Die Blinde



Erstes Kapitel - Noch einmal mein guter Papa.

Zum Glück war nicht zu befürchten, daß das, Versprechen, welches ich Oscar gegeben hatte, mir eine lange Zeit ängstlichen Anmichhaltens auferlegen werde. Wenn wir nur über die nächsten fünf Tage sicher hinwegkamen konnten wir der Zukunft mit ziemlicher Ruhe entgegensehen. Am letzten Tage des Jahres war Lucilla durch die Testamentsverfügung verpflichtet, nach London zu gehen und ihre drei Monate unter dem Dache ihrer Tante zuzubringen.

In der kurzen Zeit, die bis zu ihrer Abreise verfloß, berührte sie zweimal den heiklichen Gegenstand.

Das erste Mal fragte sie mich, ob ich wisse, was für Arznei Oscar nehme. Ich erklärte, es nicht zu wissen und brachte die Unterhaltung sofort aus einen anderen Gegenstand. Das zweite Mal war sie noch näher daran, die Wahrheit zu errathen. Sie fragte mich, ob ich gehört habe, in welcher Weise die Arznei die Heilung bewirke. Da sie wußte, daß die Zufälle von einer Affection des Gehirns herrührten, war sie begierig, zu erfahren, ob die ärztliche Behandlung nachtheilig auf das Gehirn des Patienten wirken werde. Diese Frage, die ich ihr natürlich nicht hatte beantworten können, richtete sie an beide Aerzte, die sie, da Oscar sie ins Vertrauen gezogen hatte, durch die Erklärung beruhigten, daß die Heilung durch Mittel bewerkstelligt werde, die das Gehirn nicht afficirten. Von diesem Augenblick an war ihre Neugierde befriedigt; andere Dinge nahmen ihr Interesse in Anspruch; sie kam nicht wieder auf den Gegenstand zurück.

Es war abgemacht, daß ich Lucilla nach London begleiten solle; Oscar sollte uns folgen, sobald sein Gesundheitszustand ihm erlauben würde die Reise zumachen. Als Lucilla’s Verlobter hatte er während ihres Aufenthalts in London Zutritt zu dem Hause ihrer Tante. Ich wurde zugelassen auf Lucilla’s Verwendung, welche erklärte, sich nicht drei Monate lang von mir trennen zu wollen, Fräulein Batchford lud mich in einem sehr höflichen Schreiben freundlichst ein, mir es am Tage in ihrem Hause wohl sein zu lassen, und wir kamen, da sie kein zweites Fremdenzimmer hatte, überein, daß ich in einem Gasthause in der Nähe schlafen solle. In demselben Hause sollte auch Oscar wohnen, sobald die Aerzte ihm die Reise nach London erlaubten. Man hoffte jetzt, daß, wenn Alles gut ginge, die Hochzeit nach Verlauf der drei Monate, die Lucilla in London bei Fräulein Batchford zubringen mußte, würde stattfinden können.

Aber drei Tage vor dem für Lucilla’s Reise nach London festgesetzten Terrain wurden diese Pläne, sofern meine Person dabei in Betracht kam, über den Haufen geworfen.

Ich erhielt einen Brief aus Paris mit schlimmen Nachrichten; meine Abwesenheit hatte die denkbar schlechteste Wirkung auf meinen guten Papa geübt. Von dem Augenblick an, wo er sich meinem Einfluß entzogen sah, war er völlig untraitabel geworden. Meine Schwestern versicherten mir, daß die abscheuliche Person, aus deren Netzen ich ihn gerettet hatte, ihn ohne Zweifel schließlich doch dahin bringen werde, sie zu heirathen, wenn ich nicht sofort wieder auf dem Schauplatz erschiene. Was war da zu thun? Nichts, als in meinem einsamen Zimmer in Wuth zu gerathen, mit den Zähnen zu knirschen und alle meine Sachen auf den Boden zu werfen und dann — nach Paris abzureisen.

Lucilla benahm sich äußerst liebenswürdig. Als sie sah, wie aufgebracht und unglücklich ich war, drängte sie mit der zartesten Rücksicht für meine Empfindungen jede Aeußerung des Verdrusses über die Durchkreuzung ihrer Pläne zurück. »Schreiben Sie mir oft«, sagte das reizende Geschöpf, »und kehren Sie so bald wie möglich zu mir zurück.« Ihr Vater brachte sie nach London; zwei Tage vor ihrer Abreise nahm ich im Pfarrhause und in Browndown Abschied und reiste wieder über Newhaven und Dieppe nach Paris.

Ich war durchaus nicht in der Stimmung, es mit diesem Ausbruch der Leidenschaft bei meinem ewig jungen Vater leicht zu nehmen; ich bestand darauf, ihn augenblicklich von Paris fortzubringen und eine größere Reise mit ihm zu machen. Ich hatte mich dieses Mal gegen seine väterlichen Umarmungen gewaffnet; ich war taub gegen den Ausdruck seiner noblen Empfindungen. Er erklärte, er werde unterwegs sterben. Wenn ich jetzt an die Sache zurückdenke, so ergötzt mich meine eigene Grausamkeit. Ich sagte: »En rute, Papa«, packte ihn in den Wagen und reiste mit ihm nach Italien. Während der ganzen Reise von Paris nach Rom verliebte er sich bald in diese, bald in jene schöne Reisende. Der alte Mann war wirklich merkwürdig. In Rom, dieser Brutstätte der Feinde der Menschheit, fand ich ein Mittel, den Urheber meiner Tage moralisch mürbe zu machen. Die ewige Stadt enthält dreihundertundfünfundsechzig Kirchen und ungefähr drei Millionen und fünfundsechzig Bilder. Ich zwang ihn, trotz seiner fünfundsiebzig Jahre, alle diese Bilder und Kirchen zu sehen. Gerade wie ich es vorausgesehen hatte, blieb die beruhigende Wirkung nicht aus. Nachdem ich den guten Papa durch Kirchen und Bilder ganz mürbe gemacht hatte, führte ich ihn als ersten Versuch vor ein Weib von Marmor. Er schlief vor der capitolinischen Venus ein und ich sagte mir, als ich das sah: Jetzt wird es mit ihm gehen, Don Juan ist endlich überwunden!

Lucilla’s Briefe an mich, die anfänglich sehr heiter gewesen waren, lauteten allmählig immer niedergeschlagener. Sie war jetzt schon sechs Wochen von Dimchurchs fort und noch immer gaben Oscars Briefe keine Hoffnung, ihn bald in London zu sehen. Sein Zustand besserte sich zwar, aber nicht so rasch, wie es sein ärztlicher Rathgeber vorausgesagt hatte. Oscar erklärte daher, darauf gefaßt sein zu müssen, daß die Zeit für Lucilla’s Rückkehr ins Pfarrhaus kommen werde, ohne daß er die Erlaubniß erhalten hätte, Browndown zu verlassen. In dieser Aussicht konnte er sie nur dringend bitten, Geduld zu haben und nicht zu vergessen, daß er in seiner Besserung, wenn auch langsam, doch beständig fortschreite. Unter diesen Umständen war Lucilla natürlich sehr verstimmt und niedergeschlagen. Sie habe, schrieb sie mir, seit ihren Kinderjahren noch nie eine so traurige Zeit bei ihrer Tante verlebt wie dieses Mal. Als ich diesen Brief las, war es mir sofort klar, daß da etwas nicht in Ordnung sei; ich stand mit Oscar in fast ebenso lebhafter Correspondenz wie mit Lucilla. Der letzte Brief, den ich von ihm erhalten hatte, widersprach seinem letzten Briefe an Lucilla schnurstracks. In seinem Briefe an mich erklärte er, er gehe seiner Wiederherstellung mit raschen Schritten entgegen; bei seiner jetzigen Kur stellten sich die epileptischen Zufälle in immer längeren Zwischenräumen ein und waren von immer kürzerer Dauer. Es war also klar, daß er Lucilla einen traurigen, mir aber einen sehr ermuthigenden Bericht über seinen Zustand hatte zugehen lassen. Ich sollte es aus Oscar’s nächstem Briefes ersehen, was das zu bedeuten habe. »Ich sagte Ihnen«, schrieb er, »in meinem letzten Briefe, daß die Verfärbung meiner Haut begonnen habe. Der Teint, den Sie einst zu bewundern die Güte hatten, sieht jetzt fahl aschgrau und so todtenähnlich aus, daß ich mich bisweilen, wenn ich mich im Spiegel sehe, vor mir selbst entsetzte. Nach Verlauf von weiteren sechs Wochen wird sich diese Farbe, der Berechnung des Doctors zufolge, in Blauschwarz verwandelt haben, und dann wird die Sättigung, wie er es nennt, vollzogen sein. Weit entfernt, irgend ein unnützes Bedauern darüber zu empfinden, daß ich die Arznei, welche so häßliche Wirkungen hervorbringt, genommen habe, bin ich meinem Höllenstein dankbarer, als es Worte auszudrücken vermögen. Wenn Sie mich nach dem geheimen Grunde dieses meines außerordentlich philosophischen Gleichmuths fragen, so kamt ich Ihnen Denselben in wenigen Worten angeben. Seit zehn Tagen habe ich keine epileptischen Zufälle gehabt, mit anderen Worten, seit zehn Tagen lebe ich im Paradiese. Ich würde mit Freuden einen Arm oder ein Bein hergegeben haben, um des beglückenden Seelenfriedens, der berauschenden Zuversicht auf die Zukunft, deren ich mich jetzt erfreue, theilhaftig zu werden. Und doch hat die Sache eine Schattenseite, die mich auch jetzt noch keine völlige Gemüthsruhe behalten läßt. Wo hat es je in dieser Welt eine Freude gegeben, die nicht den lauernden Keim eines Schmerzes in sich getragen hätte? Ich habe kürzlich eine mir bis dahin unbekannte Eigenthümlichkeit an Lucilla entdeckt, welche mich sehr peinlich berührt hat. Das offene Bekenntniß, welches ich ihr über die Veränderung meines Aeußeren zu machen entschlossen war, ist jetzt eine unendlich viel schwierigere Sache für mich geworden, als ich bei unserer Besprechung dieser Angelegenheit in Browndown vorausgesehen hatte. Haben Sie gewußt, daß Lucilla keine stärkere Antipathie hat, als die rein imaginäre gegen Leute von dunkler Hautfarbe und gegen dunkle Farbe überhaupt? Dieses sonderbare Vorurtheil ist, wie ich mir denke, ein krankhaftes Erzeugniß ihrer Blindheit und ihr selbst ebenso unerklärlich wie Anderen, Aber gleichviel, die Antipathie ist da. Lesen Sie den folgenden Auszug aus einem ihrer Briefe an ihren Vater, welchen dieser mir gezeigt hat und Sie werden nicht überrascht sein, daß ich bei dem Gedanken an die Zeit, wo ich ihr werde sagen müssen, was ich gethan habe, zittere. Sie schreibt an Herrn Finch: »Ich muß Dir leider von einem kleinen Wortwechsel mit meiner Tante erzählen. Die Sache ist jetzt wieder ausgeglichen; wir sind aber doch nicht ganz so gute Freunde mehr wie vorher. Vorige Woche hatten wir Mittagsesellschaft hier und unter den Gästen befand sich ein zum Christenthum übergetretener Indier, den meine Tante sehr gern hat. Bei meiner Toilette hatte ich den unglücklichen Gedanken, das Kammermädchen zu fragen, ob sie den Indier gesehen habe und als sie meine Frage bejahte, den noch unglücklicheren, sie zu fragen, wie er aussähe. Sie schilderte ihn mir als sehr schlank und hager, mit dunkler brauner Hautfarbe und glänzenden schwarzen Augen. Meine verwünschte Einbildungskraft machte sich sofort daran, mir dieses schreckliche Zusammenwirken dunkler Farben auszumalen. Ich mochte dagegen ankämpfen wie ich wollte, ich sah vor meinem inneren Auge ein schreckliches Bild des Indiers, wie eine Art von Ungeheuer in menschlicher Gestalt. Ich hätte eine Welt darum gegeben, wenn ich nicht nöthig gehabt hätte, in den Salon hinunterzugehen; aber meine Tante ließ mich rufen und stellte mir den Indier vor. Kaum fühlte ich, daß er sich mir näherte, als sich auch schon das Dunkel um mich her mit braunen Dämonen bevölkerte. Er ergriff meine Hand; ich gab mir die größte Mühe, mich zu beherrschen, aber ich konnte bei dem besten Willen nicht umhin, zu schaudern und zurückzufahren, als er mich berührte. Die Sache wurde noch schlimmer dadurch, daß er bei Tische neben mir saß. Nach Verlauf von fünf Minuten wimmelte es von langen, hagern schwarzäugigen Geschöpfen, deren Zahl sich mit jedem Augenblicke vermehrte und die mich immer dichter umdrängten. Die Sache endete damit, daß ich genöthigt war, vom Tische aufzustehen und das Zimmer zu verlassen. Als die Gäste alle fort waren, überhäufte mich meine Tante mit Vorwürfen. Ich gab zu, daß mein Benehmen höchst unverständig gewesen sei. Zugleich aber bat ich sie, nachsichtig gegen mich zu sein. Ich erinnerte sie daran, daß ich seit meinem ersten Lebensjahre blind sei und daß ich keine andere Vorstellung davon habe, wie eine Person aussehe, außer die ich mir durch Bilder meiner Phantasie, durch Beschreibung und durch Betastung verschaffen könne. Ich bat sie, doch zu bedenken, daß ich natürlich fortwährend der Gefahr ausgesetzt sei, mir von meiner Phantasie einen Streich spielen lassen zu müssen und daß ich keine Augen habe, mit denen ich sehen könne und die mich, wie sie es bei, anderen Menschen thun, aufklären könnten, wenn ich mir eine falsche Ansicht über Personen und Dinge gebildet habe. Es war Alles vergebens; meine Tante wollte keine Entschuldigung für mich gelten lassen. Durch, ihre Ungerechtigkeit reizte sie mich so, daß ich ihr eine Antipathie vorhielt, an der sie selbst leide und die gerade so lächerlich ist wie die meinige, nämlich die gegen Katzen. Sie, die sehen kann, daß Katzen harmlos sind, schaudert trotzdem und wird bleich, sobald sie sich mit einer Katze in demselben Zimmer befindet. Wenn ich nun meinen unsinnigen Abscheu gegen dunkle Menschen und ihre gegen Katzen zusammenhalte, so möchte ich doch fragen, wer von uns Beiden ein Recht hat, dem Anderen etwas vorzuwerfen?«

So lautete der Auszug aus Lucilla’s Brief an ihren Vater. Dann nahm Oscar wieder auf:

»Ich möchte wissen, ob Sie es jetzt begreiflich finden werden, daß ich meinen Zustand in meinen Briefen an Lucilla so schlimm wie möglich geschildert habe. Das ist die einzige Entschuldigung, die ich dafür vorbringen kann, daß ich nicht zu ihr nach London reise. Trotz meiner Sehnsucht, sie wiederzusehen, kann ich es doch nicht über mich gewinnen, mich der Gefahr auszusetzen, mit ihr in Gegenwart von Fremden zusammenzukommen, welche meine schreckliche Hautfarbe sofort bemerken und ihr verrathen würden. Stellen Sie sich vor, wie sie schaudern und vor meiner Hand zurückfahren würde, wenn ich sie berührte! Nein, nein, ich muß an diesem ruhigen Orte eine Gelegenheit abpassen, wo ich, nachdem ich Zeit genug gehabt, sie für die Enthüllung, wenn sie nothwendig werden sollte, vorzubereiten, ihr mittheilen werde, was sie fürchte ich, erfahren muß und wo kein anderer Zeuge des ersten schmerzlichen Eindrucks, welchen ich auf sie hervorbringen werde, zugegen sein wird als Sie.

Ich habe diesem schon zu langen Schreiben nur noch hinzuzufügen, daß ich Ihnen dieses Alles im strengsten Vertrauen schreibe. Sie haben mir versprochen, meiner Entstellung gegen Lucilla keine Erwähnung zu thun, ehe ich Sie dazu autorisiere. Ich binde Ihnen jetzt dieses Versprechen dringender als je auf die Seele. Die wenigen Menschen hier haben sich alle wie Sie zur Geheimhaltung verpflichtet. Wenn es wirklich unvermeidlich sein sollte sie mit der Wahrheit bekannt zu machen, so darf ich allein auf meine Weise und zu der mir gut scheinenden Zeit sie ihr mitteilen.«

»Wenn sie nothwendig sein sollte« — »wenn es wirklich unvermeidlich sein sollte diese Sätze in Oscar’s Brief überzeugten mich, daß er schon anfing, sich mit der unsinnig trügerischen Vorstellung zu trösten, daß es auf die Dauer möglich sein werde, die widerwärtige Veränderung seines Aeußeren vor Lucilla geheim zu halten. Wenn ich in Dimchurch gewesen wäre, würde mich die Wendung, welche die Dinge jetzt zu nehmen schienen, mit ernsten Besorgnissen erfüllt haben. Aber räumliche Entfernung wirkt sehr eigenthümlich auf die Weise, in welcher wir die Dinge anzusehen pflegen. In Italien betrachtete ich Lucilla’s Antipathien und Oscar’s Skrupel als einer ernsten Erwägung gleich unwerth. Früher oder später, sagte ich mir, würde die Zeit dieses junge Paar schon wieder zur Vernunft bringen, es würde sich heirathen und damit würde die Sache ein Ende haben. Inzwischen fuhr ich fort den guten Papa mit heiligen Familien und Kirchen zu tractiren. O, der arme alte Mann, wie er beim Anblick von Caracci’s und Kirchenkuppeln gähnte! Und wie heilig er mir versprach, sich nie mehr zu verlieben, wenn ich ihn nur wieder nach Paris bringen wolle!

Ein paar Tage nach dem Empfang von Oscars Brief reisten wir nach Hause. Ich ließ meinen jetzt umgewandelten halten Vater seine müden alten Glieder in seinem alten Lehnstuhl ausruhen; ich nahm Abschied in der festen Ueberzeugung, daß er vielleicht noch einer platonischen Liebe zu einer Dame seines Alters, aber sonst keiner Extravaganz mehr fähig sei.

»O, liebes Kind, laß mich ausruhen«, rief er, als ich ihm Lebewohl sagte, »und zeige mir in meinem ganzen Leben kein Bild und keine Kirche wieder!«


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