Fräulein oder Frau?
Kapitel 10
Die Gasse beim grünen Anker
Eine Stunde später, als er erwartet worden war, erschien Richard Turlington auf seinem Comptoir im Mittelpunkte der Stadt. Er kam allen Fragen, die sein Aussehen sonst unzweifelhaft hervorgerufen haben würde, durch die Erklärung zuvor, daß er krank sei. Bevor er anfing, sich mit den laufenden Geschäften zu befassen, fragte er, ob jemand da sei, der ihn sprechen wolle. Einer der Diener von Muswell Hill wartete mit einem zweiten Paket für Fräulein Lavinia, das durch ein diesen Morgen vom Lande gekommenes Telegramm beordert worden war. Turlington ließ sich den Namen des Dieners sagen und hieß den Mann dann in sein Privatzimmer führen. Jetzt erst erfuhr er, daß Launcelot Linzie, ganz wie er es vermutet hatte, an jenem Tage, wo der Advokat seine Instruktionen in Betreff der Mitgift und des Testaments entgegengenommen hatte, sich im Garten verborgen gehalten habe.
In zwei Stunden war Turlingtons Arbeit getan. Als er das Comptoir verlassen hatte, wandte er sich, sobald er vom Hause nicht mehr gesehen werden konnte, statt den Weg zu nehmen, der nach seinem Hause in der Stadt führte, nach Osten. Bald betrat er das Straßenlabyrinth, welches in jenes Quartier im Osten Londons, in die übelduftende Nähe des Flusses führte. Sein Entschluß war gefaßt. Ein wohlüberlegtes Verbrechen wandelte bereits vor ihm her, als er seines Weges unter seinen Mitmenschen einherschritt. Er war in der Sakristei der St. Columbus-Kirche gewesen und hatte sich überzeugt, daß er durch kein falsches Gerücht irre geleitet sei. Er hatte die Eintragung im Heiratsregister gesehen. Der einzige dabei unerklärliche und geheimnisvolle Umstand war, daß Launce seiner Frau gestattet hatte, in das Haus ihres Vaters zurückzukehren. Ganz außer Stande, sich dieses Verfahren zu erklären, konnte Turlington nichts tun, als die Tatsachen nehmen, wie sie lagen und beschloß daher, möglichst viel aus der Zeit zu machen, in welcher das Weib, das ihn betrogen hatte, noch unter seinem Dach weilte.
Ein abschreckend widerwärtiger Ausdruck malte sich in seinen Zügen, als er sich an dem Gedanken weidete, daß er sie, unbeschützt von ihrem Manne, in seinem Landhause habe. „Wenn Launcelot Linzie kommt, sie zurückzuverlangen“, sagte er zu sich, „so soll er finden, daß wir miteinander quitt sind.“... Er sah nach seiner Uhr. War es möglich, den letzten Zug noch zu erreichen, und diesen Abend noch zurückzukehren? Nein – der letzte Zug war schon fort. Würde sie sich seine Abwesenheit zunutze machen, um zu entkommen? Davor war ihm nicht bange. Sie würde ihrer Tante nie erlaubt haben, ihn nach Lord Winwoods Hause zu schicken, wenn sie den leisesten Verdacht gehabt hätte, daß dieser Weg ihn zur Entdeckung der Wahrheit führen könne. Wenn er nur mit dem ersten Zuge am nächsten Morgen zurückkehrte, so war das, darüber konnte er sich beruhigen, früh genug. Inzwischen hatte er die ganze Nacht vor sich, Zeit genug, sich mit der ernsten Frage zu beschäftigen, mit der er im Reinen sein mußte, bevor er London verließ – der Frage wegen Rückzahlung der vierzigtausend Pfund. Jetzt gab es nur noch einen Weg, sich das Geld zu verschaffen. Sir Joseph hatte sein Testament gemacht: Sir Josephs Tod würde seinen alleinigen Exekutor und Verwalter, wie der Advokat es ausdrücklich gesagt hatte, zum unbeschränkten Herrn seines Vermögens machen... Turlington beschloß, in vierundzwanzig Stunden die Sache zu entscheiden – er wollte den Schlag ohne eigene Gefahr durch eine andere Hand führen lassen. Den vielen Umständen gegenüber, welche es wahrscheinlich machten, hielt Turlington sich jetzt fest überzeugt, daß Sir Joseph um den Betrug, der gegen ihn verübt worden war, gewußt habe. Der Ehekontrakt, das Testament, die Anwesenheit der Familie in seinem Landhause, - alle diese Dinge hielt er für eben so viele Kriegslisten, die nur ersonnen seien, um ihn bis zum letzten Augenblick zu täuschen. Die Wahrheit lag für ihn in jenen Worten, die, von ihm belauscht, zwischen Sir Joseph und Launce gewechselt worden waren und in der Tatsache, daß Launce, ohne Zweifel dazu im Geheimen ermuntert, in Muswell Hill gewesen war.
„Ihr Vater soll mir das doppelt entgelten, mit seinem Gelde und seinem Leben...“ Mit diesem Entschluß im Herzen wand sich Richard Turlington durch die Gassen am Flusse und hielt vor einer Sackgasse, die den Namen der „Gasse beim grünen Anker“ führte, und welche bis auf den heutigen Tag als Schlupfwinkel der verworfensten Spitzbuben Londons berüchtigt ist.
Der Polizeioffiziant, der seinen Stand an der Ecke hatte, mahnte ihn zur Vorsicht, als er in die Gasse einbog. „Sie werden mir schon nichts tun“, antwortete Turlington und ging seines Weges weiter, nach einem am Ende desselben gelegenen Wirtshaus. Der vor der Tür stehende Wirt gab ihm schweigend zu verstehen, daß er ihn erkenne, und ging ihm voran ins Haus. Sie durchschritten ein mit trinkenden Matrosen aller Nationen gefülltes Zimmer, stiegen eine an der Hinterseite des Hauses liegende Treppe hinauf und hielten vor der Tür eines Zimmers im zweiten Stock.
Jetzt erst fing der Wirt an zu sprechen: „Er hat sein Geld schon aufgebraucht, Herr, wie gewöhnlich. Sie werden sehen, er hat kaum noch einen Lumpen auf dem Leibe. Ich zweifle, daß er es noch lange treiben wird. Gestern abend hatte er wieder einen Anfall und der Doktor schüttelt den Kopf dazu.“ Nach diesen einleitenden Bemerkungen öffnete er die Tür und Turlington trat ins Zimmer.
Auf dem elenden Bette lag ein alter Mann mit grauen Haaren, von gigantischer Statur; er hatte nichts auf dem Leibe, als ein zerrissenes Hemd und eine geflickte, schmutzige Hose. Neben seinem Bette saßen, nur durch einen zerbrechlichen Tisch, auf dem eine Branntweinflasche stand, von ihm getrennt, zwei scheußliche, schielende, geschminkte Ungeheuer in Frauenkleidern. Das Zimmer roch nach Branntwein und Opium. Bei Turlingtons Eintritt erhob sich der alte Mann in seinem Bette und begrüßte ihn mit gierigen Blicken und ausgestreckter Hand.
„Geld, Herr!“ rief er ihm heiser entgegen. „Eine Krone zum voraus, zur Erinnerung an alte Zeiten!“
Turlington wandte sich, ohne ihm zu antworten, mit der Börse in der Hand, an die Weiber.
„Seine Kleider sind natürlich bei dem Pfandleiher. Wieviel hat er darauf geborgt?“
„Dreißig Schilling.“
„Bringt sie her, aber rasch. Es soll nicht Euer Schade sein.“
Die Weiber nahmen die Pfandscheine aus den Hosentaschen des Alten und eilten mit denselben davon.
Turlington schloß die Tür und setzte sich neben das Bett. Vertraulich legte er seine Hand auf die Schulter des Riesen, sah ihm gerade ins Gesicht und flüsterte ihm zu: „Thomas Wild!“
Der Mann fuhr zusammen und rieb sich mit seiner großen, behaarten Hand die Augen, wie um sich zu vergewissern, ob er wache oder schlafe. „Seit zehn Jahren habt Ihr mich nicht bei meinem Namen genannt, Herr! Wenn ich Thomas Wild bin, wer seid denn Ihr?“
„Wieder dein Kapitän.“
Wild richtete sich wieder im Bette auf und sagte Turlington die nächsten Worte flüsternd ins Ohr: „Wieder einer aus dem Wege zu räumen?“
„Ja.“
Der Riese schüttelte kläglich seinen kahlen, tierischen Kopf: „Es ist zu spät. Ich tauge nicht mehr zur Arbeit. Sehen Sie einmal.“ Dabei hielt er die Hand empor und zeigte Turlington, wie sie fortwährend zitterte. „Ich bin ein alter Mann“, sagte er und ließ die Hand wieder schwer neben sich aufs Bett fallen.
Turlington sah nach der Tür und flüsterte ihm zu: „Der Mann ist eben so alt wie du, und das Geld ist doch nicht zu verachten.“
„Wieviel?“
„Einhundert Pfund.“
Thomas Wilds Blicke hefteten sich gierig auf Turlingtons Gesicht. „Lassen Sie einmal hören, Kapitän“, sagte er leise; „lassen Sie einmal hören!“
Als die Frauen mit den Kleidern zurückkamen, hatte Turlington bereits das Zimmer verlassen. Ihr versprochener Lohn lag ihrer harrend auf dem Tische und Thomas Wild wartete ungeduldig auf sein Zeug, um sich anzukleiden und fortzugehen. Auf alle Fragen, die sie an ihn richteten, erhielten sie nur die eine Antwort, er habe ein Geschäft abzumachen, das keinen Aufschub leide. In ein oder zwei Tagen würden sie ihn mit gefüllter Börse wiedersehen. Mit dieser Versicherung ergriff er seinen in der Ecke des Zimmers liegenden Knittel und eilte raschen Schrittes leise durch die Hintertür des Hauses in die Nacht hinaus.
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