Blinde Liebe

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Als Iris Hugh Mountjoys Anerbieten, seine Besitzung in Schottland als Aufenthaltsort zu benützen, angenommen hatte, reiste sie dorthin mit der Absicht, sich vor aller Welt zu verbergen. Zu viele Menschen, dachte sie, kannten ihre Geschichte und wussten, was sie getan hatte. Es war nicht wahrscheinlich, dass die Direktoren und Aufsichtsräte der Versicherungsgesellschaft alle über ein so ungewöhnliches Ereignis vollkommenes Stillschweigen bewahrt hatten. Und selbst wenn sie Lady Harry nicht der Teilnahme an dem Verbrechen beschuldigten, wie sie es gekonnt hätten, so würden sie doch sicherlich die Geschichte und den zeitweilig erfolgreichen Ausgang dieses eigentümlichen Betruges hie und da erzählt haben, und wahrscheinlich um so eher, nachdem Lord Harry ermordet worden war. Sie konnte daher, wie sie sich selbst sagte, sich niemals wieder vor der Welt sehen lassen.

In ihrer Begleitung befanden sich Fanny Mere, ihre Freundin und ihr Kammermädchen zugleich, die Frau, deren treue Anhänglichkeit an sie sich in so hervorragender Weise betätigt hatte, und außerdem noch Mrs. Vimpany, welche in Zukunft die Geschäfte einer Haushälterin besorgen sollte.

Nachdem ein angemessener Zeitraum vergangen war, suchte Hugh Mountjoy Iris in Schottland auf. Sie war jetzt Witwe. Sie wusste sehr gut, was er ihr zu sagen wünschte, und kam ihm zuvor. Sie teilte ihm mit, dass nichts sie jemals veranlassen könnte, die Frau eines andern Mannes zu werden, nachdem sie sich selbst so erniedrigt habe. Hugh empfing diese vertrauliche Mitteilung, ohne eine Bemerkung dazu zu machen. Er blieb indessen in der Nachbarschaft, besuchte sie häufig, aber sprach nie ein Wort von Liebe zu ihr. So wurde er ihr mit der Zeit notwendig. Seine häufigen Besuche wiederholten sich schließlich jeden Tag. War er früher nur nachmittags gekommen, so erschien er jetzt schon am frühen Morgen und blieb den ganzen Tag über da. Als die Zeit endlich gekommen war, wo Iris diesen seinen stummen Bewerbungen nachgeben durfte und er gar nicht mehr das Haus verließ, da schien ihnen beiden überhaupt keine Änderung eingetreten zu sein; aber sie setzten ihr zurückgezogenes Leben in der gleichen Art und Weise weiter fort, und ich glaube nicht, dass sie es jemals wieder ändern werden.

Ihr Haus war an der Nordküste des Solway Firth gelegen, nahe bei der Mündung des Annanflusses, aber auf dessen westlichem Ufer, gegenüber der kleinen Stadt Annan. Hinter dem Hause breitete sich ein großer Garten aus; die Vorderseite blickte während der Ebbe über einen breiten Dünenstreifen und während der Flut über das Wasser selbst. Das Haus war mit einer guten Bibliothek versehen. Iris sorgte für ihren Garten, ging auf der Düne spazieren, las oder arbeitete. So bildeten sie einen sehr stillen Haushalt. Mann und Frau redeten wenig. Sie gingen zusammen im Garten spazieren, und dabei war sein Arm um ihre Taille geschlungen, oder sie hatten sich bei den Händen gefasst. Wenn sie die Vergangenheit auch niemals ganz vergessen konnten, so hörte sie doch nach und nach auf, sie zu beunruhigen und zu quälen; sie erschien ihnen wie ein wüster, schrecklicher Traum, der seine Spuren nur in einer angenehmen Melancholie zurückgelassen hatte, welche in den längst vergangenen glücklichen Tagen der jungen Frau so ganz fremd gewesen war.

Und dann trat das letzte Ereignis ein, welches der Erzähler dieser Geschichte zu berichten hat.

Es nahm seinen Anfang an einem Morgen mit einem Brief.

Mrs. Vimpany empfing ihn. Sie erkannte die Handschrift sofort, erschrak und verbarg ihn schnell in ihrer Tasche. Sobald sie es möglich machen konnte, unauffällig ihr Zimmer aufzusuchen, begab sie sich dorthin, öffnete den Brief und las ihn.

»Gutes und liebenswürdiges Wesen! Schon seit langer Zeit habe ich, da ich es für sehr wahrscheinlich hielt, daß ich mich noch einmal in dieser Art und Weise an Dich zu wenden haben würde, darüber genaue Erkundigungen eingezogen, wo und bei wem Du Dich aufhältst. Das ausfindig zu machen, hat mir natürlich gar keine Schwierigkeiten verursacht, denn ich brauchte ja nur Dich in Verbindung mit Mr. Mountjoy zu sehen und auszukundschaften, wo er lebte. Ich kann Dir daher auch nur Glück wünschen, dass Du es auf so vortreffliche Weise verstanden hast, für Dich zu sorgen. Du hast Dich wahrscheinlich für Dein ganzes noch übriges Leben in einem sehr angenehmen Hause niedergelassen. Ich empfinde darüber eine so lebhafte Genugtuung, als ob ich selbst zu diesem befriedigenden Ergebnis beigetragen hätte.

»Ich habe daher auch jetzt die Absicht, mich nicht noch unangenehmer zu machen, als ich es an und für sich schon zu tun genötigt bin. Aber Not kennt kein Gebot. Du wirst mich verstehen, wenn ich Dir sage, dass ich all mein Geld ausgegeben habe. Ich bedaure nicht im entferntesten die Art, wie das geschehen ist, aber deswegen bleibt die Tatsache doch bestehen, dass es fort ist, und das ist es auch, was mir tief ins Herz schneidet.

»Ich habe also entdeckt, dass der verstorbene, tief betrauerte Lord Harry Norland, dessen Tod ich übrigens auch selbst aus sehr gewichtigen Gründen auf das lebhafteste beklage, mir in Betreff einer Summe Geldes einen niederträchtigen Streich gespielt hat. Die Geldsumme nämlich, für die er sein Leben versichert hatte, betrug nicht weniger als fünfzehntaufend Pfund. Er selbst hat jedoch mir angegeben, dass es nur viertausend Pfund gewesen seien. Als Vergeltung für gewisse Dienste, die ich ihm bei einer bestimmten Angelegenheit erwiesen hatte, sollte ich die Hälfte der Versicherungssumme bekommen. Ich habe aber nur zweitausend erhalten. Infolge dessen ist man mir noch die Summe von fünftausendfünfhundert Pfund schuldig. Das ist gewiss ein großer Haufen Geld, aber Mr. Mountjoy ist ja, wie ich glaube, ein reicher Mann. Er wird ohne Zweifel die Notwendigkeit einsehen, dass er mir dieses Geld ohne weitere Frage und ohne Aufschub auszahlen muss.

»Du wirst ihn daher sofort aufsuchen; er ist jetzt, wie ich höre, zu Hause; Du kannst ihm dann irgend einen Teil des Briefes, welchen Du willst, oder auch den ganzen, wenn es Dir wünschenswert erscheint, vorlesen und ihn dabei wissen lassen, dass ich im vollen Ernst spreche. Ein Mann mit leeren Taschen kann nicht anders als ernsthaft sein.

»Höchst wahrscheinlich wird er auf meine Forderung nicht eingehen wollen.

»Sehr gut. In diesem Fall wirst Du ihm sagen, dass ein Betrug begangen worden ist, und dass ich in Bezug darauf bereit bin, ein volles Geständnis abzulegen. Ich habe damals bei dem Tode meines Patienten auf die dringenden Bitten von Lord Harry mich damit einverstanden erklärt, dass der Tote für den irischen Lord ausgegeben wurde. Ich bin darauf fortgegangen, fest entschlossen, nichts mehr mit der weiteren Schurkerei zu tun zu haben, welche, wie ich glaube, ins Werk gesetzt wurde, um den vollen Betrag der Summe zu erhalten, für die sein Leben versichert war.

»Die unmittelbar darauf erfolgte Ermordung Lord Harrys veranlasste die Versicherungsgesellschaft, die beabsichtigte Klage fallen zu lassen. Ich werde nun den Herren den gegenwärtigen Aufenthaltsort seiner Witwe mitteilen und mein Zeugnis zu ihrer Verfügung stellen. Was auch geschehen mag, ich werde gewiss die ganze Sache an die Öffentlichkeit bringen. Mir kann dabei gar nichts geschehen, während dagegen weder Mr. Hugh Mountjoy noch seine Frau sich jemals wieder vor der Welt sehen lassen dürfen, ob nun der Staatsanwalt die Sache in die Hände nimmt oder nicht.

»Du kannst Mr. Mountjoy sagen, was Du willst, nur eines nicht: dass mit mir zu spaßen sei. Ich werde ihm morgen meinen Besuch machen und hege die sichere Erwartung, dass ich das Geschäft so gut als erledigt finden werde.

A. V.«

Mrs. Vimpany ließ den Brief erschreckt sinken. Ihr Gatte war seit mehr als zwei Jahren aus ihrem Gesichtskreis verschwunden gewesen; sie hatte sich dem Gedanken hingegeben, er halte sich irgendwo in sicherer Verborgenheit auf, wohl in einem weit entlegenen Lande, aus welchem er niemals zurückkehren werde. Aber ach! Unsere Welt hat kein solch entlegenes Land, und selbst wenn sich dieser gefährliche Mensch so weit von dem Schauplatz seiner Verbrechen entfernt hätte, wie die Rocky Mountains entlegen sind, so konnte ihn doch ein Eilzug und ein Schnelldampfer schleunigst wieder an den Ort seiner früheren Tätigkeit bringen, sobald er Sehnsucht nach etwas mehr Vergnügen und nach der Gesellschaft seiner alten Freunde hat.

Mr. Vimpany war also zurückgekehrt. Was sollte sie nun tun? Was würde Iris tun? Was würde Mr. Mountjoy tun?

Sie las den Brief noch einmal durch. Zwei Dinge standen dem Plan des Doktors entgegen. Erstens wusste er nicht, dass das Geld der Versicherungsgesellschaft vollständig zurückerstattet war, und zweitens hatte er ebensowenig eine Idee davon, dass es einen Augenzeugen des von ihm an dem Dänen verübten Mordes gab. Sie beschloss, ihm nur die letzte Tatsache mitzuteilen. Sie war jetzt mutiger und besser, als sie es jemals früher gewesen war. Sie sah klarer, dass der Weg eines Verbrechers auch für diesen selbst nicht immer so leicht ist. Wenn er wusste, dass sein Verbrechen für ihn verhängnisvoll werden konnte, wenn er wusste, dass er ohne jeden Zweifel des Mordes angeklagt werden würde, falls er es wagen sollte, sich zu zeigen, oder den Versuch machte, Geld zu erpressen, dann würde er gewiss von seinem schlimmen Vorhaben abstehen. Vor solch einer Gefahr musste selbst der verhärmteste Verbrecher zurückschrecken.

Sie sah ferner ein, dass es wünschenswert war, vor ihm zu verbergen, auf welche Weise man ihm sein Verbrechen nachweisen könnte; ebenso durfte sie ihm nicht den Namen des einzigen Zeugen, der gegen ihn aussagen konnte, nennen. Sie wollte ihm nur in aller Ruhe mitteilen, was geschehen würde, wenn er auf seinem Verlangen bestände, und ihn auffordern, sich wieder zu entfernen oder die Folgen seiner Handlungsweise auf sich zu nehmen.

Und dennoch, selbst wenn er sich dadurch für jetzt vertreiben ließe, würde er doch wieder zurückkehren. Sie würde hinfort in steter Furcht vor seiner Rückkehr leben. Ihre Ruhe würde für immer dahin sein.

Gott im Himmel, sollte denn wirklich solch ein Mensch solche Gewalt über das Leben von anderen haben?

Sie verbrachte den schrecklichsten Tag ihres ganzen Lebens. Sie sah im voraus, dass das Glück dieses Hauses vernichtet war. Sie malte sich das Kommen ihres würdigen Gatten aus, aber sie konnte sich seinen Weggang nicht vorstellen, denn sie hatte ihn noch niemals als den Geschlagenen und Überwundenen das Feld räumen sehen.

Er würde in seiner unverschämten und rohen Art und Weise eintreten mit seinem frechen Selbstvertrauen, als wäre er der Herr der Situation und könnte als solcher tun und reden, was er wollte. Er würde sie fragen, was sie getan hätte; er würde ihr fluchen, wenn er erfuhr, dass sie nichts für ihn getan hätte; er würde sich breit und unverschämt in den nächsten Stuhl werfen, die Beine weit von sich strecken und ihr auftragen, zu gehen und Mr. Mountjoy zu holen. Würde sie wie in früheren Zeiten ihm auch jetzt noch gehorsam sein, oder würde sie den Mut finden, ihm zu widerstehen? Ja, sie würde es können, sie würde es für Iris können, sie würde es für den Mann können, der so freundlich mit ihr gewesen war, sie würde es für Hugh Mountjoy können.

Am Abend saßen die beiden Frauen, Mrs. Vimpany und Fanny, in dem Zimmer der Haushälterin. Beide hatten ihre Arbeit auf dem Schoß liegen. Keine arbeitete daran. Der Herbsttag war sehr stürmisch gewesen, und der Sturm hatte gegen abend noch zugenommen.

»Woran denken Sie?« fragte Fanny.

»Ich dachte an meinen Gatten. Wenn er zurückkommen sollte, wenn er irgendwelche Drohungen ausstoßen sollte...«

»O, dann würden Sie mich mein Schweigen brechen, dann würden Sie mich reden lassen müssen!«

»Ja, um Iris willen. Einstens würde ich ihn beschützt haben, wenn ich gekonnt hätte, nun aber nicht mehr, denn jetzt weiß ich endlich, dass auch nicht ein guter Faden an ihm ist.«

»Sie haben von ihm gehört? Ich sah heute morgen den Brief in dem Kasten und erkannte sofort seine Handschrift. Ich wartete daher nur, dass Sie sprechen würden.«

»Leise, Fanny, leise! Ja, ich habe von ihm gehört, er braucht Geld. Er will morgen früh hieher kommen und von Mr. Mountjoy durch Drohungen Geld erpressen. Halten Sie Ihre Herrin in ihrem Zimmer fest, überreden Sie sie, im Bett zu bleiben, oder sonst irgend etwas dergleichen.«

»Er weiß nicht, was ich gesehen habe. Drohen Sie ihm mit der Enthüllung seiner Mordtat; sagen Sie ihm«, fuhr Fanny fort, »dass er, wenn er es wagt, hieher zu kommen, wenn er sich nicht augenblicklich wieder entfernt, dass er wegen des an dem Dänen verübten Mordes verhaftet würde. Ich werde gewiss nicht länger Stillschweigen beobachten.«

»Ich werde es ihm sagen, ich bin fest dazu entsschlossen. O, wer wird uns von diesem Ungeheuer befreien?«

Draußen stieg der Sturm immer höher und höher; die beiden Frauen hörten ihn heulen und von entlaubten Bäumen die dürren Äste herunterreißen und zerknicken; sie hörten das Donnern und Brüllen der Meereswogen, welche die Flut über die gelben Sanddünen trieb.

Plötzlich, mitten in dem Sturm, trat eine augenblickliche Stille ein. Wind und Wasser schienen sich beruhigt zu haben, und durch die Stille drang wie eine Antwort auf die Frage von Mrs. Vimpany ein lauter Schrei, der Schrei eines Menschen, der sich in Todesgefahr befindet.

Die beiden Frauen fassten sich an der Hand und eilten ans Fenster. Sie rissen es auf. Der Sturm fing von neuem an zu toben. Ein neuer Anprall trieb sie zurück. Die Wogen brüllten, der Sturm heulte. Sie hörten die Stimme nicht wieder. Sie schlossen das Fenster und ließen die Gardinen herunter.

Es war lange nach Mitternacht, bevor sie es wagten, ins Bett zu gehen. Eine von ihnen lag während der ganzen Nacht wach. In dem heulenden Sturm hatte sie ein Vorzeichen zu erkennen geglaubt, dass der Zorn des Himmels von neuem auf ihre Herrin fallen wolle.

Ihre Ahnung war jedoch nicht richtig gewesen. Die Rache des Himmels hatte diesmal einen viel Schuldigeren erreicht.

Am Morgen, als sich der Sturm gelegt hatte, fand man an einem der Pfähle, die ein Netz ausgespannt hielten, am Ufer des Solway Firth einen Leichnam angeschwemmt. Er wurde von Hugh, welcher hinausgegangen war, um ihn anzusehen, als der Leichnam Vimpanys erkannt.

Ob der Doktor sich auf dem Rückweg nach Annan befunden oder ob er beabsichtigt hatte, noch am Abend anstatt am nächsten Morgen Mr. Mountjoy aufzusuchen, niemand konnte es sagen. Seine Frau vergoss Tränen, aber es waren Tränen der Erleichterung. Der Mann wurde als ein Fremder beerdigt. Hugh Mountjoy behielt seine Entdeckung für sich. Mrs. Vimpany warf den Brief ihres Gatten ins Feuer. Keiner von ihnen hielt es für gut, die Ruhe von Iris durch die Erwähnung des Mannes zu stören.

Einige Tage später indessen kam Mrs. Vimpany die Treppe herunter in einer Witwenhaube. Auf einen fragenden Blick von Iris entgegnete sie ruhig:

»Ja, ich habe gestern erfahren, dass mein Gatte gestorben ist. Ist es nicht besser, ist es vielleicht nicht für ihn selbst besser, dass er nicht mehr lebt? Er kann nun ferner nichts Schlechtes mehr anstellen, er kann in keinen Haushalt mehr Unglück bringen. Er ist tot!«

Iris gab keine Antwort. Ja, auch sie hielt es für besser, für weit besser, dass der Doktor tot war. Aber wie sie von diesem Mann befreit worden und welchen neuen Gefahren sie durch ihn ausgesetzt gewesen war, das wusste sie nicht und sollte es auch niemals erfahren.

Sie hatte ein Geheimnis, nur ein einziges, welches sie vor ihrem Gatten verborgen hielt. In ihrem Schreibtisch bewahrte sie eine Locke von Lord Harrys Haar auf. Warum? - Ich weiß es nicht. Blinde Liebe stirbt niemals ganz.

ENDE


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