Das Duell im Walde

Vorläufige Erklärungen der Entlastungszeugen, aufgenommen auf dem Bureau des Verteidigers

Nr. 1. Fräulein Bertha Laroche von Nettlegrove Hall bezeugt und sagt aus:

I.

Gegen die Mitte des Monats Juni im Jahre 1817 unternahm ich eine Badekur zu Maplesworth in Derbyshire, und war hierbei von meiner nächsten noch lebenden Verwandten — von meiner Tante — begleitet.

Ich bin ein einziges Kind und war an meinem letzten Geburtstage einundzwanzig Jahre alt. Als ich die Mündigkeit erlangt hatte, erbte ich in Derbyshire ein Haus und Ländereien sowie ein weiteres Vermögen in barem Gelde von zusammen hunderttausend Pfund.

Die einzige Erziehung, die ich erhalten habe, habe ich innerhalb der letzten zwei oder drei Jahre meines Lebens empfangen und ich habe so durchaus nichts von der vornehmen Gesellschaft, weder in England noch in irgend einem anderen Teile der zivilisierten Welt gesehen. Ich kann aber, wie es mir scheint, trotz dieser Nachteile doch ein vollgültiger Zeuge sein. Wie dem aber auch sei, ich gedenke die Wahrheit zu sagen.

Mein Vater war ein französischer Ansiedler ans der Insel St. Domingo. Er starb, während ich noch sehr jung war und hinterließ meiner Mutter und mir gerade genug, um davon in dem abgelegenen Teile der Insel, in dem unser kleines Besitztum gelegen war, zu leben. Meine Mutter war eine Engländerin. Ihre zarte Gesundheit machte es ihr notwendig, mich während vieler Stunden des Tages unter der Aufsicht unserer Dienerschaft zu lassen. Ich kann niemals ihre Güte für mich vergessen, aber unglücklicherweise kam ihre Unwissenheit ihrer Freundlichkeit gleich. Wenn wir reich genug gewesen wären, eine passende Erzieherin aus Frankreich oder England kommen zu lassen, so würden wir sehr wohl daran getan haben. Aber wir waren nicht reich genug. Ich schäme mich zu sagen, dass ich beinahe dreizehn Jahre alt war, ehe ich richtig lesen und schreiben konnte.

Vier weitere Jahre gingen vorüber, und dann trat ein wichtiges Ereignis in unserem Leben ein, welches nichts Geringeres als die Übersiedelung von St. Domingo nach England war.

Meine Mutter war weitläufig mit einer alten und reichen englischen Familie verwandt. Sie erregte bei diesen stolzen Leuten ernstlich Anstoß, als sie einen unbekannten Fremden heiratete, welcher nichts hatte, wovon er leben konnte, als sein Stückchen Land in Westindien. Da sie von ihren Verwandten nichts zu erwarten hatte, so zog meine Mutter das Glück mit dem geliebten Manne allen anderen Rücksichten vor, und auch ich denke, sie hatte recht. Von diesem Augenblicke an wurde sie von dem Haupte der Familie gänzlich unbeachtet gelassen. Während achtzehn Jahren ihres Lebens als Gattin, Mutter und Witwe kam ihr kein Brief aus ihrer Heimat in England zu. Wir hatten gerade meinen siebzehnten Geburtstag gefeiert, als der erste Brief ankam, durch den meine Mutter benachrichtigt wurde, dass nicht weniger als drei Menschenleben, welche zwischen ihr und der Erbschaft von gewissen Teilen des Familienbesitzes standen, durch den Tod hinweggerafft worden seien. Die Ländereien und das übrige Vermögen, das ich schon erwähnt habe, waren ihr somit nach Recht und Gerechtigkeit zugefallen, und ihre überlebenden Verwandten waren in großmütiger Weise bereit, ihr zuletzt zu vergeben.

Wir ordneten unsere Angelegenheiten in St. Domingo und gingen nach England, um von unserem neuerworbenen Reichtum Besitz zu ergreifen.

Anfangs schien die Rückkehr meiner Mutter in das Klima ihrer Heimat eine heilsame Wirkung auf ihre Gesundheit auszuüben. Aber es war dies nur eine zeitweilige Besserung.

Ihre Gesundheit war durch das Klima Westindiens verhängnisvoll erschüttert worden, und gerade als wir eine passende Persönlichkeit angenommen hatten, welche sich meiner vernachlässigten Erziehung annehmen sollte, war meine beständige Anwesenheit am Bette meiner Mutter nötig. Wir liebten uns zärtlich und wir wünschten nicht, dass fremde Pflegerinnen sich zwischen uns drängten. Meine Tante, die Schwester meiner Mutter, löste mich in der Pflege ab, wenn ich Ruhe nötig hatte.

Während sieben langer trauriger Monate litt unsere Dulderin. Ich habe nur eine Erinnerung, die mich tröstet, der letzte Kuss meiner Mutter gehörte mir — sie starb friedlich, während ihr Kopf an meiner Brust ruhte.

Ich war fast neunzehn Jahre alt, bevor ich die nötige Entschlossenheit in mir fühlte, ernstlich an mich selbst und an meine Zukunft zu denken. In diesem Alter unterwirft man sich nicht gern zum ersten Mal der Botmäßigkeit einer Erzieherin. Da ich meine Tante als meine Gefährtin und Beschützerin hatte, so erklärte ich, meine Lehrer selbst zu nehmen und meine weitere Ausbildung selbst überwachen zu wollen.

Meine Pläne erhielten aber nicht die Billigung des Familienhauptes. Es erklärte — sehr zu Unrecht, wie die Folge ergab — dass meine Tante keine passende Persönlichkeit sei, für mich zu sorgen. Sie hätte die letzten Jahre ihres Lebens ganz in Zurückgezogenheit zugebracht. Sie sei eine gute Seele in ihrer Art — das gab jener zu — aber sie habe keine Kenntnis von der Welt und keine Festigkeit des Charakters. Die richtige Person, mich in die öffentliche Gesellschaft einzuführen und meine Erziehung zu überwachen, sei die hochsinnige und gebildete Frau, welche seine eigenen Töchter unterrichtet habe.

Mit gebührender Dankbarkeit und Achtung lehnte ich es ab, seinem Rate zu folgen. Schon der Gedanke, so bald nach dem Tode meiner Mutter mit einer Fremden zusammenleben zu müssen, empörte mich. Außerdem liebte ich meine Tante und sie liebte mich. Nachdem das Familienhaupt von meinem Vorhaben Kenntnis erhalten hatte, wurde ich, gerade so wie meine Mutter vor mir, nicht weiter mehr beachtet.

So lebte ich mit meiner guten Tante in Zurückgezogenheit und bemühte mich unablässig, meinen Geist auszubilden, bis mein einundzwanzigster Geburtstag kam.

Ich war nun Erbin, und berechtigt, selbst zu denken und selbst zu handeln.

Meine Tante küsste mich zärtlich. Wir sprachen von meiner guten Mutter und weinten, uns einander umarmend, an dem wichtigen Tage, der mich zu einem reichen Mädchen machte.

Kurze Zeit darauf sollte aber anderer Kummer als vergeblicher Gram um die Tote mich auf die Probe stellen, und es sollten andere Tränen meine Augen füllen als diejenigen, die ich dem Andenken meiner guten Mutter gewidmet hatte.

II.

Ich will nun zu meinem Besuche der Heilquellen von Maplesworth im Juni 1817 zurückkehren. Dieser berühmte inländische Badeort war nur neun bis zehn Meilen von meiner neuen Heimat Nettlegrove Hall entfernt. Ich hatte mich seit einigen Monaten schwach und niedergeschlagen gefühlt und unser ärztlicher Berater empfahl uns daher einen Ortswechsel und einen Versuch mit den Heilquellen von Maplesworth. Meine Tante und ich richteten uns dort behaglich ein und hatten uns mit einem Empfehlungsschreiben an den ersten Arzt im Orte versehen. Dieser sonst harmlose und würdige Mann erwies sich seltsamerweise als die unschuldige Ursache der Versuchungen und Verlegenheiten, die mich beim Beginne meines neuen Lebens bedrängten.

Am Tage nach der Abgabe unseres Empfehlungsschreibens begegneten wir dem Arzte auf der öffentlichen Promenade.

Er war von zwei Fremden begleitet, jungen Männern, und, wie ich bei meiner geringen Erfahrung nach ihrer Kleidung und ihrem Benehmen urteilte, vornehmen Herren. Der Arzt richtete einige freundliche Worte an uns und ging dann wieder zu seinen Begleitern. Die beiden Herren sahen nach mir und zogen ihre Hüte, als ich und meine Tante den Spaziergang fortsetzten.

Ich gestehe, dass ich während des übrigen Tages zuweilen an die beiden wohlerzogenen Fremden dachte, besonders an den kleineren derselben, der nach meiner Meinung auch der schönere von beiden war.

Wenn dieses Geständnis etwas kühn erscheint, so möge man sich erinnern, dass ich auf St. Domingo niemals gelehrt worden bin, meine Gefühle zu verhehlen und dass die Ereignisse, welche unserer Ankunft in England folgten, mich vollständig von der Gesellschaft anderer junger Damen meines Alters abgeschlossen hatten.

Am nächsten Tage, während ich mein Glas Brunnen trank — beiläufig bemerkt ein äußerst schmutziges Wasser — gesellte sich der Arzt wieder zu uns.

Während er sich nach meiner Gesundheit erkundigte, erschienen auch die beiden Fremden wieder und zogen wieder ihre Hüte. Sie blickten erwartungsvoll nach dem Arzte, und dieser stellte sie — wohl in Erfüllung eines nach meiner Vermutung ihnen bereits gegebenen Versprechens — meiner Tante und mir förmlich vor: Erstens (ich nenne den hübscheren Mann zuerst) Arthur Stanwick, Hauptmann im Heere und von Indien in Urlaub zu Hause, der sich zu Maplesworth aufhielt, um eine Badekur zu gebrauchen; zweitens Herr Lionel Varleigh von Boston in Amerika, welcher England besuchte, nachdem er ganz Europa durchreist hatte, und nun zu Maplesworth verweilte, um seinem Freunde, dem Hauptmann, Gesellschaft zu leisten.

Da die beiden Herren ohne Zweifel bei ihrer Vorstellung wahrnahmen, dass ich ein wenig schüchtern war, so vermieden sie es zartfühlend, uns ihre Gesellschaft aufzudrängen.

Hauptmann Stanwick strich mit einnehmendem Lächeln seinen Backenbart und fragte mich, ob ich bereits einen Vorteil von meiner Badekur wahrgenommen hätte. Er sprach hierauf mit großem Lob von der reizenden Umgebung von Maplesworth und richtete dann, sich von mir wegwendend, seine nächsten Worte an meine Tante. Herr Varleigh nahm seine Stelle ein. Er hatte nicht den Vorzug eines hübschen Backenbartes und sprach mit vollendeter Würde.

»Ich habe einst den hiesigen Brunnen aus bloßer Neugier versucht. Ich kann daher den Ausdruck verstehen, Fräulein, den ich auf Ihrem Gesichte bemerkte, als Sie eben Ihr Glas leerten. Erlauben Sie mir, Ihnen etwas Feines anzubieten, das den üblen Geschmack des Wassers Ihrem Munde benimmt.« Dabei nahm er aus seiner Tasche eine hübsche kleine Schachtel, die mit Zuckermandeln gefüllt war, und überreichte sie mir. »Ich kaufte sie in Paris,« bemerkte er. »Da ich lange in Frankreich gelebt habe, so habe ich es in der Gewohnheit, Damen und Kindern kleine Geschenke dieser Art zu machen. Ich würde es den Arzt nicht sehen lassen, Fräulein, wenn ich an Ihrer Stelle wäre. Er hat das gewöhnliche ärztliche Vorurteil gegen Zuckermandeln.«

Mit dieser seltsamen Mahnung verbeugte er sich ebenfalls und zog sich bescheiden zurück.

Als ich nachher darüber nachdachte, musste ich mir eingestehen, dass es dem englischen Hauptmann — obgleich er der schönste der beiden Männer war und die feinsten Manieren besaß — doch nicht gelungen war, meine Schüchternheit zu überwinden. Die ungekünstelte Aufrichtigkeit und die gute Laune des amerikanischen Reisenden dagegen behagten mir durchaus. Ich konnte ihn ansehen, ihm danken und mich erheitert fühlen über seine Teilnahme der Grimasse gegenüber, die ich machte, als ich das schlechtschmeckende Wasser verschluckte. Und doch war es, während ich wach zu Bette lag und gerne wissen mochte, ob wir unseren neuen Bekannten am nächsten Tage wieder begegnen würden, der englische Hauptmann, den ich am liebsten zu sehen wünschte, und nicht der amerikanische Reisende. Jetzt schreibe ich dies nur meiner eigenen Verkehrtheit zu. O Himmel! Jetzt weiß ich es besser als damals.

Der nächste Morgen brachte den Arzt zu einem speziellen Besuche meiner Tante nach unserem Gasthofe. Er ersann einen Vorwand, mich in das anstoßende Zimmer zu schicken, und da ich seine Absicht durchschaute, so war meine Neugier rege geworden. Ich gab ihr nach. Soll ich mein Geständnis noch offener machen? Soll ich eingestehen, dass ich mich soweit herabließ, hinter der Tür zu horchen?

Ich hörte meine liebe alte Tante harmlos sagen: »Doktor! Ich hoffe, dass Sie nichts Beunruhigendes in dem Gesundheitszustande Berthas sehen.« Der Arzt brach in lautes Lachen aus. »Gnädige Frau!« sagte er, »es ist nichts in dem Befinden der jungen Dame, was Ihnen oder mir auch nur die geringste Besorgnis verursachen könnte. Der Zweck meines Besuches ist vielmehr der, mich zu rechtfertigen, dass ich Ihnen gestern jene beiden Herren vorgestellt habe. Fräulein Berthas Schönheit hat auf beide außerordentlichen Eindruck gemacht, und beide ersuchten mich dringend, sie vorzustellen. Solche Einführungen sind bei mir, ich habe es kaum zu sagen nötig, ganz besondere Ausnahmen von der allgemeinen Regel. In neunundneunzig Fällen von hundert würde ich Nein gesagt haben. In Hauptmann Stanwick und Herrn Varleigh sah ich indessen keinen Grund zu Bedenken. Lassen Sie mich Ihnen die Versicherung geben, dass ich nicht zwei abenteuernde Glücksjäger Ihrer Bekanntschaft zuführen werde. Sie sind beide Männer von Stellung und Vermögen. Die Familie Stanwick ist mir seit Jahren wohlbekannt und Herr Varleigh überbrachte mir einen Brief von meinem ältesten noch lebenden Freunde, worin dieser für ihn als für einen Gentleman im strengsten Sinne des Wortes einsteht. Er ist von beiden der reichere Mann und es spricht nach meiner Meinung nichts so sehr für ihn, als dass er auch nach einem langen Aufenthalte in Orten wie Paris und Wien sich seinen schlichten Sinn bewahrt hat. Hauptmann Stanwick hat zwar ein leichteres, gefälligeres Benehmen, aber wenn man etwas tiefer blickt, könnte man schließen, dass sein Temperament eher etwas Heftiges und Herrschsüchtiges an sich hat. Indessen, wir alle haben ja unsere Fehler.

Ich kann von diesen meinen beiden jungen Freunden nur sagen, dass Sie kein Bedenken zu hegen brauchen, ihnen Ihr Vertrauen zuzuwenden, wenn sie Ihnen — und Ihrer Nichte etwa gefallen sollten.

Da ich nun, wie ich hoffe, jeden Zweifel beseitigt habe, der Sie beunruhigt haben könnte, so bitte ich, Fräulein Bertha wieder zurückzurufen. Ich fürchte, Sie in der Besprechung Ihrer Pläne für den heutigen Tag gestört zu haben.«

Der geschmeidige, gesprächige Arzt machte für einen Augenblick eine Pause und ich flog von der Tür hinweg.

Unsere Pläne für den Tag umfassten auch eine Spazierfahrt durch die herrliche Landschaft in der Nähe der Stadt. Meine beiden Verehrer stellten sich zu Pferde bei uns ein. Hier war wieder der Hauptmann seinem Freunde überlegen. Vollendet war insbesondere sein Reitanzug und die Art, wie er zu Pferde saß. Der Engländer ritt auf der einen Seite des Wagens und der Amerikaner auf der anderen. Beide plauderten recht angenehm, aber Herr Varleigh hatte im allgemeinen mehr von der Welt gesehen, als der Hauptmann Stanwick, und war sicherlich der interessantere und unterhaltendere der beiden Gesellschafter.

Auf unserem Rückwege wurde meine Bewunderung durch einen dichten Wald erregt, welcher in einer kleinen Entfernung von der Landstraße auf einer Anhöhe herrlich gelegen war. »O Himmel!« sagte ich, »wie gerne möchte ich einen Spaziergang in diesen Wald machen!« Flüchtige, unbedachte Worte, aber ach! welche Erinnerungen drängen sich mir auf, wenn ich jetzt an sie denke!

Hauptmann Stanwick und Herr Varleigh stiegen sofort ab und boten sich mir als Begleiter an. Der Kutscher ermahnte sie, vorsichtig zu sein, da sich, wie er sagte, schon oft Leute in diesem Walde verirrt hätten. Ich fragte nach seinem Namen. Er hieß der Hernewald. Meine Tante war nicht sehr geneigt, ihren bequemen Sitz im Wagen zu verlassen, aber sie ging doch zuletzt mit uns.

Ehe wir den Wald betraten, stellte Herr Varleigh die Lage der Landstraße durch seinen Taschenkompass fest.

Hauptmann Stanwick lachte über ihn und bot mir seinen Arm an. Da ich in den gesellschaftlichen Formen und im Kokettieren unerfahren war, so fühlte ich nur instinktmäßig, dass ich den einen der Herren nicht zu rasch auf Kosten des anderen auszeichnen dürfe. Ich nahm daher den Arm meiner Tante und ordnete die Sache auf diese Weise.

Ein sich schlängelnder Pfad führte uns in den Wald. Bei näherer Betrachtung täuschte er mich in meinen Erwartungen; je weiter wir gingen, desto unheimlich düsterer wurde er. Die dicht stehenden Bäume verwehrten dem Lichte jeden Zutritt. Der Nebel umhüllte mich nach und nach so dicht, dass ich einen Schauer empfand. Im Unterholz des dichten Gebüsches raschelte es zuweilen geheimnisvoll, wenn irgendeine unsichtbare Kreatur hindurchkroch. An einer Krümmung des Pfades erreichten wir eine Art Lichtung und sahen den Himmel und den Sonnenschein wieder. Aber gerade hier ereignete sich ein unangenehmer Vorfall. Eine Schlange machte ihren schlängelnden Weg quer über den freien Raum dicht an mir vorüber, und ich war töricht genug, zu schreien. Der Hauptmann tötete das Tier mit seiner Reitpeitsche und fand daran Gefallen. Das sah ich nicht gern.

Wir verließen die lichte Stelle und schlugen einen anderen Pfad ein und dann noch einen anderen. Und fortwährend raubte mir der schreckliche Wald die gute Stimmung. Ich war mit meiner Tante der Ansicht, dass wir gut tun würden, nach dem Wagen zurückzukehren. Auf unserem Rückwege verfehlten wir aber den rechten Pfad und verirrten uns für einen Augenblick. Herr Varleigh nahm seinen Kompass zu Hilfe und zeigte nach einer bestimmten Richtung. Hauptmann Stanwick, der nichts als seine eigene eifersüchtige Stimmung zu Rate zog, zeigte nach einer anderen. Wir folgten der Führung des Herrn Varleigh und gelangten nach der Lichtung zurück. Er wandte sich zu dem Hauptmann und sagte in guter Laune: »Sie sehen, der Kompass hatte recht.« Hauptmann Stanwick antwortete scharf: »Es gibt mehr als einen Weg aus einem englischen Walde; Sie reden so, als wenn wir in einem Ihrer amerikanischen Urwälder wären.«

Herr Varleigh schien seine Heftigkeit nicht zu bemerken; es entstand eine Pause. Die beiden Männer standen auf der braunen Erde der Lichtung Auge in Auge — und des Engländers frische Gesichtsfarbe, hellbraunes Haar und Bart und seine offenen, kühn blickenden, blauen Augen stachen auffallend ab gegen die bleiche Gesichtsfarbe und das schwarze, kurzgehaltene Haar, gegen den scharf beobachtenden Blick und das feingeschnittene Gesicht des Amerikaners. Aber dies dauerte nur einen Augenblick; ich fühlte mich kaum beunruhigt, so beherrschten sie sich auch schon und führten uns zum Wagen zurück, während sie so angenehm miteinander plauderten, als wenn nichts vorgefallen wäre. Indessen, noch tagelang nachher kam mir der Vorfall in der Lichtung — Gesicht und Gestalt der beiden Männer, die dunkle Reihe von Bäumen, die sie von allen Seiten einschloss, das braune runde Fleckchen Erde, auf welchem sie standen — immer wieder ins Gedächtnis zurück und verdrängte hellere und glücklichere Gedanken aus ihm. Als meine Tante mich fragte, ob mich dieser Tag gefreut hätte, verneinte ich dies zu ihrer Überraschung. Und als sie nach der Ursache fragte, konnte ich nur antworten: »Es wurde alles durch den Hernewald verdorben.«

III.

Drei Wochen sind seitdem vorübergegangen.

Das Entsetzen über jene furchtbaren Tage beschleicht mich wieder, wenn ich an sie denke. Ich gedenke die Wahrheit ohne Beben zu sagen; aber ich möchte doch wenigstens meine eigenen Gefühle insoweit berücksichtigen, als ich bei gewissen Einzelheiten so kurz wie möglich verweile. Ich werde mein Verhalten gegen die beiden Männer, die um mich warben, am deutlichsten schildern, wenn ich sage, dass ich keinen von beiden bevorzugte. Aber in unschuldiger, ja in törichter Weise ermutigte ich sie beide.

In Büchern werden die Frauen im allgemeinen so geschildert, dass sie in Fragen, welche sich auf Liebe und Heirat beziehen, ihr eigenes, sicheres Urteil haben. Diese Erfahrung habe ich bei mir selbst nicht gemacht.

Ein Tag folgte dem anderen, und so lächerlich dies auch erscheinen mag, ich konnte nicht entscheiden, welchen von beiden Verehrern ich am besten leiden mochte.

Anfänglich war Hauptmann Stanwick der Mann meiner Wahl. So lange er sein Temperament beherrschte, entzückte er mich. Aber wenn er ihm freien Lauf ließ, war ich enttäuscht, zuweilen sogar erzürnt. In dieser Verfassung wandte ich mich zum Trost an Herrn Varleigh, da ich fühlte, dass er der edlere und der würdigere der beiden Männer war, und ich alsdann ehrlich glaubte, dass ich ihn seinem Mitbewerber vorziehe. In den ersten Tagen nach unserem Besuche des Hernewaldes hatte ich vortreffliche Gelegenheit, sie miteinander zu vergleichen. Sie statteten uns zusammen ihre Besuche ab und teilten ihre Aufmerksamkeit sorgsam zwischen mir und meiner Tante. Am Ende der Woche indessen fingen sie an, sich getrennt vorzustellen. Wenn ich irgendwelche Erfahrung von dem Wesen der Männer gehabt hätte, so hätte ich wissen können, was dies bedeutete, und ich hätte die Möglichkeit einer ernsteren Entfremdung zwischen den beiden Freunden voraussehen können, deren Ursache ich unglücklicherweise sein sollte. So aber beunruhigte ich mich niemals darüber, was sich in meiner Abwesenheit ereignen mochte. Ob sie zusammen, oder ob sie einzeln kamen, ihre Besuche waren mir immer angenehm, und ich dachte an nichts und kümmerte mich um nichts.

Aber die Zeit, die mich aufklären sollte, war nicht mehr fern.

Eines Tages sprach Hauptmann Stanwick viel früher als gewöhnlich bei uns vor. Meine Tante war von ihrem Morgenspaziergang noch nicht zurückgekehrt. Der Hauptmann brachte eine Entschuldigung vor, dass er sich unter diesen Umständen einfinde, doch habe ich diese jetzt wieder vergessen.

Ohne wirklich bis zu einem Heiratsantrage zu gelangen, sprach er doch mit einem so zärtlichen Gefühle, und übte seinen Einfluss meiner Unerfahrenheit gegenüber in so feiner Weise, dass er mich dazu brachte, einige Worte meinerseits zu sagen, deren ich mich, sobald ich wieder allein war, mit einer gewissen Besorgnis erinnerte. Eine halbe Stunde später wurde Herr Lionel Varleigh als nächster Besucher gemeldet. Ich bemerkte sogleich in seinem Blicke aus seinem Benehmen eine gewisse Unruhe, welche, soweit ich ihn kannte, ganz neu bei ihm war. Ich bot ihm einen Stuhl an. Zu meiner Überraschung lehnte er ihn ab. »Von Ihrer Nachsicht erbitte ich mir die Erlaubnis, eine sonderbare Frage an Sie zu richten,« fing er an. »Es steht bei Ihnen, Fräulein Laroche, zu entscheiden, ob ich hier bleiben oder ob ich Sie von meiner Gegenwart befreien soll, indem ich das Zimmer verlasse.«

»Was können Sie damit nur meinen?« fragte ich.

»Ist es Ihr Wunsch,« fuhr Lionel Varleigh fort, »dass ich Ihnen fernerhin nur noch in Gesellschaft des Hauptmanns Stanwick, oder mit seiner ausdrücklichen Erlaubnis Besuche abstatte?«

Mein Erstaunen beraubte mich für den Augenblick der Fähigkeit ihm zu antworten. »Wollen Sie wirklich damit sagen, dass Hauptmann Stanwick Ihnen verboten habe, bei mir vorzusprechen?« fragte ich, sobald ich wieder sprechen konnte. »Ich habe genau das wiederholt, was Hauptmann Stanwick vor einer halben Stunde zu mir sagte,« antwortete Lionel Varleigh.

Als ich dies hörte, vergaß ich in meinem Unwillen ganz die unvorsichtigen Worte der Ermutigung, die der Hauptmann mir entlockt hatte. Wenn ich jetzt daran denke, schäme ich mich, die Ausdrücke zu wiederholen, in welchen ich die anmaßende Behauptung dieses Mannes von seiner Gewalt über mich zurückwies. Obgleich ich schon eine Unbesonnenheit begangen hatte, so trieb mich doch das Bestreben, mir die Freiheit des Handelns zu bewahren, dazu, noch eine solche zu begehen. Ich erklärte Herrn Varleigh, dass er mir willkommen sei, so oft es ihm beliebe, mich zu besuchen, und ich tat dies in Worten, die sein Gesicht unter den Gefühlen der Freude und Überraschung, die ich in ihm erweckt hatte, erröten ließen. Meine verletzte Eitelkeit kannte keine Grenzen. Ich winkte ihm, an meiner Seite auf dem Sofa Platz zu nehmen; ich versprach, am nächsten Tage mit meiner Tante zu ihm zu kommen und die Raritätensammlung, die er auf seinen Reisen zustande gebracht hatte, zu besichtigen. »Ich glaube beinahe, wenn er versucht hätte, mich zu küssen, wäre ich über den Hauptmann hinreichend erzürnt gewesen, jenen dies tun zu lassen.

Erinnert euch, was mein Leben früher gewesen war; erinnert euch, wie unwissend ich die kostbaren Tage meiner Jugend verbracht hatte, wie bedenklich dann ein plötzlicher Zuwachs von Vermögen und Ansehen meine Torheit und meinen Stolz ermutigt hatte — und versucht deshalb, wie gute Christen, ein wenig Nachsicht mit mir zu haben!

Meine Tante kehrte von ihrem Spaziergange zurück, ehe der Besuch des Herrn Varleigh zu Ende war. Sie empfing ihn ziemlich kalt, und er bemerkte dies. Nachdem er mich noch an unsere Verabredung für den nächsten Tag erinnert hatte, nahm er Abschied.

»Was für eine Verabredung meinte Herr Varleigh?« fragte meine Tante, sobald wir allein waren. »Ist es klug, unter den jetzigen Umständen mit Herrn Varleigh Verabredungen zu treffen?« sagte sie, als ich ihre Frage beantwortet hatte. Ich fragte natürlich, was sie meine. Meine Tante erwiderte: »Ich bin auf meinem Spaziergang Hauptmann Stanwick begegnet. Er hat mir etwas erzählt, was ich durchaus nicht verstehen kann. Ist es möglich, Bertha, dass du einen Heiratsantrag von ihm günstig aufgenommen hast, ohne mir auch nur ein Wort von deinen Absichten zu sagen?«

Ich leugnete es augenblicklich. Wie unbesonnen ich auch gesprochen haben mochte, so hatte ich doch sicherlich nichts gesagt, was Hauptmann Stanwick berechtigen konnte, mich als seine Verlobte zu bezeichnen.

In seiner niedrigen Furcht vor einer ehrlichen Mitbewerbung Herrn Varleighs hatte er meine Worte mit Vorbedacht falsch gedeutet.

»Wenn ich einen von beiden heirate,« erklärte ich, »so wird es Herr Varleigh sein.«

Meine Tante schüttelte den Kopf. »Diese beiden Herren scheinen in dich verliebt zu sein, Bertha. Es ist ihnen gegenüber eine bedenkliche Lage, in welcher du dich befindest, und ich fürchte, dass du ein wenig unvorsichtig gehandelt hast. Hauptmann Stanwick sagte mir, dass er und sein Freund bereits in Zwiespalt geraten seien. Ich fürchte, dass du die Ursache bist. Herr Varleigh hat den Gasthof, in dem er mit dem Hauptmann wohnte, infolge eines heute morgen zwischen ihnen stattgehabten Streites verlassen. Du wusstest dies nicht, als du seine Einladung annahmst. Soll ich eine Entschuldigung für dich schreiben? Wir müssen den Besuch wenigstens so lange verschieben, liebe Bertha, bis du dich mit Hauptmann Stanwick auseinandergesetzt hast.«

Ich fing an, mich ein wenig beunruhigt zu fühlen, aber ich war zu halsstarrig, um ohne Not nachzugeben. »Gib mir Zeit, darüber nachzudenken,« sagte ich. »Eine Entschuldigung schreiben hieße des Hauptmanns Gewalt über mich anerkennen. Lass uns bis morgen früh warten.«

IV.

Der nächste Morgen brachte uns noch einen Besuch des Hauptmanns Stanwick. Diesmal war meine Tante anwesend. Er blickte nach ihr, ohne zu sprechen, und wandte sich dann in seiner erregten Stimmung, die sich schon in seinen Augen zeigte, an mich.

»Ich habe mit Ihnen ein Wort unter vier Augen zu sprechen,« fing er an. »Ich habe keine Geheimnisse vor meiner Tante,« antwortete ich. »Was Sie mir auch zu sagen haben, Herr Hauptmann, es kann hier gesagt werden.«

Er öffnete die Lippen zu einer Erwiderung, hielt aber plötzlich inne. Er drängte seinen Ärger durch eine so gewaltsame Bemühung zurück, dass sein sonst so frisches Gesicht auf einmal leichenblass wurde. Für den Augenblick erlangte er seine Ruhe wieder – und er wandte sich an mich, indem er wenigstens den äußeren Schein einer Rücksichtnahme mir gegenüber wahrte.

»Hat dieser Varleigh gelogen,« fragte er, »oder haben Sie auch ihm Hoffnung gemacht — nach dem was Sie gestern mir sagten?«

»Ich habe Ihnen gestern nichts gesagt, was Ihnen irgendwelches Recht geben könnte, diese Frage an mich zu stellen,« erwiderte ich. »Sie haben mich gänzlich missverstanden, wenn Sie dies glauben.«

Meine Tante versuchte, ihm einige ruhige Worte zu sagen, in der Hoffnung, ihn zu besänftigen, aber er machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand, ohne sie anzuhören, und schritt näher auf mich zu.

»Sie haben mich missverstanden,« sagte er, »wenn Sie glaubten, dass ich ein Mann sei, der sich zum Spielzeug in der Hand einer Koketten machen ließe.«

Meine Tante legte sich wieder ins Mittel mit einer Entschiedenheit, die ich nicht von ihr erwartet hätte.

»Hauptmann Stanwick,« sagte sie, »Sie vergessen sich.« Er achtete nicht auf sie und sprach weiter mit mir. »Es ist mein Unglück, Sie zu lieben« stieß er heraus. »Mein Herz hängt an Ihnen. Ich hoffe, Ihr Gatte zu werden, und kein anderer Mann auf Erden soll mir im Wege stehen. Nach dem, was Sie mir gestern sagten, habe ich das Recht, anzunehmen, dass Sie meiner Werbung geneigt sind. Das ist keine Tändelei; denken Sie das nicht! Es ist die Leidenschaft eines Lebens! Hören Sie? Es ist die Leidenschaft des ganzen Lebens eines Mannes! Ich lasse nicht so mit mir spielen. Ich habe um Ihretwegen eine schlaflose, elende Nacht gehabt — ich habe Ihretwegen genug gelitten — und Sie sind dies nicht wert. Lachen Sie nicht! Das ist kein Gegenstand zum Lachen. Hüten Sie sich, Bertha, hüten Sie sich!«

Meine Tante erhob sich von ihrem Stuhle. Sie setzte mich in Erstaunen. Sie, die in gewöhnlichen Verhältnissen die zurückhaltendste und sanfteste Frau war, schritt nun auf Stanwick zu und blickte ihm fest ins Gesicht, ohne auch nur einen Augenblick zu wanken.

»Sie scheinen vergessen zu haben, dass Sie in Gegenwart von Damen sprechen,« sagte sie. »Ändern Sie Ihre Sprache, mein Herr, sonst werde ich genötigt sein, meine Nichte aus dem Zimmer zu nehmen.«

Halb erbittert, halb erschreckt versuchte ich ebenfalls zu sprechen. Meine Tante winkte mir aber, stille zu sein. Der Hauptmann trat einen Schritt zurück, als wenn er ihren Vorwurf fühlte; aber seine Augen, die noch immer auf mich gerichtet waren, blitzten mehr denn je in wildem Grimme auf. Hier vermochte die oberflächliche Bildung dieses Herrn nicht, seine wahre Natur zu verbergen.

»Ich will Sie im ungestörten Besitze des Zimmers lassen,« sagte er mit bitterer Höflichkeit zu meiner Tante. »Ehe ich gehe, werden Sie mir erlauben, ihrer Nichte Gelegenheit zu geben, nochmals über ihr Benehmen nachzudenken, ehe es zu spät ist.« Meine Tante zog sich zurück und gestattete ihm, mit mir zu sprechen. Nachdem er einen Augenblick überlegt hatte, legte er seine Hand fest, aber nicht rauh auf meinen Arm. »Sie haben die Einladung Varleighs, ihn zu besuchen, unter dem Vorwande angenommen, seine Raritäten zu besichtigen,« sagte er. »Denken Sie nochmals darüber nach, ehe Sie sich dazu entschließen, der Einladung zu folgen.

Wenn Sie morgen zu Varleigh gehen, werden Sie es bis zum letzten Tage ihres Lebens zu bereuen haben.« Indem er diese Worte in einem Tone sprach, der mich wider Willen erbeben ließ, ging er nach der Türe. Als er seine Hand auf das Schloss legte, wendete er sich zum letzten Mal nach mir um. »Ich verbiete Ihnen, zu Varleighs Wohnung zu gehen,« sagte er ruhig und bestimmt. »Hören Sie, was ich Ihnen sage! Ich verbiete es Ihnen.« Mit diesen Worten verließ er uns.

Meine Tante setzte sich an meine Seite und ergriff freundlich meine Hand. »Hier bleibt nur eins zu tun übrig,« sagte sie, »wir müssen sogleich nach Nettlegrove zurückkehren. Wenn Hauptmann Stanwick versuchen sollte, dich in deinem eigenen Hause zu belästigen, so haben wir Nachbarn, die uns beschützen werden, und wir haben Herrn Loring, unseren Pfarrer, um uns an ihn um Rat zu wenden. Was Herrn Varleigh betrifft, so will ich ihn schriftlich um Entschuldigung bitten, ehe wir abreisen.«

Sie streckte die Hand aus, um die Schelle zu ziehen und den Wagen zu bestellen. Ich hinderte sie daran. Mein kindischer Stolz trieb mich dazu, mich doch in irgendeiner Weise zu äußern, nachdem ich gezwungen gewesen war, während des Zusammentreffens mit Hauptmann Stanwick untätig zu bleiben.

»Nein,« sagte ich, »es ist nicht schön gegen Herrn Varleigh gehandelt, wenn wir unserer Verabredung mit ihm nicht nachkommen. Lass uns auf alle Fälle nach Nettlegrove zurückkehren, aber lass uns vorher bei Herrn Varleigh vorsprechen und Abschied von ihm nehmen. Sollen wir deshalb, weil Hauptmann Stanwick uns durch feige Drohungen zu erschrecken versucht hat, uns einem gebildeten Manne gegenüber ungeziemend benehmen, der uns immer mit der größten Aufmerksamkeit behandelt hat? Das gewöhnlichste Gefühl der Selbstachtung verbietet uns dies.«

Meine Tante widersprach ruhig und vernünftig diesem Ausbruch von Torheit, aber meine Hartnäckigkeit (meine Festigkeit, wie ich damals dachte) war unerschütterlich. Ich ließ ihr die Wahl, entweder mit mir zu Herrn Varleigh zu gehen, oder mich allein zu ihm gehen zu lassen. Da sie fand, dass es nutzlos sein würde, sich mir zu widersetzen, entschloss sie sich natürlich, ich brauche es nicht zu sagen, mit mir zu gehen.

Wir fanden Herrn Varleigh sehr höflich, aber ernster und stiller wie gewöhnlich. Unser Besuch währte nur einige Minuten: meine Tante benutzte den Einfluss, den das Alter und die Stellung ihr gab, ihn abzukürzen. Sie führte Familienangelegenheiten als den Grund an, der uns nach Nettlegrove zurückrufe. Ich nahm es auf mich, Herrn Varleigh einzuladen, mich in meinem eignen Heim zu besuchen. Er verneigte sich und dankte mir, ohne meine Einladung ausdrücklich anzunehmen. Als ich ihm beim Abschiede die Hand reichte, brachte er sie an seine Lippen und küsste sie mit einer Zärtlichkeit, die mich in Verwirrung setzte. Seine Augen blickten schmachtend und sorgenvoll in die meinigen, und es lag in ihnen zwar Bewunderung, aber auch das tiefe Bedauern, dass sie nun für lange Zeit von mir Abschied nehmen mussten. »Vergessen Sie mich nicht,« lispelte er, als er an der Tür stand, während ich meiner Tante hinausfolgte. »Kommen Sie nach Nettlegrove,« flüsterte ich ihm zu. Seine Augen senkten sich zu Boden; er ließ mich gehen, ohne ein Wort weiter zu sagen.

Dies war, wie ich feierlich erkläre, alles, was bei unserem Besuche vorgekommen ist. Infolge einer unausgesprochenen Übereinstimmung zwischen uns wurde keinerlei Anspielung auf Hauptmann Stanwick gemacht, nicht einmal sein Name wurde erwähnt. Ich erfuhr nie, dass die beiden Männer kurz vor unserem Besuche bei Herrn Varleigh sich getroffen hatten. Nichts wurde gesagt, was auch nur den geringsten Verdacht in mir erwecken konnte, dass irgendein Übereinkommen für ein anderes Zusammentreffen später am Tage zwischen ihnen verabredet worden sei. Über die unbestimmten Drohungen hinaus, die Hauptmann Stanwicks Lippen entfuhren — Drohungen allerdings, die ich, wie ich gestehen muss, außer acht zu lassen unvorsichtig genug war — wurde mir keinerlei Warnung vor den schrecklichen Ereignissen zuteil, die sich zu Maplesworth am Tage nach unserer Rückkehr nach Nettlegrove Hall zutrugen.

Ich kann nur hinzufügen, dass ich bereit bin, mich allen weiteren Fragen zu unterziehen, die an mich gerichtet werden könnten, aber ich bitte, mich nicht für ein herzloses Weib zu halten. Mein schlimmster Fehler war Unwissenheit. Zu jener Zeit wusste ich noch nichts von der Maske, unter welcher die Männer das, was selbstsüchtig und roh in ihrer Natur ist, vor den Frauen verbergen, die zu täuschen sie ein Interesse haben.

Nr. 2. Julius Bender, Fechtmeister, bezeugt und sagt aus:

Ich bin deutscher Nationalität und habe mich im Anfang des laufenden Jahres in England als Lehrer im Gebrauche des Degens und der Pistole niedergelassen. Da das Geschäft in London flau ging, so kam mir unglücklicherweise der Einfall, zu versuchen, ob sich vielleicht auf dem Lande etwas machen ließe. Ich hatte von Maplesworth als einem Orte gehört, der wegen der landschaftlichen Schönheit von Touristen und auch häufig von Leidenden besucht werde, die eine Badekur gebrauchen müssen; ich eröffnete dort im Anfange der Kurzeit des Jahres 1817 einen Saal für Fechtübungen und Pistolenschießen. Was die Touristen anlangt, so war ich nicht getäuscht worden; denn es gab eine Menge junger, müßiger Herren unter ihnen, von denen erwartet werden konnte, dass sie meinem Unternehmen ihr Interesse zuwenden würden. Sie zeigten aber die erschreckendste Gleichgültigkeit gegen die edle Kunst des Angriffs und der Verteidigung, kamen zu zweien und zu dreien, blickten in meinen Saal und kamen nicht wieder. Meine geringen Mittel gingen zu Ende. Nachdem ich alle Kosten bezahlt hatte, stand mir wirklich der Verstand still, als ich nur noch einige Pfund in der Tasche fand, von denen ich — in der Hoffnung auf bessere Tage — weiter leben sollte.

Eines Herrn erinnere ich mich, der mich besuchte und sich sehr freigebig gegen mich benahm.

Er gab sich selbst für einen Amerikaner aus und sagte, dass er sehr viel gereist sei. Wie mein Unglück es wollte, bedurfte er aber meiner Unterweisungen nicht. Bei den zwei oder drei Malen, wo er sich mit meinen Rapieren und meinen Pistolen die Zeit vertrieb, erwies er sich als einer der geschicktesten Fechter und trefflichsten Schützen, denen ich jemals begegnete. Es war nicht zu verwundern: er war von Natur kaltblütig und hatte ein scharfes Auge, und war in Wien und Paris von Meistern der Kunst unterrichtet worden.

Anfangs Juli — ich glaube den 9. oder 10. dieses Monats — saß ich allein in meinem Saale und betrachtete recht traurig die beiden letzten Sovereigns in meiner Börse, als mir ein Herr gemeldet wurde, der Unterricht wünschte. »Privaten Unterricht,« sagte er mit Nachdruck, indem er nach dem Manne blickte, dem die Reinigung und die Fürsorge für meine Waffen oblag.

Ich schickte den Mann hinaus. Der Fremde — ein Engländer, und nach dem äußeren Scheine zu urteilen, Soldat — nahm aus seinem Taschenbuche eine Fünfzig-Pfund-Note und hielt sie mir vor die Augen. »Ich bin eine wichtige Wette, einen Wettkampf im Fechten, eingegangen,« sagte er, »und ich habe keine Zeit, mich hierzu besonders vorzubereiten. Lehren Sie mir einen Kunstgriff, der es mir möglich macht, mich mit einem im Gebrauche des Rapiers erfahrenen Manne zu messen. Halten Sie die Sache geheim, und diese fünfzig Pfund hier sind Ihnen.«

Ich zögerte. Ich zögerte wirklich, so arm ich auch war. Aber dieser Teufel von einem Manne hielt seine Banknote vor mich hin, nach welcher Richtung ich auch blickte, und ich hatte nur zwei Pfund in der Welt übrig.

»Sind Sie im Begriffe, ein Duell auszufechten?« fragte ich.

»Ich habe Ihnen ja schon gesagt, was ich vorhabe,« antwortete er.

Ich wartete einen Augenblick. Die höllische Banknote versuchte mich noch immer. Wider meinen Willen stellte ich ihn nochmals auf die Probe.

»Wenn ich Ihnen den Kniff lehre,« erwiderte ich zähe, »wollen Sie sich verpflichten, keinen schlechten Gebrauch von diesem Unterricht zu machen?«

»Ja,« rief er ungeduldig.

Ich war noch nicht ganz befriedigt.

»Wollen Sie mir dies auf Ihr Ehrenwort versprechen?« fragte ich.

»Natürlich will ich dies,« antwortete er. »Nehmen Sie das Geld, und lassen Sie mich nicht länger warten!«

Ich nahm das Geld und lehrte ihm den Kunstgriff — und ich bedauerte dies, sobald ich es getan hatte. Nicht dass ich etwa glaubte, es sei von ernsten Folgen begleitet, denn ich kehrte am nächsten Morgen nach London zurück. Aber ich teilte die Anschauungen eines Mannes von Ehre, welcher fühlt, dass er seine Kunst herabgewürdigt habe, und der nicht ganz sicher war, ob er nicht ebenso gut auch die Hand eines Meuchelmörders bewaffnet hatte.

Ich habe nichts weiter auszusagen.

Nr. 3. Thomas Outwater, Diener des Hauptmanns Stanwick, bezeugt und sagt aus:

»Wenn ich nicht fest glaubte, dass mein Herr den Verstand verloren habe, so würde keine noch so hohe Strafe mich dazu bringen, das von ihm auszusagen, was ich jetzt zu sagen im Begriffe bin. Aber ich versichere, er ist wahnsinnig und deswegen nicht für das verantwortlich, was er getan hat, — wahnsinnig aus Liebe zu einem Mädchen. Wenn ich es könnte, würde ich diesem Frauenzimmer den Hals umdrehen, obgleich es eine vornehme Dame und noch dazu eine reiche Erbin ist. Ehe sie ihnen begegnete, lebten mein Herr und Herr Varleigh zusammen wie Brüder. Ihretwegen entzweiten sie sich, und ob sie dies beabsichtigte oder nicht, ist mir ganz einerlei. Ich gestehe, dass sie mir zuwider war, sobald ich sie zum ersten Mal sah. Sie war eine von jenen blauäugigen Blondinen mit unschuldigem Blicke und schlanker Taille, auf die man aber, wie ich gefunden habe, sich durchaus nicht verlassen kann.

Ich höre, dass man nicht von mir verlangt, über die zwischen den beiden Herren entstandenen Misshelligkeiten Auskunft zu geben, deren Ursache diese Dame war. Ich soll nur erzählen, was ich zu Maplesworth tat und was ich nachher im Hernewald sah. So arm ich auch bin, ich würde jedem eine Fünf-Pfund-Note geben, der dies für mich tun könnte. Unglücklicherweise muss ich es aber selbst tun.

Am zehnten Juli abends ging mein Herr zum zweiten Mal an jenem Tage in Herrn Varleighs Wohnung. Ich bin im Datum sicher, da es der Tag der Ausgabe der Stadtzeitung war und in ihr sich ein Bericht über eine gerichtliche Verhandlung befand, die das allgemeine Gerede veranlasste. Es hatte nämlich ein oder zwei Tage vorher zwischen einem Eingeborenen der Stadt und einem Touristen ein Duell auf Pistolen stattgefunden, das durch irgendeinen Wortwechsel über Pferde veranlasst worden war. Dieser Zweikampf hatte keine besonders ernsten Folgen. Einer der Männer nur war verletzt worden, und es ergab sich, dass die Wunde von keiner Bedeutung war. Die unangenehme Seite der Sache war vielmehr die, dass die Schutzleute auf dem Platze erschienen, ehe noch der Verwundete weggeschafft worden war. Dieser und seine beiden Sekundanten wurden festgenommen und dem Gericht zur Einleitung einer Untersuchung übergeben. Die Richter erklärten, dass das Duell eine unmenschliche und unchristliche Tat sei, und es wurde beschlossen, das Gesetz in Kraft treten zu lassen und diese Ausschreitung zu verhindern. Dieses Urteil machte viel Aufsehen in der Stadt und prägte das Datum, wie gesagt, meinem Gedächtnis ein. Da ich zufällig von einem Wortwechsel zwischen meinem Herrn und Herrn Varleigh über Fräulein Laroche gehört hatte, hatte ich Besorgnis wegen des zweiten Besuchs des Hauptmanns bei seinem Freunde, mit dem er schon vorher Streit gehabt hatte. Ein Herr sprach bald, nachdem er ausgegangen war, bei ihm vor. Dies gab mir einen Vorwand, ihm mit der mir übergebenen Karte nach Herrn Varleighs Wohnung zu folgen, und ich benutzte diese Gelegenheit.

Ich hörte sie bei meinem Gange die Treppe hinauf heftige Worte miteinander wechseln und wartete einen Augenblick auf dem Vorplatze. Der Hauptmann war in einem seiner wütenden Zornesausbrüche. Herr Varleigh dagegen blieb wie immer kaltblütig und fest. Nachdem ich etwa eine Minute gelauscht hatte, hörte ich meiner Meinung nach genug, um meinen Eintritt in das Zimmer zu rechtfertigen. Ich traf meinen Herrn, wie er gerade seinen Rohrstock erhob und Herrn Varleigh zu schlagen drohte. Er ließ augenblicklich den Arm sinken und wandte sich wegen meiner Zudringlichkeit wütend gegen mich. Ich nahm von seinem Aufbrausen keine Notiz, gab ihm die Karte seines Freundes und ging wieder hinaus. Es folgte noch ein Gespräch zwischen beiden, aber es wurde so leise geführt, dass ich es draußen nicht verstehen konnte. Und dann näherte sich der Hauptmann der Tür. Ich ging ihm aus dem Wege, in großer Unruhe über das, was demnächst kommen musste. Ich konnte es nicht wagen, Herrn Varleigh zu fragen. Das einzige, woran ich denken konnte, war, der Tante der jungen Dame zu sagen, was ich gesehen und gehört hatte, und Fräulein Laroche selbst zu bitten, zwischen beiden Frieden zu stiften. Als ich nach den Damen in ihrer Wohnung fragte, wurde mir gesagt, dass sie Maplesworth verlassen hätten.

In dieser Nacht sah ich den Hauptmann nicht mehr. Am nächsten Morgen schien er wieder ganz bei Besinnung zu sein. Er sagte zu mir: »Thomas, ich will im Hernewald Skizzen aufnehmen. Nimm den Malkasten und das übrige, und bringe dies hier in den Wagen.«

Er händigte mir ein Paket aus, das so dick wie mein Arm, etwa drei Fuß lang und mehrfach in Segeltuch eingeschlagen war. Ich erlaubte mir zu fragen, was dies sei. Er antwortete, es sei ein Malerschirm für die Aufnahme von Skizzen und für die Reise gepackt.

In einer Stunde hielt der Wagen auf der Landstraße unterhalb des Hernewaldes. Mein Herr sagte mir, er wolle seine Malutensilien selbst tragen und ich sollte bei dem Wagen warten. Als ich ihm den vermeintlichen Schirm gab, benutzte ich die Gelegenheit, da sein Blick für einen Augenblick von mir weggewendet war, meine Hand behutsam über das Paket gleiten zu lassen, und ich fühlte durch das Segeltuch hindurch den Griff eines Degens. Als alter Soldat konnte ich mich nicht irren — es war der Griff eines Degens.

Was ich dachte, als ich diese Entdeckung machte, ist nicht besonders wichtig. Was ich tat, war, den Hauptmann auf seinem Gange in den Wald zu beobachten und ihm dann zu folgen. Ich folgte ihm längs des Pfades bis dahin, wo sich in der Mitte der Bäume eine Lichtung befand. Dort blieb er stehen, und ich begab mich hinter einen Baum. Er nahm das Segeltuch auseinander und zog zwei Degen heraus, die in dem Paket verborgen waren. Wenn ich vorher noch irgendwelche Zweifel gehabt hätte, jetzt war ich sicher über das, was nun kommen musste. Ein Duell ohne Sekundanten oder Zeugen, indem man die Beamten der Stadt in Unkenntnis hielt — ein Duell zwischen meinem Herrn und Herrn Varleigh! Sowie ich an diesen Namen dachte, erschien der Mann selbst, der seinen Weg in die Lichtung von der anderen Seite des Waldes her nahm.

Was konnte ich tun, um die Sache zu verhindern? Kein menschliches Wesen war zu sehen. Das nächste Dorf war, wenn man von der entferntesten Seite des Waldes an rechnete, eine Meile entfernt; der Kutscher war ein alter, geistig beschränkter Mann und in einer Schwierigkeit wie der gegenwärtigen ganz unbrauchbar; selbst wenn ich Zeit genug gehabt hätte, nach der Landstraße zurückzukehren und ihn um Hilfe anzurufen. Während ich noch hierüber nachdachte, hatten der Hauptmann und Herr Varleigh sich ihrer Kleider entledigt. Als sie ihre Degen kreuzten, konnte ich es nicht länger aushalten — ich sprang auf sie los. »Beim allmächtigen Gott, meine Herren,« rief ich, »schlagen Sie sich nicht ohne Sekundanten!«

Mein Herr wandte sich wie ein Wahnsinniger nach mir um und bedrohte mich mit der Spitze seines Degens. Herr Varleigh zog mich gewaltsam aus dem Bereich der Gefahr. »Seien Sie unbesorgt,« flüsterte er mir zu, als er mich nach dem Rande der Lichtung zurückführte, »ich habe absichtlich den Degen anstatt der Pistole gewählt, um sein Leben zu schonen.« Diese ernsten Worte beruhigten mich, denn sie wurden von einem Mann gesprochen, der so brav und ehrlich war, wie je einer lebte. Ich wusste, dass Herr Varleigh sich den Ruf erworben hatte, einer der geschicktesten Fechter Europas zu sein.

Das Duell nahm seinen Anfang. Ich stellte mich hinter meinen Herrn und befand mich also seinem Gegner gegenüber. Der Hauptmann hielt sich in der Defensive und wartete auf den Angriff seines Gegners. Herr Varleigh führte einen Stoß gegen ihn. Ich stand der Spitze seines Degens gegenüber und sah, wie diese des Hauptmanns linke Schulter berührte. In demselben Augenblicke schlug mein Herr den Degen seines Gegners mit seiner eignen Waffe in die Höhe, ergriff mit seiner linken Hand Herrn Varleighs rechtes Handgelenk und durchbohrte mit seinem Degen vollständig dessen Brust. Varleigh fiel als das Opfer eines mörderischen Kniffes — er fiel ohne ein Wort zu sagen oder einen Schrei auszustoßen.

Der Hauptmann wendete sich langsam um und sah mich an, indem er seinen blutigen Degen in der Hand hielt. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie er aussah; ich kann nur sagen, dass sein Anblick mich vor Schrecken fast in Ohnmacht fallen ließ. Ich war bei Waterloo dabei, ich bin kein Feigling. Aber ich sage Ihnen, dass mir der kalte Schweiß wie Wasser vom Gesicht strömte. Ich würde hingesunken sein, wenn ich mich nicht an einem Baumast gehalten hätte.

Mein Herr wartete, bis ich mich einigermaßen wieder erholt hatte. »Fühle, ob sein Herz noch schlägt,« sagte er, indem er nach dem Mann auf dem Boden zeigte.

Ich gehorchte. Er war tot — das Herz stand still, der Pulsschlag hatte aufgehört. Ich sagte: »Sie haben ihn getötet.«

Der Hauptmann antwortete nicht. Er packte die beiden Degen wieder in das Segeltuch und nahm sie unter den Arm. Alsdann befahl er mir, ihm mit den Malgeräten zu folgen. Ich zog mich vor ihm zurück, ohne etwas zu sagen; es war ein grässlicher hohler Ton in seiner Stimme, der mir zuwider war. »Tue wie ich dir sage,« sprach er. »Sie haben es sich selbst zuzuschreiben, das es mir nicht einfällt, Sie jetzt aus dem Gesicht zu verlieren,« dachte ich, ersparte es ihm aber zu sagen, damit er mir vertrauen möchte, dass ich von dem Vorfalle nichts verlauten lasse. Aber er schien mir nicht zu trauen; er streckte seine Hand aus, um mich zu fassen. Ich konnte dies nicht ertragen. »Ich will mit Ihnen gehen,« sagte ich; »rühren Sie mich nicht an!« Wir erreichten den Wagen und kehrten nach Maplesworth zurück. An demselben Tage noch reisten wir mit der Post nach London.

In London gelang es mir, dem Hauptmann zu entschlüpfen. Am nächsten Morgen ging ich mit der ersten Postkutsche nach Maplesworth zurück, begierig zu erfahren, was sich etwa weiter zugetragen habe und ob der Leichnam gefunden worden sei. Nicht die geringste Nachricht kam mir zu Gehör; nichts schien von dem Duell im Hernewald bekannt zu sein.

Ich ging in den Wald —- und zwar zu Fuß, da ich fürchtete, dass man mir folge, wenn ich einen Wagen mietete. Die Gegend ringsum war so einsam wie gewöhnlich. Nicht ein lebendes Wesen war in der Nähe, als ich in den Wald trat; nicht ein lebendes Wesen war nahe, als ich auf die Lichtung blickte. Dort lag nichts mehr auf dem Boden. Der Leichnam war fort.

Nr. 4. Seine Ehrwürden, der Pfarrer Alfred Loring von Nettlegrove, bezeugt und sagt aus:

I.

Anfangs Oktober des Jahres 1817 wurde mir mitgeteilt, das Fräulein Bertha Laroche in meinem Hause vorgesprochen und den Wunsch geäußert habe, mich in einer Privatangelegenheit zu sprechen. Ich war Fräulein Laroche zuerst bei der Ankunft mit ihrer Tante vorgestellt worden, als sie von ihrem Eigentum in Nettlegrove Hall Besitz ergreifen wollte. Die späteren Gelegenheiten, diese Bekanntschaft mit ihr zu erneuern und weiter zu pflegen, waren nicht so zahlreich gewesen, als ich dies gewünscht hätte, und ich bedauerte dies aufrichtig. Sie hatte einen sehr günstigen Eindruck auf mich gemacht. Außerordentlich unerfahren und leicht erregbar, mit einer seltsamen Mischung von Schüchternheit und Lebhaftigkeit in ihrem Benehmen und dann und wann plötzlichen Anwandlungen der Eitelkeit und des Mutwillens unterworfen, die sie zum Ergötzen anderer nicht verbergen konnte, waren doch unter diesen Äußerlichkeiten die Zeichen eines echten und edlen Gemütes, eines einfachen und lauteren Herzens wahrzunehmen. Ihre persönliche Erscheinung war, wie ich hinzufügen möchte, in hohem Grade anziehend. Es lag in jener etwas so Eigentümliches und zu gleicher Zeit etwas so Bezauberndes, dass ich meine Voreingenommenheit für sie nur zugestehen will. Um aber nicht missverstanden zu werden, will ich hinzufügen, dass ich alt genug bin, um ihr Großvater zu sein und dass ich überdies ein verheirateter Mann bin.

Ich befahl dem Diener, Fräulein Laroche in mein Studierzimmer zu führen.

Als sie eintrat, erschreckte mich ihr Aussehen; ihr Gesicht war wirklich von Schrecken erfüllt. Ich erbot mich, meine Frau kommen zu lassen, sie lehnte aber mein Anerbieten ab. Ich drang dann in sie, sich doch wenigstens so lange Zeit zu nehmen, bis sie sich beruhigt hätte. Es war ihrer erregten Natur nicht gegeben, dies zu tun. Sie sagte: »Geben Sie mir Ihre Hand und lassen Sie mich sprechen, so lange ich kann.« Ich reichte der Armen die Hand: ,,Sprechen Sie mit mir, meine Teure, als wenn ich Ihr Vater wäre.«

Soweit ich die unzusammenhängende Darstellung, die mir gegeben wurde, verstehen konnte, war sie, während sie Maplesworth besuchte, gleichzeitig von zwei Herren umworben worden, welche beide sie zu heiraten wünschten. Da sie in ihrer Wahl schwankte und überdies in solchen Dingen ganz unerfahren war, so war sie unglücklicherweise die Ursache der Feindschaft zwischen den Nebenbuhlern geworden, und war auf den Rat ihrer Tante nach Nettlegrove zurückgekehrt, das beste Mittel, sich aus ihrer peinlichen Lage zu befreien. Aber auch dieses Mittel vermochte nicht, die schmerzlichen Erinnerungen an das Vorgefallene zu verwischen, und sie hatte daher mit ihrer Tante ein weiteres Mittel versucht, indem sie eine zweimonatliche Reise auf das Festland unternahmen. Von dieser Reise war sie in einer ruhigeren Gemütsverfassung zurückgekehrt. Zu ihrer größten Überraschung hatte sie aber von dem Tage an, wo sie Maplesworth verließ, bis zu dem Tage, an dem sie sich bei mir einfand, von keinem ihrer beiden Freier wieder etwas gehört.

In der Frühe dieses Morgens spazierte sie nach dem Frühstück in dem Parke von Nettlegrove, als sie Tritte hinter sich hörte. Sie wandte sich um und sah sich einem ihrer Verehrer aus Maplesworth gegenüber. Man hat mir gesagt, dass kein Grund vorliege, dessen Namen jetzt noch zu verschweigen. Es war Hauptmann Stanwick.

Er hatte sich so schrecklich verändert, dass sie ihn kaum wiedererkannte.

Nachdem er einen Blick auf sie geworfen hatte, hielt er die Hand über seine blutunterlaufenen Augen, als wenn ihnen das Sonnenlicht wehe tue. Ohne sie vorher durch ein Wort auf die Mitteilung vorzubereiten, gestand er, Herrn Varleigh in einem Duelle getötet zu haben. Gewissensbisse hätten, so bekannte er, seinen Verstand verwirrt und erst vor einigen Tagen sei er aus dem Irrenhause entlassen worden. »Sie sind die Ursache davon,« rief er wild. »Aus Liebe zu Ihnen habe ich es getan. Ich habe nur noch eine Hoffnung im Leben — meine Hoffnung auf Sie. Wenn Sie mich von sich weisen, so ist mein Entschluss gefasst. Ich will mein Leben für das hingeben, das ich geraubt habe; ich will durch meine eigene Hand sterben. Sehen Sie mich an, und Sie werden finden, dass ich im Ernste rede. Mein ferneres Leben hängt von Ihrer Entscheidung ab. Überlegen Sie sich dies heute, und kommen Sie morgen wieder zu mir hierher. Aber nicht zu dieser Stunde, das schreckliche Tageslicht empfinde ich wie Feuer in meinen Augen, und wie Feuer durchdringt es mein Gehirn. Warten Sie bis zum Sonnenuntergange — Sie werden mich hier finden.«

Er verließ sie ebenso plötzlich, wie er erschienen war. Als sie sich soweit wieder erholt hatte, dass sie eines Gedankens fähig war, entschloss sie sich, ihrer Tante nichts von dem zu sagen, was sich zugetragen hatte. Sie nahm vielmehr ihren Weg nach dem Pfarrhause, um bei mir Rat zu suchen.

Es ist unnötig, meine Erzählung mit der Angabe von Fragen zu belasten, die ich unter diesen Umständen an sie zu richten für meine Pflicht hielt.

Auf meine Fragen erfuhr ich, dass Hauptmann Stanwick zuerst einen günstigen Eindruck auf sie gemacht habe, dass sie aber später an den weniger glänzenden Eigenschaften Herrn Varleighs größeres Gefallen gefunden habe, zumal da ihr die heftige Sprache und das ungestüme Benehmen zuwider war, das Stanwick zeigte, als er vermuten konnte, dass ihm sein Mitbewerber vorgezogen werde.

Als sie die schreckliche Nachricht von Varleighs Tod erfuhr, »erkannte sie« — ich wiederhole ihre eignen Worte — »ihr Herz« an dem Schlage, den sie fühlte. Hauptmann Stanwick gegenüber hatte sie dagegen unwillkürlich nur ein Gefühl des größten Abscheus. Mein Verhalten schien mir in dieser schwierigen und schmerzlichen Angelegenheit deutlich vorgezeichnet zu sein.

»Ihre Pflicht als Christin ist es, diesen Unglücklichen nochmals aufzusuchen,« sagte ich, »und meine Pflicht als Ihr Freund und Seelsorger ist es, Ihnen in dieser Prüfungsstunde zur Seite zu stehen. Ich will morgen mit Ihnen an den Ort der Zusammenkunft gehen.«

II.

Am nächsten Abend trafen wir Hauptmann Stanwick im Parke auf uns warten.

Er zog sich zurück, als er meiner ansichtig wurde. Ich erklärte ihm ruhig und bestimmt, welchen Standpunkt ich in der Sache einnehme. Mit finsteren Blicken ergab er sich darein, meine Anwesenheit zu dulden. Allmählich gewann ich sein Vertrauen. Der erste Eindruck, den ich von ihm erhielt, blieb unerschüttert — der Verstand des Mannes war verwirrt. Ich vermutete, dass seine Angabe von der Freilassung aus dem Irrenhause unwahr sei, und dass er in Wirklichkeit aus dem Asyl entwichen war. Es war unmöglich, aus ihm herauszubringen, in welcher Anstalt er gewesen war. Er war zu schlau, um dies zu sagen — zu schlau, um irgendetwas über seine Verwandten anzugeben, als ich zunächst versuchte, das Gespräch auf diese zu lenken. Auf der anderen Seite sprach er mit einer empörenden Leichtfertigkeit von dem Verbrechen, das er begangen hatte, und von seinem bestimmten Entschlusse, sich das Leben zu nehmen, wenn Fräulein Laroche es ablehne, seine Frau zu werden. »Ich habe sonst nichts, was mich an das Leben fesselt; ich stehe allein in der Welt,« sagte er. »Selbst mein Diener hat mich verlassen. Er weiß, wie ich Lionel Varleigh getötet habe.« Stanwick machte eine Pause und sprach dann die weiteren Worte flüsternd zu mir: »Ich tötete ihn durch einen Kniff – er war der bessere Fechter von uns beiden.«

Dieses Geständnis war so entsetzlich, dass ich es nur der Täuschung eines Wahnsinnigen zuschreiben konnte. Als ich mit weiteren Fragen in ihn drang, fand ich, dass auf denselben Gedanken auch die Verwandten des Unglücklichen und die Ärzte gekommen sein mussten, die ein Gutachten ausgestellt hatten, dass er unter ärztliche Obhut zu nehmen sei. Wie ich nachher hörte, war diese Ansicht besonders auf die Tatsache gestützt worden, dass Varleighs Leichnam auf dem bezeichneten Schauplatze des Zweikampfes nicht gefunden worden war. Was den Diener anbetrifft, so hatte er seinen Herrn in London verlassen und war nicht wieder zurückgekehrt. Nach meiner unmaßgeblichen Meinung war die vorliegende Frage nicht die, ob ein sich selbst anklagender Mörder dem Gericht überliefert werden sollte, da ja ein Leichnam zum Zeugnis gegen ihn nicht vorhanden war, sondern die, ob ein Wahnsinniger wieder in die Obhut derjenigen Leute zurückzubringen sei, die ihn in Verwahrung zu halten hatten.

Ich versuchte, die Größe seines Wahnsinns in einem Augenblicke zu prüfen, da er es unterließ, Fräulein Laroche mit seinen Anträgen zu belästigen.

»Wie können Sie wissen, dass Sie Herrn Varleigh getötet haben?« fragte ich.

Er blickte mich mit wildem Entsetzen in den Augen an. Plötzlich hob er die rechte Hand empor und schüttelte sie in der Luft, indem er einen kläglichen Ton ausstieß, der unverkennbar ein Schmerzensschrei war. »Würde ich seinen Geist sehen,« sagte er, »wenn ich ihn nicht getötet hätte? Ich merke es an dem Schmerze, der die Hand quält, die ihn erstach. Immer in der rechten Hand! Immer denselben Schmerz in dem Augenblicke, wenn ich ihn sehe!« Er hielt inne und knirschte in der Qual des wirklichen Wahnsinns mit den Zähnen. »Sehen Sie!« rief er. »Dort zwischen den beiden Bäumen hinter Ihnen! Dort ist er — mit seinem schwarzen Haar und seinem glattrasierten Gesicht und seinem starren Blick! Dort steht er vor mir, wie er im Walde vor mir stand, seine Augen auf die meinigen gerichtet, indem sein Degen den meinigen berührte.« Er wandte sich zu Fräulein Laroche »Sehen Sie ihn auch?« fragte er hastig. »Sagen Sie mir die Wahrheit. Mein ganzes Leben hängt davon ab, dass Sie mir die Wahrheit sagen.« Sie beherrschte sich mit erstaunlichem Mute. »Ich sehe ihn nicht,« antwortete sie.

Er nahm sein Taschentuch heraus und fuhr damit über das Gesicht, indem er erleichtert aufatmete. »Dies ist meine letzte Hoffnung!« sagte er. »Wenn sie mir treu sein wird, wenn sie mir immer nahe sein wird, morgens, mittags, abends, so werde ich von seinem Anblick befreit sein. Sehen Sie! Er verschwindet schon. Er ist fort!« rief er mit einem Freudenschrei. Er fiel auf die Knie und blickte Fräulein Laroche wie ein Wilder an, der zu seinem Götzenbild betet. »Wollen Sie mich jetzt von sich weisen?« fragte er demütig. »Lionel liebte Sie in seinem Leben, und sein Geist ist ein barmherziger Geist. Er will Sie nicht erschrecken; er hat mich um Ihretwillen verlassen; er wird mich um Ihretwillen freigeben. Haben Sie Erbarmen mit mir, nehmen Sie mich auf, damit ich mit Ihnen lebe – und ich werde ihn nie wiedersehen.«

Es war schrecklich, ihn reden zu hören. Ich sah, dass das arme Mädchen dies nicht länger ertragen konnte. »Verlassen Sie uns,« flüsterte ich ihr zu; »ich werde Sie zu Hause wieder treffen.« Er hörte dies und trat sofort zwischen uns. »Sie soll mir ein Versprechen geben, sonst lasse ich sie nicht weggehen.« Fräulein Laroche fühlte wie ich die gebieterische Notwendigkeit, etwas zu sagen, was ihn besänftigen konnte. Auf ein Zeichen von mir gab sie das Versprechen, wieder zu kommen.

Er war befriedigt und bestand darauf, ihr die Hand zu küssen; dann ließ er sie gehen. Es war mir damit gelungen, ihn zu bewegen, dass er mir vertraute. Er schlug mir unaufgefordert vor, ihn nach dem Wirtshause im Dorfe zu begleiten, wo er sich aufgehalten hatte. Der Wirt, der seinem unglücklichen Gast selbstverständlich nicht traute, hatte ihn diesen Morgen aufgefordert, sich irgendein anderes Unterkommen zu suchen. Ich übernahm es, durch meinen Einfluss auf den Mann ihn zu bestimmen, von seinem Vorhaben abzustehen, und ich setzte auch die notwendigen Anordnungen durch, dass nach dem armen Mann gehörig gesehen werde. Nach meiner Rückkehr nach Hause schrieb ich sodann an einen Amtsbruder in meiner Nähe und an den Direktor der Provinzial-Irrenanstalt, die ich beide ersuchte, mit mir über die beste Art zu beraten, um Hauptmann Stanwick auf gesetzlich zulässige Weise so lange in Verwahrung zu halten, bis wir uns mit seinen Verwandten in Verbindung gesetzt hätten.

Konnte ich mehr als dies tun? Das Ereignis des nächsten Morgens beantwortete diese Frage — beantwortete sie sogleich und für immer.

III.

Als ich mich zu Nettlegrove Hall gegen Abend einfand, um Fräulein Laroche meine Fürsorge zuzuwenden, stieß ich auf den Widerspruch ihrer Tante.

Diese gute Dame hatte von der Anwesenheit des Hauptmanns Stanwick im Parke gehört und sie missbilligte es sehr, dass ihre Nichte ihn zu einem weiteren Verkehr ermutigt hatte. Sie hielt auch dafür, dass ich meine Pflicht versäumt hätte, indem ich den Hauptmann noch frei umhergehen lasse. Ich sagte ihr, dass ich, um zu handeln, nur auf den Rat kompetenter Leute warte, die am nächsten Tage eintreffen würden, um mit mir zu beraten; und ich tat mein Bestes, sie von der Zweckmäßigkeit der Schritte zu überzeugen, die ich inzwischen getan hatte. Fräulein Laroche ihrerseits war fest entschlossen, dem Versprechen treu zu bleiben, welches sie gegeben hatte. Wir brachten ihre Tante endlich dazu, unter gewissen Bedingungen nachzugeben.

»Ich kenne den Teil des Parkes, in dem die Zusammenkunft stattfinden soll,« sagte die alte Dame; »es ist der bevorzugte Spazierweg meiner Nichte. Wenn sie nicht in einer halben Stunde zu mir zurückgebracht worden ist, werde ich die Bedienten ausschicken, um sie in Schutz zu nehmen.«

Die Dämmerung trat ein, als wir den verabredeten Ort erreichten. Wir fanden dort bereits Hauptmann Stanwick; er war ungeduldig und misstrauisch, und es war nicht leicht, ihn über unsere Verzögerung zu beruhigen. Sein Wahnsinn schien jetzt mehr denn je hervorzutreten. Er hatte den Geist Varleighs während der vergangenen Nacht gesehen, oder doch geträumt, ihn zu sehen. Zum ersten Mal, sagte er, habe die Erscheinung des toten Mannes zu ihm gesprochen. In feierlichen Worten habe er ihn dazu verurteilt, sein Verbrechen zu sühnen, indem er sein Leben für das Leben hingebe, das er geraubt habe. Er habe ihn gewarnt, nicht auf einer Verheiratung mit Bertha Laroche zu bestehen. »Sie soll Ihre Strafe teilen, wenn sie Ihr Leben teilt. Und Sie werden es an diesem Zeichen erkennen — sie soll mich sehen, wie Sie mich sehen.«

Ich versuchte, ihn zu beruhigen. Er schüttelte den Kopf in starrer Verzweiflung. »Nein,« antwortete er; »falls sie ihn sieht, wenn ich ihn sehe, so hört die einzige Hoffnung auf Erlösung auf, die mich an das Leben fesselt. Wir müssen uns dann Lebewohl sagen, ein Lebewohl für immer!«

Während wir sprachen, waren wir weiter zu einem Teile des Parkes gegangen, durch den ein Bach mit klarem Wasser floss. Am jenseitigen Ufer führte das unbepflanzte Gelände in ein waldiges Tal hinab. Am diesseitigen Ufer des Baches erhob sich eine dichte Anpflanzung von Tannen, die von einem gewundenen Pfade durchschnitten wurde. Hauptmann Stanwick blieb stehen, als wir diese Stelle erreichten. Seine Augen hefteten sich in der zunehmenden Finsternis auf den schmalen Zwischenraum, den der Pfad zwischen den Bäumen bildete. Plötzlich erhob er die rechte Hand mit demselben Schmerzensschrei, den wir früher gehört hatten, mit der linken fasste er Fräulein Laroche am Arme. »Dort!« sagte er. »Sehen Sie dorthin, wohin ich blicke! Sehen Sie ihn dort?«

Als diese Worte über seine Lippen kamen, wurde eine nicht deutlich zu erkennende Gestalt sichtbar, welche den Pfad entlang auf uns zukam.

War es die Gestalt eines lebenden Menschen, oder war es nur ein Gebilde meiner eignen erregten Phantasie? Ehe ich diese Frage tun konnte, schritt der Mann näher auf uns zu. Der letzte Strahl des scheidenden Lichtes fiel durch eine Öffnung in den Bäumen auf sein Gesicht. In demselben Augenblicke fuhr Fräulein Laroche mit einem Schrei des Entsetzens vor Hauptmann Stanwick zurück. Sie würde zur Erde gefallen sein, wenn ich nicht nahe genug gewesen wäre, sie aufrecht zu halten. Hauptmann Stanwick war augenblicklich wieder an ihrer Seite. »Sprechen Sie!« rief er. »Sehen Sie ihn auch?«

Sie war gerade noch imstande, »Ja« zu sagen, als sie in meinen Armen in Ohnmacht fiel.

Er beugte sich über sie und berührte mit seinen Lippen ihre kalte Wange.

»Leben Sie wohl!« sagte er in einem Tone, der seltsamerweise plötzlich in die ausgesuchteste Zärtlichkeit überging. »Leben Sie wohl für immer!«

Er sprang über den Bach, überschritt den freien Raum und war in dem waldigen Tale jenseits bald unseren Blicken entschwunden.

Sowie er verschwand, kam auch die Erscheinung jenes anderen Mannes näher, ging schweigend an uns vorüber, sprang in einem Satze über den Bach und verschwand, wie die Gestalt des Hauptmanns vor ihm verschwunden war.

Ich war allein mit dem ohnmächtigen Mädchen geblieben. Nicht ein Laut, weder fern noch nah, unterbrach die Stille der herankommenden Nacht.

Nr. 5. Herr Friedrich Darnel, Mitglied der Akademie der Wundärzte, bezeugt und sagt aus:

Ich bin gewohnt, in der freien Zeit, die mir die Pflichten meines Berufes lassen, mich mit dem Studium der Botanik zu befassen, wobei mir ein Freund und Nachbar zur Seite steht, dessen Neigungen in dieser Hinsicht den meinigen gleichen. Wenn ich eine oder zwei Stunden von der für meine Patienten bestimmten Zeit erübrigen kann, so gehen wir zusammen aus, Pflanzenproben zu suchen, Unser Lieblingsort ist der Hernewald. Er bietet dem Botaniker reiche Ausbeute und ist nur eine Meile von dem Dorfe entfernt, in dem ich wohne.

Anfangs Juli machten ich und mein Freund in dem Walde eine unerwartete und erschreckende Entdeckung. Wir fanden in der Lichtung einen Mann, der mit einer gefährlichen Wunde am Boden lag und allem Anscheine nach bereits tot war.

Wir trugen ihn in das Haus des Wildhüters am Saume des Waldes auf der unserem Dorfe nächstgelegenen Seite. Dieser war mit seinem Burschen ausgegangen, aber der leichte Wagen, in dem er in dem entfernteren Teile des Besitztums seines Herrn die Runde macht, befand sich im Hinterhause. Während mein Freund das Pferd anspannte, untersuchte ich die Wunde des Fremden. Sie war ihm kurz vorher erst beigebracht worden und ich bezweifelte, ob sie ihn wirklich getötet hatte. Mit Leinwand und kaltem Wasser, welches mir die Frau des Wildhüters darreichte, tat ich mein Möglichstes und dann brachten wir ihn vorsichtig auf dem Wagen in meine Wohnung. Ich wendete die nötigen Stärkungsmittel an, und überzeugte mich zu meiner Freude bald davon, dass die Lebenskräfte des Verwundeten wieder auflebten. Er war natürlich vollständig bewusstlos, aber die Tätigkeit des Herzens war deutlich wahrzunehmen, und ich fasste Hoffnung für seine Wiederherstellung. In einigen weiteren Tagen fand ich, dass diese durchaus gesichert sei; dann stellte sich das gewöhnliche Fieber ein.

Seiner Freunde wegen war ich genötigt, seine Kleider in Gegenwart eines Zeugen zu untersuchen. Wir fanden sein Taschentuch, seine Börse und seine Zigarrentasche, sonst aber nichts, weder einen Brief noch eine Visitenkarte. In seine Kleider waren nur Anfangsbuchstaben eingezeichnet. Es gab also nur ein Mittel, um seine Persönlichkeit festzustellen: zu warten, bis er wieder sprechen konnte. Als diese Zeit kam, gestand er mir, dass er sich absichtlich jeden Anhalts für die Feststellung seiner Person in der Besorgnis entäußert habe, dass im Falle eines Unfalls, der ihm zustoße, die Nachricht darüber seinen Eltern ohne Vorbereitung durch die Zeitungen zukommen möchte. Er habe an seinen Bankier in London einen Brief geschickt, der an seine Eltern befördert werden sollte, wenn jener innerhalb Monatsfrist ihn weder sähe noch von ihm höre. Sein Erstes war, diesen Brief zurückzuziehen. Die übrigen Einzelheiten, die er mir mitteilte, sind, wie ich höre, bereits bekannt. Ich habe nur noch hinzuzufügen, dass ich gern sein Geheimnis bewahrt habe, indem ich in der Nachbarschaft von ihm nur als von einem Reisenden aus der Fremde sprach, dem hier ein Unfall begegnet sei.

Seine Genesung ging nur langsam von statten. Es war bereits Anfang Oktober, als seine Gesundheit gänzlich wiederhergestellt war. Als er uns verließ, ging er nach London. Er benahm sich sehr freigebig gegen mich, und wir schieden voneinander mit den besten Wünschen auf beiden Seiten.

Nr. 6. Herr Lionel Varleigh von Boston in den Vereinigten Staaten von Nordamerika bezeugt und sagt aus:

Mein erster Schritt nach meiner Genesung war der, zu den Verwandten des Hauptmanns Stanwick in London zu gehen, um bei ihnen Erkundigungen über ihn einzuziehen. Ich will mich nicht auf Kosten dieses unglücklichen Mannes rechtfertigen. Es ist wahr, ich liebe Fräulein Laroche zu sehr, um sie, außer, wenn sie es selbst wünschte, einem anderen zu überlassen. Es ist ferner wahr, dass Hauptmann Stanwick mich mehr als einmal gröblich beschimpfte und ich dies ruhig hinnahm. Er hatte schwer an einem Sonnenstich gelitten, der ihn in Indien befiel, und in Augenblicken der Erregung konnte er kaum für seine Handlungen verantwortlich gemacht werden. Erst als mir ein tätlicher Angriff von seiner Seite drohte, ging mir die Geduld aus. Wir griffen zum Degen. Ich war fest entschlossen, sein Leben zu schonen; er aber hatte zweifellos die Absicht, mich zu töten. Ich habe ihm vergeben und will darüber nichts weiter sagen.

Seine Verwandten teilten mir mit, dass bei ihm nach dem Duelle die Symptome des Wahnsinns zu Tage getreten seien, dass er bisher in einer Irrenanstalt verwahrt worden, aber aus ihr entwichen sei, und dass es bisher nicht gelungen sei, seinen Aufenthalt zu ermitteln.

In dem Augenblicke, wo ich dies hörte, erfasste mich die Furcht, dass Stanwick wieder seinen Weg zu Fräulein Laroche gefunden haben könnte. Nach einer Stunde war ich auf dem Wege nach Nettlegrove Hall.

Ich kam dort spät abends an und fand Fräulein Laroches Tante in großer Unruhe um die Sicherheit ihrer Nichte. Die junge Dame war gerade in diesem Augenblicke im Park und im Gespräche mit Stanwick, und sie hatte nur einen älteren Herrn, den Pfarrer, zu ihrem Schutze bei sich.

Dies veranlasste mich, mich sogleich auf den Weg zu machen, um ihr auch meine Fürsorge angedeihen zu lassen. Ein Diener begleitete mich, um mir den Ort der Zusammenkunft zu zeigen. Wir hörten zwar undeutlich Stimmen, aber wir sahen niemand. Der Diener zeigte auf einen Pfad, der durch die Tannen führte. Ich selbst ging rasch vorwärts, während ich den Diener so weit zurückließ, dass ich ihn zu jeder Zeit herbeirufen konnte. In einigen Minuten bemerkte ich sie in geringer Entfernung an dem Ufer eines Baches. Die Furcht, Fräulein Laroche ernstlich zu erschrecken, wenn ich mich ihnen plötzlich zeigte, beraubte mich für einen Augenblick meiner Geistesgegenwart. Indem ich stehen bleibend überlegte, was zu tun sei, war ich durch die Bäume weniger verdeckt worden, als ich vermutet hatte. Fräulein Laroche hatte mich gesehen; ich hörte ihren Angstschrei. Einen Augenblick später sah ich Hauptmann Stanwick den Bach überspringen und die Flucht ergreifen. Dies brachte mich in Bewegung. Ohne mich aufzuhalten und ohne ein Wort der Erklärung zu sagen, verfolgte ich ihn. Unglücklicherweise glitt ich im Halbdunkel aus und fiel auf dem freien Raume jenseits des Baches zur Erde. Als ich wieder auf meinen Füßen stand, war Stanwick unter den Bäumen verschwunden, die die Grenze des Parkes vor mir bildeten. Ich konnte von ihm weder etwas sehen, noch hören, als ich auf die Landstraße hinausgekommen war. Ich traf dort einen Arbeiter, der mir den Weg nach dem Dorfe zeigte. Aus dem Wirtshause schrieb ich Fräulein Laroches Tante einen Brief, in dem ich ihr mitteilte, was sich zugetragen hatte, und sie um die Erlaubnis bat, am nächsten Tage in ihrer Wohnung vorsprechen zu dürfen.

Früh morgens kam der Pfarrer zu mir in das Wirtshaus und brachte traurige Nachrichten. Fräulein Laroche litt an einem nervösen Anfall und mein Besuch musste verschoben werden. Als wir sodann von dem vermissten Manne sprachen, erfuhr ich alles, was Herr Loring mir sagen konnte. Meine genaue Bekanntschaft mit Stanwick setzte mich in den Stand, aus den mitgeteilten Tatsachen meine Schlüsse zu ziehen. Sofort fuhr mir der Gedanke durch den Kopf, dass der Unglückliche vielleicht an derselben Stelle sühnenden Selbstmord begangen haben könnte, an der er versucht hatte, mich zu töten. Ich überließ dem Pfarrer, die erforderlichen Erkundigungen einzuziehen, und nahm Postpferde nach Maplesworth, um den Weg nach dem Hernewald einzuschlagen. Als ich von der Landstraße dem Walde zuschritt, sah ich in geringer Entfernung zwei Personen — einen Mann in dem Anzuge eines Wildhüters und einen jungen Burschen. Ich war zu sehr erregt, um von ihnen besondere Notiz zu nehmen; ich eilte auf dem Pfade vorwärts, der zur Lichtung führte. Meine Ahnung hatte mich nicht getäuscht. Dort lag er tot an dem Platze des Duells, und an seiner Seite lag ein blutbeflecktes Rasiermesser. Ich fiel an dem Leichnam auf die Knie; ich nahm seine kalte Hand in die meinige, und ich dankte Gott, dass ich ihm in den ersten Tagen meiner Wiedergenesung vergeben hatte.

Ich kniete noch nieder, als ich von hinten ergriffen wurde. Ich arbeitete mich wieder auf die Füße und stand dem Wildhüter gegenüber. Er hatte mich in den Wald eilen sehen, sein Verdacht war rege geworden, und er und sein Bursche waren mir gefolgt. An meinen Kleidern befand sich Blut, und in meinem Gesicht war Entsetzen ausgeprägt. Der Schein war deutlich gegen mich; ich hatte keine andere Wahl, als dem Wildhüter vor den nächsten Untersuchungsrichter zu folgen.

Die Weisungen, die ich meinem Verteidiger gab, untersagten es ihm, für meine Freisprechung in der Weise zu plädieren, dass er etwa gewohnheitsmäßige Einwendungen gegen das formelle Verfahren des Richters oder des Leichenbeschauers geltend mache. Ich bestand nur darauf, dass meine Zeugen auf das Bureau meines Verteidigers bestellt würden und dass ihnen gestattet werde, in ihrer Weise das anzugeben, was sie wahrheitsgemäß über mich auszusagen wüssten, und ich stellte es anheim, meine Verteidigung lediglich auf das so erlangte Beweismaterial zu stützen. Unterdessen wurde ich natürlich in Haft behalten. Damit erreichte das Trauerspiel des Duells seinen Höhepunkt: ich wurde angeklagt, den Mann ermordet zu haben, der versucht hatte, mir das Leben zu nehmen.

Mit dem Bericht dieses Vorfalles geht das, was in meinem Beitrag zur gegenwärtigen Erzählung erwähnenswert erscheint, zu Ende.

Es fand eine gerichtliche Verhandlung statt, wie dies nach Recht und Gerechtigkeit nicht anders sein konnte. Aber der Beweis, wie er durch die Vernehmung der Zeugen auf dem Bureau meines Verteidigers geführt wurde, war nur der Form, nicht aber dem Wesen nach ein anderer, wie der durch die Vernehmung der Zeugen vor dem Gerichtshof geführte. Meine Verteidigung befriedigte die Geschworenen so vollständig, dass sie gegen das Ende der Verhandlung ungeduldig wurden und ihren Wahrspruch auf Nichtschuldig abgaben, ohne zu einer längeren Beratung sich zurückzuziehen.

Es ist gewiss unnötig, mich dabei aufzuhalten, welchen Gebrauch ich zuerst von meiner ehrenvollen Freisprechung machte. Ob ich den beneidenswerten Platz, den ich in Berthas Meinung behauptete, verdient habe, darüber steht mir ein Urteil nicht zu. Ich will die Entscheidung darüber der Dame überlassen, die nun aufgehört hat, Fräulein Laroche zu sein — ihr, die so liebenswürdig gewesen ist, meine Frau zu werden.


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