Das Duell im Walde

Vorläufige Erklärungen der Entlastungszeugen, aufgenommen auf dem Bureau des Verteidigers

Nr. 1. Fräulein Bertha Laroche von Nettlegrove Hall bezeugt und sagt aus:

I.

Gegen die Mitte des Monats Juni im Jahre 1817 unternahm ich eine Badekur zu Maplesworth in Derbyshire, und war hierbei von meiner nächsten noch lebenden Verwandten — von meiner Tante — begleitet.

Ich bin ein einziges Kind und war an meinem letzten Geburtstage einundzwanzig Jahre alt. Als ich die Mündigkeit erlangt hatte, erbte ich in Derbyshire ein Haus und Ländereien sowie ein weiteres Vermögen in barem Gelde von zusammen hunderttausend Pfund.

Die einzige Erziehung, die ich erhalten habe, habe ich innerhalb der letzten zwei oder drei Jahre meines Lebens empfangen und ich habe so durchaus nichts von der vornehmen Gesellschaft, weder in England noch in irgend einem anderen Teile der zivilisierten Welt gesehen. Ich kann aber, wie es mir scheint, trotz dieser Nachteile doch ein vollgültiger Zeuge sein. Wie dem aber auch sei, ich gedenke die Wahrheit zu sagen.

Mein Vater war ein französischer Ansiedler ans der Insel St. Domingo. Er starb, während ich noch sehr jung war und hinterließ meiner Mutter und mir gerade genug, um davon in dem abgelegenen Teile der Insel, in dem unser kleines Besitztum gelegen war, zu leben. Meine Mutter war eine Engländerin. Ihre zarte Gesundheit machte es ihr notwendig, mich während vieler Stunden des Tages unter der Aufsicht unserer Dienerschaft zu lassen. Ich kann niemals ihre Güte für mich vergessen, aber unglücklicherweise kam ihre Unwissenheit ihrer Freundlichkeit gleich. Wenn wir reich genug gewesen wären, eine passende Erzieherin aus Frankreich oder England kommen zu lassen, so würden wir sehr wohl daran getan haben. Aber wir waren nicht reich genug. Ich schäme mich zu sagen, dass ich beinahe dreizehn Jahre alt war, ehe ich richtig lesen und schreiben konnte.

Vier weitere Jahre gingen vorüber, und dann trat ein wichtiges Ereignis in unserem Leben ein, welches nichts Geringeres als die Übersiedelung von St. Domingo nach England war.

Meine Mutter war weitläufig mit einer alten und reichen englischen Familie verwandt. Sie erregte bei diesen stolzen Leuten ernstlich Anstoß, als sie einen unbekannten Fremden heiratete, welcher nichts hatte, wovon er leben konnte, als sein Stückchen Land in Westindien. Da sie von ihren Verwandten nichts zu erwarten hatte, so zog meine Mutter das Glück mit dem geliebten Manne allen anderen Rücksichten vor, und auch ich denke, sie hatte recht. Von diesem Augenblicke an wurde sie von dem Haupte der Familie gänzlich unbeachtet gelassen. Während achtzehn Jahren ihres Lebens als Gattin, Mutter und Witwe kam ihr kein Brief aus ihrer Heimat in England zu. Wir hatten gerade meinen siebzehnten Geburtstag gefeiert, als der erste Brief ankam, durch den meine Mutter benachrichtigt wurde, dass nicht weniger als drei Menschenleben, welche zwischen ihr und der Erbschaft von gewissen Teilen des Familienbesitzes standen, durch den Tod hinweggerafft worden seien. Die Ländereien und das übrige Vermögen, das ich schon erwähnt habe, waren ihr somit nach Recht und Gerechtigkeit zugefallen, und ihre überlebenden Verwandten waren in großmütiger Weise bereit, ihr zuletzt zu vergeben.

Wir ordneten unsere Angelegenheiten in St. Domingo und gingen nach England, um von unserem neuerworbenen Reichtum Besitz zu ergreifen.

Anfangs schien die Rückkehr meiner Mutter in das Klima ihrer Heimat eine heilsame Wirkung auf ihre Gesundheit auszuüben. Aber es war dies nur eine zeitweilige Besserung.

Ihre Gesundheit war durch das Klima Westindiens verhängnisvoll erschüttert worden, und gerade als wir eine passende Persönlichkeit angenommen hatten, welche sich meiner vernachlässigten Erziehung annehmen sollte, war meine beständige Anwesenheit am Bette meiner Mutter nötig. Wir liebten uns zärtlich und wir wünschten nicht, dass fremde Pflegerinnen sich zwischen uns drängten. Meine Tante, die Schwester meiner Mutter, löste mich in der Pflege ab, wenn ich Ruhe nötig hatte.

Während sieben langer trauriger Monate litt unsere Dulderin. Ich habe nur eine Erinnerung, die mich tröstet, der letzte Kuss meiner Mutter gehörte mir — sie starb friedlich, während ihr Kopf an meiner Brust ruhte.

Ich war fast neunzehn Jahre alt, bevor ich die nötige Entschlossenheit in mir fühlte, ernstlich an mich selbst und an meine Zukunft zu denken. In diesem Alter unterwirft man sich nicht gern zum ersten Mal der Botmäßigkeit einer Erzieherin. Da ich meine Tante als meine Gefährtin und Beschützerin hatte, so erklärte ich, meine Lehrer selbst zu nehmen und meine weitere Ausbildung selbst überwachen zu wollen.

Meine Pläne erhielten aber nicht die Billigung des Familienhauptes. Es erklärte — sehr zu Unrecht, wie die Folge ergab — dass meine Tante keine passende Persönlichkeit sei, für mich zu sorgen. Sie hätte die letzten Jahre ihres Lebens ganz in Zurückgezogenheit zugebracht. Sie sei eine gute Seele in ihrer Art — das gab jener zu — aber sie habe keine Kenntnis von der Welt und keine Festigkeit des Charakters. Die richtige Person, mich in die öffentliche Gesellschaft einzuführen und meine Erziehung zu überwachen, sei die hochsinnige und gebildete Frau, welche seine eigenen Töchter unterrichtet habe.

Mit gebührender Dankbarkeit und Achtung lehnte ich es ab, seinem Rate zu folgen. Schon der Gedanke, so bald nach dem Tode meiner Mutter mit einer Fremden zusammenleben zu müssen, empörte mich. Außerdem liebte ich meine Tante und sie liebte mich. Nachdem das Familienhaupt von meinem Vorhaben Kenntnis erhalten hatte, wurde ich, gerade so wie meine Mutter vor mir, nicht weiter mehr beachtet.

So lebte ich mit meiner guten Tante in Zurückgezogenheit und bemühte mich unablässig, meinen Geist auszubilden, bis mein einundzwanzigster Geburtstag kam.

Ich war nun Erbin, und berechtigt, selbst zu denken und selbst zu handeln.

Meine Tante küsste mich zärtlich. Wir sprachen von meiner guten Mutter und weinten, uns einander umarmend, an dem wichtigen Tage, der mich zu einem reichen Mädchen machte.

Kurze Zeit darauf sollte aber anderer Kummer als vergeblicher Gram um die Tote mich auf die Probe stellen, und es sollten andere Tränen meine Augen füllen als diejenigen, die ich dem Andenken meiner guten Mutter gewidmet hatte.

II.

Ich will nun zu meinem Besuche der Heilquellen von Maplesworth im Juni 1817 zurückkehren. Dieser berühmte inländische Badeort war nur neun bis zehn Meilen von meiner neuen Heimat Nettlegrove Hall entfernt. Ich hatte mich seit einigen Monaten schwach und niedergeschlagen gefühlt und unser ärztlicher Berater empfahl uns daher einen Ortswechsel und einen Versuch mit den Heilquellen von Maplesworth. Meine Tante und ich richteten uns dort behaglich ein und hatten uns mit einem Empfehlungsschreiben an den ersten Arzt im Orte versehen. Dieser sonst harmlose und würdige Mann erwies sich seltsamerweise als die unschuldige Ursache der Versuchungen und Verlegenheiten, die mich beim Beginne meines neuen Lebens bedrängten.

Am Tage nach der Abgabe unseres Empfehlungsschreibens begegneten wir dem Arzte auf der öffentlichen Promenade.

Er war von zwei Fremden begleitet, jungen Männern, und, wie ich bei meiner geringen Erfahrung nach ihrer Kleidung und ihrem Benehmen urteilte, vornehmen Herren. Der Arzt richtete einige freundliche Worte an uns und ging dann wieder zu seinen Begleitern. Die beiden Herren sahen nach mir und zogen ihre Hüte, als ich und meine Tante den Spaziergang fortsetzten.

Ich gestehe, dass ich während des übrigen Tages zuweilen an die beiden wohlerzogenen Fremden dachte, besonders an den kleineren derselben, der nach meiner Meinung auch der schönere von beiden war.

Wenn dieses Geständnis etwas kühn erscheint, so möge man sich erinnern, dass ich auf St. Domingo niemals gelehrt worden bin, meine Gefühle zu verhehlen und dass die Ereignisse, welche unserer Ankunft in England folgten, mich vollständig von der Gesellschaft anderer junger Damen meines Alters abgeschlossen hatten.

Am nächsten Tage, während ich mein Glas Brunnen trank — beiläufig bemerkt ein äußerst schmutziges Wasser — gesellte sich der Arzt wieder zu uns.

Während er sich nach meiner Gesundheit erkundigte, erschienen auch die beiden Fremden wieder und zogen wieder ihre Hüte. Sie blickten erwartungsvoll nach dem Arzte, und dieser stellte sie — wohl in Erfüllung eines nach meiner Vermutung ihnen bereits gegebenen Versprechens — meiner Tante und mir förmlich vor: Erstens (ich nenne den hübscheren Mann zuerst) Arthur Stanwick, Hauptmann im Heere und von Indien in Urlaub zu Hause, der sich zu Maplesworth aufhielt, um eine Badekur zu gebrauchen; zweitens Herr Lionel Varleigh von Boston in Amerika, welcher England besuchte, nachdem er ganz Europa durchreist hatte, und nun zu Maplesworth verweilte, um seinem Freunde, dem Hauptmann, Gesellschaft zu leisten.

Da die beiden Herren ohne Zweifel bei ihrer Vorstellung wahrnahmen, dass ich ein wenig schüchtern war, so vermieden sie es zartfühlend, uns ihre Gesellschaft aufzudrängen.

Hauptmann Stanwick strich mit einnehmendem Lächeln seinen Backenbart und fragte mich, ob ich bereits einen Vorteil von meiner Badekur wahrgenommen hätte. Er sprach hierauf mit großem Lob von der reizenden Umgebung von Maplesworth und richtete dann, sich von mir wegwendend, seine nächsten Worte an meine Tante. Herr Varleigh nahm seine Stelle ein. Er hatte nicht den Vorzug eines hübschen Backenbartes und sprach mit vollendeter Würde.

»Ich habe einst den hiesigen Brunnen aus bloßer Neugier versucht. Ich kann daher den Ausdruck verstehen, Fräulein, den ich auf Ihrem Gesichte bemerkte, als Sie eben Ihr Glas leerten. Erlauben Sie mir, Ihnen etwas Feines anzubieten, das den üblen Geschmack des Wassers Ihrem Munde benimmt.« Dabei nahm er aus seiner Tasche eine hübsche kleine Schachtel, die mit Zuckermandeln gefüllt war, und überreichte sie mir. »Ich kaufte sie in Paris,« bemerkte er. »Da ich lange in Frankreich gelebt habe, so habe ich es in der Gewohnheit, Damen und Kindern kleine Geschenke dieser Art zu machen. Ich würde es den Arzt nicht sehen lassen, Fräulein, wenn ich an Ihrer Stelle wäre. Er hat das gewöhnliche ärztliche Vorurteil gegen Zuckermandeln.«

Mit dieser seltsamen Mahnung verbeugte er sich ebenfalls und zog sich bescheiden zurück.

Als ich nachher darüber nachdachte, musste ich mir eingestehen, dass es dem englischen Hauptmann — obgleich er der schönste der beiden Männer war und die feinsten Manieren besaß — doch nicht gelungen war, meine Schüchternheit zu überwinden. Die ungekünstelte Aufrichtigkeit und die gute Laune des amerikanischen Reisenden dagegen behagten mir durchaus. Ich konnte ihn ansehen, ihm danken und mich erheitert fühlen über seine Teilnahme der Grimasse gegenüber, die ich machte, als ich das schlechtschmeckende Wasser verschluckte. Und doch war es, während ich wach zu Bette lag und gerne wissen mochte, ob wir unseren neuen Bekannten am nächsten Tage wieder begegnen würden, der englische Hauptmann, den ich am liebsten zu sehen wünschte, und nicht der amerikanische Reisende. Jetzt schreibe ich dies nur meiner eigenen Verkehrtheit zu. O Himmel! Jetzt weiß ich es besser als damals.

Der nächste Morgen brachte den Arzt zu einem speziellen Besuche meiner Tante nach unserem Gasthofe. Er ersann einen Vorwand, mich in das anstoßende Zimmer zu schicken, und da ich seine Absicht durchschaute, so war meine Neugier rege geworden. Ich gab ihr nach. Soll ich mein Geständnis noch offener machen? Soll ich eingestehen, dass ich mich soweit herabließ, hinter der Tür zu horchen?

Ich hörte meine liebe alte Tante harmlos sagen: »Doktor! Ich hoffe, dass Sie nichts Beunruhigendes in dem Gesundheitszustande Berthas sehen.« Der Arzt brach in lautes Lachen aus. »Gnädige Frau!« sagte er, »es ist nichts in dem Befinden der jungen Dame, was Ihnen oder mir auch nur die geringste Besorgnis verursachen könnte. Der Zweck meines Besuches ist vielmehr der, mich zu rechtfertigen, dass ich Ihnen gestern jene beiden Herren vorgestellt habe. Fräulein Berthas Schönheit hat auf beide außerordentlichen Eindruck gemacht, und beide ersuchten mich dringend, sie vorzustellen. Solche Einführungen sind bei mir, ich habe es kaum zu sagen nötig, ganz besondere Ausnahmen von der allgemeinen Regel. In neunundneunzig Fällen von hundert würde ich Nein gesagt haben. In Hauptmann Stanwick und Herrn Varleigh sah ich indessen keinen Grund zu Bedenken. Lassen Sie mich Ihnen die Versicherung geben, dass ich nicht zwei abenteuernde Glücksjäger Ihrer Bekanntschaft zuführen werde. Sie sind beide Männer von Stellung und Vermögen. Die Familie Stanwick ist mir seit Jahren wohlbekannt und Herr Varleigh überbrachte mir einen Brief von meinem ältesten noch lebenden Freunde, worin dieser für ihn als für einen Gentleman im strengsten Sinne des Wortes einsteht. Er ist von beiden der reichere Mann und es spricht nach meiner Meinung nichts so sehr für ihn, als dass er auch nach einem langen Aufenthalte in Orten wie Paris und Wien sich seinen schlichten Sinn bewahrt hat. Hauptmann Stanwick hat zwar ein leichteres, gefälligeres Benehmen, aber wenn man etwas tiefer blickt, könnte man schließen, dass sein Temperament eher etwas Heftiges und Herrschsüchtiges an sich hat. Indessen, wir alle haben ja unsere Fehler.

Ich kann von diesen meinen beiden jungen Freunden nur sagen, dass Sie kein Bedenken zu hegen brauchen, ihnen Ihr Vertrauen zuzuwenden, wenn sie Ihnen — und Ihrer Nichte etwa gefallen sollten.

Da ich nun, wie ich hoffe, jeden Zweifel beseitigt habe, der Sie beunruhigt haben könnte, so bitte ich, Fräulein Bertha wieder zurückzurufen. Ich fürchte, Sie in der Besprechung Ihrer Pläne für den heutigen Tag gestört zu haben.«

Der geschmeidige, gesprächige Arzt machte für einen Augenblick eine Pause und ich flog von der Tür hinweg.

Unsere Pläne für den Tag umfassten auch eine Spazierfahrt durch die herrliche Landschaft in der Nähe der Stadt. Meine beiden Verehrer stellten sich zu Pferde bei uns ein. Hier war wieder der Hauptmann seinem Freunde überlegen. Vollendet war insbesondere sein Reitanzug und die Art, wie er zu Pferde saß. Der Engländer ritt auf der einen Seite des Wagens und der Amerikaner auf der anderen. Beide plauderten recht angenehm, aber Herr Varleigh hatte im allgemeinen mehr von der Welt gesehen, als der Hauptmann Stanwick, und war sicherlich der interessantere und unterhaltendere der beiden Gesellschafter.

Auf unserem Rückwege wurde meine Bewunderung durch einen dichten Wald erregt, welcher in einer kleinen Entfernung von der Landstraße auf einer Anhöhe herrlich gelegen war. »O Himmel!« sagte ich, »wie gerne möchte ich einen Spaziergang in diesen Wald machen!« Flüchtige, unbedachte Worte, aber ach! welche Erinnerungen drängen sich mir auf, wenn ich jetzt an sie denke!

Hauptmann Stanwick und Herr Varleigh stiegen sofort ab und boten sich mir als Begleiter an. Der Kutscher ermahnte sie, vorsichtig zu sein, da sich, wie er sagte, schon oft Leute in diesem Walde verirrt hätten. Ich fragte nach seinem Namen. Er hieß der Hernewald. Meine Tante war nicht sehr geneigt, ihren bequemen Sitz im Wagen zu verlassen, aber sie ging doch zuletzt mit uns.

Ehe wir den Wald betraten, stellte Herr Varleigh die Lage der Landstraße durch seinen Taschenkompass fest.

Hauptmann Stanwick lachte über ihn und bot mir seinen Arm an. Da ich in den gesellschaftlichen Formen und im Kokettieren unerfahren war, so fühlte ich nur instinktmäßig, dass ich den einen der Herren nicht zu rasch auf Kosten des anderen auszeichnen dürfe. Ich nahm daher den Arm meiner Tante und ordnete die Sache auf diese Weise.

Ein sich schlängelnder Pfad führte uns in den Wald. Bei näherer Betrachtung täuschte er mich in meinen Erwartungen; je weiter wir gingen, desto unheimlich düsterer wurde er. Die dicht stehenden Bäume verwehrten dem Lichte jeden Zutritt. Der Nebel umhüllte mich nach und nach so dicht, dass ich einen Schauer empfand. Im Unterholz des dichten Gebüsches raschelte es zuweilen geheimnisvoll, wenn irgendeine unsichtbare Kreatur hindurchkroch. An einer Krümmung des Pfades erreichten wir eine Art Lichtung und sahen den Himmel und den Sonnenschein wieder. Aber gerade hier ereignete sich ein unangenehmer Vorfall. Eine Schlange machte ihren schlängelnden Weg quer über den freien Raum dicht an mir vorüber, und ich war töricht genug, zu schreien. Der Hauptmann tötete das Tier mit seiner Reitpeitsche und fand daran Gefallen. Das sah ich nicht gern.

Wir verließen die lichte Stelle und schlugen einen anderen Pfad ein und dann noch einen anderen. Und fortwährend raubte mir der schreckliche Wald die gute Stimmung. Ich war mit meiner Tante der Ansicht, dass wir gut tun würden, nach dem Wagen zurückzukehren. Auf unserem Rückwege verfehlten wir aber den rechten Pfad und verirrten uns für einen Augenblick. Herr Varleigh nahm seinen Kompass zu Hilfe und zeigte nach einer bestimmten Richtung. Hauptmann Stanwick, der nichts als seine eigene eifersüchtige Stimmung zu Rate zog, zeigte nach einer anderen. Wir folgten der Führung des Herrn Varleigh und gelangten nach der Lichtung zurück. Er wandte sich zu dem Hauptmann und sagte in guter Laune: »Sie sehen, der Kompass hatte recht.« Hauptmann Stanwick antwortete scharf: »Es gibt mehr als einen Weg aus einem englischen Walde; Sie reden so, als wenn wir in einem Ihrer amerikanischen Urwälder wären.«

Herr Varleigh schien seine Heftigkeit nicht zu bemerken; es entstand eine Pause. Die beiden Männer standen auf der braunen Erde der Lichtung Auge in Auge — und des Engländers frische Gesichtsfarbe, hellbraunes Haar und Bart und seine offenen, kühn blickenden, blauen Augen stachen auffallend ab gegen die bleiche Gesichtsfarbe und das schwarze, kurzgehaltene Haar, gegen den scharf beobachtenden Blick und das feingeschnittene Gesicht des Amerikaners. Aber dies dauerte nur einen Augenblick; ich fühlte mich kaum beunruhigt, so beherrschten sie sich auch schon und führten uns zum Wagen zurück, während sie so angenehm miteinander plauderten, als wenn nichts vorgefallen wäre. Indessen, noch tagelang nachher kam mir der Vorfall in der Lichtung — Gesicht und Gestalt der beiden Männer, die dunkle Reihe von Bäumen, die sie von allen Seiten einschloss, das braune runde Fleckchen Erde, auf welchem sie standen — immer wieder ins Gedächtnis zurück und verdrängte hellere und glücklichere Gedanken aus ihm. Als meine Tante mich fragte, ob mich dieser Tag gefreut hätte, verneinte ich dies zu ihrer Überraschung. Und als sie nach der Ursache fragte, konnte ich nur antworten: »Es wurde alles durch den Hernewald verdorben.«

III.

Drei Wochen sind seitdem vorübergegangen.

Das Entsetzen über jene furchtbaren Tage beschleicht mich wieder, wenn ich an sie denke. Ich gedenke die Wahrheit ohne Beben zu sagen; aber ich möchte doch wenigstens meine eigenen Gefühle insoweit berücksichtigen, als ich bei gewissen Einzelheiten so kurz wie möglich verweile. Ich werde mein Verhalten gegen die beiden Männer, die um mich warben, am deutlichsten schildern, wenn ich sage, dass ich keinen von beiden bevorzugte. Aber in unschuldiger, ja in törichter Weise ermutigte ich sie beide.

In Büchern werden die Frauen im allgemeinen so geschildert, dass sie in Fragen, welche sich auf Liebe und Heirat beziehen, ihr eigenes, sicheres Urteil haben. Diese Erfahrung habe ich bei mir selbst nicht gemacht.

Ein Tag folgte dem anderen, und so lächerlich dies auch erscheinen mag, ich konnte nicht entscheiden, welchen von beiden Verehrern ich am besten leiden mochte.

Anfänglich war Hauptmann Stanwick der Mann meiner Wahl. So lange er sein Temperament beherrschte, entzückte er mich. Aber wenn er ihm freien Lauf ließ, war ich enttäuscht, zuweilen sogar erzürnt. In dieser Verfassung wandte ich mich zum Trost an Herrn Varleigh, da ich fühlte, dass er der edlere und der würdigere der beiden Männer war, und ich alsdann ehrlich glaubte, dass ich ihn seinem Mitbewerber vorziehe. In den ersten Tagen nach unserem Besuche des Hernewaldes hatte ich vortreffliche Gelegenheit, sie miteinander zu vergleichen. Sie statteten uns zusammen ihre Besuche ab und teilten ihre Aufmerksamkeit sorgsam zwischen mir und meiner Tante. Am Ende der Woche indessen fingen sie an, sich getrennt vorzustellen. Wenn ich irgendwelche Erfahrung von dem Wesen der Männer gehabt hätte, so hätte ich wissen können, was dies bedeutete, und ich hätte die Möglichkeit einer ernsteren Entfremdung zwischen den beiden Freunden voraussehen können, deren Ursache ich unglücklicherweise sein sollte. So aber beunruhigte ich mich niemals darüber, was sich in meiner Abwesenheit ereignen mochte. Ob sie zusammen, oder ob sie einzeln kamen, ihre Besuche waren mir immer angenehm, und ich dachte an nichts und kümmerte mich um nichts.

Aber die Zeit, die mich aufklären sollte, war nicht mehr fern.

Eines Tages sprach Hauptmann Stanwick viel früher als gewöhnlich bei uns vor. Meine Tante war von ihrem Morgenspaziergang noch nicht zurückgekehrt. Der Hauptmann brachte eine Entschuldigung vor, dass er sich unter diesen Umständen einfinde, doch habe ich diese jetzt wieder vergessen.

Ohne wirklich bis zu einem Heiratsantrage zu gelangen, sprach er doch mit einem so zärtlichen Gefühle, und übte seinen Einfluss meiner Unerfahrenheit gegenüber in so feiner Weise, dass er mich dazu brachte, einige Worte meinerseits zu sagen, deren ich mich, sobald ich wieder allein war, mit einer gewissen Besorgnis erinnerte. Eine halbe Stunde später wurde Herr Lionel Varleigh als nächster Besucher gemeldet. Ich bemerkte sogleich in seinem Blicke aus seinem Benehmen eine gewisse Unruhe, welche, soweit ich ihn kannte, ganz neu bei ihm war. Ich bot ihm einen Stuhl an. Zu meiner Überraschung lehnte er ihn ab. »Von Ihrer Nachsicht erbitte ich mir die Erlaubnis, eine sonderbare Frage an Sie zu richten,« fing er an. »Es steht bei Ihnen, Fräulein Laroche, zu entscheiden, ob ich hier bleiben oder ob ich Sie von meiner Gegenwart befreien soll, indem ich das Zimmer verlasse.«

»Was können Sie damit nur meinen?« fragte ich.

»Ist es Ihr Wunsch,« fuhr Lionel Varleigh fort, »dass ich Ihnen fernerhin nur noch in Gesellschaft des Hauptmanns Stanwick, oder mit seiner ausdrücklichen Erlaubnis Besuche abstatte?«

Mein Erstaunen beraubte mich für den Augenblick der Fähigkeit ihm zu antworten. »Wollen Sie wirklich damit sagen, dass Hauptmann Stanwick Ihnen verboten habe, bei mir vorzusprechen?« fragte ich, sobald ich wieder sprechen konnte. »Ich habe genau das wiederholt, was Hauptmann Stanwick vor einer halben Stunde zu mir sagte,« antwortete Lionel Varleigh.

Als ich dies hörte, vergaß ich in meinem Unwillen ganz die unvorsichtigen Worte der Ermutigung, die der Hauptmann mir entlockt hatte. Wenn ich jetzt daran denke, schäme ich mich, die Ausdrücke zu wiederholen, in welchen ich die anmaßende Behauptung dieses Mannes von seiner Gewalt über mich zurückwies. Obgleich ich schon eine Unbesonnenheit begangen hatte, so trieb mich doch das Bestreben, mir die Freiheit des Handelns zu bewahren, dazu, noch eine solche zu begehen. Ich erklärte Herrn Varleigh, dass er mir willkommen sei, so oft es ihm beliebe, mich zu besuchen, und ich tat dies in Worten, die sein Gesicht unter den Gefühlen der Freude und Überraschung, die ich in ihm erweckt hatte, erröten ließen. Meine verletzte Eitelkeit kannte keine Grenzen. Ich winkte ihm, an meiner Seite auf dem Sofa Platz zu nehmen; ich versprach, am nächsten Tage mit meiner Tante zu ihm zu kommen und die Raritätensammlung, die er auf seinen Reisen zustande gebracht hatte, zu besichtigen. »Ich glaube beinahe, wenn er versucht hätte, mich zu küssen, wäre ich über den Hauptmann hinreichend erzürnt gewesen, jenen dies tun zu lassen.

Erinnert euch, was mein Leben früher gewesen war; erinnert euch, wie unwissend ich die kostbaren Tage meiner Jugend verbracht hatte, wie bedenklich dann ein plötzlicher Zuwachs von Vermögen und Ansehen meine Torheit und meinen Stolz ermutigt hatte — und versucht deshalb, wie gute Christen, ein wenig Nachsicht mit mir zu haben!

Meine Tante kehrte von ihrem Spaziergange zurück, ehe der Besuch des Herrn Varleigh zu Ende war. Sie empfing ihn ziemlich kalt, und er bemerkte dies. Nachdem er mich noch an unsere Verabredung für den nächsten Tag erinnert hatte, nahm er Abschied.

»Was für eine Verabredung meinte Herr Varleigh?« fragte meine Tante, sobald wir allein waren. »Ist es klug, unter den jetzigen Umständen mit Herrn Varleigh Verabredungen zu treffen?« sagte sie, als ich ihre Frage beantwortet hatte. Ich fragte natürlich, was sie meine. Meine Tante erwiderte: »Ich bin auf meinem Spaziergang Hauptmann Stanwick begegnet. Er hat mir etwas erzählt, was ich durchaus nicht verstehen kann. Ist es möglich, Bertha, dass du einen Heiratsantrag von ihm günstig aufgenommen hast, ohne mir auch nur ein Wort von deinen Absichten zu sagen?«

Ich leugnete es augenblicklich. Wie unbesonnen ich auch gesprochen haben mochte, so hatte ich doch sicherlich nichts gesagt, was Hauptmann Stanwick berechtigen konnte, mich als seine Verlobte zu bezeichnen.

In seiner niedrigen Furcht vor einer ehrlichen Mitbewerbung Herrn Varleighs hatte er meine Worte mit Vorbedacht falsch gedeutet.

»Wenn ich einen von beiden heirate,« erklärte ich, »so wird es Herr Varleigh sein.«

Meine Tante schüttelte den Kopf. »Diese beiden Herren scheinen in dich verliebt zu sein, Bertha. Es ist ihnen gegenüber eine bedenkliche Lage, in welcher du dich befindest, und ich fürchte, dass du ein wenig unvorsichtig gehandelt hast. Hauptmann Stanwick sagte mir, dass er und sein Freund bereits in Zwiespalt geraten seien. Ich fürchte, dass du die Ursache bist. Herr Varleigh hat den Gasthof, in dem er mit dem Hauptmann wohnte, infolge eines heute morgen zwischen ihnen stattgehabten Streites verlassen. Du wusstest dies nicht, als du seine Einladung annahmst. Soll ich eine Entschuldigung für dich schreiben? Wir müssen den Besuch wenigstens so lange verschieben, liebe Bertha, bis du dich mit Hauptmann Stanwick auseinandergesetzt hast.«

Ich fing an, mich ein wenig beunruhigt zu fühlen, aber ich war zu halsstarrig, um ohne Not nachzugeben. »Gib mir Zeit, darüber nachzudenken,« sagte ich. »Eine Entschuldigung schreiben hieße des Hauptmanns Gewalt über mich anerkennen. Lass uns bis morgen früh warten.«

IV.

Der nächste Morgen brachte uns noch einen Besuch des Hauptmanns Stanwick. Diesmal war meine Tante anwesend. Er blickte nach ihr, ohne zu sprechen, und wandte sich dann in seiner erregten Stimmung, die sich schon in seinen Augen zeigte, an mich.

»Ich habe mit Ihnen ein Wort unter vier Augen zu sprechen,« fing er an. »Ich habe keine Geheimnisse vor meiner Tante,« antwortete ich. »Was Sie mir auch zu sagen haben, Herr Hauptmann, es kann hier gesagt werden.«

Er öffnete die Lippen zu einer Erwiderung, hielt aber plötzlich inne. Er drängte seinen Ärger durch eine so gewaltsame Bemühung zurück, dass sein sonst so frisches Gesicht auf einmal leichenblass wurde. Für den Augenblick erlangte er seine Ruhe wieder – und er wandte sich an mich, indem er wenigstens den äußeren Schein einer Rücksichtnahme mir gegenüber wahrte.

»Hat dieser Varleigh gelogen,« fragte er, »oder haben Sie auch ihm Hoffnung gemacht — nach dem was Sie gestern mir sagten?«

»Ich habe Ihnen gestern nichts gesagt, was Ihnen irgendwelches Recht geben könnte, diese Frage an mich zu stellen,« erwiderte ich. »Sie haben mich gänzlich missverstanden, wenn Sie dies glauben.«

Meine Tante versuchte, ihm einige ruhige Worte zu sagen, in der Hoffnung, ihn zu besänftigen, aber er machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand, ohne sie anzuhören, und schritt näher auf mich zu.

»Sie haben mich missverstanden,« sagte er, »wenn Sie glaubten, dass ich ein Mann sei, der sich zum Spielzeug in der Hand einer Koketten machen ließe.«

Meine Tante legte sich wieder ins Mittel mit einer Entschiedenheit, die ich nicht von ihr erwartet hätte.

»Hauptmann Stanwick,« sagte sie, »Sie vergessen sich.« Er achtete nicht auf sie und sprach weiter mit mir. »Es ist mein Unglück, Sie zu lieben« stieß er heraus. »Mein Herz hängt an Ihnen. Ich hoffe, Ihr Gatte zu werden, und kein anderer Mann auf Erden soll mir im Wege stehen. Nach dem, was Sie mir gestern sagten, habe ich das Recht, anzunehmen, dass Sie meiner Werbung geneigt sind. Das ist keine Tändelei; denken Sie das nicht! Es ist die Leidenschaft eines Lebens! Hören Sie? Es ist die Leidenschaft des ganzen Lebens eines Mannes! Ich lasse nicht so mit mir spielen. Ich habe um Ihretwegen eine schlaflose, elende Nacht gehabt — ich habe Ihretwegen genug gelitten — und Sie sind dies nicht wert. Lachen Sie nicht! Das ist kein Gegenstand zum Lachen. Hüten Sie sich, Bertha, hüten Sie sich!«

Meine Tante erhob sich von ihrem Stuhle. Sie setzte mich in Erstaunen. Sie, die in gewöhnlichen Verhältnissen die zurückhaltendste und sanfteste Frau war, schritt nun auf Stanwick zu und blickte ihm fest ins Gesicht, ohne auch nur einen Augenblick zu wanken.

»Sie scheinen vergessen zu haben, dass Sie in Gegenwart von Damen sprechen,« sagte sie. »Ändern Sie Ihre Sprache, mein Herr, sonst werde ich genötigt sein, meine Nichte aus dem Zimmer zu nehmen.«

Halb erbittert, halb erschreckt versuchte ich ebenfalls zu sprechen. Meine Tante winkte mir aber, stille zu sein. Der Hauptmann trat einen Schritt zurück, als wenn er ihren Vorwurf fühlte; aber seine Augen, die noch immer auf mich gerichtet waren, blitzten mehr denn je in wildem Grimme auf. Hier vermochte die oberflächliche Bildung dieses Herrn nicht, seine wahre Natur zu verbergen.

»Ich will Sie im ungestörten Besitze des Zimmers lassen,« sagte er mit bitterer Höflichkeit zu meiner Tante. »Ehe ich gehe, werden Sie mir erlauben, ihrer Nichte Gelegenheit zu geben, nochmals über ihr Benehmen nachzudenken, ehe es zu spät ist.« Meine Tante zog sich zurück und gestattete ihm, mit mir zu sprechen. Nachdem er einen Augenblick überlegt hatte, legte er seine Hand fest, aber nicht rauh auf meinen Arm. »Sie haben die Einladung Varleighs, ihn zu besuchen, unter dem Vorwande angenommen, seine Raritäten zu besichtigen,« sagte er. »Denken Sie nochmals darüber nach, ehe Sie sich dazu entschließen, der Einladung zu folgen.

Wenn Sie morgen zu Varleigh gehen, werden Sie es bis zum letzten Tage ihres Lebens zu bereuen haben.« Indem er diese Worte in einem Tone sprach, der mich wider Willen erbeben ließ, ging er nach der Türe. Als er seine Hand auf das Schloss legte, wendete er sich zum letzten Mal nach mir um. »Ich verbiete Ihnen, zu Varleighs Wohnung zu gehen,« sagte er ruhig und bestimmt. »Hören Sie, was ich Ihnen sage! Ich verbiete es Ihnen.« Mit diesen Worten verließ er uns.

Meine Tante setzte sich an meine Seite und ergriff freundlich meine Hand. »Hier bleibt nur eins zu tun übrig,« sagte sie, »wir müssen sogleich nach Nettlegrove zurückkehren. Wenn Hauptmann Stanwick versuchen sollte, dich in deinem eigenen Hause zu belästigen, so haben wir Nachbarn, die uns beschützen werden, und wir haben Herrn Loring, unseren Pfarrer, um uns an ihn um Rat zu wenden. Was Herrn Varleigh betrifft, so will ich ihn schriftlich um Entschuldigung bitten, ehe wir abreisen.«

Sie streckte die Hand aus, um die Schelle zu ziehen und den Wagen zu bestellen. Ich hinderte sie daran. Mein kindischer Stolz trieb mich dazu, mich doch in irgendeiner Weise zu äußern, nachdem ich gezwungen gewesen war, während des Zusammentreffens mit Hauptmann Stanwick untätig zu bleiben.

»Nein,« sagte ich, »es ist nicht schön gegen Herrn Varleigh gehandelt, wenn wir unserer Verabredung mit ihm nicht nachkommen. Lass uns auf alle Fälle nach Nettlegrove zurückkehren, aber lass uns vorher bei Herrn Varleigh vorsprechen und Abschied von ihm nehmen. Sollen wir deshalb, weil Hauptmann Stanwick uns durch feige Drohungen zu erschrecken versucht hat, uns einem gebildeten Manne gegenüber ungeziemend benehmen, der uns immer mit der größten Aufmerksamkeit behandelt hat? Das gewöhnlichste Gefühl der Selbstachtung verbietet uns dies.«

Meine Tante widersprach ruhig und vernünftig diesem Ausbruch von Torheit, aber meine Hartnäckigkeit (meine Festigkeit, wie ich damals dachte) war unerschütterlich. Ich ließ ihr die Wahl, entweder mit mir zu Herrn Varleigh zu gehen, oder mich allein zu ihm gehen zu lassen. Da sie fand, dass es nutzlos sein würde, sich mir zu widersetzen, entschloss sie sich natürlich, ich brauche es nicht zu sagen, mit mir zu gehen.

Wir fanden Herrn Varleigh sehr höflich, aber ernster und stiller wie gewöhnlich. Unser Besuch währte nur einige Minuten: meine Tante benutzte den Einfluss, den das Alter und die Stellung ihr gab, ihn abzukürzen. Sie führte Familienangelegenheiten als den Grund an, der uns nach Nettlegrove zurückrufe. Ich nahm es auf mich, Herrn Varleigh einzuladen, mich in meinem eignen Heim zu besuchen. Er verneigte sich und dankte mir, ohne meine Einladung ausdrücklich anzunehmen. Als ich ihm beim Abschiede die Hand reichte, brachte er sie an seine Lippen und küsste sie mit einer Zärtlichkeit, die mich in Verwirrung setzte. Seine Augen blickten schmachtend und sorgenvoll in die meinigen, und es lag in ihnen zwar Bewunderung, aber auch das tiefe Bedauern, dass sie nun für lange Zeit von mir Abschied nehmen mussten. »Vergessen Sie mich nicht,« lispelte er, als er an der Tür stand, während ich meiner Tante hinausfolgte. »Kommen Sie nach Nettlegrove,« flüsterte ich ihm zu. Seine Augen senkten sich zu Boden; er ließ mich gehen, ohne ein Wort weiter zu sagen.

Dies war, wie ich feierlich erkläre, alles, was bei unserem Besuche vorgekommen ist. Infolge einer unausgesprochenen Übereinstimmung zwischen uns wurde keinerlei Anspielung auf Hauptmann Stanwick gemacht, nicht einmal sein Name wurde erwähnt. Ich erfuhr nie, dass die beiden Männer kurz vor unserem Besuche bei Herrn Varleigh sich getroffen hatten. Nichts wurde gesagt, was auch nur den geringsten Verdacht in mir erwecken konnte, dass irgendein Übereinkommen für ein anderes Zusammentreffen später am Tage zwischen ihnen verabredet worden sei. Über die unbestimmten Drohungen hinaus, die Hauptmann Stanwicks Lippen entfuhren — Drohungen allerdings, die ich, wie ich gestehen muss, außer acht zu lassen unvorsichtig genug war — wurde mir keinerlei Warnung vor den schrecklichen Ereignissen zuteil, die sich zu Maplesworth am Tage nach unserer Rückkehr nach Nettlegrove Hall zutrugen.

Ich kann nur hinzufügen, dass ich bereit bin, mich allen weiteren Fragen zu unterziehen, die an mich gerichtet werden könnten, aber ich bitte, mich nicht für ein herzloses Weib zu halten. Mein schlimmster Fehler war Unwissenheit. Zu jener Zeit wusste ich noch nichts von der Maske, unter welcher die Männer das, was selbstsüchtig und roh in ihrer Natur ist, vor den Frauen verbergen, die zu täuschen sie ein Interesse haben.


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