Geschichte zu erzählen, so thun Sie dies ganz auf Ihre Weise. Haben Sie Ihren Sohn wiedergesehen, seitdem er Sie verließ, um nach London zu gehen?«

»Nein, Sir. Soviel ich weiß, ist er noch immer in London. Als ich das letzte Mal von ihm hörte, verdiente er sich sein Brod —— auf nicht sehr rühmliche Art. Er war unter dem Inspector des heimlichen Erkundigungs-Bureaus auf dem Shadyside-Platze angestellt.«

Er sprach diese Worte —— die, soweit jetzt zu beurtheilen, anscheinend weniger als alles bisher Gesprochene zu der jetzt zu verhandelnden. Sache gehörten, in der That aber, wie sich bald herausstellen sollte, das Wichtigste waren, was er überhaupt geäußert hatte —— er sprach diese Worte zerstreut, indem er verwirrt sich umsah und vergebens den verlorenen Faden seiner Erzählung wiederzufinden suchte.

Midwinter kam ihm mitleidsvoll zu Hilfe. »Sie erzählten mir eben«, sagte er, »daß Ihr Sohn Schuld war, daß Sie Ihre Stelle verloren. Wie kam dies?«

»Auf folgende Weise, Sir«, sagte Mr. Bashwood, aufgeregt wieder in den richtigen Gedankengang einlenkend. »Seine Herren ließen ihn gehen, aber sie hielten sich an seinen Bürgen, und dies war ich. Sie waren jedenfalls nicht zu tadeln; die Caution deckte ihren Verlust. Ich konnte nicht Alles aus meinen Ersparnissen bestreiten; ich mußte borgen —— auf mein Ehrenwort, Sir, ich konnte nicht anders, ich mußte borgen. Mein Gläubiger drängte mich; es schien grausam, doch wenn er das Geld brauchte, war es nicht mehr als billig. Haus und Hof wurden mir verkauft. Andere Herren würden wahrscheinlich dasselbe gesagt haben, was Sir John sagte; die meisten Leute würden sich wahrscheinlich geweigert haben, einen Verwalter zu behalten, welcher Execution im Hause gehabt hatte und dessen Hausgeräth in der Umgegend verkauft worden war. So endete die Sache, Mr. Midwinter. Ich brauche Sie jetzt nicht länger aufzuhalten —— hier ist Sir John’s Adresse, für den Fall, daß Sie an ihn schreiben wollen.«

Midwinter lehnte die Adresse großmüthig ab.

»Danke Ihnen bestens, Sir«, sagte M. Bashwood, sich zitternd erhebend. »Es wäre jetzt weiter nichts zu erwähnen, außer —— außer daß Mr. Pedgift für mich sprechen wird, wenn Sie sich gern nach meiner Aufführung, während ich in seinem Dienste war, erkundigen möchten. Ich bin Mr. Pedgift außerordentlich verpflichtet; er ist zuweilen ein wenig barsch gegen mich, aber hätte er mich nicht in seine Dienste genommen, so würde ich, glaube ich, ins Arbeitshaus haben gehen müssen, als ich von Sir John entlassen wurde —— ich war so gebrochen ——« Er nahm seinen schäbigen alten Hut vom Boden auf. »Ich will Sie nicht länger belästigen, Sir. Ich will mit Vergnügen wieder vorkommen, wenn Sie sich die Sache erst überlegen wollen, ehe Sie eine Entscheidung treffen.«

»Nach dem, was Sie mir gesagt haben, bedarf ich keiner Bedenkzeit«, erwiderte Midwinter mit Wärme, indem er sich zugleich der Zeit erinnerte, wo er Mr. Brock seine Geschichte erzählt und auf ein großherziges Wort der Erwiderung gewartet hatte, wie jetzt dieser Mann da vor ihm wartete. »Es ist heute Sonnabend«, fuhr er fort, »können Sie mir künftigen Montag meine erste Lection geben? Verzeihen Sie«, setzte er hinzu, über Mr. Bashwood’s überströmende Dankbarkeit staunend und ihn auf seinem Wege zur Thür anhaltend, »es ist noch eins zwischen uns abzumachen, nicht wahr? Wir haben noch nichts von Ihrem Interesse in der Sache erwähnt —— ich meine von den Bedingungen.« Er deutete damit ein wenig verlegen auf das pecuniäre Moment der Angelegenheit hin. Mr. Bashwood, der sich eiligst der Thür näherte, antwortete noch verlegener:

»Was Ihnen beliebt, Sir, was Ihnen recht dünkt. Ich will nicht länger stören —— ich will es Ihnen und Mr. Armadale überlassen.«

»Wenn Sie es wünschen, will ich Mr. Armadale rufen lassen«, sagte Midwinter, ihm in den Hausflur folgend. »Aber ich fürchte, daß er in derartigen Dingen ebenso wenig Erfahrung besitzt, wie ich. Vielleicht dürften wir uns, wenn Sie nichts dawider hätten, durch Mr. Pedgift bestimmen lassen?«

Mr. Bashwood ging eifrig auf diesen letzten Vorschlag ein und zog sich, während er sprach, bis an die Thür zurück. »Ja, Sir, —— o, ja, ja wohl! Niemand besser, als Mr. Pedgift. Stören Sie —— bitte, stören Sie Mr. Armadale nicht!« Seine wässerigen Augen sahen vor nervöser Angst förmlich wild aus, wie er sich im Lichte der Flurlampe auf einen Augenblick umwandte, um diese höfliche Bitte auszusprechen. Wäre nach Allan zu schicken gleichbedeutend gewesen mit dem Entfesseln eines wüthenden Kettenhundes, Mr. Bashwood hätte solchem Beginnen kaum ängstlicher vorbeugen können. »Ich wünsche Ihnen bestens Gute Nacht, Sir«, fuhr er fort, indem er auf die Hallenstufen hinaustrat. »Ich bin Ihnen sehr verpflichtet; ich werde mich am Montag Morgen pünktlichst einstellen —— ich hoffe —— ich denke —— ich bin überzeugt, daß Sie bald alles erlernen werden, was ich Sie zu lehren vermag. Es ist nicht schwer —— o, mein Himmel, nein, durchaus nicht schwer! Ich wünsche Ihnen bestens Gutenacht, Sir. Ein schöner Abend, ja, in der That ein sehr schöner Abend zu einem Heimwege.«

Mit diesen Worten, die ihm gewissermaßen über Hals und Kopf von den Lippen stürzten, bemerkte er in einer wahren Todesangst von Verlegenheit, wie er seinen Abgang bewerkstelligen sollte, gar nicht Midwinter’s ausgestreckte Hand, sondern schritt geräuschlos die Stufen hinab und verlor sich in der Dunkelheit der Nacht.

Wie Midwinter in das Haus eintrat, öffnete sich die Thür des Speisezimmers, und sein Freund kam ihm im Flur entgegen.

»Ist Mr. Bashwood fort?« fragte Allan.

»Er ist fort«, erwiderte Midwinter, »er hat mir eine sehr traurige Geschichte erzählt und mich ein wenig beschämt, daß ich ihm ohne gerechte Ursache mißtraute. Ich bin mit ihm überein gekommen, daß er mir am Montag Morgen in der Verwalterstube meine erste Lection geben soll.«

»Sehr schön!« sagte Allan. »Du brauchst keine Sorge zu haben, alter Junge, daß ich Euch in Euren Studien stören werde. Ich habe wahrscheinlich Unrecht —— aber Mr. Bashwood gefällt mir nicht.«

»Ich habe wahrscheinlich Unrecht«, entgegnete der Andere ein wenig gereizt. »Mir gefällt er.«

Der Sonntag Morgen sah Midwinter im Park, wo er dem Briefboten auflauerte, für den Fall, daß dieser ihm fernere Nachrichten von Mr. Brock brächte.

Zur gewohnten Stunde erschien der Mann und händigte Midwinter den erwarteten Brief ein. Dieser öffnete denselben und las, diesmal ohne Störung besorgen zu müssen, wie folgt:

»Mein lieber Midwinter!

Ich schreibe mehr, um Sie zu beruhigen, als weil ich irgend etwas Bestimmtes zu sagen hätte. hatte keine Zeit, Ihnen in meinem letzten eiligen Briefe mitzutheilen, daß die ältere der beiden Frauen, denen ich in den Gärten begegnete, mir gefolgt war und auf der Straße mit mir gesprochen hatte. Ohne ungerecht gegen sie zu sein, glaube ich, was sie zu zu mir sagte, von Anfang bis zu Ende als ein Gewebe von Unwahrheiten bezeichnen zu dürfen. Jedenfalls bestätigte sie mich in dem Argwohne, daß eine Intrigue im Werke ist, deren Opfer Allan sein soll und daß die Hauptanstifterin des Complotes jenes schändliche Weib ist, das bei der Heirath seiner Mutter behilflich war und später ihren Tod beschleunigte.

In dieser Ueberzeugung habe ich kein Bedenken getragen, etwas für Allan zu thun, was ich für sonst Niemanden in der Welt zu thun im Stande wäre. Ich habe mein Hotel verlassen und mich mit meinem alten Diener Robert in einem Hause etabliert, demjenigen gegenüber, nach dem ich jenen beiden Frauen folgte. Wir liegen nun Tag und Nacht abwechselnd auf der Lauer, von den Leuten uns gegenüber völlig unbemerkt, wie ich gewiß bin. Alle meine Gefühle als die eines Geistlichen und Gentleman empören sich gegen eine solche Beschäftigung aber es bleibt mir keine andere Wahl. Ich muß entweder meiner Selbstachtung diese Gewalt anthun, oder Allan selbst mit seinem sorglosen Wesen und in seiner ungreifbaren Stellung sich gegen eine Elende vertheidigen, die, wie ich fest überzeugt bin, gerüstet ist, in der gewissenlosesten Weise seine Schwachheit und seine Jugend zu benutzen. Die Bitte seiner sterbenden Mutter ist mir stets im Gedächtniß und, Gott helfe mir! in Folge derselben erniedrige ich mich jetzt in meinen eignen Augen.

Das Opfer hat bereits einigen Lohn eingebracht. Ich habe heute (Sonnabend) einen ungeheuren Vortheil errungen —— ich habe das Gesicht der Person gesehen. Sie ging, wie zuvor, mit herabgelassenem Schleier aus, und Robert, der meine Instructionen erhalten, ihr, wenn sie nach Hause zurückkehrte, nicht zu folgen, behielt sie im Auge. Sie kam in der That nach Hause zurück, und der Erfolg war, wie ich erwartet, daß sie auf ihrer Hut zu sein vergaß. Ich sah ihr Gesicht unverschleiert am Fenster und später nochmals auf dem Balcon. Sollte sich irgend Anlaß bieten, daß Sie ihr Signalement brauchen, so will ich es Ihnen geben. Gegenwärtig habe ich nur zu erwähnen, daß sie reichlich so alt aussieht, wie Sie die Person schätzten (fünfunddreißig Jahre), und daß sie durchaus nicht so schön ist, wie ich sie mir, ich weiß kaum warum, gedacht hatte.

Das ist Alles, was ich Ihnen jetzt mittheilen kann. Wenn sich bis nächsten Montag oder Dienstag nichts weiter ereignet, so wird mir nichts anderes übrig bleiben, als die Mithilfe meiner Advocaten in Anspruch zu nehmen; obgleich es mir im höchsten Grade widerstrebt, diese zarte und gefährliche Angelegenheit andern Händen, als den meinigen, anzuvertrauen. Wenn ich indeß meine eigenen Gefühle gänzlich bei Seite setze, ist die Angelegenheit, welche meine Reise nach London veranlaßt, doch eine zu wichtige, als daß ich sie noch länger so leicht behandeln dürfte, wie ich es jetzt thue. Auf jeden Fall verlassen Sie sich darauf, daß ich Sie über den fernem Verlauf der Dinge ganz au fait erhalten werde.

Immer aufrichtig der Ihre

Decimus Brock.«

Midwinter hob diesen Brief am selben Orte auf, wo er schon den vorigen verwahrt hatte, in seinem Taschenbuche, zusammen mit der Erzählung von Allan’s Traume.

»Wie viele Tage noch?« fragte er sich auf dem Rückwege nach dem Hause. »Wie viele Tage noch?«

Nicht viele. Der erwartete Augenblick rückte heran.

Der Montag kam und mit, ihm Mr. Bashwood pünktlich zur bestimmten Stunde. Der Montag kam und fand Allan ganz absorbiert von den Vorbereitungen zu dem Picknick. Den ganzen Tag lang zu Hause und außer dem Hause hielt er eine Reihe von Besprechungen. Er hatte Geschäfte mit Mr. Gripper, mit dem Kellermeister und mit dem Kutscher, in ihren drei verschiedenen Departements des Essens, Trinkens und Fahrens. Er ging in die Stadt, um seine Rechtsanwälte hinsichtlich der »Breiten« zu Rathe zu ziehen und beide Advocaten, den Vater wie den Sohn in Ermangelung irgendwelcher anderer Nachbarn, die er einladen konnte, aufzufordern, sich an dem Picknick zu betheiligen. Pedgift Senior ertheilte, in seinem Departement, die allgemeine Auskunft, bat aber, daß Allan ihn von dem Picknick dispensiere, da er durch Geschäfte davon abgehalten werde. Pedgift juuior lieferte, in seinem Departement, die nöthigen Details und nahm, die Geschäfte preisgebend, mit dem größten Vergnügen die Einladung an. Von der Expedition der Advocaten zurück, begab Allan sich zunächst nach dem Häuschen des Majas, um sich der Zustimmung der jungen Dame für den Ort zu versichern, welchen er zur Vergnügungspartie in Aussicht genommen hatte. Nachdem dies besorgt war, kehrte er nach Hause zurück, um hier der letzten Schwierigkeit zu begegnen —— der Schwierigkeit, Midwinter zur Theilnahme an der Expedition nach den »Breiten« zu überreden.

Bei der ersten Erwähnung der Sache fand Allan seinen Freund fest entschlossen, zu Hause zu bleiben. Midwinter’s Widerstreben, nach dem, was sich im Parkhäuschen zugetragen, mit dem Major und dessen Tochter zusammenzukommen, wäre vielleicht zu überwinden gewesen. Allein sein Entschluß, den Unterrichts-Cursus Bashwoood’ nicht unterbrechen zu lassen, war unerschütterlich. Nachdem er die äußersten Anstrengungen gemacht, seinen Einfluß zur Geltung zu bringen, mußte sich Allan mit einem Vergleiche begnügen. Midwinter versprach, freilich nicht sehr bereitwillig, gegen Abend da zur Gesellschaft zu stoßen, wo ein Zigeuner-Thee stattfinden, mit dem die Festlichkeit des Tages geschlossen werden sollte. So weit war er bereit, die Gelegenheit zu benutzen, um sich mit den Milroys wieder auf freundschaftlichen Fuß zu stellen. Mehr könne er, selbst auf Allan’s dringende Bitten, nicht zugeben, und mehr zu fordern, sei völlig nutzlos.

Der Tag des Picknicks kam. Der schöne Morgen, sowie die fröhliche Geschäftigkeit bei den Vorbereitungen zu der Partie vermochten Midwinter nicht zu einer Aenderung seines Entschlusses zu verlocken. Zur gewohnten Stunde zog er sich vom Frühstückstisch zurück, um sich zu Mr. Bashwood in die Verwalterstube zu verfügen. Die Beiden saßen auf der Hinterseite des Hauses ruhig über ihren Büchern, während vorn das Packen der Proviantkörbe für das Picknick vor sich ging. Der junge Pedgift, klein von Gestalt, aufgeputzt und zuversichtlichen Wesens, kam, etwas vor der Abfahrtsstunde, um die Anordnungen zu überwachen und die letzten Maßregeln zu treffen, zu denen seine Ortskenntniß ihn berechtigte. Allan und er waren noch in eifriger Berathung mit einander begriffen, als sich das erste Hindernis; einstellte. Das Hausmädchen vom Parkhäuschen brachte Allan ein Billet von Miß Milroy und wartete unten aus Antwort.

Offenbar hatte bei diesem Anlaß Miß Milroy’s Gemüthsbewegung ihr Schicklichkeitsgefühl in den Hintergrund gedrängt. Der Ton des Briefes war ein fieberhaft aufgeregter, und die Schrift wanderte, in beklagenswerther Nichtachtung alles schicklichen Zwanges, schief auf und ab.

»O, Mr. Armadale«, schrieb die Tochter des Majors, »was für ein Unglück! Was sollen wir anfangen? Der Papa hat heute Morgen einen Brief von der Großmama wegen der neuen Gouvernante erhalten. Ihre Empfehlungen haben sieh als völlig befriedigend herausgestellt, und sie ist bereit, unverweilt zu kommen. Großmama meint, je eher je lieber (wie ärgerlich!), und sie sagt, wir dürfen sie —— die Gouvernante meine ich —— schon heute oder morgen erwarten. Papa sagt, er ist stets so lächerlich rücksichtsvoll gegen alle Leute, wir dürfen Miß Gwilt, für den Fall, daß sie heute anlangen sollte, nicht eintreffen lassen, ohne daß Jemand im Hause bleibt, um sie zu empfangen, Was sollen wir anfangen? Ich könnte weinen vor Verdruß. Miß Gwilt macht mir schon den unvortheilhaftesten Eindruck von der Welt, obgleich Großmama sagt, sie sei charmant. Wissen Sie irgendeinen Rath, lieber Mr. Armadale? Wenn Sie ihn haben, so wird Papa sich sicherlich fügen. Halten Sie sich nicht mit Schreiben auf, sondern senden Sie mir eine mündliche Antwort. Ich habe einen neuen Hut zu dem Picknick bekommen, und, o, die Qual, nicht zu wissen, ob ich ihn aufbehalten oder wieder abnehmen muß! ——

Aufrichtig die Ihre

L. M«

»Der Teufel hole Miß Gwilt!« sagte Alan, in hilfloser Bestürzung seinen Rechtsanwalt anstierend.

»Von ganzem Herzen, Sir; ich möchte durchaus nicht verhindern«, bemerkte Pedgift junior. »Darf ich fragen, was es gibt?«

Allan erzählte es ihm. Mr. Pedgift junior mochte seine Fehler haben, aber Verlegenheit um Auskunftsmittel gehörte nicht dazu.

»Es gibt einen Ausweg aus dieser Schwierigkeit, Mr. Armadale«, sagte er. »Wenn sie heute anlangt, so lassen Sie die Gouvernante mit zum Picknick kommen.«

Allan machte vor Erstaunen große Augen.

»Alle Pferde und Fuhrwerke in den Ställen und Remisen von Thorpe-Ambrose brauchen wir für unsre kleine Partie nicht«, fuhr der junge Pedgift fort. »Das versteht sich! Sehr gut also. Wenn Miß. Gwilt heute kommt, kann sie unmöglich vor fünf Uhr anlangen. Wieder gut. Sie lassen um diese Zeit einen offenen Wagen vor dem Hause des Majors halten, Mr. Armadale, und ich will dem Kutscher seine Anweisungen gehen, wohin er fahren soll. Wenn die Erzieherin im Parkhäuschen eintrifft, mag sie ein hübsches kleines Billet mit einer Entschuldigung vorfinden —— in Begleitung kalten Geflügels oder was man ihr sonst nach ihrer Reise vorsetzen mag —— worin sie ersucht wird, sich des Wagens zu bedienen, um sich dem Picknick anzuschließen. Beim Zeus, Sir«, sagte der junge Pedgift fröhlich, »sie muß in der That von empfindlicher Natur sein, wenn sie sich danach noch vernachlässigt fühlt!«

»Vortrefflich«, rief AlIan. »Es soll ihr jede Aufmerksamkeit erwiesen werden. Ich will ihr den Ponywagen mit dem weißen Geschirr geben, und sie soll sich selber fahren, wenn sie Lust hat.«

Er kritzelte eine Zeile, um Miß Milroy’s Angst zu beschwichtigen, und gab die nöthigen Befehle hinsichtlich der Ponykutsche. Zehn Minuten später hielten die für die Vergnügungsparties bestimmten Wagen vor der Thür.

»Jetzt, da wir uns ihretwegen all diese Mühe genommen«, sagte Allan, als sie aus dem Hause traten, »bin ich neugierig, ob wir, wenn sie wirklich heute kommt, sie beim Picknick sehen werden!«

»Komm ganz und gar auf ihr Alter an, Sir«, sagte der junge Pedgift mit der glücklichen Zuversicht, die ihn in so hohem Grade auszeichnete, sein Urtheil abgebend. »Ist sie alt, so wird sie von der Reise erschöpft sein und sich an dem kalten Kapaun stärken und das Haus halten. Ist sie jung, so verstehe ich entweder nichts von den Weibern, oder die Ponys mit dem weißen Geschirr bringen sie zum Picknick.«

Darauf fuhren sie nach dem Parkhäuschen ab.


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