Das Duell im Walde

Vorläufige Erklärungen der Entlastungszeugen, aufgenommen auf dem Bureau des Verteidigers

Nr. 6. Herr Lionel Varleigh von Boston in den Vereinigten Staaten von Nordamerika bezeugt und sagt aus:

Mein erster Schritt nach meiner Genesung war der, zu den Verwandten des Hauptmanns Stanwick in London zu gehen, um bei ihnen Erkundigungen über ihn einzuziehen. Ich will mich nicht auf Kosten dieses unglücklichen Mannes rechtfertigen. Es ist wahr, ich liebe Fräulein Laroche zu sehr, um sie, außer, wenn sie es selbst wünschte, einem anderen zu überlassen. Es ist ferner wahr, dass Hauptmann Stanwick mich mehr als einmal gröblich beschimpfte und ich dies ruhig hinnahm. Er hatte schwer an einem Sonnenstich gelitten, der ihn in Indien befiel, und in Augenblicken der Erregung konnte er kaum für seine Handlungen verantwortlich gemacht werden. Erst als mir ein tätlicher Angriff von seiner Seite drohte, ging mir die Geduld aus. Wir griffen zum Degen. Ich war fest entschlossen, sein Leben zu schonen; er aber hatte zweifellos die Absicht, mich zu töten. Ich habe ihm vergeben und will darüber nichts weiter sagen.

Seine Verwandten teilten mir mit, dass bei ihm nach dem Duelle die Symptome des Wahnsinns zu Tage getreten seien, dass er bisher in einer Irrenanstalt verwahrt worden, aber aus ihr entwichen sei, und dass es bisher nicht gelungen sei, seinen Aufenthalt zu ermitteln.

In dem Augenblicke, wo ich dies hörte, erfasste mich die Furcht, dass Stanwick wieder seinen Weg zu Fräulein Laroche gefunden haben könnte. Nach einer Stunde war ich auf dem Wege nach Nettlegrove Hall.

Ich kam dort spät abends an und fand Fräulein Laroches Tante in großer Unruhe um die Sicherheit ihrer Nichte. Die junge Dame war gerade in diesem Augenblicke im Park und im Gespräche mit Stanwick, und sie hatte nur einen älteren Herrn, den Pfarrer, zu ihrem Schutze bei sich.

Dies veranlasste mich, mich sogleich auf den Weg zu machen, um ihr auch meine Fürsorge angedeihen zu lassen. Ein Diener begleitete mich, um mir den Ort der Zusammenkunft zu zeigen. Wir hörten zwar undeutlich Stimmen, aber wir sahen niemand. Der Diener zeigte auf einen Pfad, der durch die Tannen führte. Ich selbst ging rasch vorwärts, während ich den Diener so weit zurückließ, dass ich ihn zu jeder Zeit herbeirufen konnte. In einigen Minuten bemerkte ich sie in geringer Entfernung an dem Ufer eines Baches. Die Furcht, Fräulein Laroche ernstlich zu erschrecken, wenn ich mich ihnen plötzlich zeigte, beraubte mich für einen Augenblick meiner Geistesgegenwart. Indem ich stehen bleibend überlegte, was zu tun sei, war ich durch die Bäume weniger verdeckt worden, als ich vermutet hatte. Fräulein Laroche hatte mich gesehen; ich hörte ihren Angstschrei. Einen Augenblick später sah ich Hauptmann Stanwick den Bach überspringen und die Flucht ergreifen. Dies brachte mich in Bewegung. Ohne mich aufzuhalten und ohne ein Wort der Erklärung zu sagen, verfolgte ich ihn. Unglücklicherweise glitt ich im Halbdunkel aus und fiel auf dem freien Raume jenseits des Baches zur Erde. Als ich wieder auf meinen Füßen stand, war Stanwick unter den Bäumen verschwunden, die die Grenze des Parkes vor mir bildeten. Ich konnte von ihm weder etwas sehen, noch hören, als ich auf die Landstraße hinausgekommen war. Ich traf dort einen Arbeiter, der mir den Weg nach dem Dorfe zeigte. Aus dem Wirtshause schrieb ich Fräulein Laroches Tante einen Brief, in dem ich ihr mitteilte, was sich zugetragen hatte, und sie um die Erlaubnis bat, am nächsten Tage in ihrer Wohnung vorsprechen zu dürfen.

Früh morgens kam der Pfarrer zu mir in das Wirtshaus und brachte traurige Nachrichten. Fräulein Laroche litt an einem nervösen Anfall und mein Besuch musste verschoben werden. Als wir sodann von dem vermissten Manne sprachen, erfuhr ich alles, was Herr Loring mir sagen konnte. Meine genaue Bekanntschaft mit Stanwick setzte mich in den Stand, aus den mitgeteilten Tatsachen meine Schlüsse zu ziehen. Sofort fuhr mir der Gedanke durch den Kopf, dass der Unglückliche vielleicht an derselben Stelle sühnenden Selbstmord begangen haben könnte, an der er versucht hatte, mich zu töten. Ich überließ dem Pfarrer, die erforderlichen Erkundigungen einzuziehen, und nahm Postpferde nach Maplesworth, um den Weg nach dem Hernewald einzuschlagen. Als ich von der Landstraße dem Walde zuschritt, sah ich in geringer Entfernung zwei Personen — einen Mann in dem Anzuge eines Wildhüters und einen jungen Burschen. Ich war zu sehr erregt, um von ihnen besondere Notiz zu nehmen; ich eilte auf dem Pfade vorwärts, der zur Lichtung führte. Meine Ahnung hatte mich nicht getäuscht. Dort lag er tot an dem Platze des Duells, und an seiner Seite lag ein blutbeflecktes Rasiermesser. Ich fiel an dem Leichnam auf die Knie; ich nahm seine kalte Hand in die meinige, und ich dankte Gott, dass ich ihm in den ersten Tagen meiner Wiedergenesung vergeben hatte.

Ich kniete noch nieder, als ich von hinten ergriffen wurde. Ich arbeitete mich wieder auf die Füße und stand dem Wildhüter gegenüber. Er hatte mich in den Wald eilen sehen, sein Verdacht war rege geworden, und er und sein Bursche waren mir gefolgt. An meinen Kleidern befand sich Blut, und in meinem Gesicht war Entsetzen ausgeprägt. Der Schein war deutlich gegen mich; ich hatte keine andere Wahl, als dem Wildhüter vor den nächsten Untersuchungsrichter zu folgen.

Die Weisungen, die ich meinem Verteidiger gab, untersagten es ihm, für meine Freisprechung in der Weise zu plädieren, dass er etwa gewohnheitsmäßige Einwendungen gegen das formelle Verfahren des Richters oder des Leichenbeschauers geltend mache. Ich bestand nur darauf, dass meine Zeugen auf das Bureau meines Verteidigers bestellt würden und dass ihnen gestattet werde, in ihrer Weise das anzugeben, was sie wahrheitsgemäß über mich auszusagen wüssten, und ich stellte es anheim, meine Verteidigung lediglich auf das so erlangte Beweismaterial zu stützen. Unterdessen wurde ich natürlich in Haft behalten. Damit erreichte das Trauerspiel des Duells seinen Höhepunkt: ich wurde angeklagt, den Mann ermordet zu haben, der versucht hatte, mir das Leben zu nehmen.

Mit dem Bericht dieses Vorfalles geht das, was in meinem Beitrag zur gegenwärtigen Erzählung erwähnenswert erscheint, zu Ende.

Es fand eine gerichtliche Verhandlung statt, wie dies nach Recht und Gerechtigkeit nicht anders sein konnte. Aber der Beweis, wie er durch die Vernehmung der Zeugen auf dem Bureau meines Verteidigers geführt wurde, war nur der Form, nicht aber dem Wesen nach ein anderer, wie der durch die Vernehmung der Zeugen vor dem Gerichtshof geführte. Meine Verteidigung befriedigte die Geschworenen so vollständig, dass sie gegen das Ende der Verhandlung ungeduldig wurden und ihren Wahrspruch auf Nichtschuldig abgaben, ohne zu einer längeren Beratung sich zurückzuziehen.

Es ist gewiss unnötig, mich dabei aufzuhalten, welchen Gebrauch ich zuerst von meiner ehrenvollen Freisprechung machte. Ob ich den beneidenswerten Platz, den ich in Berthas Meinung behauptete, verdient habe, darüber steht mir ein Urteil nicht zu. Ich will die Entscheidung darüber der Dame überlassen, die nun aufgehört hat, Fräulein Laroche zu sein — ihr, die so liebenswürdig gewesen ist, meine Frau zu werden.


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