Zwei Schicksalswege

Sechsundzwanzigstes Kapitel

Ein Gespräch mit meiner Mutter

Ich langte zu Hause noch zeitig genug an um mir zwei oder drei Stunden Ruhe zu gönnen, bevor ich meiner Mutter den gewohnten Morgenbesuch in ihrem Zimmer abstattete. Die eigentümliche Weise in der sie mich bei dieser Gelegenheit empfing und die mir an ihr ganz fremd war, konnte mir unmöglich entgehen.

Als unsere Blicke sich zuerst begegneten, sah sie mich so unruhig und fragend an, als quälte sie irgend ein Zweifel, den sie nicht auszusprechen wagte, und als ich mich wie gewöhnlich nach ihrem Befinden erkundigte, gab sie mir zu meinem Erstaunen eine so ungeduldige Antwort, als zürne sie mir, dass ich den Gegenstand berührte. Zuerst schrieb ich ihr verändertes Benehmen dem Umstande zu, dass sie meine Abwesenheit während der Nacht vielleicht gewahr geworden war, und den wahren Grund davon vermutete.

Sie spielte aber nicht in entferntester Art auf Frau van Brandt an und keines ihrer Worte deutete auch nur annähernd an, dass ich sie betrübt oder verletzt hätte. So blieb mir nur die Erklärung denkbar, dass sie in Bezug auf sich selbst oder auf mich etwas Wichtiges zu sagen hatte, und aus mir unbekannten Gründen mit der Mitteilung zurück hielt, weil ihr der Augenblick nicht geeignet erschien.

Zu unserem gewöhnlichen Gesprächsgegenständen zurückkehrend, kamen wir auf meinen Besuch in Schottland, der meiner Mutter immer ein willkommenes Thema war. Natürlich berührten wir dabei auch Miss Dunroß und da harrte meiner wiederum, wo ich es am wenigsten erwartete, eine Überraschung.

»Du sprachst neulich von der grünen Flagge,« sagte meine Mutter, »die des armen Dermody Tochter für Dich arbeitete, als ihr noch beide Kinder wart. Hast Du sie wirklich bis jetzt aufgehoben?«

»Ja.«

»Wo hast Du sie gelassen? In Schottland?«

»Ich habe sie mit nach London gebracht.«

»Warum?«

»Ich versprach Miss Dunroß die grüne Flagge mit zu nehmen wohin ich ginge.«

Meine Mutter lächelte.

»George, ist es möglich, dass Du darüber ebenso denkst wie die junge Dame auf Schottland? Glaubst Du nach Verlauf so vieler Jahre an die grüne Flagge immer noch als an das Mittel, das Dich mit Mary Dermody wieder vereinen soll?«

»Sicher nicht! Ich willfahre damit nur einem der Wünsche der armen Miss Dunroß. Durfte ich ihr nach Allem, was ich ihrer Güte dankte, die kleine Bitte abschlagen?«

Meiner Mutter Gesicht wurde wieder ernst und sie sah mich aufmerksam an.

»Es scheint als hätte Miss Dunroß Dir einen sehr günstigen Eindruck gemacht,« sagte sie.

»Ja, das gestehe ich. Ich fühle ein tiefes Interesse für sie.«

»Wäre sie nicht unheilbar krank, George, so hätte sie auch mein näheres Interesse erregt - ich hätte dann vielleicht an Miss Dunroß gern als an meine Schwiegertochter gedacht.«

»Was nutzt es, Mutter, wenn man über Unmögliches grübelt. Die traurige Wirklichkeit genügt.«

Meine Mutter zögerte einen Augenblick ehe sie mir die nächste Frage vorlegte.

»Blieb Miss Dunroß in Deiner Gegenwart immer verschleiert, wenn es hell im Zimmer war?«

»Immer.«

»Sie gestattete Dir nie einen Blick in ihr Gesicht zu tun?«

»Niemals.«

»Und, dass das Licht ihr Schmerzen verursacht, wenn es ihre Haut berührt, war der einzige Grund, den sie dafür angab?«

»Deine Worte klingen, Mutter, als ob Du die Wahrheit dessen, was mir Miss Dunroß sagte, anzweifeltest.«

»Nein, George ich, zweifele nur ob sie Dir die volle Wahrheit sagte.«

»In wie fern meinst Du das?«

»Verzeih mir mein lieber Sohn, aber ich glaube, dass Miss Dunroß einen viel tieferen Grund hatte, ihr Gesicht zu verbergen, als der, den sie nannte.«

Ich schwieg. Noch nie war mir der Verdacht aufgestiegen, den diese Worte in mir erweckten. Es hatte mir genügt, dass ich in medizinischen Büchern von Fällen krankhafter Nervosität gelesen hatte, die dem Zustande den Miss Dunroß beschrieb ganz ähnlich waren. Nun die Vermutung meiner Mutter aber den Weg zu mir gefunden hatte, machte sie mir einen im höchsten Grad peinlichen Eindruck. Mein Gehirn schuf sich die entsetzlichsten Zerrbilder und entweihte mir die reinsten, teuersten Erinnerungen an Miss Dunroß. Vergeblich wechselten wir den Gegenstand des Gesprächs - der schmerzliche Einfluss, der sich meiner bemächtigt hatte, war zu stark um durch eine Unterhaltung verwischt zu werden. Mit der bestmöglichsten Entschuldigung die ich erfinden konnte, verließ ich das Zimmer und eilte zu Frau van Brandt, in deren Gegenwart allein ich hoffen durfte mir selbst zu entfliehen.


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