Blinde Liebe

Neununddreißigstes Kapitel

Mountjoy blieb zurück in peinigendem Grübeln darüber, wie er wohl den unheilvollen Einflüssen entgegenwirken könnte, unter denen Iris' von Natur so ehrliche Seele in so tief betrübender Weise litt. Hielt doch die Anwesenheit des Doktors die arme Frau in einem fortwährenden Kampfe zwischen ihrem eigenen natürlichen Gefühl, das sie ihm misstrauen hieß, und zwischen den gebieterischen Versicherungen ihres Gatten, der ihn ihrem Vertrauen empfahl. Kein größerer Dienst hätte darnach Iris erwiesen werden können, als wenn es gelang, diesen Menschen zu entfernen, aber wie konnte das geschehen, ohne dass ihr Gatte beleidigt werde? Mountjoys Geist war noch beschäftigt, auf Mittel und Wege zur Überwindung dieses Hindernisses zu sinnen, als er hörte, dass die Türe geöffnet wurde. Hatte Iris sich wieder gefasst? Oder waren Lord Harry und sein Freund zurückgekommen?

Die Person, welche das Zimmer betrat, war das wunderliche Kammermädchen der Frau Iris, Fanny Mere.

»Kann ich Sie auf ein paar Worte sprechen, Sir?«

»Gewiss, was gibt es?«

»Bitte, sagen Sie mir Ihre Adresse!«

»Für Ihre Herrin?«

»Ja.«

»Will sie mir schreiben?«

»Ja.«

Hugh gab dem sonderbaren Mädchen die Adresse seines Hotels in London. Für einen Augenblick ruhten ihre Augen mit einem prüfenden Ausdruck auf ihm. Dann öffnete sie die Tür, um hinauszugehen, zögerte, überlegte einen Augenblick und kam wieder zurück.

»Ich möchte meinerseits noch einige Worte mit Ihnen sprechen. Wollen Sie hören, was ein Dienstbote zu sagen hat?«

Mountjoy erwiderte, dass er bereit sei, sie anzuhören. Sie trat dicht vor ihn hin und sagte:

»Ich glaube, Sie lieben meine Herrin.«

Ein gewöhnlicher Mann würde die familiäre Art und Weise, in der sie sich ausdrückte, übel aufgenommen haben. Mountjoy jedoch wartete ruhig ab, was noch kommen werde. Fanny Mere nahm auch wirklich rasch von neuem das Wort und zeigte in ihrem ganzen Benehmen eine Erregnng, die bisher nie an ihr wahrzunehmen gewesen.

Meine Herrin nahm mich in ihre Dienste; sie vertraute mir, als andere Damen mir die Tür gewiesen hatten. Als sie mich zu sich kommen ließ, war ich ein unglückliches, verlorenes Mädchen. Ich hatte niemand, der Teilnahme für mich fühlte, niemand, der mir helfen wollte. Sie ist die einzige Freundin, die mir mitleidig die Hand bot. Ich hasse die Männer und frage nichts nach den Frauen, ausgenommen nach einer. Da ich eine Dienerin bin, so darf ich nicht sagen, dass ich die eine liebe; wenn ich eine Dame wäre, so würde ich es wahrscheinlich nicht sagen. Liebe ist so gemein, ist so lächerlich! Sagen Sie mir das eine, ist der Doktor Ihr Freund?«

»Der Doktor ist nicht mein Freund.«

»Ist er vielleicht Ihr Feind?«

»Ich kann das kaum sagen.«

Sie sah Hugh missvergnügt an.

»Ich wünschte, es wäre so«, sagte sie. »Warum verstehen wir uns nicht? Werden Sie über mich lachen, wenn ich Sie das erste beste, das mir in den. Kopf kommt, frage? Sind Sie ein guter Schwimmer?«

Eine seltsame Frage selbst im Munde einer Fanny Mere, aber sie war in ernstem Tone ausgesprochen und Mountjoy beantwortete sie ernst. Er sagte, dass er immer für einen guten Schwimmer gegolten habe.

»Vielleicht«, fuhr sie fort, »haben Sie schon einmal einem Menschen das Leben gerettet?«

»Ich bin zweimal so glücklich gewesen, jemand das Leben zu retten«, antwortete er.

»Wenn Sie nun sehen würden, dass der Doktor nahe am Ertrinken wäre, würden Sie ihn dann retten? Ich würde es gewiss nicht tun!«

»Hassen Sie ihn denn so bitter?« fragte Hugh.

Sie ließ diese Frage vollständig unbeachtet.

»Ich wünschte, Sie würden mir helfen, ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Angenommen, Sie könnten meine Herrin von diesem Menschen befreien, dadurch, dass Sie ihm einen Fußtritt geben, würden Sie es tun?«

»Ja, mit Vergnügen.«

»Ich danke Ihnen, Sir! Jetzt habe ich meine Absicht erreicht. Mr. Mountjoy, der Doktor ist der Fluch in dem Leben meiner Herrin; ich kann es nicht ertragen, das länger ruhig mit anzusehen. Wenn wir nicht auf irgendeine Weise von ihm befreit werden, so werde ich noch etwas Schlimmes anstellen. Wenn ich bei Tische bediene und sehe, wie er sein Messer gebraucht, dann möchte ich es ihm gleich aus der Hand reißen und ins Herz bohren. Ich hoffte, mein Herr würde ihn aus dem Hause werfen, als sie sich stritten, aber mein Herr ist selbst zu schlecht dazu, um das zu tun. Um Gottes willen, helfen Sie meiner Herrin, Sir, oder zeigen Sie mir wenigstens den Weg, wie ich es tun kann!«

Mountjoy begann jetzt aufmerksamer zu werden.

»Woher wissen Sie denn«, fragte er, »dass Lord Harry und Mr. Vimpany sich gestritten haben?«

Ohne das geringste Zeichen von Verlegenheit zu verraten, erzählte ihm Fanny Mere, dass sie an der Türe gehorcht habe, während ihr Herr und sein Freund über ihre Geheimnisse verhandelten. Sie hatte auch die Gelegenheit wahrgenommen, durch das Schlüsselloch zu sehen.

»Ich glaube, Sir«, sagte das merkwürdige Mädchen, »Sie würden so etwas nie getan haben.«

»Gewiss nicht.«

»Würden Sie es auch nicht tun, wenn es meiner Herrin nützen könnte?«

»Nein.«

»Und doch lieben Sie sie? Sie sind ein bemitleidenswerter, ja, soweit ich es verstehe, der einzige bemitleidenswerte unter allen Männern. Vielleicht, wenn Sie in Angst um Mylady geraten, dann werden Sie geneigter sein, zu helfen; ich bin neugierig, ob ich Ihnen Angst machen kann. Erlauben Sie, dass ich es versuche?«

Die aufrichtige Anhänglichkeit des Mädchens an Iris sprach bei Hugh für sie.

»Wenn Sie wollen, so versuchen Sie es«, sagte er freundlich.

Indem sie so ernst wie immer sprach, berichtete Fanny, was sie durch das Schlüsselloch gesehen und gehört hatte. Was sie gesehen hatte, ist nicht der Erzählung wert; was sie gehört hatte, erwies sich als wichtiger.

Das Gespräch zwischen dem Lord und dem Doktor drehte sich ums Geld; sie tauschten gegenseitig Bemerkungen aus, wie sie solches auftreiben könnten. Lord Harrys Plan war, das Nötige auf seine Lebensversicherung aufzunehmen. Der Doktor sagte, das sei unmöglich, die Lebensversicherung müsse erst drei oder vier Jahre gelaufen sein, ehe sich so etwas tun lasse.

»Ich will Ihnen etwas Besseres und Sichereres vorschlagen«, sagte Mr. Vimpany. Es musste auch wieder etwas Schlechtes gewesen sein, denn er flüsterte es dem Lord ins Ohr.

Lord Harry war jedoch damit nicht einverstanden.

»Wie könnte ich meiner Frau je wieder unter die Augen treten«, sagte er, »wenn sie es entdeckte.«

Der Doktor entgegnete:

»Ach, haben Sie doch keine Angst vor Ihrer Frau! Lady Harry wird sich noch an viele Dinge gewöhnen müssen, an die sie wenig dachte, bevor sie Sie heiratete.«

Lord Harry erwiderte:

»Ich habe mein möglichstes getan, Mr. Vimpany, um meiner Frau eine bessere Meinung von Ihnen beizubringen; wenn Sie aber noch mehr Derartiges sprechen, dann werde ich mich zur Ansicht meiner Frau bekehren. Lassen Sie das jetzt.«

»Mir ist es recht«, antwortete der Doktor darauf »ich will es lassen und warten bis an den Tag, an welchem Sie Ihre letzte Banknote angreifen.«

Damit hatte das Gespräch an diesem Tage seinen Abschluss gefunden, und Fanny wollte nun wissen, was Mr. Mountjoy davon denke.

»Ich denke, dass Sie mir einen Dienst erwiesen haben, Fanny!« antwortete Hugh.

»Sagen Sie mir, wie, Sir.«

»Ich kann Ihnen nur das eine sagen, Fanny: Sie haben mir den Weg gezeigt, auf welchem es mir gelingen wird, Ihre Herrin von dem Doktor zu befreien.«

Zum ersten Male verlor Fanny ihre unerschütterliche Ruhe vollständig. Das unterdrückte Feuer in ihr flammte auf. Dem augenblicklichen Drang ihrer Gefühle nachgebend, küsste sie Mountjoys Hand, aber in demselben Augenblicke, da ihre Lippen die Hand berührten, fuhr sie, heftig erschrocken, zurück. Die natürliche Blässe ihres Gesichtes trat noch schärfer hervor als sonst. Bestürzt über diese plötzliche Veränderung fragte Hugh sie, ob sie unwohl sei.

Sie schüttelte den Kopf.

»Das ist es nicht, Ihre Hand ist die erste Hand eines Mannes, die ich geküsst habe, seitdem« - sie stockte. »Bitte, fragen Sie mich nicht darnach! Ich wollte Ihnen nur danken, Sir, und ich danke Ihnen von ganzem Herzen! Ich darf aber jetzt nicht länger hier bleiben.«

Als sie das sagte, ließ sich das Geräusch eines Schlüssels vernehmen, der das Schloss der Haustür öffnete.

Lord Harry war zurückgekehrt.

Vierzigstes Kapitel

Von seinem ärztlichen Freunde begleitet, trat der irische Lord, verdrießlich gestimmt, in das Zimmer. Er sah nach Fanny hin und fragte nach ihrer Herrin.

»Mylady ist auf ihrem Zimmer.«

Als Lord Harry dies hörte, drehte er sich rasch nach Mountjoy um. Im Begriff zu sprechen, besann er sich jedoch eines Bessern und begab sich in das Zimmer seiner Frau. Fanny folgte ihm.

»Jetzt schaffen Sie den Doktor fort«, flüsterte sie Hugh zu, indem sie einen Blick auf Mr. Vimpany warf. Derselbe befand sich in keineswegs zugänglicher Stimmung; er stand am Fenster, seine Hände in den leeren Taschen, und blickte missmutig hinaus; Hugh war aber nicht geneigt, die günstige Gelegenheit vorübergehen zu lassen; er fragte daher:

»Sie scheinen heute nicht in der gleichen guten Laune zu sein wie gewöhnlich?«

Der Doktor entgegnete mürrisch, Mr. Mountjoy würde wahrscheinlich auch nicht besonders vergnügt und fröhlich sein, wenn er sich in seiner Lage befände. Lord Harry habe ihn mit in das Zeitungsbureau genommen, nachdem er ihm vorher deutlich zu verstehen gegeben, dass ein kleines Taschengeld zu verdienen wäre, wenn er Mitarbeiter an der Zeitung würde. Und wie hatte die Sache geendet? Der Herausgeber hatte erklärt, dass die Liste der Mitarbeiter vollständig sei, und achselzuckend hinzugefügt, Mr. Vimpany müsse warten, bis eine Stelle wieder frei würde. Ein höchst unverschämtes Ansinnen! Hatte darauf Lord Harry - er solle nur bedenken, einer der Besitzer der Zeitung - seine Autorität geltend gemacht? Nicht im mindesten. Seine Lordschaft hatte den Doktor fallen lassen, wie man eine heiße Kartoffel fallen lässt; er hatte sich in erbärmlicher Weise dem Ausspruche seines Untergebenen gefügt. Was dächte nun Mr. Mountjoy von einem solchen Benehmen?

Hugh antwortete ausweichend, indem er dem Doktor in höflichster und liebenswürdigster Weise seine Dienste anbot.

»Kann ich Ihnen nicht aus Ihrer Verlegenheit helfen?« fragte er.

»Sie?« rief der Doktor. »Haben Sie denn ganz vergessen, wie Sie mich empfingen, Sir, damals, als ich Sie in Ihrem Hotel in London um ein kleines Darlehen bat?«

Hugh gab zu, dass er damals vielleicht allzu heftig gesprochen habe.

»Sie überraschten mich«, sagte er, »und - vielleicht irre ich mich auch - es kam mir so vor, als wären Sie - um den mildesten Ausdruck zu gebrauchen - auch nicht gerade besonders höflich gewesen. Als Sie mich verließen, glaubte ich etwas wie drohende Worte zu vernehmen, und kein Mensch hat es gern, in solcher Weise behandelt zu werden.«

»Wenn Sie darauf kommen«, erklärte der Doktor kühn, »so muss ich Ihnen gestehen, dass ich ganz ähnlich empfand. Es ist mir jetzt völlig klar, dass damals zwischen uns ein kleines Missverständnis obgewaltet hat. Ich war auch aufrichtig betrübt über das, was ich gesagt, sobald ich die Tür hinter mir geschlossen hatte. Während ich langsam die Treppe hinunter ging, dachte ich daran, wieder umzukehren und Sie freundlichst um Entschuldigung zu bitten. Wenn ich das nun getan hätte?« fragte Mr. Vimpany, im stillen sehr neugierig, ob Mountjoy wohl so dumm sein würde, ihm zu glauben.

Hugh aber benützte die Gelegenheit, um der Verfolgung seines Planes näher zu rücken.

»Wenn Sie zurückgekommen wären, so würden Sie mich freundlicher gegen Sie gefunden haben«, antwortete er, »als Sie erwarten konnten.«

Diese ermutigende Antwort hatte ihn einige Anstrengung gekostet. Obgleich er sich bewusst war, nur im freundschaftlichen Interesse für Iris zu handeln, sank er doch durch eben diese Handlungsweise um eine Stufe in seiner Selbstachtung herab.

Unter anderen Umständen würde das Zögern, mit dem seine Antwort erfolgte, so unmerklich es auch war, vielleicht Verdacht erregt haben. Wie die Dinge aber hier lagen, konnte Mr. Vimpany nur goldene Aussichten entdecken, die seine Augen blendeten.

»Ich bin doch begierig«, sagte er, »ob Sie wirklich beabsichtigen, sich gegen mich jetzt freundlich zu erweisen?«

Es war unnötig, irgendwelche schonende Rücksicht auf die Gefühle eines Mannes wie Mr. Vimpany zu nehmen.

»Angenommen nun, Sie hätten das Geld, welches Sie brauchen, in Ihrer Tasche«, fragte Hugh, »was würden Sie dann damit beginnen?«

»Ich würde, ohne mich nur einen Augenblick zu besinnen, spornstreichs nach London zurückkehren und die erste Nummer meines Werkes, von dem ich Ihnen erzählt habe, herausgeben.«

»Und Ihren Freund, Lord Harry, hier im Stiche lassen?«

»Was nützt mich ein Freund, der beinahe ebenso arm ist wie ich; er lässt mich erst kommen, damit ich ihm einen guten Rat geben soll, und da ich ihm einen Weg zeige, auf welchem er die leeren Taschen von uns beiden füllen kann, will er nichts davon wissen. Zu welcher Sorte rechnen Sie einen solchen Freund?«

Gib ihm Gold und schaffe ihn fort! Das war der Rat, den der geheime Berater in seiner Brust Mountjoy zuflüsterte.

»Haben Sie den Kostenüberschlag des Verlegers bei sich?« fragte er.

Der Doktor zog sogleich das Dokument aus der Tasche.

Für einen reichen Mann war die erforderliche Summe allerdings sehr unbedeutend. Mountjoy setzte sich an den Schreibtisch. Als er die Feder ergriff, schienen die hervorstehenden Augen Mr. Vimpanys aus seinem Kopfe springen zu wollen.

»Wenn ich Ihnen das Geld leihe -« begann Hugh.

»Wirklich, Sie wollen das?« rief der Doktor.

»Ich will es tun unter der Bedingung, dass niemand außer uns beiden von dem Darlehen erfährt.«

»O Sir, auf mein heiliges Ehrenwort!«

Eine Anweisung an Mountjoys Bankier auf die nötige Summe und dazu noch ein kleiner Beitrag zu den Reisekosten stimmten Mr. Vimpany zu den feierlichsten Beteurungen. »Mein Freund, mein Wohltäter«, begann er, wurde aber sofort von Hugh unterbrochen. Mr. Vimpanys Freund und Wohltäter zeigte auf die Uhr und sagte:

»Wenn Sie das Geld noch heute haben wollen, dann ist es gerade noch Zeit, nach Paris zu kommen, bevor die Bank geschlossen wird.«

Mr. Vimpany brauchte das Geld sehr nötig, er brauchte immer Geld. Seine Dankbarkeit brach zum drittenmal in laute Worte aus:

»Gott segne Sie!« sagte er salbungsvoll.

Derjenige, dem dieser überschwengliche Dank galt, wies durch das Fenster in der Richtung der Bahnstation. Mr. Vimpany hielt sich nun nicht länger damit auf, seine Gefühle auszudrücken, sondern eilte fort, um noch glücklich den Zug zu erreichen.

Er hatte die Zimmertür offen stehen lassen. Eine Stimme fragte von außen:

»Ist er fort?«

»Kommen Sie herein, Fanny«, antwortete Mountjoy, »er wird entweder heute abend noch oder spätestens morgen früh nach London zurückkehren.«

Das eigentümliche Mädchen steckte ihren Kopf durch die Türe herein.

»Ich werde auf der Bahnstation sein«, sagte sie, »um mich mit eigenen Augen von seiner Abreise zu überzeugen.«

Ihr Kopf verschwand plötzlich, bevor es Mountjoy möglich war, ihr etwas zu erwidern. Befand sich noch eine andere Person draußen? Die andere Person trat in das Zimmer, es war Lord Harry. Er sagte ohne sein gewöhnliches Lächeln:

»Ich möchte mit Ihnen einige Worte sprechen, Mr. Mountjoy!«

»Worüber, Mylord?«

Diese direkte Frage schien den Irländer in Verlegenheit zu setzen, er zögerte.

»Über Sie«, sagte er. Dann hielt er inne und schien wieder zu überlegen. »Und über eine andere Person«, setzte er geheimnisvoll hinzu.

Hugh waren alle Unklarheiten grundsätzlich verhasst. Er fühlte daher auch jetzt den Drang, eine bestimmtere Antwort zu fordern.

»Steht diese andere Person mit mir in irgendeiner Verbindung, Mylord?« fragte er.

»Ja, das tut sie.«

»Wer ist diese Person?«

»Meine Frau.«

Einundvierzigstes Kapitel

Der höfliche Irländer verbeugte sich und wies mit der Hand auf einen Stuhl. Der wohlerzogene Engländer erwiderte die höfliche Verbeugung und setzte sich nieder. Lord Harry hob an:

»Sie werden mich hoffentlich entschuldigen, wenn ich im Zimmer auf und ab gehe; die Bewegung kommt mir zu statten, wenn ich in Verlegenheit bin, etwas in entsprechender Weise auszudrücken. Zuweilen irre ich um die Sache rund herum, bevor es mir möglich ist, sie zu erreichen, und ich fürchte, eben jetzt geht es mir so. - Beabsichtigen Sie, sich länger in Paris aufzuhalten?«

»Das hängt ganz von den Umständen ab«, antwortete Mountjoy.

»Sie sind zweifellos schon früher mehrere Male in Paris gewesen«, fuhr Lord Harry fort. »Finden Sie es jetzt im ganzen nicht still und langweilig?«

Hugh, der gar nicht wusste, was das eigentlich heißen sollte, entgegnete, dass er Paris niemals langweilig finde, und wartete immer ungeduldiger auf eine nähere Erklärung.

»Die meisten Leute sind der Ansicht«, entgegnete Lord Harry, »dass Paris nicht mehr so heiter ist, wie es früher war; es gibt jetzt keine so guten Theater, keine so guten Schauspieler mehr wie früher. Die Restaurants sind schlechter, und die Gesellschaft ist sehr gemischt. Die Fremden halten sich hier nicht mehr so lange auf, wie es früher der Fall war. Man hat mir sogar erzählt, dass Amerikaner sehr enttäuscht gewesen und zur Abwechslung nach London gegangen seien.«

Konnte er irgendeinen ernsthaften Zweck mit diesen unnötigen Redereien verfolgen - oder ging er jetzt, wie er selbst vorhin erzählt hatte, nur um den Hauptgegenstand, um seine Frau und seinen Gast herum, um erst später wirklich darauf zu sprechen zu kommen? Von Anfang an hatte Hugh vermutet, dass Eifersucht im Spiel sei; aber er verstand doch nicht - was vielleicht nur natürlich in seiner Lage war - die Rücksicht auf Iris und die Furcht, sie zu beleidigen, durch welche ihr eifersüchtiger Gatte jetzt noch zurückgehalten wurde. Lord Harry machte in der Tat den Versuch, - allerdings in sehr ungeschickter Weise - die Beziehungen zwischen seiner Frau und ihrem Freund abzubrechen, und wählte dazu Mittel, welche seine wahre Gemütsstimmung vor den beiden verbergen sollten. Da Hugh den Grund der Zurückhaltung des Lords nicht verstand, so hatte er den Eindruck, als ob man mit ihm spiele; er bezwang sich aber und verhielt sich daher ruhig.

»Sie scheinen meine Unterhaltung nicht besonders interessant zu finden«, bemerkte Lord Harry.

»Ich kann den Zusammenhang nicht herausfinden«, entgegnete Mountjoy, »der zwischen dem von Ihnen bis jetzt Gesagten und dem Gegenstand besteht, über welchen Sie mit mir zu sprechen beabsichtigten. Bitte, entschuldigen Sie, wenn es den Anschein hat, als ob ich Sie zur Eile antreiben wollte, falls Sie irgendeinen Grund haben, zu zögern.«

»Sie lesen in mir wie in einem Buch!« rief Lord Harry aus. »Es ist wirklich Verlegenheit, die mich jetzt zögern lässt. Ich bin ein sehr veränderlicher Mensch. Wenn ich irgendetwas ungern ausspreche, so kann ich es zuweilen nicht schnell genug tun, und zuweilen schiebe ich es immer und immer wieder hinaus. - Darf ich Ihnen nicht irgendeine Erfrischung anbieten?« fragte er, wieder ganz unvermittelt von dem Gegenstand des Gesprächs abspringend.

Hugh lehnte dankend ab.

»Nicht einmal ein Glas Wein? Solchen feinen Burgunder werden Sie selten zu trinken bekommen.«

Jetzt wurde endlich doch Hughs britische Hartköpfigkeit rege; er wiederholte seine Ablehnung kurz und bündig. Lord Harry sah ihn ernst an und kam nun endlich dem offenen Bekenntnis seiner Gefühle näher, als es bis jetzt geschehen war.

»Lassen Sie uns von meiner Frau sprechen. Als ich heute morgen mit Vimpany wegging, - er ist diesmal kein so guter Gesellschafter, wie er es sonst zu sein pflegt; der Arme ist durch Unglück verbittert, ich wünschte, er kehrte nach London zurück. Also, was ich gesagt habe - das heißt, was ich sagen wollte: Ich ließ Sie heute morgen in Lady Harrys Gesellschaft zurück. Zwei alte Freunde, dachte ich mir, werden froh darüber sein, dass sie sich über vergangene Zeiten unterhalten können. Als ich wieder nach Hause zurückkomme, finde ich Sie allein, und mir wird gesagt, Lady Harry sei in ihrem Zimmer. Und was sehe ich, als ich dorthin komme? - Ich sehe die schönsten zwei Augen von der Welt, und die Geschichte, die sie mir erzählen, lautet: ,Wir haben geweint.' Als ich dann frage, was denn geschehen sei - ,nichts, mein Liebling!' ist die ganze Antwort, die ich bekomme. Welcher Gedanke musste mir da sofort aufsteigen? - Es hat ein Streit stattgefunden zwischen Ihnen und meiner Frau?«

»Ich kann es durchaus nicht in diesem Licht sehen, Lord Harry.«

»Weil Sie kein Irländer sind. Sie als Engländer werden uns begreifen. Aber lassen wir das. Eines nur, Mr. Mountjoy, möchte ich mir die Freiheit nehmen, Ihnen sogleich zu sagen: ich würde es Ihnen Dank wissen, wenn Sie nächstens einmal einen Streit mit mir anfangen wollten.«

»Sie zwingen mich, Ihnen zu sagen, Mylord, dass Sie in einer vollständigen Täuschung befangen sind, wenn Sie annehmen, dass irgendein Streit oder auch nur der Gedanke eines Streites zwischen Lady Harry und mir entstanden ist.«

»Versichern Sie mir das auf Ihr Ehrenwort als Gentleman?«

»Ganz gewiss.«

»Sir, ich bedaure tief, dieses zu hören.«

»Was bedauern Sie tief, Mylord? Dass ich Ihnen mein Ehrenwort gegeben habe, oder dass ich mich nicht mit Lady Harry gestritten habe?«

»Beides, Sir. Bei dem Flötenspieler, der einst vor Moses spielte, beides!«

Hugh stand auf und ergriff seinen Hut.

»Wir werden bessere Gelegenheit haben, uns zu verstehen«, bemerkte er, »wenn Sie die Güte haben wollen, mir zu schreiben.«

»Legen Sie Ihren Hut noch einmal hin, Mr. Mountjoy, und haben Sie, bitte, noch einen Augenblick Geduld. Ich habe versucht, mich mit Ihnen zu befreunden, aber ich muss Ihnen offen gestehen, dass es mir nicht gelungen ist, irgendeinen Berührungspunkt zwischen uns ausfindig zu machen. Vielleicht beleidigt Sie dieses freie Geständnis?«

»Weit davon entfernt; Sie gehen nun doch schließlich geradenwegs auf den Gegenstand los, wenn ich es wagen darf, das auszusprechen.«

Die gute Haltung des irischen Lords war jetzt vollständig verschwunden. Sein hübsches Gesicht hatte sich verhärtet, und seine Stimme war rauh geworden. Seine Eifersucht, die bis dahin ehrenwerte Gefühle zurückgehalten hatten, brach jetzt ungehindert hervor. Seine Sprache verriet, wie schon bei früheren Gelegenheiten, den Umgang mit schlechter Gesellschaft, der eine der traurigen Folgen seines abenteuerlichen Lebens gewesen war.

»Es mag sein, dass ich gerader vorgehe, als es Ihnen angenehm ist«, erwiderte er. »Ich befinde mich Ihnen gegenüber in einer geteilten Stimmung. Mein gesunder Verstand sagt mir, dass Sie der Freund meiner Frau sind, und die besten Freunde streiten sich bisweilen. Gut, Sir. Sie leugnen dies Ihrerseits; ich sehe mich jedoch in die Notwendigkeit versetzt, meinem andern Gefühl zu folgen - und dieses, kann ich Ihnen sagen, ist durchaus kein angenehmes. Sie dürfen der Freund meiner Frau sein, mein Verehrtester, aber Sie sind mehr als das. Sie haben sie immer geliebt und lieben sie auch jetzt noch. Ich danke Ihnen für Ihren Besuch, aber wiederholen Sie ihn nicht. Nun, verstehen wir uns endlich?«

»Ich empfinde eine viel zu aufrichtige Hochachtung für Lady Harry, um Ihnen zu antworten«, entgegnete Mountjoy. »Zu gleicher Zeit lassen Sie mich auch bekennen, Mylord, dass ich Ihnen sehr verpflichtet bin. Sie haben mich daran erinnert, dass ich eine große Dummheit beging, als ich ohne Einladung Sie besuchte. Ich stimme mit Ihnen darin vollständig überein, je eher ich meinen Fehler wieder gut mache, um so besser ist es.«

Nach diesen Worten verließ Mountjoy das Zimmer und das Haus.

Auf dem Rückweg in sein Hotel erwog er in düsterem Sinnen den Stand der Dinge.

Seine eigene Handlungsweise, die freilich nach den Worten, die er hören musste, unerlässlich war, hatte ihm die Türen der Villa verschlossen und allen ferneren Zusammenkünften zwischen Iris und ihm ein Ende gemacht. Wenn sie versuchen wollten, brieflich miteinander zu verkehren, so würde Lord Harry Gelegenheiten genug haben, diese Korrespondenz zu entdecken und daraus natürlich neuen Stoff für seine Eifersucht zu schöpfen. Während der schlaflosen Nacht musste Hugh immer an seine ratlose Lage denken; es schien ihm keine andere Wahl übrig zu bleiben, als sich ruhig in sein Schicksal zu ergeben und nach England zurückzukehren.

Zweiundvierzigstes Kapitel

Schon am nächsten Tag empfing Hugh wieder Nachrichten von Iris, die aber durchaus nicht darnach angetan waren, seine Befürchtungen zu zerstreuen. Fanny Mere suchte ihn in seinem Hotel auf.

Der Abschied Mr. Vimpanys am vorhergehenden Abend war das erste Ereignis, von dem das Mädchen zu berichten hatte. Sie war dabei gewesen, als der Doktor ihrem Herrn und ihrer Herrin Lebewohl gesagt. Er gab als Grund seiner plötzlichen Abreise dringende Geschäfte in London an. Lord Harry hätte die Entschuldigung so aufgenommen, als ob er sie wirklich glaubte, und schien sehr erfreut zu sein, seinen Freund so schnell los zu werden; Lady Harry dagegen sprach ihre Meinung dahin aus, dass Mr. Vimpanys Rückkehr nach London wahrscheinlich durch einen Akt von Frei¬gebigkeit von seiten des edelsten der jetzt lebenden Menschen veranlasst worden sei. Sie sagte zu ihrem Gatten: »Dein Freund hat, wie ich glaube, von meinem Freund Geld bekommen.« Mylord sah sie sehr befremdet an, als sie in diesem Tone von Mr. Mountjoy sprach, und ging dann schweigend aus dem Zimmer. Sobald er seinen Rücken gewendet hatte, erhielt Fanny die Erlaubnis zum Ausgehen; sie führte ihre Absicht aus, auf der Station zu warten, und sah auch, wie Mr. Vimpany in dem Postzug unter den Reisenden nach London Platz nahm.

In die Villa zurückgekehrt, hatte Fanny ihrer Pflicht gemäß in dem Zimmer ihrer Herrin nach¬fragen wollen, ob ihre Dienste noch gebraucht würden. Als sie jedoch an die Tür kam, hörte sie die Stimmen des Lords und der Lady, und sie war, wie Mr. Mountjoy wahrscheinlich mit Genugtuung ver¬nehmen werde, in diesem Fall zu ehrlich gewesen, um an der Tür zu horchen. Sie ging gleich weg auf ihr Zimmer und wartete dort, bis man sie holen ließ. Nach einer langen Zwischenzeit ertönte die Glocke, welche sie rief; sie fand ihre Herrin in sehr aufgeregtem Zustand vor, teils ärgerlich, teils betrübt, und erlaubte sich daher, zu fragen, ob irgendetwas Unangenehmes vorgefallen sei; auf diese Frage er¬folgte jedoch keine Antwort. Fanny war daher schweigend ihrer Pflicht nachgekommen und hatte ihrer Herrin bei der Nachttoilette geholfen. Dann hatten sie sich »Gute Nacht« gesagt, sonst aber kein Wort gewechselt. Am nächsten Morgen hatte das Mädchen, als sie wie gewöhnlich ihren Dienst in dem Zimmer ihrer Herrin versah, diese in etwas ruhigerer und mitteilsamerer Stimmung gefunden. Sie war immer noch von Furcht gepeinigt, jedoch bereit gewesen, über ihren Kummer zu sprechen.

Sie hatte von Mr. Mountjoy zu reden angefangen.

»Ich glaube, Sie haben ihn auch gern, Fanny; jedermann hat ihn ja gern; Sie werden daher traurig sein, zu hören, dass wir niemals die Aussicht haben, ihn wieder in unserer Villa zu sehen.« Dann hielt sie inne. Etwas, was sie nicht ausgesprochen hatte, schien ihre Gedanken zu beschäftigen und zu quälen. Die arme Seele war nahe daran, zu weinen, hatte es aber standhaft unterdrückt. »Ich habe keine Schwester«, fuhr sie dann fort, »und keine Freundin, die mir eine Schwester ersetzen könnte. Es ist vielleicht nicht ganz richtig, wenn ich von meinem Kummer zu meinem Kammermädchen spreche, aber es ist fast unerträglich, kein teilnehmendes Herz in der Nähe zu wissen, das heißt, keine andere Frau, welche versteht, wie Frauen fühlen. Es ist so einsam hier, o, gar zu einsam! Ich möchte wissen, ob Sie mich verstehen und Mitleid mit mir fühlen können.«

Fanny ließ nichts außer acht, was sie ihrer Herrin schuldig war, - wenn sie so sprechen dürfe, ohne dass es den Schein hätte, sie wolle sich selbst loben - sie war aber in Wahrheit betrübt. Es hätte ihr eine große Erleichterung gewährt, wenn sie offen ihre Meinung hätte aussprechen dürfen, dass nur Lord Harry allein schuld daran trage, wenn seine Gattin betrübt sei; als Mann sei er eben von Natur grausam gegen seine Frau. Das Klügste, was Mylady tun könnte, wäre, nichts von ihm zu erwarten. Das Mädchen schien sehr in Versuchung geführt zu sein, ihrer Herrin in dieser Hinsicht einen kleinen Rat zu geben; aber sie war durch ihre eigenen Erfahrungen vorsichtig gemacht. Fanny hielt es daher für besser, zu warten, was ihre Herrin zunächst sagen würde.

Lord Harrys Benehmen war der erste Gegenstand, als das Gespräch wieder aufgenommen wurde.

Mylady erwähnte, dass sie wohl bemerkt habe, wie er missvergnügt aussah und wie er sich eilig entfernte, als sie so lobend von Mr. Mountjoy sprach.

Sie hatte ihn gedrängt, sich offen auszusprechen, und dabei eine Entdeckung gemacht, welche ihr die bitterste Enttäuschung ihres ganzen Lebens bereitete. Ihr Gatte beargwöhnte sie! Ihr Gatte war eifersüchtig! Es war zu schrecklich! Das war eine Beleidigung, die nicht zu ertragen war, eine Beleidigung sowohl gegen Mr. Mountjoy wie gegen sie selbst. Wenn diesem besten und liebsten der Freunde das Haus verboten werden, wenn er fortgehen und sie ihn nie wieder sehen und sprechen sollte, dann war sie fest entschlossen, eines zu tun: er durfte nicht fortgehen, ohne dass sie ihm vorher ein freundliches Wort zum Abschied gesagt hatte; er sollte hören, wie wert sie ihn hielt, ja, und wie sie ihn verehrte und mit ihm fühlte! Würde Fanny nicht an ihrer Stelle dasselbe tun? Und Fanny hatte sich der Zeit erinnert, wo sie dasselbe für einen Mann wie Mr. Mountjoy getan haben würde.

»Sorgen Sie dafür, dass Sie heute abend zu Hause sind«, fuhr das Mädchen fort. Sie sprach so erregt, dass Hugh sie kaum wiedererkannte. »Meine Herrin will hieher kommen, um Sie noch einmal zu sehen und zu sprechen, und ich werde sie begleiten.«

Solch ein unkluges Benehmen war ganz undenkbar! - »Sie müssen von Sinnen sein!« rief Mountjoy aus.

»Ich bin gar nicht von Sinnen, Sir«, antwortete Fanny. »Ich freue mich nur, wenn ein Mann in dieser Weise handelt. Der Lord speist heute außer dem Hause und wird davon nichts erfahren, und«, rief das sonst so kühle und gemessene Mädchen erregt aus, »er verdient es nicht besser!«

Hugh machte alle möglichen Einwendungen, hatte aber nicht den geringsten Erfolg.

Das nächste, was er tat, war, dass er einige Zeilen an Lady Harry schrieb, in denen er sie beschwor, daran zu denken, dass ein eifersüchtiger Mann sich nicht selten zu Handlungen der entsetzlichsten Art hinreißen lasse, und dass sie daher auf ihrer Hut sein möge.

Als er den Brief Fanny übergab, damit sie ihn besorgen sollte, bemerkte sie höflich, dass es besser sei, wenn er ihr den Brief nicht anvertraue. »Eine Person will zuweilen das Richtige tun«, sagte sie zu ihm, »und tut schließlich doch das Falsche.« Ehe sie ihrer Herrin Schmerz verursache, wäre sie imstande, den Brief auf ihrem Heimweg zu zerreißen und gar nichts davon zu sagen. Hugh versuchte es zunächst mit einer Drohung:

»Ihre Herrin wird mich nicht zu Hause finden, wenn sie hieher kommt - ich werde heut abend ausgehen.«

Das sonderbare Mädchen sah ihn mit mitleidigem Lächeln an und antwortete nur:

»Sie werden das gewiss nicht tun!«

Es war ein beschämendes Selbstbekenntnis, aber Fanny kannte ihn besser als er sich selbst.

Alles, was Mountjoy gesagt und getan hatte, um dem Besuch vorzubeugen, war wirklich nur aus Rücksicht auf die junge Frau geschehen. Wenn er sein eigenes Herz gefragt hätte, so würde er entdeckt haben, dass er bei der glücklichen Aussicht, Iris wiederzusehen, hätte aufjubeln mögen.

Als der Abend herankam, brauchte Hugh die Vorsicht, seinen ergebenen und verschwiegenen Diener zu beauftragen, Lady Harry an der Tür des Hotels zu empfangen, bevor der Ton der Glocke den Portier aus seiner Loge herbeirufen konnte. Bei ruhiger Betrachtung schien alles dafür zu sprechen, dass sie eine Entdeckung durch Lord Harry nicht zu fürchten brauchte. Der eifersüchtige Gatte auf der Bühne, welcher früher oder später das schuldige oder bisweilen auch unschuldige Paar entdeckt, ist nicht immer der Gatte in der Welt außerhalb des Theaters.

Während er noch darüber nachdachte, sah Hugh, dass die Tür seines Wohnzimmers vorsichtig geöffnet wurde, zu einer früheren Stunde, als er angenommen hatte. Sein alter Diener führte eine dicht verschleierte Dame herein, - es war Iris.

Dreiundvierzigstes Kapitel

Lady Harry lüftete ihren Schleier und sah Mountjoy mit traurigen, bittenden Augen an.

»Sind Sie mir böse?« fragte sie.

»Ich sollte es sein«, antwortete er. »Das ist sehr unklug gehandelt, Iris!«

»Es ist schlimmer noch«, bekannte sie, »es ist unbesonnen, es ist verzweifelt; sagen Sie nicht, ich hätte mich beherrschen sollen; ich kann das Schamgefühl nicht verwinden, welches ich empfinde, wenn ich an das, was sich ereignet hat, denke. Kann ich Sie gehen lassen - o, was für ein Lohn für Ihre Güte! - ohne Ihre Hand zum Abschied noch einmal zu drücken? Kommen Sie und setzen Sie sich hieher neben mich. Nach dem Benehmen meines armen Mannes werden wir uns wohl kaum jemals wiedersehen. Ich erwarte nicht, dass Sie es beklagen, wie ich es tue. Selbst Ihre Güte und Ihre Geduld, die so oft auf die Probe gestellt worden sind, müssen jetzt meiner überdrüssig sein.«

»Wenn Sie dies wirklich für möglich hielten, liebe Iris, dann würden Sie heute abend nicht hier sitzen«, erwiderte ihr Hugh. »So lange wir leben, haben wir noch die Hoffnung, uns wieder zu treffen. Nichts in der Welt ist von ewiger Dauer, Iris, selbst die Eifersucht nicht. Lord Harry sagte mir ja selbst, dass er ein sehr veränderlicher Mensch sei. Früher oder später wird er wieder zur Vernunft kommen.«

Diese Worte schienen Iris zu erschrecken.

»Sie werden hoffentlich nicht denken, dass mein Gatte gegen mich unfreundlich ist!« rief sie aus. Sie nahm immer noch selbst den Schein einer schlimmen Beurteilung ihrer Ehe übel auf und vergaß immer noch, was sie selbst gesagt hatte und was einen Zweifel an ihrem Glück rechtfertigte. »Haben Sie sich selbst eine falsche Meinung gebildet«, fuhr sie fort, »oder hat Fanny Mere unschuldigerweise...«

Mountjoy bemerkte jetzt erst die Abwesenheit des Mädchens. Das war ein Umstand, der ihn berechtigte, Iris zu unterbrechen, denn es konnte sehr ernste Folgen für sie haben, wenn ihr Besuch in dem Hotel zufälligerweise doch entdeckt würde.

»Wenn ich recht verstanden habe«, sagte er, ,»so sollte doch Fanny mit Ihnen hieher kommen.«

»Ja, ja, sie wartet unten in dem Wagen; wir hielten es so für besser, um nicht die Aufmerksamkeit an der Tür des Hotels zu erregen. Der Kutscher wird einstweilen auf und ab fahren, bis ich ihn wieder nötig habe. Lassen Sie sich das nicht kümmern. Ich habe etwas mit Ihnen über mein Mädchen zu sprechen. Die arme Fanny denkt immer an ihre eigenen schlimmen Erfahrungen, wenn sie von mir spricht, und übertreibt ein wenig, ohne dass sie es will. Ich hoffe, sie hat Sie nicht zu einer irrigen Meinung geführt, als sie mit Ihnen über meinen Gatten sprach. Es ist niedrig und schlecht von ihm und eines Gentlemans unwürdig, eifersüchtig zu sein, und er hat mich tief verwundet, aber, lieber Hugh, seine Eifersucht ist eine liebenswürdige Eifersucht. Ich habe von anderen Männern gehört, die ihre Frauen bewachen, alles Vertrauen in sie verloren haben, welche mir selbst eine solche Kleinigkeit wie das hier«, sie zeigte Mountjoy lächelnd ihren Schlüssel zur Tür der Villa, »genommen haben würden. O, Harry ist über einen solchen herabwürdigenden Verdacht erhaben! Es gibt Zeiten, wo er so von Herzen beschämt über seine eigene Schwachheit ist, wie ich es nur wünschen kann; ich habe ihn vor mir auf den Knieen liegen sehen, ganz zerknirscht über sein Benehmen. Er ist kein Heuchler; seine Reue ist wirklich aufrichtig, so lange sie dauert, nur dauert sie eben nicht lange. Seine Eifersucht steigt und fällt wie der Wind. Er sagte gestern abend, als der Wind sehr heftig wehte: ,Wenn Du mich zum glücklichsten Menschen auf der Erde machen willst, so ermutige Mr. Mountjoy nicht, in Paris zu bleiben.'«

»Sie wünschen auch, dass ich Paris verlasse?«

Sie saß sehr nahe bei ihm, näher vielleicht, als ihr Gatte gern gesehen hätte, und rückte jetzt ein wenig zur Seite.

»Wollten Sie grausam sein, als Sie dies sagten?« fragte sie. »Ich verdiene es nicht.«

»Es war nur freundlich von mir gemeint«, versicherte Hugh. »Wenn ich Ihre Lage erträglicher machen kann dadurch, dass ich weggehe, so werde ich morgen Paris verlassen.«

Iris rückte wieder unbefangen an den Platz zurück, den sie vorher eingenommen. Sie war bestrebt, ihm in einer Weise zu danken - aus einem noch ungenannten Grund - wie sie ihm bisher niemals gedankt hatte. Schweigend bot sie ihm die Wange zum Kuss. Er hielt seine Lippen lange und innig auf diese zarte Wange gedrückt. Sie war es, die sich zuerst wiederfand. Sie kam auf das abenteuerliche Leben zu sprechen, das Lord Harry früher geführt. Die Ruhelosigkeit in seiner Natur, welche dieses Leben mit sich brachte, war kürzlich wieder zum Vorschein gekommen; seine Frau suchte die Veranlassung dafür in einem Brief aus Irland, der die Nachricht enthielt, dass der Mörder Arthur Mountjoys in London gesehen worden sei, und dass er sich dort vermutlich unter dem Namen Carrigeen aufhalte. Hugh würde verstehen, dass der verzweifelte Entschluss, den Mord seines Freundes zu rächen, mit dem einst Lord Harry England verlassen hatte, von neuem rege geworden sei. Er hatte es Iris nicht verheimlicht, dass sie sich darein schicken müsse, wenn er sie eine Zeit lang allein ließe, sobald sich die Nachricht aus Irland als wahr erwiese. Es würde nutzlos sein und schlimmer noch als nutzlos, den unbesonnenen Mann an die Gefahr zu erinnern, welche ihm von den Unüberwindlichen drohe, sobald er nach England zurückkehre. Nur allein dadurch konnte sie hoffen, Einfluss auf ihren Gatten, der sie noch immer liebte, zu gewinnen, dass sie sich allen den Forderungen unterwarf, auf welchen seine eigensinnige Eifersucht bestand. Würde diese traurige Notwendigkeit sie entschuldigen, wenn sie das Anerbieten Mountjoys, Paris zu verlassen, annähme, einzig und allein aus dem Grund, weil ihr Gatte es von ihr als eine Gunst erbeten hätte?

Hugh verstand sie sofort und versicherte sie seiner Zustimmung.

»Sie können fest darauf rechnen, dass ich morgen nach London zurückkehren werde«, sagte er. »Gibt es denn aber außerdem nicht noch ein anderes, besseres Mittel, durch das ich Ihnen vielleicht von Nutzen sein könnte? Wenn Ihr Einfluss es nicht vermag, wissen Sie dann nicht noch einen andern Weg, Lord Harry von seinem verzweifelten Vorhaben abzuhalten?«

Es war Iris an diesem Tag schon eingefallen, dass eine Aussicht dazu vorhanden sei, wenn es ihr gelänge, die Unterstützung Mrs. Vimpanys zu gewinnen.

Die Frau des Doktors war wohl bekannt mit Harrys vergangenem Leben, während er in Irland weilte, und sie hatte auch viele von ihren Landsleuten getroffen, mit denen er in Verbindung stand. Wenn nun einer von diesen Freunden die diensteifrige Person gewesen wäre, die an ihn geschrieben hatte, so war es mindestens möglich, dass durch Mrs. Vimpanys geheime Vermittlung sein Unheil anstiftender Korrespondent von ferneren Mitteilungen abgehalten werden konnte. Lord Harry würde, wenn er auf fernere Nachrichten wartete, in diesem Fall umsonst warten. Er würde nicht wissen, wohin er zu gehen oder was er zunächst zu tun habe, und bei einer Natur wie der seinigen fiele dann wahrscheinlich das Ende seiner Geduld mit dem Ende seines Entschlusses zusammen.

Hugh händigte Iris sein Notizbuch ein. Von den traurigen Möglichkeiten, welche ihr günstig sein konnten, war die letzte nach seiner Meinung am wenigsten hoffnungslos.

»Wenn Sie den Namen des Mannes, der an Ihren Gatten geschrieben hat, wissen«, sagte er, »so schreiben Sie ihn mir, bitte, auf; ich will dann Mrs. Vimpany fragen, ob sie ihn kennt, und Sie dann auch entschuldigen, dass Sie ihr in jüngster Zeit nicht geschrieben haben. Jedenfalls verbürge ich mich für ihre Bereitwilligkeit, Ihnen zu helfen.«

Als Iris ihm dankte und den Namen aufschrieb, schlug die Uhr auf dem Kaminsims.

Sie stand auf, um ihm Lebewohl zu sagen. Mit zitternder Hand zog sie den Schleier halb über ihr Gesicht und schob ihn dann wieder zurück.

»Sie werden mein Weinen nicht beachten«, sagte sie mit schwacher Stimme und versuchte durch ihre Tränen zu lächeln. »Das ist der traurigste Abschied, den ich jemals genommen habe. Lieber, lieber Hugh, lebe wohl!«

Schwerwiegend ist das Gesetz der Pflicht, aber das ältere Gesetz der Liebe fordert sein höheres Recht. Niemals in den Jahren ihrer Freundschaft hatten sie sich so weit vergessen, wie sie sich jetzt vergaßen - denn zum erstenmal begegneten ihre Lippen den seinigen in ihrem Abschiedskuss. Aber schon im nächsten Augenblick erinnerten sie sich an die Schranken, die ihnen die Ehre setzte; sie waren wieder nur Freunde. Schweigend zog sie den Schleier über ihr Gesicht; schweigend nahm er ihren Arm und führte sie hinunter an den Wagen. Dieser war gerade eine kleine Strecke von ihnen entfernt gegen das andere Ende der Straße hingefahren. Anstatt auf seine Rückkehr zu warten, folgten sie ihm und holten ihn bald ein.

»Wir werden uns wiedersehen«, flüsterte er. Sie antwortete traurig:

»Vergessen Sie mich nicht!«

Mountjoy kehrte zurück. Als er sich wieder dem Hotel näherte, bemerkte er einen großen Mann, der von dem entgegengesetzten Ende der Straße auf ihn zukam. Keine zwei Minuten später, nachdem Iris sich wieder auf den Heimweg begeben hatte, begegneten sich ihr eifersüchtiger Gatte und ihr alter Freund vor der Tür des Hotels.

Lord Harry sprach zuerst.

»Ich habe außer dem Hause gespeist«, sagte er, »und komme nun auf meinem Heimweg hieher, um mit Ihnen, Mr. Mountjoy, noch einige Worte zu reden.«

Hugh antwortete mit förmlicher Höflichkeit:

»Erlauben Sie, Mylord, dass ich Ihnen den Weg zu meinen Zimmern zeige.«

»O, ich will Sie nicht unnötig bemühen«, erklärte Lord Harry. »Ich habe Ihnen nur wenig zu sagen; wenn es Ihnen recht ist, gehen Sie eine kleine Strecke mit mir.«

Mountjoy gab seine Einwilligung durch ein stummes Kopfnicken zu erkennen. Er dachte daran, was wohl geschehen wäre, wenn Iris ihren Weggang nur einige Minuten verzögert hätte, oder wenn der Wagen in der Richtung nach dem Hotel gefahren wäre anstatt umgekehrt. In jedem Fall wäre es für die junge Frau ziemlich schwierig gewesen, wegzukommen, ohne von ihrem Gatten bemerkt zu werden.

»Wir Irländer«, begann Lord Harry, »stehen in dem Ruf, nicht immer den Gesetzen gehorsam zu sein; aber es liegt in unserer Natur, jederzeit das Gesetz der Gastfreundschaft hochzuhalten. Als Sie gestern in meinem Hause waren, bin ich nicht gastfreundlich gegen meinen Gast gewesen. Mein taktloses Benehmen hat mir seitdem schwer auf der Seele gelegen, und aus diesem Grund bin ich hieher gekommen, um mit Ihnen zu sprechen. Es war ungezogen von mir, Ihnen Ihren Besuch vorzuwerfen und Ihnen zu verbieten, - o, ganz grundlos, ich bezweifle es nicht - mich wieder zu besuchen. Wenn ich gestehe, dass ich nicht den Wunsch habe, eine Erneuerung des freundschaftlichen Verkehrs zwischen uns anzubahnen, so werden Sie mich, wie ich sicher annehme, verstehen; je weniger wir uns in Zukunft sehen, um so besser wird es sein bei den Ansichten, die ich nun einmal habe. Für das jedoch, was ich sagte, als meine Selbstbeherrschung und Vernunft mit mir durchgingen, bitte ich Sie hiermit um Entschuldigung; empfangen Sie den aufrichtigsten Ausdruck meines Bedauerns.«

»Ich nehme Ihre Entschuldigung an, Mylord, so aufrichtig, wie Sie sie mir geboten haben«, antwortete Mountjoy. »Soweit es mich betrifft, ist der Zwischenfall von jetzt an vergessen.«

Lord Harry drückte seine höfliche Zustimmung aus.

»Gesprochen wie es einem Gentleman zukommt«, sagte er. »Ich danke Ihnen.«

Damit endete die Unterredung. Sie grüßten sich und wünschten sich gegenseitig gute Nacht. »Eine bloße Förmlichkeit«, dachte Hugh bei sich, als sie sich getrennt hatten.

Er tat mit dieser Annahme dem irischen Lord unrecht. Bevor jedoch die Ereignisse ihn seinen Irrtum erkennen ließen, sollte noch geraume Zeit ins Land gehen.

Vierundvierzigstes Kapitel

Als Mountjoy in London angekommen war, begab er sich sofort in das Institut der Krankenpflegerinnen und fragte nach Mrs. Vimpany.

Sie war wieder außer dem Hause mit der Pflege eines Kranken beschäftigt. Die Adresse des Hauses war nur der Vorsteherin bekannt und sollte auch in diesem Fall keinem der Freunde der Mrs. Vimpany, der sich etwa darnach erkundigen würde, mitgeteilt werden. Ein schwerer Fall von Scharlachfieber befand sich unter ihrer Pflege, und die Gefahr der Ansteckung lag zu nahe, als dass man hätte leichtsinnig verfahren können.

Die Ereignisse, welche Mrs. Vimpany zu ihrer gegenwärtigen Beschäftigung geführt, hatten nicht den gewöhnlichen Verlauf gehabt.

Eine Pflegerin, die erst kürzlich in das Institut eingetreten war, sollte in diesem Fall zum ersten Male in Tätigkeit treten und zwar auf den ausdrücklichen Wunsch des Kranken, welcher, wie man sagte, mit dem jungen Mädchen entfernt verwandt war. An demselben Morgen jedoch, an welchem sie sich auf den Schauplatz ihrer zukünftigen Tätigkeit begeben sollte, erhielt sie die Nachricht, dass ihre Mutter schwer erkrankt sei.

Mrs. Vimpany, welche gerade zu der Zeit nicht beschäftigt war und freundschaftliche Teilnahme für ihre junge Kollegin fühlte, erbot sich freiwillig, an ihre Stelle zu treten. Daraufhin wurde von seiten des Kranken eine neue Bitte an die Vorsteherin gerichtet; er wünschte zu wissen, ob die neue Krankenpflegerin eine Irländerin sei. Als er hörte, dass sie eine Engländerin war, nahm er sofort ihre Dienste an. Das Merkwürdige und Geheimnisvolle an der Sache lag darin, dass er selbst ein Irländer war.

Vermöge ihrer englischen Vorurteile nahm die Vorsteherin sofort an, dass in dem Leben des Mannes irgend ein dunkler Punkt vorhanden sei, der der Gegenstand einer ärgerlichen Bloßstellung werden könnte, wenn er von einer Landsmännin gepflegt würde. Sie gab daher auch Mrs. Vimpany den Rat, nicht zu dem Kranken zu gehen; die Krankenpflegerin sagte jedoch, dass sie versprochen habe, ihn zu pflegen, und ihr Versprechen halten wolle.

Mountjoy verließ das Institut, nachdem er vergeblich versucht hatte, die Adresse von Mrs. Vimpany zu erlangen. Das einzige Zugeständnis, welches ihm die Vorsteherin machte, bestand darin, dass sie sich bereit erklärte, einen Brief von ihm durch die Post an die richtige Adresse zu schicken, wenn er mit diesem Auskunftsmittel einverstanden wäre.

Nach kurzer Überlegung beschloss Hugh, den Brief zu schreiben.

Rasche Benützung der Zeit konnte von Wichtigkeit sein. Hugh gab daher in seinem Brief den Namen an, welchen ihm Iris aufgeschrieben hatte, und fragte Mrs. Vimpany, ob er ihr bekannt wäre als der Name einer Person, mit der sie verkehrt hätte. Er versicherte sie, dass eine schleunige Unterredung in Betreff dieser Sache zwischen ihnen durchaus notwendig sei im Interesse von Iris. In einer Nachschrift fügte er noch hinzu, dass er vollkommen gesund sei und nicht die geringste Furcht vor Ansteckung habe. Dann schickte er seinen Brief an die Vorsteherin, damit diese ihn weiter befördere.

Noch an demselben Tag empfing er spät abends die Antwort. Sie war von einer ihm unbekannten Hand geschrieben und lautete folgendermaßen:

»Lieber Mr. Mountjoy! Ich kann es unmöglich zugeben, dass Sie sich einer so großen Gefahr aussetzen, indem Sie mich besuchen, so lange ich mich in meiner gegenwärtigen Stellung befinde. Die Gefahr der Ansteckung ist beim Scharlachfieber so naheliegend, dass ich nicht einmal eigenhändig an Sie schreiben und kein Briefpapier benützt werden darf, das im Krankenzimmer gelegen hat. Das ist nicht etwa eine leere Einbildung von mir; der den Kranken behandelnde Doktor kennt einen Fall, in welchem ein kleines Stückchen infizierter Leinwand nach Verlauf von nicht weniger als einem Jahre die Krankheit weiter verbreitete. Ich muss Ihrem gesunden Menschenverstand vertrauen, dass Sie die Notwendigkeit eines Aufschubs unserer Besprechung einsehen, bis ich Sie empfangen kann ohne irgendwelche Furcht vor etwaigen, für Sie verhängnisvollen Folgen. Indessen kann ich Ihre Anfrage beantworten in Betreff des Namens, den Sie mir in Ihrem Brief mitgeteilt haben. Ich kannte den Mann früher, den Sie erwähnen; wir wurden durch Lord Harry miteinander bekannt, und ich traf auch später noch bei mehr als einer Gelegenheit mit ihm zusammen.«

Hugh las diese kluge und wohlüberlegte Antwort mit heftiger Erregung. Wenn Mrs. Vimpany überredet werden konnte, an ihren Freund zu schreiben, so war dies die denkbar günstigste Gelegenheit, den heißblütigen jungen Ehemann zur Ruhe und Untätigkeit zu verdammen dadurch, dass er ohne weitere Nachrichten über den Mörder Arthur Mountjoys blieb. Und unter diesen ermutigenden Umständen sollte die vorgeschlagene Unterredung, welche vielleicht zu einem solch ausgezeichneten Ergebnis hätte führen können, aufgeschoben werden dank der verächtlichen Furcht vor Ansteckung, hervorgerufen durch die Geschichte von einem lumpigen Stück Leinwand!

Hugh hob den unglücklichen Brief, der auf den Boden gefallen war, auf, um ihn in Stücke zu zerreißen und ihn in den Papierkorb zu werfen, aber er hielt plötzlich inne. Seine zitternde Hand hatte nämlich das Papier so aufgehoben, dass die unbeschriebene Seite nach oben zu liegen kam. Auf dieser Seite entdeckte er zwei kleine Druckzeilen, welche in der gewöhnlichen Form die Adresse des Hauses enthielten, in welchem der Brief geschrieben war! Der Schreiber hatte jedenfalls, als er den Briefbogen aus der Briefmappe nahm, ihn mit der falschen Seite auf den Schreibtisch gelegt und hatte dann entweder es nicht für nötig gehalten, ihn noch einmal abzuschreiben, als er seinen Irrtum bemerkte, oder er hatte den Irrtum überhaupt nicht bemerkt.

Diese Entdeckung gab Hugh seine ruhige Fassung wieder und er beschloss, Mrs. Vimpany am nächsten Tag mit seinem Besuch zu überraschen. Dieser Besuch sollte die Ansteckungstheorie entkräften und zugleich Iris einen wertvollen Dienst in ihrer gegenwärtigen kritischen Lage erweisen.

Da er im Lauf des Tages genug Zeit hatte, um sich alles genau zu überlegen, so konnte es nicht ausbleiben, dass er ein großes Hindernis für die Ausführung seines Planes entdeckte. Ob er nun seinen Namen nannte oder ihn verschwieg, wenn er am nächsten Morgen an der Haustür nach Mrs. Vimpany fragte, sie würde auf jeden Fall seinen Besuch ablehnen. Die einzige zuverlässige Person, die er in diesem schwierigen Fall um Rat fragen konnte, war sein alter, treuer Diener.

Dieser erfahrene Mann, der früher zu verschiedenen Zeiten in der Armee, bei der Polizei und an einer öffentlichen Schule angestellt war, wurde von ihm beauftragt, am folgenden Morgen zunächst einige vorbereitende Erkundigungen einzuziehen.

Der Diener machte dabei zwei wichtige Entdeckungen. Erstens befand sich Mrs. Vimpany in dem Hause, in dem der Brief an seinen Herrn geschrieben worden war. Zweitens war dort ein junger Bursche angestellt, welcher sich der Bestechung durch ein Geschenk zugänglich zeigte. Dieser Bursche wollte um zwei Uhr an demselben Tag auf Mr. Mountjoy warten und ihm zeigen, wo er Mrs. Vimpany finden könnte, nämlich in dem Zimmer neben dem Kranken, in welchem sie ihre Mahlzeiten einzunehmen pflegte.

Hugh handelte nach diesen Angaben; er fand den Burschen auf ihn wartend und wurde von ihm heimlich in das Haus eingelassen. Der Bursche führte ihn dann noch die Treppen hinauf und zeigte im zweiten Stock mit der einen Hand auf eine Tür, während er die andere Hand ausstreckte, um seine Belohnung in Empfang zu nehmen. Dann steckte er das Geld rasch in die Tasche und verschwand. Mountjoy aber öffnete die Tür.

Mrs. Vimpany saß an dem Tisch und wartete auf ihr Essen. Als Mountjoy in dem Zimmer erschien, sprang sie mit einem Schreckensruf auf.

»Sind Sie denn toll?« rief sie aus. »Wie kommen Sie hieher? Was wollen Sie hier? - Kommen Sie mir nicht zu nahe!«

Sie versuchte, an Hugh vorbeizuschlüpfen, um aus dem Zimmer zu eilen; er ergriff sie jedoch am Arm, führte sie auf ihren Stuhl zurück und zwang sie, sich wieder darauf niederzulassen.

»Iris ist in Gefahr!« sagte er eindringlich. »Sie können ihr helfen.«

»Das Fieber!« schrie sie, ohne auf das zu achten, was er gesagt hatte. »Bleiben Sie fern von mir - das Fieber!«

Zum zweitenmal versuchte sie aus dem Zimmer zu entfliehen. Zum zweitenmal hinderte sie Hugh daran.

»Fieber oder kein Fieber!« antwortete er bestimmt. »Ich muss mit Ihnen sprechen; in zwei Minuten werde ich das Nötige gesagt haben, und dann will ich wieder gehen.«

Mit so wenigen Worten wie möglich beschrieb er Iris' Lage gegenüber ihrem eifersüchtigen Ehemann. Mrs. Vimpany unterbrach ihn heftig.

»Sie laufen einer so schrecklichen Gefahr in die Arme«, rief sie, »obgleich Sie mir nichts anderes zu sagen haben als das, was ich schon lange weiß! - Ihr Gatte eifersüchtig auf Sie? - Natürlich ist er eifersüchtig auf Sie! Verlassen Sie mich sofort, oder ich klingle nach dem Diener!«

»Klingeln Sie, wenn es Ihnen Vergnügen macht«, antwortete Hugh, »aber hören Sie dies erst. Mein Brief an Sie sprach von einer Beratung zwischen uns, welche im Interesse von Iris notwendig sein könnte. Stellen Sie sich doch nur ihre Lage einmal vor, wenn es Ihnen möglich ist! Der Mörder von Arthur Mountjoy soll sich in London aufhalten, und Lord Harry hat davon gehört.«

Mrs. Vimpany blickte ihn mit erschreckten Augen an.

»Barmherziger Gott«, rief sie, »der Mann befindet sich hier in meiner Pflege. Ich gehöre nicht mit zu der Verschwörung und brauche den Schurken nicht zu verbergen. Ich wusste damals, als ich mich erbot, ihn zu pflegen, nichts weiter von ihm, als was Sie von ihm wissen. Die Namen, die ihm in seinen Fieberphantasten entschlüpft sind, haben mir erst die Wahrheit verraten.«

Während sie sprach, wurde eine zweite Tür des Zimmers geöffnet. Eine alte Frau erschien für einen Augenblick, vor Schreck zitternd.

»Er hat wieder einen Anfall, Schwester, helfen Sie mir, ihn zu halten.«

Mrs. Vimpany folgte der alten Frau sofort in das Schlafzimmer.

»Warten Sie und hören Sie zu!« sagte sie zu Mountjoy und ließ die Türe offen stehen.

Die raschen, heftigen und dumpfen Laute eines in Fieberphantasien liegenden Mannes ließen sich jetzt erschreckend vernehmen. Sein krankes Gehirn erinnerte sich der früheren Ereignisse seines traurigen Lebens. Er stellte Fragen an sich selbst und antwortete selbst.

»Wer zog das Los, den Verräter zu töten? - Ich zog es! Ich zog es! Wer schoss ihn nieder auf der Straße, bevor er den Wald erreichen konnte? - Ich habe es getan! Ich habe es getan! ,Arthur Mountjoy, Verräter an Irland!' Schreibt das auf seinen Grabstein zur ewigen Schande für ihn! Hört, ihr Jungens, hört! Ein Patriot ist unter euch! Ich bin der Patriot, beschützt von der dankbaren Vor-sehung! Ha, mein Lord Harry, durchsuche nur die Erde, durchsuche nur das Meer, der Patriot ist außer Deinem Bereich! Wärterin, was hat der Doktor von mir gesagt? Das Fieber wird ihn töten? - Gut, was tut's, so lange nur Lord Harry mich nicht tötet! Öffnen Sie die Türen, und lassen Sie es jedermann hören: Ich sterbe den Tod eines Heiligen - ich, der größte von allen Heiligen - ich, der Heilige, welcher Arthur Mountjoy erschoss. O mein Kopf, mein armer Kopf, o mein Kopf, wie das brennt und hämmert!«

Der schrecklich gequälte Kranke brach in ein furchtbares Wut- und Schmerzensgeschrei aus. Das war mehr, als Hugh ertragen konnte; er eilte aus dem Hause.

Zehn Tage vergingen. Iris erhielt in Passy einen Brief, von einer ihr unbekannten Hand geschrieben.

Der erste Teil des Briefes handelte von dem irischen Desperado, welchen Mrs. Vimpany während seiner Krankheit gepflegt hatte.

So lange sie ihn nur als einen leidenden Mitmenschen kannte, hatte sie versprochen, seine Pflegerin zu sein. Rechtfertigte nun die Entdeckung, dass er ein Mörder war, ihren Weggang, oder würde sie sogar eine Vernachlässigung entschuldigen? - Nein! Das Amt eines Pflegers ist wie das Amt eines Arztes ein Akt des Wohltuns, in sich selbst wesentlich zu edel, als dass es darnach fragte, ob der Kranke die Hilfe verdiene oder nicht. All die Erfahrung, all die Einsicht, all die Sorge, die sie bieten konnte, widmete die Pflegerin dem Mann, dessen Hand sie niemals berühren würde, sobald sie ihm das Leben gerettet hatte.

Eine Zeit war gekommen, wo das Fieber drohte, die Rache, welche Lord Harry üben wollte, seinen Händen zu entwinden. Dann nahte die Krisis der Krankheit. Schon unter dem Schatten des Todes, überstand sie der Leidende doch, dank seiner kräftigen Natur und dank der Geschicklichkeit und Furchtlosigkeit der Frau, welche ihn pflegte. Als er sich wieder auf dem Weg der Genesung befand, erschienen einige Freunde aus Irland in dem Hause in Begleitung eines Arztes ihrer eigenen Wahl und fragten nach ihm unter dem Namen, unter dem er hier bekannt war, Carrigeen. Unter Anwendung aller möglichen Sorgfalt wurde er fortgeschafft; wohin, ist niemals entdeckt worden; seit der Zeit war alle Spur von ihm verloren.

Schreckliche Nachrichten folgten auf der nächsten Seite des Briefes.

Die geheimnisvolle Gewalt der Ansteckung der Krankheit hatte sich an dem armen Sterblichen gerächt, der ihr Trotz geboten. Hugh Mountjoy lag, von demselben Mann, der seinen Bruder getötet, angesteckt, an einem heftigen Scharlachfieber darnieder.

Aber die Krankenpflegerin wachte bei ihm Tag und Nacht.

Fünfundvierzigstes Kapitel

»Hier, Sie alter Vagabund, hier ist ein interessanter Fall für Sie, Vimpany, der Schmerzensschrei eines Leidenden mit einem kranken Geist. Ich komme mir vor wie ein Mann, der seines Verstandes beraubt ist. Zuerst wurde mir gemeldet, dass der Mörder Arthur Mountjoys in London gesehen worden; ich machte mich daran, seine Spur zu verfolgen; da wurde ich durch die Nachricht ereilt, zuerst, dass er krank sei, dann, dass er sich wieder erholt und endlich, dass er verschwunden; das sind die Schläge, welche mich ganz meines Verstandes beraubt haben. Zum zweitenmal ist der Frevler meiner Rache entschlüpft; er wird jetzt ruhig in seinem Bett sterben und dann mitten unter schuldlosen Toten auf einem stillen Friedhof begraben werden. Ich kann nicht darüber hinauskommen!

»Fügen Sie hinzu die Besorgnisse um meine Frau und die Briefe von Gläubigern, die mich ganz wahnsinnig machen, und Sie werden nicht erwarten, dass ich vernünftig schreibe.

»Was ich zu wissen wünsche, ist, ob Ihre Kunst, oder wie Sie es sonst nennen wollen, zu meinem kranken Geist durch meinen gesunden Körper gelangen kann. Sie haben mir mehr als einmal gesagt, dass Ärzte das vermögen. Die Zeit ist gekommen, es zu beweisen. Mein einziger Freund und Doktor, erretten Sie mich vor mir selber!

»Auf jeden Fall bitte ich Sie, das Folgende mit aller Ruhe zu lesen.

»Ich muss Ihnen gestehen, dass der Teufel, dessen Name Eifersucht ist, über mich Gewalt bekommen hat und nun die Ruhe meines ehelichen Lebens bedroht. Sie lieben Iris nicht, ich weiß es, und sie erwidert Ihre feindlichen Gefühle. Versuchen Sie trotzdem, meiner Frau Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, wie ich es tue. Ich glaube nicht, dass mein Misstrauen gegen Iris irgendwelche Entschuldigung hat, und dennoch bin ich eifersüchtig. Und was noch viel unvernünftiger ist, ich bin noch ebenso verliebt in sie, wie ich es in den ersten Tagen der Flitterwochen war. Liebt sie mich nun auch noch so wie früher?

»Als Iris die erste Nachricht von Hughs ernstlicher Erkrankung erhielt, saßen wir gerade beim Früh-stück. Sie traf sie schwer; sie übergab mir den Brief stillschweigend und verließ den Tisch.

»Ich hasse einen Mann, der nicht weiß, was es heißt, Geld nötig zu haben; ich hasse einen Mann, der immer seinen Gleichmut bewahrt; ich hasse einen Mann, der behauptet, der Freund meiner Frau zu sein, und der sie von jeher heimlich liebt. Was würde es für mich für ein Unterschied sein, ob Hugh Mountjoy stirbt oder am Leben bleibt? - Wenn ich irgendein Interesse an der Sache hätte, so müsste ich notwendigerweise, da ich sehe, dass ich eifersüchtig bin, seinen Tod wünschen. Nun gut! Ich erkläre mit aller Bestimmtheit, dass die beunruhigenden Nachrichten aus London mein Frühstück gestört haben; es ist so eine Sache mit dem Freunde meiner Frau, mit diesem schmucken, glücklichen, wohlgesitteten Engländer; es scheint etwas für ihn zu sprechen, Gott weiß wie - wenn ich noch wenig zu seinen Gunsten gestimmt bin. Während ich den Bericht von seiner Krankheit las, lebte in mir - meinem Hasse zum Trotz - die Hoffnung, dass er wieder genesen werde.

»Lassen Sie uns zu meiner Frau zurückkehren. Nach langer Abwesenheit erschien sie wieder und konnte endlich etwas mit ihrem Mann sprechen.

»,Ich bin die unschuldige Ursache', begann sie, ,dass Hugh Mountjoy dies furchtbare Unglück befallen hat. Wenn ich ihm nicht einen Auftrag an Mrs. Vimpany gegeben hätte, so würde er niemals darauf bestanden haben, sie zu sprechen, und würde niemals sich das Fieber geholt haben. Es wird mir helfen, meine Selbstvorwürfe und meine Angst zu tragen, wenn ich immer Nachrichten über sein Befinden erhalte; es liegt auch keine Gefahr der Ansteckung vor, wenn ich Briefe bekomme. Ich werde an eine Freundin von Mrs. Vimpany schreiben, die in einem andern Hause wohnt und die mir dann antworten wird. Lieber Harry, verbietest Du mir's, dass ich mir jeden Tag über das Befinden Hugh Mountjoys berichten lasse, so lange er in Gefahr ist?'

»Ich war vollständig mit diesem Briefwechsel einverstanden; sie hätte es selbst wissen sollen.

»Es schien mir auch verdächtig zu sein, dass sie ihre Bitte mit tränenlosen Augen stellte. Sie musste geweint haben, als sie gehört hatte, dass er wahrscheinlich dem Fieberanfall erliegen würde. Warum verbarg sie vor mir ihre Tränen und weinte nur, wenn sie sich allein auf ihrem Zimmer befand? Als sie zu mir zurückkam, war ihr Gesicht bleich, hart und tränenlos. Glauben Sie, dass sie meine Eifersucht ganz vergessen haben könnte, da ich mich ernstlich bemühte, sie nicht zu zeigen? Nach meiner festen Überzeugung war ihr sehnlichster Wunsch, nach London zu eilen und Ihre Frau in der Pflege des armen Mannes zu unterstützen, sich das Fieber zu holen und mit ihm zu sterben, wenn er sterben sollte.

»Ist das bitter? - Vielleicht ist es so. Zerreißen Sie den Brief, und zünden Sie Ihre Pfeife damit an.

»Also die Briefe, welche von dem Kranken handelten, kamen und gingen nun jeden Tag, und jeden Tag händigte Iris mir sie ein, damit ich sie lesen sollte. Ich lehnte es unter allen möglichen Ausflüchten ab, die ärztlichen Berichte zu lesen. Eines Morgens, als sie den Brief dieses Tages öffnete, ging mit ihr eine wunderbare Veränderung vor, die mir, so lange ich lebe, im Gedächtnis bleiben wird. Niemals vorher habe ich in den Augen einer Frau eine solche Verklärung gesehen, wie ich sie damals sah, als sie die wenigen Zeilen las, welche ihr meldeten, dass man des Fiebers Herr geworden. Iris ist süß, Iris ist lieb, Iris ist schön, mit einem Wort, Iris ist bezaubernd. Aber so schön war sie nie wie in dem Augenblick, da sie erfuhr, dass Mountjoys Leben gerettet war, und sie wird niemals wieder eine so schöne Frau sein, bis die Zeit kommt, wo mein Tod es ihr freistellt, ihn zu heiraten. An ihrem Hochzeitstag wird er die Veränderung sehen, welche ich jetzt wahrgenommen habe, und er wird davon ebenso geblendet sein, wie ich es war.

»Sie sah mich an, als ob sie erwartete, ich sollte etwas sagen.

»,Ich freue mich in der Tat', sagte ich, ,dass er sich außer Gefahr befindet.'

»Sie eilte auf mich zu und küsste mich; ich hatte nie geglaubt, dass sie so stürmisch küssen könnte. ,Jetzt, da Du an meiner Freude teilnimmst', rief sie aus, ,ist mein Glück vollkommen!' Glauben Sie, dass ich wegen dieser Küsse mir selber ober jenem andern Mann verpflichtet bin? - Nein, nein, das ist ein unwürdiger Verdacht. Ich verwerfe ihn. Niedriger Argwohn soll diesmal Iris nicht unrecht tun.

»Und doch... die Entfremdung zwischen Iris und mir nimmt von Tag zu Tage zu. Lassen Sie mich auf etwas anderes übergehen. Das neue Journal wird, wie ich mit Vergnügen Ihnen mitteile, allgemein bewundert. Als ich mich aber nach meinem Gewinnanteil erkundigte, sagte man mir, die Ausgaben seien sehr große, und ich müsse daher warten, bis die Verbreitung sich noch steigere. Wie lange? - Niemand weiß es.

»Wie soll ich nun meinen Verpflichtungen nachkommen, wenn der Wechsel fällig ist? - Zum Glück ist ja der schlimme Tag noch fern genug; einstweilen kann ich Ihnen, wenn Ihre literarische Spekulation keine besseren Ergebnisse erzielt als meine Zeitung, einige Pfund leihen, damit Sie leben können. Was sagen Sie zu dem Gedanken, in Ihr altes Quartier nach Passy zurückzukehren und mir mündlich anstatt schriftlich Ihren wertvollen Rat zu erteilen?

»Kommen Sie, fühlen Sie meinen Puls, sehen Sie sich meine Zunge an, und dann sagen Sie mir, wie ich den verschiedenen Verlegenheiten, in denen ich mich jetzt befinde, ein Ende machen kann, bevor einer von uns ein Jahr älter geworden. Werde ich wie Sie von meiner Frau getrennt werden? - Natürlich nur auf ihren Wunsch, gewiss nicht auf den meinigen.

Oder werde ich in ein Gefängnis gesperrt werden? Und was wird aus Ihnen, Doktor?«

Sechsundvierzigstes Kapitel

In früher Morgenstunde empfing Lord Harry ein Telegramm des Doktors. Da Iris noch nicht aufgestanden war, ließ er Fanny Mere rufen und befahl ihr, das Fremdenzimmer zur Aufnahme eines Gastes bereit zu halten.

Iris selbst traf mit ihrem Gatten am Frühstückstisch zusammen. In ihrem Gesicht war eine gewisse Unruhe zu lesen.

»Wie ich höre, kommt jemand zu Besuch«, sagte sie. »Ich hoffe mit Bestimmtheit, dass es nicht wieder Mr. Vimpany ist.«

Lord Harry gab ihr den gewohnten Morgenkuss und sagte dann mit gewinnendem Lächeln:

»Warum sollte denn mein treuer alter Freund nicht wieder hieher kommen und mich besuchen?«

»Bitte«, antwortete sie, »sprich von diesem verhassten Menschen nicht in einer Weise, als ob er wirklich Dein Freund wäre. Mr. Vimpany ist ein schlechter Mensch. Er ist der schlimmste Freund, den Du um Dich haben konntest - und nun besonders noch zu einer Zeit, in der Du Deine ganze Kraft und Aufmerksamkeit nötigeren Dingen zuwenden solltest.«

»Ein Wort, Iris! Je beredter Du bist, um so mehr bewundere ich Dich. Nur erwähne nie wieder die, wie Du zu sagen beliebst, für mich nötigen Dinge!«

Sie ließ die Unterbrechung unbeachtet.

»Lieber Harry«, fuhr sie freundlich fort, »Du bist immer so gut mit mir. Bin ich daher im Unrecht, wenn ich glaube, dass mir die Liebe immer noch einigen Einfluss auf Dich gewährt? Frauen sind eitel, und ich bin nicht besser als alle übrigen. Schmeichle der Eitelkeit Deiner Frau, Harry, indem Du ihrer Meinung wenigstens einige Berechtigung zugestehst. Lass Mr. Vimpany, wenn er nun doch einmal unabänderlich hieherkommen soll, wenigstens nicht in unserem Hause wohnen! Ich werde schon irgendeine passende Entschuldigung finden und für ihn in der Nachbarschaft ein Unterkommen suchen, solange er hier zu bleiben hat. Es überläuft mich kalt, wenn ich daran denke, dass er mit uns unter ein und demselben Dache schlafen soll. Nur nicht zu uns, Harry, nur nicht zu uns!«

Ihre Augen suchten eifrig in dem Gesicht ihres Gatten zu lesen; sie wollte darin Nachgiebigkeit, sie wollte darin Überzeugtsein finden. Aber nichts dieser Art stand darin.

»Auf mein Ehrenwort!« rief er laut aus. »Du bereitest mir eine ungeahnte Überraschung. Welch reiche Phantasie besitzest Du! Eines Tages werde ich noch viel stolzer auf Dich sein dürfen als bisher; ich werde Dich als eine berühmte Schriftstellerin begrüßen können.«

»Ist das alles, was Du mir zu erwidern hast?« fragte sie.

»Was soll ich denn anders sagen? Du wirst doch nicht etwa verlangen, dass ich das für ernst nehmen soll, was Du soeben über Vimpany gesagt hast?«

»Und warum nicht?«

»Ach, geh doch, geh doch, mein Liebling! Überlege Dir's, bitte, nur einmal! Wir haben oben noch Zimmer leer stehen und auch hinreichend Dienerschaft, und da soll ich meinen alten Freund für die paar Nachtstunden zu fremden Leuten schicken? Ich möchte um alles in der Welt nicht unfreundlich gegen Dich sein, Iris, und ich leugne ja auch nicht, dass der lustige Doktor zuweilen etwas zu sehr sein Gläschen Grog liebt. Du wirst mir vielleicht sagen, dass er sich nicht gut gegen seine Frau benommen hat; ich gebe das auch zu. Aber es gibt eben nicht viel Menschen, die ein so schönes Beispiel einer musterhaften Ehe geben wie wir beide. Wenn Du mir aber entgegenhältst, dass Vimpany ein schlechter Mensch ist und der schlimmste Freund, den ich möglicherweise haben könnte und so weiter, was kann ich da anderes tun, als solche Reden für Erzeugnisse Deiner blühenden, regen Einbildungskraft ansehen! Nun, was ist denn? Du hast doch gewiss noch nicht gefrühstückt?«

»Doch.«

»Willst Du mich denn allein lassen?«

»Ich will auf mein Zimmer gehen.«

»Du hast ja gewaltige Eile, hinweg zu kommen. Ich wollte Dich ganz gewiss nicht kränken, Iris. Ich möchte wirklich wissen, was Du eigentlich auf Deinem Zimmer zu tun hast!«

»Meine Einbildungskraft zu pflegen und weiter auszubilden«, antwortete sie, zum erstenmale ihrer Bitterkeit Luft machend.

Sein Gesicht nahm einen finsteren und harten Ausdruck an.

»Das klingt ja gerade so, als ob darin etwas wie Groll läge? Das wäre ja das erstemal, dass Du mich ungnädig, feindselig behandelst! Wodurch habe ich das verdient?«

»Nenne es einfach eine Verstimmung meinerseits«, versetzte sie ruhig und verließ das Zimmer.

Lord Harry wandte sich seinem Frühstück wieder zu. Seine Eifersucht war von neuem wachgerufen.

»Sie vergleicht mich mit ihrem abwesenden Freunde«, sagte er zu sich selbst, »und wünscht jedenfalls, sie hätte den liebenswürdigen Mountjoy anstatt mich geheiratet.«

So endete der erste Zwist in dieser Ehe, und Mr. Vimpany war die Ursache desselben gewesen.

Siebenundvierzigstes Kapitel

Der Doktor kam gerade zur rechten Zeit zum Diner und begrüßte den irischen Lord mit kräftigem Händeschütteln in der vortrefflichsten Laune. Er hatte die Taschen voll schlau eingefädelter Projekte, die er aber vorerst wohlweislich für sich behielt.

Er sah sich im Zimmer um und fragte nach Mylady. Lord Harry erwiderte, er sei von einem weiten Ausritt erst vor wenigen Minuten zurückgekommen; Iris werde wohl sogleich erscheinen.

Das Mädchen setzte die Suppe auf den Tisch und überbrachte zugleich die Meldung, dass ihre Herrin heftige Kopfschmerzen habe und deshalb nicht mit den Herren speisen könne.

Aus seinen eigenen ehelichen Erfahrungen wusste Mr. Vimpany natürlich ganz genau, was das zu bedeuten hatte. Er bat um die Erlaubnis, der leidenden Dame des Hauses eine angenehme und tröstliche Nachricht übersenden zu dürfen. Fanny möchte so freundlich sein und ihrer Herrin sagen, er habe, bevor er London verlassen, Erkundigungen über das Befinden Mr. Mountjoys eingezogen. Der Bericht habe durchaus günstig gelautet; es sei nichts von der Krankheit zurückgeblieben als die in solchen Fällen immer ziemlich lang anhaltende Schwäche. Nur aus diesem Grunde sei eine sorgfältige Pflege vorderhand noch notwendig.

»Vergessen Sie nicht, auch meine besten Empfehlungen an Lady Harry auszurichten!« rief er Fanny nach, als diese in mürrischem Stillschweigen das Zimmer verließ.

»Ich habe mich bei Ihrer Frau Gemahlin angenehm eingeführt«, bemerkte der Doktor mit einem Grinsen, das deutlich die eigene Befriedigung über sein Verfahren zu erkennen gab. »Vielleicht wird sie nun morgen mit uns essen. Reichen Sie mir den Sherry herüber!«

Die Erinnerung an das, was sich heute morgen am Frühstückstische zugetragen hatte, schien immer noch außerordentlich verstimmend auf Lord Harrys Geist zu lasten. Er sprach nur sehr wenig, und dieses wenige bezog sich ausschließlich auf das, worüber er seinem ärztlichen Freund schon in aller Ausführlichkeit geschrieben hatte.

Während einer Zwischenpause, in welcher die Bedienung der Tafel die Anwesenheit Fannys in der Küche nötig machte, nahm Mr. Vimpany die Gelegenheit wahr, einige ermunternde Worte zu sagen. Er habe das richtige Heilmittel für eine geistige Verstimmung mitgebracht. Er werde sich jedoch erst zu einer passenderen Zeit erklären. Lord Harry fragte ungeduldig, warum er denn seinen Bericht nicht jetzt gleich erstatten wolle. Wenn die Gegenwart des Mädchens störe, so würde es ja nur eines Wortes bedürfen, um sie aus dem Zimmer zu entfernen.

Der schlaue Doktor wollte jedoch davon durchaus nichts wissen.

Er hatte während seines ersten Besuches Fanny genau beobachtet und hatte die Entdeckung gemacht, dass sie ihm misstraue. Das Mädchen war schlau und argwöhnisch. Seitdem sie sich zu Tische gesetzt hatten, war es leicht ersichtlich, dass sie sich in der Absicht im Zimmer zu schaffen machte, um etwas von dem Gespräch der beiden Herren zu erlauschen unter einem oder dem andern Vorwande. Schickte man sie hinaus, so würde sie ohne Zweifel an der Tür horchen.

»Glauben Sie meinem Wort, Fanny Mere besitzt alle Eigenschaften zu einer Spionin«, schloss der Doktor.

Lord Harry war hartnäckig. Bedrückt von seiner verzweifelten pekuniären Lage, war er entschlossen, sofort zu hören, welche Hilfe Mr. Vimpany für seine Verlegenheiten entdeckt hätte.

»Sie haben doch, wenn ich mich nicht irre«, sagte er, »während Ihrer Studienjahre einige Zeit in Paris zugebracht? Nicht wahr?«

»Gewiss!«

»Nun also! Haben Sie denn Ihr Französisch ganz wieder verlernt?«

Der Doktor wusste sogleich, worauf Lord Harry abzielte, und antwortete, es sei um sein Französisch immerhin noch ganz leidlich bestellt. Eines indessen wünschte er vor allem zu wissen. Waren sie auch vollständig sicher, dass das Kammermädchen der Lady nicht schon so viel Französisch gelernt habe, um ihre Ohren zu gewissen Zwecken zu verwenden? Lord Harry konnte ohne Mühe die Bedenken des Doktors zerstreuen. Das Mädchen verstand so wenig von der Sprache des Landes, in dem sie jetzt lebte, dass sie nicht einmal imstande war, in den Kaufläden die einfachsten und gebräuchlichsten Waren zu verlangen; man musste es ihr jedes Mal französisch auf einen Zettel schreiben, wenn sie eine Besorgung machen sollte.

Das war entscheidend. Als Fanny wieder in das Speisezimmer zurückkam, erwartete sie eine Überraschung. Die beiden Herren hatten sich ihrer Nationalität entäußert und unterhielten sich in der fremden Sprache.

Als eine Stunde später häusliche Angelegenheiten das Mädchen in das Zimmer der Lady Harry führten, bemerkte sie einen traurigen, sorgenvollen Ausdruck in den Gesichtszügen ihrer Herrin.

»Ich glaubte, es wäre nur ein Vorwand«, sagte sie, »als Sie mir vor dem Essen den Auftrag an die beiden Herren erteilten. Sind Sie wirklich krank, Mylady?«

»Ich bin etwas angegriffen und verstimmt«, erwiderte Iris.

Fanny machte den Tee zurecht.

»Das kann ich begreifen«, sagte sie vor sich hin, als sie sich anschickte, das Zimmer wieder zu verlassen. »Bin ich doch selber verstimmt.«

Iris rief sie zurück und sagte:

»Ich habe die Worte gehört, die Sie soeben ausgesprochen haben, Fanny, dass Sie selbst verstimmt wären. Wenn Sie einfach nur von Ihren Sorgen gesprochen hätten, so würde ich Sie bedauert, aber sonst nichts weiter hinzugefügt haben. Wenn Sie aber wissen, welches meine Sorgen sind und wenn Sie sie teilen -«

»Was davon auf mich kommt, das ist der schlimmere, härtere Teil«, brach Fanny plötzlich los. »Es geht mir gegen das Gefühl, Mylady, Sie zu betrüben. Aber da der Anfang bereits gemacht ist, sollen Sie auch alles erfahren. Der Doktor hat mich schon beleidigt.«

»Schon beleidigt?« wiederholte Iris. »Erklären Sie mir deutlicher, wie ich das verstehen soll!«

»Sie sollen es mit einer Deutlichkeit erfahren, die nichts zu wünschen übrig lässt. Mr. Vimpany hat etwas - natürlich etwas Unrechtes und Schlechtes - meinem Herrn mitzuteilen, aber er wollte es nicht hier im Hause aussprechen.«

»Warum nicht?«

»Weil er argwöhnt, dass ich an der Tür horche und durch das Schlüsselloch sehe. Ich weiß nicht, ob er Sie auch im Verdacht hat, Mylady. ,Wenn ich etwas in meinem Leben gelernt habe', sagte er zum gnädigen Herrn, ,so ist es die Weisheitsregel, sehr vorsichtig bei allem zu sein, was man innerhalb von vier Wänden laut werden lässt, sobald Frauen im Hause sind. Was beabsichtigen Sie morgen zu tun?' fragte er dann. Mylord sagte, er habe einer Versammlung im Zeitungsbureau anzuwohnen. ,Ich werde mit Ihnen nach Paris fahren', sagte der Doktor. ,Das Zeitungsbureau ist nicht weit von dem Luxembourg-Garten entfernt. Dort werden Sie mich, sobald Sie mit Ihrem Geschäfte fertig sind, am Eingang finden. Was ich Ihnen zu sagen habe, sollen Sie dort hören.' Der gnädige Herr schien ärgerlich über diese Verzögerung zu sein. ,Was haben Sie mir denn eigentlich mitzuteilen?' fragte er. ,Ist es vielleicht wieder etwas Derartiges wie der Vorschlag, den Sie mir bei Ihrem letzten Besuche machten?' Der Doktor lachte. ,Bis morgen ist es nicht mehr lange hin.' sagte er. ,Geduld, Mylord, Geduld!' Es war nicht möglich, ihn zu einer weiteren Mitteilung zu bringen.«

»Aber woher«, fragte Iris im höchsten Erstaunen, »wollen Sie denn das alles so genau Wort für Wort wissen? Die beiden Herren können doch unmöglich ihre Privatangelegenheiten besprochen haben, während Sie bei Tische bedienten?«

Es trat eine Pause ein. Furcht und Scham stiegen verstohlen auf dem farblosen Gesicht des Mädchens auf.

»Es ist hart«, sagte Fanny endlich, »etwas zu bekennen, was mich in Ihrer guten Meinung herabsetzen wird, aber ich muss es tun. Ich habe Sie getäuscht, Mylady, und schäme mich dessen. Ich habe den Doktor getäuscht und rühme mich dessen. Mein Herr und Mr. Vimpany glaubten sicher zu sein, wenn sie französisch sprächen, während ich sie bediente. Ich verstehe französisch ebenso gut wie die beiden Herren.«

Iris wollte kaum ihren Ohren trauen.

»Warum aber in aller Welt haben Sie dann die Rolle einer Unwissenden, Ungebildeten gespielt?«

»Ich dachte«, erwiderte das Mädchen mit gesenktem Blick, »an einen Rat, der mir einst erteilt wurde.«

»Von einem Freunde?«

»Von einem Mann, Mylady, der der schlimmste Feind war, den ich jemals gehabt habe.«

Ihre einsichtsvolle Herrin wusste, wen sie meinte, und wünschte sie zu schonen. Fanny fühlte jedoch, dass sie ihrer Wohltäterin eine Erklärung schuldig sei. So berichtete sie denn eingehender über den, von dem sie soeben gesprochen. Er war ein Franzose, ihr Musiklehrer während der kurzen Zeit ihres Schulbesuches. Er hatte ihr die Heirat versprochen, und sie hatte sich überreden lassen, mit ihm zu entfliehen. Das wenige Geld, von dem sie lebten, verdiente sie mit der Nadel und er als Klavierspieler in einer Singspielhalle. So lange sie noch fähig war, ihn zu fesseln, und so lange sie noch auf die Einlösung seines Versprechens hoffte, machte er sich ein Vergnügen daraus, sie in seiner Muttersprache zu unterrichten. Als er sie verließ, enthielt der Abschiedsbrief unter anderem auch den besprochenen Rat.

»In Deiner Lebenslage«, hatte der Mann geschrieben, »ist die Kenntnis des Französischen noch ein seltener Vorzug. Mache aber daraus ein Geheimnis gegen jedermann. Vornehme Engländer haben die Gewohnheit, französisch miteinander zu sprechen, wenn sie nicht von ihren Untergebenen verstanden sein wollen. In Deinem zukünftigen Leben kannst Du auf die Weise hinter Geheimnisse kommen, die Dir bei geschickter Mischung der Karten ein Vermögen verschaffen können. Jedenfalls ist dies der einzige Besitz, den ich Dir zurücklassen kann.«

Das war das Abschiedsgeschenk des Schurken an die Frau gewesen, die er betrogen hatte.

Sie hatte ihn zu bitter gehasst, um seinen Rat zu befolgen. Sie erachtete es im Gegenteil für besser und für ihren Zweck dienlicher, gleich zu erwähnen, dass sie französisch lesen, schreiben und sprechen könne, als ihr eine mildherzige, gütige Freundin, die jetzt nicht mehr in England lebte, die erste Stelle als Kammermädchen verschaffte. Der Erfolg erwies sich nicht nur als eine herbe Enttäuschung, sondern er diente ihr auch als Warnung für spätere Zeiten. Etwas so Außergewöhnliches wie die Kenntnis einer fremden Sprache bei einer Engländerin in so untergeordneter Lebensstellung schien ihrer Herrin äußerst verdächtig. Namentlich aber gestaltete sich ihr Zusammenleben mit den anderen Dienstboten, die ihr die überlegenen Sprachkenntnisse nicht verzeihen konnten, unerträglich, und sie verließ ihre Stellung.

Von dieser Zeit an hatte sie die Verheimlichung ihrer Kenntnis der französischen Sprache als eine Notwendigkeit betrachtet. Sie würde unzweifelhaft dies alles schon früher ihrer jetzigen Gebieterin anvertraut haben, wenn sich gerade die Gelegenheit dazu geboten hätte. Aber Iris hatte sie niemals zu Mitteilungen über den dunkelsten Punkt in ihrem Leben ermutigt. Als ihre Herrin dann heiratete, misstraute Fanny dem Lord und seinem intimen Freunde, - waren sie nicht beide Männer? - dachte an den Rat, den ihr der abgefeimte Franzose gegeben, und beschloss, eine Probe damit zu machen, nicht aus dem niedrigen Motiv, das er angeführt hatte, sondern in dem Vorgefühl, dass ihr dies einmal dazu dienlich sein werde, Vimpany zu entlarven und dadurch ihrer Wohltäterin einen Dienst zu erweisen.

»Vielleicht, Mylady«, wagte Fanny hinzuzusetzen, »kann es noch zu Ihrem eigenen Besten dienen, wenn Sie zu niemand etwas davon sagen, dass Sie ein Kammermädchen haben, das französisch gelernt hat.«

Iris maß sie mit einem ernsten und kalten Blick.

»Muss ich Sie daran erinnern«, sagte sie, »dass Sie mir zu dienen vorgeben, indem Sie meinen Gatten hinters Licht führen?«

»Der gnädige Herr wird mich auf der Stelle fortschicken«, entgegnete Fanny, »wenn Sie ihm sagen, was ich Ihnen anvertraut habe.«

Das war unwiderleglich richtig. Iris zögerte. In ihrer gegenwärtigen Lage war das Mädchen die einzige Freundin, auf die sie sich verlassen konnte. Vor ihrer Verheiratung würde sie unter allen Umständen davor zurückgeschreckt sein, derartige Dienste sich zunutze zu machen, wie sie die rückhaltlose Dankbarkeit Fannys ihr jetzt anbot. Aber die moralisch verdorbene Umgebung, in der sie jetzt lebte, konnte auf ihr eigenes Tun unmöglich ohne Einfluss bleiben. Die Herrin ließ sich herab, mit ihrer Dienerin ein Bündnis zu schließen.

»Sei es denn!« sagte sie; »täuschen Sie den Doktor, und ich will mir immer ins Gedächtnis zurückrufen, dass es zu meinem Heile geschieht. Respektieren Sie jedoch Ihren Herrn, wenn Sie wollen, dass ich Ihr Geheimnis bewahren soll. Ich verbiete Ihnen, auf das zu horchen, was Mylord sagt, wenn er morgen mit Mr. Vimpany sprechen wird.«

»Ich werde ohnehin keine Gelegenheit haben, Mylady«, erwiderte Fanny, »das zu erlauschen, was außerhalb des Hauses verhandelt wird. Ich kann aber jedenfalls den Doktor beobachten. Wir können nicht wissen, was er zu tun vorhat, während der gnädige Herr sich in der Sitzung befindet. Ich werde den Versuch machen, ob es mir gelingt, dem Schurken durch die Straßen nachzufolgen, ohne dass er mich bemerkt. Bitte, schicken Sie mich daher morgen mit irgendeinem Auftrage nach Paris!«

»Sie setzen sich aber da einer schweren Gefahr aus«, erinnerte Iris sie, »wenn Mr. Vimpany Sie entdeckt!«

»Ich werde schon meine Vorkehrungen dagegen treffen«, lautete die vertrauensvolle Antwort.

Iris willigte ein.

Achtundvierzigstes Kapitel

Am nächsten Morgen verließ Lord Harry das Haus in Begleitung des Doktors.

Nach langer Abwesenheit kam er allein zurück. Die schlimmsten Vermutungen seiner Gattin, die durch das, was Fanny ihr mitgeteilt hatte, wach geworden waren, wurden mehr als bestätigt durch die auffallende Veränderung, die sie jetzt an ihm wahrnahm. Seine Augen waren blutunterlaufen, sein Gesicht entstellt und seine Bewegungen langsam und matt. Er sah aus wie ein Mann, der durch einen inneren Konflikt heftig mitgenommen und fortwährend in Angst und Furcht erhalten war.

»Ich bin zum Tode müde«, sagte er; »gib mir ein Glas Wein!«

Rasch kam sie seinem Wunsche nach und wartete ängstlich auf die belebende Wirkung des Reizmittels.

Ohne ihn anzusehen sagte Iris:

»Du scheinst schlechte Nachrichten bekommen zu haben?«

Ebenfalls ohne aufzublicken, antwortete Lord Harry:

»Ja, auf dem Zeitungsbureau.«

Sie wusste, dass er sie belog, und sie fühlte, dass er es wusste. Eine Zeit lang sprachen beide kein Wort.

Die trägsten aller langsamen Minuten, die Minuten, die der Zweifel zählt, schlichen zögernd und immer zögernder dahin, bevor die ersten Anzeichen einer Veränderung sichtbar wurden. Er hob sein niedergesunkenes Haupt. Traurig und verlangend blickte er nach ihr hin. Der untrügliche Instinkt bewog sie, ihn anzureden.

»Ich wünschte, ich könnte Dir Deine Sorgen erleichtern«, sagte sie einfach. »Gibt es denn wirklich nichts, wodurch ich Dir helfen kann?«

»Komm her zu mir, Iris!«

Sie stand auf und ging zu ihm. In den vergangenen Tagen der Flitterwochen und ihrer süßen Tändeleien hatte sie oft auf seinen Knien gesessen. Er zog sie auch jetzt wieder auf seine Knie und schlang seinen Arm um sie.

»Gib mir einen Kuss!« sagte er.

Aus vollem Herzen küsste sie ihn. Er seufzte schwer; seine Augen ruhten auf ihr mit einem vertrauensvollen, bittenden Blicke, den sie noch niemals in ihnen bemerkt hatte.

»Warum trägst Du Bedenken, mir Dein Vertrauen zu schenken?« fragte sie. »Liebster Harry, glaubst Du denn, ich könnte nicht sehen, dass Dich etwas bedrückt?«

»Ja«, sagte er, »ich bedaure wirklich etwas!«

»Was denn?«

»Iris«, antwortete er, »ich bin betrübt darüber, dass ich Vimpany aufgefordert habe, zu uns zu kommen.«

Bei diesem unerwarteten Bekenntnis überflog ein leuchtender Strahl der Freude und des Stolzes das Gesicht seiner jungen Frau. Wiederum war es der untrügliche Instinkt der wahren Liebe, welcher sie zur Entdeckung der Wahrheit führte. Ihre Ansicht über seinen schlechten Freund musste sich im Laufe der geheimen Unterredung am heutigen Tage als zutreffend erwiesen haben. In der Absicht, ihren Gatten zu etwas Schlimmem zu verleiten, hatte Vimpany Worte ausgesprochen, die diesen verletzten und beleidigten. Das Ergebnis war, wie sie kaum zweifeln konnte, die Wiederherstellung ihres Einflusses im Hause - ob nur für eine Zeit lang oder für immer, darnach in diesem Augenblicke des Glückes zu forschen, lag nicht in ihrer Natur.

»Ich bin auch«, sagte sie, »von Herzen froh darüber, Dich allein nach Hause kommen zu sehen.«

Sie lebte der Hoffnung, dass der freundschaftliche Verkehr zwischen den beiden Männern nun zu Ende sei. Harrys Antwort enttäuschte sie bitter.

»Vimpany«, sagte er, »ist nur in Paris geblieben, um einen Empfehlungsbrief abzugeben. Er wird später nachkommen.«

»Bald?« fragte sie traurig.

»Ich denke, zum Diner.« Sie saß immer noch auf seinen Knien. Zärtlich drückte sie sein Arm an sich, als er sagte: »Hoffentlich wirst Du heute mit uns speisen, Iris?«

»Ja - wenn Du es wünschest.«

»Ich wünsche es sogar sehr. Es schreckt mich etwas davon ab, mit Vimpany allein zu speisen. Außerdem ist ein Mittagessen zu Hause ohne Dich gar kein Mittagessen.«

Sie dankte ihm für dieses kleine Kompliment durch einen freundlichen Blick. Doch wurde ihre Freude über die Liebenswürdigkeit ihres Gatten durch die Aussicht auf die Rückkehr des Doktors verbittert.

»Er wird wohl noch oft bei uns essen?« fragte sie gerade heraus.

»Ich hoffe nicht.«

Vielleicht war er sich bewusst, dass er eine etwas zu bestimmte und bejahende Antwort gegeben hatte, denn er suchte wenigstens das Gespräch auf einen ihm angenehmeren Gegenstand zu bringen.

»Liebe Iris, Du hast den Wunsch ausgesprochen, mir meine Sorgen zu erleichtern«, sagte er; »Du kannst mir in der Tat beistehen. Ich habe einen Brief zu schreiben, Iris, der sowohl für Dein als auch für mein Interesse von großer Wichtigkeit ist. Er muss noch mit der heutigen Post nach Irland abgehen. Du sollst ihn jedoch vorher lesen und mir dann sagen, ob Du mein Vorgehen billigst. Sorge dafür, dass ich nicht gestört werde, denn dieser Brief, kann ich Dir sagen, wird schwere Anforderungen an mein armes Gehirn stellen. Ich muss mein Zimmer aufsuchen, um ihn dort zu schreiben.«

Als Iris mit ihren Gedanken, die in der verschiedenartigsten Weise ihren Geist beschäftigten, allein gelassen war, wurde ihre Aufmerksamkeit bald von neuen Eindrücken in Anspruch genommen. Fanny Mere kam zurück, um ihr über ihre Erlebnisse in Paris Bericht zu erstatten.

Fanny hatte ihre Abfahrt von Passy so eingerichtet, dass sie vor Lord Harry und Mr. Vimpany in Paris ankam und dort auf deren Ankunft mit einem späteren Zuge wartete. Vom Bahnhof waren sie nach dem Zeitungsbureau gefahren, und das Mädchen war ihnen in einem andern Wagen gefolgt. Nachdem sich die beiden Herren getrennt hatten, begab sich der Doktor zu Fuß nach dem Luxembourg-Garten. Fanny, die ein einfaches schwarzes Kleid trug und durch einen dichten Schleier sich vor Erkennung geschützt hatte, ging ihm nach, hielt aber vorsichtigerweise immer einen genügenden Abstand inne, bald auf der einen Seite der Straße, bald auf der andern. Als Mylord wieder mit ihm zusammengetroffen war, behielt sie beide im Auge. Das war aber auch alles, was sie erreichen konnte, denn sie gingen in dem einsamsten und freiesten Teile des Gartens, den sie ausfindig machen konnten, in eifrigem Gespräche auf und ab. Nachdem sie sich ausgesprochen hatten, trennten sie sich wieder. Ihr Herr war der erste gewesen, der den Garten verließ und auf die Straße trat; er ging schnell davon und schien sich in aufgeregter und verzweifelter Stimmung zu befinden. Später erschien Mr. Vimpany; beide Hände in den Hosentaschen, schlenderte er ganz gemächlich einher und machte ein äußerst vergnügtes Gesicht, als ob ihn seine eigenen heimtückischen Gedanken höchlich amüsierten. Fanny war jetzt noch mehr als vorher darauf bedacht, ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Der Weg, den er einschlug, führte sie nach dem berühmten Hospital, welches den Namen »Hotel Dieu« führt.

Sie sah, wie er am Eingange einen Brief aus der Tasche zog und denselben dem Portier übergab. Bald darauf erschien ein Mann, der ihn höflich begrüßte und in das Haus führte. Länger als eine Stunde wartete Fanny, um den Doktor wieder heraustreten zu sehen; aber sie wartete vergeblich. Was konnte er wohl in einem französischen Hospital zu tun haben? Und warum blieb er so lange in dieser Anstalt? Da Fanny dieses Geheimnis zu ihrem großen Verdrusse nicht enträtseln konnte und außerdem von dem vielen Umherwandern sehr ermüdet war, hielt sie es für das Beste, wieder nach Hause zurückzukehren, um ihrer Herrin Bericht zu erstatten und mit ihr das weitere zu überlegen.

Aber selbst, wenn Iris imstande gewesen wäre, ihr eine Aufklärung zu geben, hätte jetzt dazu die Zeit und die Gelegenheit gefehlt, denn Lord Harry betrat das Zimmer und hielt den Brief, den er soeben geschrieben, in der Hand. Selbstverständlich musste Fanny das Zimmer verlassen.

Neunundvierzigstes Kapitel

Der irische Lord hatte einige erklärende Worte vorauszuschicken, bevor er seiner Frau den Brief zu lesen gab.

Auf dem Zeitungsbureau hatte eine Versammlung der Besitzer des neuen Blattes stattgefunden, um die Bedingungen für eine neue Subskription festzustellen, welche sich infolge unvorhergesehener, aber im Interesse des Unternehmens nicht zu umgehender Ausgaben durchaus notwendig machte. Der Beschluss, der nach sorgfältiger Beratung gefasst wurde, stellte eine Forderung an die Geldbeutel der Eigentümer, welche in einschneidendster Weise die Summe verminderte, welche Lord Harry noch besaß. Gänzlicher Ruin starrte ihm ins Gesicht, wenn er nicht die nötigen Mittel beschaffen konnte, um den pekuniären Erfolg des Unternehmens ruhig abzuwarten; darüber konnten aber nach den verschiedenen Schätzungen noch sechs, vielleicht sogar noch zwölf Monate ins Land gehen.

»Unsere Lage ist verzweifelt genug«, sagte er, »um nach einem verzweifelten Hilfsmittel zu greifen. Erschrick nicht, Iris - ich habe an meinen Bruder geschrieben.«

Iris blickte ihn mit unverhohlenem Missmut an.

»Du hast mir doch erzählt«, sagte sie, »dass Du früher einmal an Deinen Bruder geschrieben hättest und dass er Dir in der schonungslosesten Weise durch seinen Advokaten hätte antworten lassen.«

»Ganz recht, liebe Iris. Aber diesmal spricht ein Umstand zu unseren Gunsten - mein Bruder steht im Begriff, sich zu verheiraten. Die junge Dame soll eine reiche Erbin sein und einen außerordentlich liebenswürdigen Charakter besitzen; wer mit ihr verkehrt, bewundert und verehrt sie. So eine glückliche Aussicht muss doch gewiss selbst das härteste Gemüt erweichen. Lies, was ich geschrieben habe, und sage mir dann, was Du davon denkst.«

Die Meinung der geliebten Frau ermutigte den verzweifelten Ehemann: der Brief wurde noch an demselben Tag mit der Post abgeschickt.

Wenn geräuschvolle Heiterkeit einen Mann bei Tisch angenehm machen kann, dann spielte in der Tat Mr. Vimpany nach seiner Rückkehr in die Villa die Rolle eines gern gesehenen Gastes. Er war unerschöpflich in galanten Aufmerksamkeiten gegen die Frau seines Freundes; er erzählte in der unterhaltendsten Weise die lustigsten Geschichten; er trank vergnügt den ausgezeichneten weißen Burgunder seines Wirtes und pries mit großer Sachkenntnis die wohlschmeckenden französischen Gerichte; er sprach mit Lord Harry über Politik, Sport und - was besonders merkwürdig in unseren Tagen - über Literatur. Der mit anderen Gedanken beschäftigte irische Edelmann war für alle drei Gegenstände in gleicher Weise unzugänglich. Als das Dessert auf den Tisch getragen wurde, brachte Mr. Vimpany, immer noch eifrig bemüht, sich Lady Harry so angenehm wie möglich zu machen, das Gespräch auf die Pflanzenzucht. Im Interesse des hübschen kleinen Gartens der Lady befürwortete er einen vollständigen Wechsel in dem System der Pflege und stützte sich dabei auf ein unlängst erschienenes und Iris wohlbekanntes Buch über Gartenbau und Blumenpflege in so widersinniger Weise, dass Iris in dem Eifer, ihn zu widerlegen, vom Tisch wegeilte, um das Buch zu holen. In demselben Augenblick, wo es ihm endlich gelungen war, sie aus dem Zimmer zu entfernen, wendete sich der Doktor an Lord Harry. Sein Wesen und seine Miene veränderten sich plötzlich und nahmen einen gebieterischen Ausdruck an.

»Nun, was haben Sie getan«, fragte er, »seitdem wir unser Gespräch in dem Luxembourg-Garten beendigt haben? Haben Sie sich Ihren leeren Geldbeutel betrachtet und sind Sie nun vernünftig genug geworden, meinen Vorschlag, wie er wieder gefüllt werden kann, anzunehmen?«

»So lange mir noch die leiseste Hoffnung bleibt«, antwortete Lord Harry, »werde ich zu jedem andern Mittel greifen, meine Kasse zu füllen, nur nicht zu dem Ihrigen.«

»Soll das heißen, dass Sie ein solches anderes Mittel gefunden haben?«

»Tun Sie mir den Gefallen, Vimpany, alle Fragen bis ans Ende der Woche aufzusparen.«

»Und dann soll ich die Antwort bekommen?«

»Ganz gewiss, ich verspreche es! - Still!«

Iris kam mit dem Buch in das Speisezimmer zurück, und der höfliche Mr. Vimpany gestand in der bereitwilligsten Weise zu, dass er sich geirrt habe.

Die noch übrigen Tage der Woche schlichen langsam dahin. Während dieser Zeit bewahrte Lord Harrys Freund sorgfältig die Haltung eines musterhaften Gastes - er verursachte so wenig Störung wie nur möglich. Jeden Morgen nach dem Frühstück fuhr der Doktor mit der Bahn nach Paris; jeden Morgen mit der gleichen Regelmäßigkeit folgte ihm die entschlossene Fanny Mere. Auf seinen Gängen durch die verschiedensten Stadtteile der französischen Hauptstadt blieb er jedes Mal vor einem öffentlichen Gebäude stehen, zog jedes Mal einen Brief aus der Tasche und wurde infolge dessen jedes Mal gebeten, einzutreten. Die Erkundigungen, welche Fanny mit bewunderungswürdiger Geduld immer wieder einzog, führten jedes Mal zu dem gleichen Ergebnis. Die verschiedenen öffentlichen Gebäude, die Mr. Vimpany betrat, waren alle demselben wohltätigen Zweck gewidmet. Wie das Hotel Dieu waren sie alle Hospitäler. Der Grund aber, weswegen sie der Doktor besuchte, blieb nach wie vor ein tiefes Geheimnis.

Am letzten Tag der Woche traf morgens in aller Frühe die Antwort von Lord Harrys Bruder ein. Als Iris es erfuhr, eilte sie sofort in das Zimmer ihres Gatten. Sie fand den Brief, schon in Stücke zerrissen, auf dem Boden liegend. Wie der Ton in dem Brief des herzlosen Earls das erstemal gewesen war, so war er auch jetzt wieder.

Iris schlang ihre Arme um den Hals ihres Gatten.

»O mein armer Liebling, was soll nun geschehen?«

Er antwortete mit dem einen trostlosen Wort:

»Nichts!«

»Gibt es denn niemand, der uns helfen kann?« fragte sie.

»O ja, es ist vielleicht noch eine Person da, die es könnte.«

»Wer ist es?«

»Wer sollte es anders sein als Du selbst, liebes Herz?«

Sie sah ihn mit unverhohlenem Erstaunen an.

»Sage mir nur, Harry, was ich tun kann.«

»Schreibe an Mountjoy und bitte ihn, mir das Geld zu leihen.«

Er sprach es aus. Mit diesen schamlosen Worten sprach er es aus. Sie, die Mountjoy dem Mann geopfert, den sie geheiratet hatte, sie wurde jetzt von diesem Mann aufgefordert, Mountjoys Liebe zu ihr zur Zahlung der Schulden ihres Gatten zu missbrauchen! Mit einem Schrei der Entrüstung wendete sich Iris von ihm weg.

»Schlägst Du mir es ab?« fragte er.

»Willst Du mich beleidigen, indem Du daran zweifelst?« antwortete sie.

Wütend riss er an der Glocke und stürzte aus dem Zimmer. Iris hörte, wie er auf der Treppe fragte, wo Mr. Vimpany sei. Der Diener erwiderte:

»In dem Garten, Mylord!«

Seine Zigarre gemächlich rauchend, sah der Doktor seinen aufgeregten irischen Freund aus dem Hause hervorstürzen.

»Laufen Sie doch nicht so«, rief er ihm in seiner unverschämten guten Laune entgegen, »und verlieren Sie nicht gleich den Kopf. - Nun, wie steht's? Wollen Sie endlich meinen Vorschlag annehmen, um aus Ihren Verlegenheiten herauszukommen? - Ja oder nein?«

»Sie teuflischer Schurke - ja!«

»Mein bester Lord, ich gratuliere Ihnen.«

»Wozu?«

»Dass Sie ein ebenso großer Schurke sind wie ich!«

Fünfzigstes Kapitel

Lord Harrys unwürdiger Vorschlag hatte einen Zustand bewusster Entfremdung zwischen Mann und Frau geschaffen.

Iris schloss sich in ihrem Zimmer ab. Ihr Gatte verbrachte die Stunden jedes Tages außerhalb des Hauses, zuweilen in der Gesellschaft des Doktors, zuweilen mit seinen Freunden in Paris. Seine Frau litt schwer unter der selbst auferlegten Trennung, zu welcher sie verwundeter Stolz und lebhafte Entrüstung veranlasst hatten. Kein Freund war in ihrer Nähe, zu dessen teilnahmsvollem Rat sie hätte Zuflucht nehmen können. Selbst ihr Mädchen brachte der einsamen Frau kein Mitgefühl entgegen.

Fanny Mere, die einzig und allein die Wohlfahrt ihrer Herrin im Auge hatte, lebte der festen Überzeugung, dass es für Lady Harry besser und heilsamer sei, wenn sie und ihr Gatte in Zukunft getrennt leben würden. Je länger Mylord darauf bestand, den Doktor als Gast in seinem Hause zu behalten, um so gefahrbringender wurde für ihn die Gesellschaft dieses gewissenlosen Schurken, der fähig war, jeden zu verderben, der ihm etwa hinderlich im Wege stand, mochte es nun Mann oder Frau, eine hochgestellte oder eine gewöhnliche Person sein. Soweit ein Mädchen in ihrer Lage sich die Freiheit nehmen durfte, tat Fanny ihr Möglichstes, um die Kluft zwischen ihrer Herrin und ihrem Gatten zu erweitern.

Kräftigere Truppen als sie führte mittlerweile der Doktor ins Gefecht.

»Ihre reizende Frau«, erklärte er, »hat einen ganz unversöhnlichen Charakter. Ziehen Sie daraus auf kluge Weise Nutzen; sagen Sie, Sie würden keine lästigen Einwendungen dagegen erheben, wenn Ihre Frau eine Trennung auf gegenseitiges stillschweigendes Übereinkommen wünsche. Verstehen Sie mich aber jetzt nicht falsch. Ich empfehle Ihnen nur die Art der Trennung, welche unserem Übereinkommen günstig ist. Sie wissen so gut wie ich, dass Sie mit einem einzigen Pfiff Ihre Frau zurückrufen können -« Lord Harry unterbrach den Doktor rauh: »Das ist eine gemeine Ausdrucksweise!« »Nennen Sie es, wie es Ihnen beliebt«, entgegnete der Doktor ruhig. »Wenn wir Lady Harry zu unserem großen Plan nötig haben, dann müssen Sie sie zurückrufen können. Inzwischen - ich bin ein sehr vorsichtiger und aufmerksamer Mann, wo es sich um Frauen dreht - handeln wir Mylady gegenüber doch nur sehr zartfühlend, wenn wir ihr die Entdeckung des - der - nun, wie soll ich nur unser zukünftiges Unternehmen nennen? - sagen wir einfach unseres kühnen Schelmenstückchens, ersparen, das Sie in der Achtung Ihrer Frau ganz und gar ruinieren könnte. Sehen Sie jetzt unsere Lage, wie sie wirklich ist? - Schön! Nun geben Sie mir aber die Flasche; lassen wir das Thema für heute ruhen.«

Der nächste Morgen brachte ein Ereignis, das den genialen Plan des Doktors, Iris von dem Schauplatz der Handlung zu entfernen, zunichte machte. Lord und Lady Harry begegneten sich zufällig auf der Treppe.

Da sie sich selbst misstraute, wenn sie etwa wagen sollte, ihren Gatten anzusehen, wendete Iris die Augen von ihm weg. Lord Harry sah darin fälschlicherweise einen Ausdruck ihrer Verachtung. Zorn übermannte ihn und er beschloss, Mr. Vimpanys Rat sofort zu befolgen.

Er öffnete die Tür des Speisezimmers, das in diesem Augenblick gerade leer war, und sagte zu Iris, er wünsche mit ihr zu sprechen. Was ihm sein schurkischer Freund in Betreff der Trennung zu sagen geraten hatte, das wiederholte er jetzt mit einer abstoßenden Kälte, die weit davon entfernt war, der Ausdruck seiner wirklichen Gefühle zu sein. Das Vorgehen war schlecht, aber es erreichte seine Wirkung. Zum ersten Male richtete seine Frau wieder das Wort an ihn.

»Ist das Deine wirkliche Meinung?« fragte sie.

Der Ton, in welchem sie diese Worte sprach, verriet in ergreifender Weise ihr schmerzliches Erstaunen; die süße Erinnerung an vergangene glückliche Tage in ihren Augen, die zitternde Angst, die sich in ihren halbgeöffneten, nach Atem ringenden Lippen kennzeichnete, rührte sein Herz, obgleich falscher und hässlicher Stolz dieses schöne Gefühl unterdrücken wollte. Er blieb still.

»Wenn Du unseres ehelichen Lebens müde bist«, fuhr sie fort, »so sage es, und lass uns voneinander gehen. Ich werde von Dir scheiden ohne Bitten und ohne Vorwürfe. Welchen Schmerz ich auch empfinde, Du sollst es nicht bemerken.«

Ein flüchtiges Rot färbte vorübergehend ihre Wangen, dann wurden sie wieder so blass wie vorher. Sie zitterte unter dem Bewusstsein der wiederkehrenden Liebe - der blinden Liebe, die sie auf so grausame Weise irregeführt hatte. In dem Augenblick, wo sie gerade Festigkeit so nötig hatte, sank ihr der Mut. Aber sie kämpfte tapfer gegen ihre Schwäche und fand sich auch wieder. Ruhig und sogar fest forderte sie von ihrem Gatten Erklärung.

»Soll Dein Schweigen bedeuten, dass es wirklich Dein Wunsch ist, ich soll Dich verlassen?« fragte Iris.

Kein Mann, der sie so zärtlich geliebt hatte wie ihr Gatte, konnte dieser rührenden Selbstbeherrschung widerstehen. Er antwortete seiner Frau, ohne ein Wort laut werden zu lassen - er streckte ihr beide Arme entgegen. Die verhängnisvolle Versöhnung wurde stillschweigend geschlossen.

Beim Mittagessen erwartete Mr. Vimpany ein überraschender Anblick; seine Lippen verzogen sich zu einem unverschämten, höhnischen Lächeln. Mylady erschien wieder auf ihrem Platz an der Mittagstafel. Zur gewöhnlichen Zeit ließ später Iris die beiden Herren beim Wein allein. Der leichtsinnige, sorglose irische Lord, erfreut über die Wiederversöhnung mit seiner Gattin, leerte in der heitersten Stimmung sein Glas. Des Doktors mephistophelische Heiterkeit, der seinen Freund verstand, zugleich aber auch verachtete, erging sich darauf in allerlei witzigen Erinnerungen an sein eigenes eheliches Leben.

»Wenn ich für jeden Streit zwischen Mrs. Vimpany und mir«, sagte er, »einen Sovereign hätte fordern können, so würde ich mich jetzt entschieden zu niedrig taxieren, wenn ich meinen Wert auf tausend Pfund angeben würde. Wie steht es denn mit Eurer Lordschaft in dieser Beziehung? Könnten wir ein Dutzend Streite in Ihrer Ehe bis jetzt annehmen?«

»Sagen Sie zwei Zwiste; es werden keine weiteren folgen!« antwortete sein Freund heiter.

»Keine weiteren folgen?« wiederholte der Doktor. »Meine Erfahrung sagt, dass noch genug kommen werden. Ich habe noch niemals in meinem ganzen Leben zwei Menschen gesehen, welche weniger darnach angetan sind, ein friedliches Eheleben zusammen zu führen, wie Sie und Mylady. Ha, ha, Sie lachen darüber? Es ist meine Gewohnheit, meine einmal geäußerte Meinung aufrecht zu erhalten. Ich wette ein Dutzend Flaschen Champagner, dass zwischen Ihnen und Ihrer Frau, bevor noch dieses Jahr vergangen ist, ein Streit ausbrechen wird, welcher Sie beide für immer trennt. Nehmen Sie die Wette an?«

»Angenommen!« rief Lord Harry. »Leeren wir ein volles Glas auf das Wohl meiner Frau, Vimpany! Sie soll das erste Glas von Ihrem Champagner auf das Verderben aller falschen Propheten trinken!«

Die Post brachte am nächsten Morgen zwei Briefe, von denen einer den Poststempel London trug und an Lady Harry Norland adressiert war. Er kam von Mrs. Vimpany und enthielt auch einige Zeilen, welche Hugh beigefügt hatte.

»Meine Kräfte kehren jetzt langsam zurück«, schrieb er. »Meine liebenswürdige und treue Pflegerin sagt, dass alle Gefahr der Ansteckung vorüber sei. Sie können nun wieder an Ihren alten Freund schreiben, wenn Lord Harry nichts dagegen hat, so harmlos wie in der glücklichen Vergangenheit. Meine schwache Hand fängt schon wieder an zu zittern. Wie glücklich ich sein werde, von Ihnen zu hören, brauche ich gar nicht ausdrücklich zu bemerken.«

In ihrer Freude über den Empfang dieser guten Nachrichten nahm Iris ohne weiteres an, ihr Gatte würde sie seinerseits ebenso freudig begrüßen. Sie bestand daher darauf, ihm den Brief vorzulesen. Kalt antwortete Lord Harry: » Es freut mich sehr, dass es Mr. Mountjoy wieder gut geht«, und vertiefte sich von neuem in seine Zeitung. War die unwürdige Eifersucht noch mächtig genug, ihn selbst in diesem Augenblick zu beherrschen? Seine Frau hatte sie vergessen, warum hatte er sie nicht auch vergessen?

Am nämlichen Tag beantwortete Iris Hughs Schreiben mit demselben Vertrauen und derselben Aufrichtigkeit wie in den vergangenen Tagen vor ihrer Heirat. Nachdem sie das Couvert geschlossen und adressiert hatte, fand sie, dass ihr kleiner Vorrat von Briefmarken erschöpft sei, und rief nach ihrem Mädchen. Mr. Vimpany ging gerade an der geöffneten Tür des Zimmers vorüber, als sie eine Briefmarke verlangte; er hörte, wie Fanny sagte, dass sie ihrer Herrin nicht aushelfen könnte.

»Erlauben Sie, mich nützlich zu machen«, sagte der höfliche Doktor, entnahm seinem Notizbuch eine Briefmarke und klebte sie selbst auf das Couvert Nachdem er darauf die Treppe hinuntergegangen war, konnte es Fanny nicht unterlassen, ihrem Misstrauen gegen den Doktor wieder Ausdruck zu geben.

»Er wollte nur wissen, an wen Sie geschrieben haben«, sagte sie. »Ich werde Ihren Brief selbst auf die Post tragen, damit er auch sicher fortkommt«, und fünf Minuten später lag er im Briefkasten.

Inzwischen war Mr. Vimpany in den Garten gegangen und hatte den zweiten der Briefe gelesen, welche heute morgen gekommen waren. Der Brief war an ihn adressiert.

Als Fanny von dem Postamt zurückgekommen war, hatte sie Gelegenheit, ihn zu beobachten, während sie sich in dem Gewächshaus zu schaffen machte. Sie wollte die vertrockneten Blumen begießen, welche während der letzten unruhigen Tage in der Villa sehr vernachlässigt worden waren.

Nachdem der Doktor seinen Brief zum zweiten Male durchgelesen hatte, bemerkte er Fanny, schickte sie in das Haus und ließ Lord Harry um eine Unterredung bitten. Lord Harry kam in den Garten herunter, sah sich den Brief an, gab ihn wieder zurück und wendete sich ab. Der Doktor folgte ihm und sagte etwas, worauf Lord Harry zu widersprechen schien. Nichtsdestoweniger fuhr Mr. Vimpany zu sprechen fort und erreichte auch augenscheinlich seinen Zweck. Die beiden Herren studierten darauf eifrig den Eisenbahnfahrplan und eilten dann zusammen weg, um noch zur rechten Zeit den Zug nach Paris zu erreichen.

Fanny Mere kehrte in das Gewächshaus zurück und nahm ihre Beschäftigung bei den Pflanzen zerstreut wieder auf. Zu welchem gefährlichen Zweck hatte der Doktor das Haus verlassen, und warum hatte er diesmal den Lord mitgenommen?

Die Zeit war vorüber, wo Fanny es versuchen konnte, diese Frage dadurch zu beantworten, dass sie kühn den beiden Herren nach Paris folgte und dank ihrem dichten Schleier und ihrem Glück und dadurch, dass sie einen andern Wagen des Zuges wählte, einer Entdeckung entging. Obgleich ihre falsch beurteilte Einmischung in die häuslichen Angelegenheiten der Lady Harry ihr verziehen worden, hatte sie ihre Herrin doch nicht wieder rückhaltlos in ihr Vertrauen aufgenommen. Lady Harry hatte ihr zur Bedingung gemacht, dass sie sich jeder weiteren Meinungsäußerung über ihren Gatten enthalte und die Beschützung ihrer Herrin, wenn eine solche überhaupt notwendig war, demjenigen überlasse, dem sie allein zustand: Lord Harry.

»Ich erkenne dankbar Ihre freundlichen Absichten an«, hatte Iris mit ihrer gewohnten zarten Rücksichtnahme auf die Gefühle anderer gesagt, »aber ich wünsche von Ihnen niemals wieder über Mr. Vimpany zu hören und ebensowenig über den eigentümlichen Argwohn, der Sie zu beunruhigen scheint.«

Fanny blieb nichtsdestoweniger ihrer Herrin in der dankbarsten Weise ergeben; sie sah diesen Wechsel in dem Verhalten Myladys als eine der bedauernswürdigen Folgen ihrer Wiederversöhnung mit Lord Harry an und wartete ergeben auf die Zeit, die ihr kluges Misstrauen gegen die beiden in der Wahl ihrer Mittel nicht sehr bedenklichen Herren rechtfertigen würde.

Auf diese Weise für jetzt zur Untätigleit verdammt, ging Lady Harrys Kammermädchen in dem Gewächshaus gereizt auf und ab und vergaß auch ihrerseits die Blumen. Durch die offene Tür an der Rückseite der Villa ließ die billige Uhr ihre rauhe, dünne Stimme ertönen, indem sie die Stunde anzeigte. »Ich möchte doch wissen«, sagte Fanny zu sich selbst, »ob diese beiden Elenden wieder den Weg in irgendein Hospital eingeschlagen haben.«

Zufälligerweise traf ihre Vermutung das Richtige. Die Beiden traten um dieselbe Zeit wirklich in ein Hospital, das dem Doktor durch mehr als einen früheren Besuch wohlbekannt war. An der Türe trafen sie mit einem französischen Arzt zusammen, der an der Anstalt angestellt war. Es war derselbe, welcher den Brief geschrieben hatte, den Mr. Vimpany heute morgen empfing.

Der Herr ging voraus und zeigte ihnen den Weg. Er führte die beiden Fremden in den Kreis der französischen Berühmtheiten, welche gerade bei einem interessanten Fall versammelt waren.

Mr. Vimpany hatte sich in der befriedigendsten Weise eingeführt. Er war ein Mitglied der Ge-nossenschaft der englischen Ärzte; er war zugleich der Freund und Kollege des berühmten Vorsitzenden dieser Genossenschaft, welcher ihn an den leitenden Oberarzt des Hotel Dieu empfohlen hatte. Andere Empfehlungen an hervorragende Pariser Ärzte waren aus der einen hervorgegangen. Auf diese Vorteile gestützt, erklärte Mr. Vimpany, dass er die Entdeckung einer neuen Vehandlungsweise von Lungenkranken gemacht habe. Da er in Paris seine ärztliche Bildung genossen, so fühle er sich auch in dankbarster Anerkennung veranlasst, sich unter die Protektion der Fürsten der Wissenschaft zu stellen, welche in der glänzenden Hauptstadt Frankreichs wohnten. In diesem Hospitale habe er endlich nach vielen fruchtlosen Nachforschungen in ähnlichen Anstalten einen Patienten gefunden, der an der Form von Lungenschwindsucht darniederliege, die ihm den Fall gewähre, den er brauche. Es wäre unmöglich, dass er seinem neuen System gerecht werden könnte, wenn nicht die Umstände ganz ausnahmsweise günstig wären. Reine Luft, die besser sei als gewöhnlich die Luft einer großen Stadt, und die Annehmlichkeit eines Zimmers, das nicht von anderen Kranken geteilt würde, seien zwei für den Erfolg des Versuches ganz unerlässliche Bedingungen. Diese und andere Vorteile seien ihm nun durch seinen edlen Freund in hochherziger Weise zur Verfügung gestellt worden. Lord Harry Norland sei bereit, jede nähere Erklärung abzugeben, welche die gerade anwesenden Berühmtheiten zu fordern für nötig hielten. - Nach diesen einleitenden Erörterungen, die volle Billigung fanden, traten alle zusammen an das Bett des Kranken, der der Gegenstand des wissenschaftlichen Interesses des englischen Arztes war.

Der Patient hieß Oxbye. Von Geburt ein Däne, begleitete er in seiner Heimat die Stellung eines Lehrers. Seine Kenntnis der englischen und französischen Sprache hatte ihm die Möglichkeit gewährt, nach Paris zu gehen, wo er Beschäftigung als Übersetzer und Abschreiber fand. Während er sich auf diese Weise seinen kärglichen Lebensunterhalt verdiente, hatte ihn ein Lungenleiden auf das Krankenlager geworfen, welches ihn zwang, seine Zuflucht zu dem Hospital zu nehmen. Nachdem der französische Arzt, unter dessen Behandlung der Kranke sich befand, erklärt hatte, er habe seine bisherigen Beobachtungen in einem Schreiben an den englischen Kollegen niedergelegt, und nachdem er noch offen eingestanden, dass seine Behandlungsweise nicht die erwarteten Erfolge gehabt habe, wurde dem Dänen mitgeteilt, was Mr. Vimpany mit ihm beabsichtige, und die Frage an ihn gerichtet, ob er hier bleiben oder das Anerbieten von Mr. Vimpanys wohltätigem Freund annehmen wolle.

Die glückliche Aussicht auf eine Veränderung und auf ein eigenes Zimmer, welche ihm die Aufnahme in das Haus des vornehmen Mannes gewährte, das überdies auch einen Garten hatte, in dem er spazieren gehen und sein Auge an dem Anblick der Blumen erfreuen konnte, sobald es ihm wieder besser ging, bestimmten Oxbye, das hochherzige Anerbieten sofort anzunehmen.

»Bitte, lassen Sie mich dorthin«, sagte der arme Mensch, »es wird dann sicherlich besser mit mir werden.« Ohne sich seinem Entschluss zu widersetzen, erinnerten ihn die verantwortlichen Direktoren des Hospitals doch daran, dass er im Drang des Augenblicks seine Entscheidung getroffen habe; sie hielten es daher für ihre Pflicht, ihm noch einige Zeit zur genaueren Überlegung zu geben.

In der Zwischenzeit hatten einige der Herren, welche an dem Bett standen, indem sie bald den Kranken, bald den philanthropischen Lord ansahen, eine gewisse zufällige Ähnlichkeit zwischen dem Kranken und Lord Harry entdeckt. Die Forderung der Höflichkeit hatte ihnen jedoch nur gestattet, diese merkwürdige Ähnlichkeit unter sich selbst zu besprechen. Später indessen, als die Herren sich verabschiedet hatten und Mr. Vimpany mit Lord Harry sich allein auf der Straße befand, trug der Doktor kein Bedenken, auf den Gegenstand einzugehen, den die Franzosen aus angeborener Höflichkeit nicht berührt hatten.

»Haben Sie sich den Dänen angesehen?« fragte er ganz unvermittelt.

»Natürlich.«

»Und haben Sie die Ähnlichkeit bemerkt?«

»Nein.«

Das laute Gelächter des Doktors machte die Leute, welche auf der Straße neben ihnen gingen, stutzig.

»Das ist wieder ein neuer Beweis für die Richtigkeit des Ausspruches: Kein Mensch kennt sich selbst. Sie können unmöglicherweise diese Ähnlichkeit leugnen.«

»Haben Sie sie denn bemerkt?« fragte Lord Harry.

Mr. Vimpany antwortete auf diese Frage in höhnischem Ton:

»Ist es denn wahrscheinlich, dass ich mich all dieser Mühe unterzogen hätte, um in den Besitz dieses Mannes zu kommen, wenn ich nicht die auffallende Ähnlichkeit zwischen Ihrem und seinem Gesicht gesehen hätte?«

Der irische Lord sagte nichts weiter.

Als ihn sein Freund fragte, warum er denn so schweigsam sei, lautete die kurze und schroffe Antwort:

»Mir behagt das Thema nicht.«

Einundfünfzigstes Kapitel

Am Abend desselben Tages fand Fanny Mere, als sie mit dem Kaffee das Speisezimmer betrat, Lord Harry und Mr. Vimpany allein und entdeckte sofort, als sie die Tür öffnete, dass sie die Sprache, in der sie sich bis jetzt unterhalten hatten, plötzlich wechselten; sie redeten auf einmal französisch miteinander. Fanny verlängerte daher ihren Aufenthalt in dem Zimmer, anscheinend, um die verschiedenen Gegenstände auf dem Büffet in Ordnung zu bringen. Ihr Herr sprach gerade während dieser Zeit; er fragte, ob der Doktor so glücklich gewesen sei, ein Schlafzimmer in der Nachbarschaft für sich zu finden. Mr. Vimpany antwortete darauf, dass es ihm gelungen sei; er habe ferner auch sich mit noch etwas anderem versehen, was er notwendig in Bereitschaft halten müsse, »das heißt«, fuhr er in seinem schlechten Französisch fort, »ich habe einen photographischen Apparat gemietet. Wir sind jetzt genügend vorbereitet, um unseren interessanten dänischen Gast empfangen zu können.«

»Und wenn nun der Mann kommt, was soll ich dann meiner Frau sagen? Woher soll ich eine Entschuldigung nehmen, wenn sie hört, dass ein Kranker aus dem Hospital ihr Schlafzimmer mit meiner Einwilligung in Besitz genommen hat und dass Sie ihn behandeln wollen?«

Der Doktor schlürfte ruhig seinen Kaffee.

»Wir haben den Berühmtheiten eine Geschichte erzählt, und sie haben sich damit zufrieden gegeben«, antwortete er kalt. »Wiederholen Sie dieselbe Geschichte Ihrer Frau.«

»Sie wird sie nicht glauben«, entgegnete Lord Harry.

Mr. Vimpany wartete, bis er sich eine neue Zigarre angebrannt und sich zu seiner Befriedigung überzeugt hatte, dass sie es wert war, geraucht zu werden.

»Sie haben sich selbst dieses Hindernis zu verdanken«, sagte er dann. »Wenn Sie meinem Rat gefolgt wären, würde Ihre Frau jetzt nicht im Wege stehen. Ich sehe schon, ich muss die Sache auf mich nehmen. Wenn es Ihnen misslingt, dann überlassen Sie Mylady nur mir. Wir brauchen aber eine Pflegerin für unsern armen, lieben Kranken; wo sollen wir eine finden?«

Dieser Schwierigkeit Ausdruck gebend, trank er seinen Kaffee aus und sah sich nach der Cognacflasche um, die sonst immer auf dem Tische stand. Dabei bemerkte er zufällig Fanny. Überzeugt, dass ihrer Herrin Gefahr drohte nach dem, was sie soeben gehört hatte, war sie von Furcht und Verwirrung so eingenommen, dass sie vergaß, ihre Rolle zu spielen. Anstatt sich wie bisher an dem Büffet zu schaffen zu machen, kehrte sie demselben den Rücken und hörte offenbar zu. Der schlaue Mr. Vimpany gab, nachdem er sich in den Besitz des Cognacs gesetzt hatte, einen einfachen Wunsch zu erkennen, um sie für einen Augen¬blick zu entfernen.

»Etwas frisches Wasser, wenn ich bitten darf!« war alles, was er sagte. Sobald Fanny das Zimmer verlassen, wandte er sich in englischer Sprache an seinen Freund, während er die Tür im Auge behielt:

»Eine recht angenehme Neuigkeit für Sie, mein Freund - wir sind in eine hübsche Falle geraten - Lady Harrys Kammermädchen versteht französisch.«

»Ganz unmöglich!« erklärte Lord Harry.

»Wir wollen sie auf die Probe stellen«, antwortete Mr. Vimpany. »Geben Sie genau acht, wenn sie wieder hereinkommt.«

»Was haben Sie vor?«

»Ich werde sie mit einigen französischen Worten überrumpeln; achten Sie auf den Erfolg.«

Kurz darauf kehrte Fanny mit dem frischen Wasser in das Zimmer zurück. Als sie die Glaskaraffe vor Mr. Vimpany hinstellte, legte er plötzlich seine Hand auf ihren Arm, sah ihr gerade ins Gesicht und sagte:

»Vous nous avez mis dedans, drôlesse, vous entendez le francais.«

Ein Blick, gemischt aus Zorn und Angst, den sie vergeblich zurückzuhalten suchte, schrieb das offene Geständnis auf Fannys Gesicht. Sie war entlarvt und hatte hören müssen, dass man sie »drôlesse« nannte; so stand sie vor den beiden Herren, ihr eigenes Benehmen hatte sie schuldig gesprochen. Lord Harry drohte ihr erzürnt mit sofortiger Entlassung aus seinem Dienst. Der Doktor aber trat dazwischen.

»Nein, nein«, sagte er, »Sie dürfen Mylady nicht so ohne weiteres ihres Kammermädchens berauben - so eines klugen und geschickten Mädchens«, fügte er mit boshaftem Lächeln hinzu. »Fanny ist eine gebildete Person, die französisch versteht und zu bescheiden ist, es einzugestehen.«

Der Doktor hatte Fanny manch ermüdenden und manch erfolglosen Weg geführt, als sie ihm auf seinen geheimnisvollen Wegen nachgeschlichen war; er hatte ihr jetzt mit voller Überlegung eine Beleidigung zugefügt, als er sie »drôlesse« nannte, und er setzte nun seiner Beleidigung die Krone auf, indem er verächtlich von ihrer Bescheidenheit und ihrer Kenntnis der französischen Sprache redete. In die Enge getrieben, versuchte jetzt Fanny den geheimen Plan, dessen Seele Mr. Vimpany war, zu entdecken durch ein Vorgehen, verwegen genug, um des Doktors würdig zu sein.

»Meine Kenntnis der französischen Sprache hat mir allerdings etwas verraten«, begann sie. »Ich habe gehört, Mr. Vimpany, dass Sie eine Pflegerin für Ihren Kranken brauchen. Wollen Sie, wenn es Mylord erlaubt, einen Versuch mit mir machen?«

Diese Kühnheit Fannys war doch mehr, als ihres Herrn Geduld ertragen konnte. Er befahl ihr, sofort das Zimmer zu verlassen.

Der friedfertige Doktor trat wieder dazwischen.

»Mein lieber Lord«, sagte er, »ich bitte Sie, nicht zu hart gegen das junge Mädchen zu sein.« Dann wandte er sich wieder an Fanny und machte den Versuch, wohlwollend auszusehen, was aber nur das boshafte Lächeln auf seinem Gesicht wieder erscheinen ließ. »Ich danke Ihnen, meine Liebe, für Ihr Anerbieten«, sagte er freundlich. »Ich werde Sie morgen wissen lassen, ob wir es annehmen.«

Fannys erzürnter Herr, der nicht vergessen konnte, dass sie ihn getäuscht, zeigte nach der Tür. Sie dankte Mr. Vimpany und ging hinaus.

Lord Harry sah seinen Freund mit ärgerlichem Erstaunen an.

»Sind Sie denn toll?« fragte er.

»Sagen Sie mir erst das eine«, entgegnete der Doktor, »fließt in den Adern Ihrer Familie auch englisches Blut?«

Lord Harry antwortete mit einem Ausdruck seines patriotischen Gefühls:

»Leider muss ich sagen, dass meine Familie auf diese Weise verdorben worden ist, denn meine Großmutter war eine Engländerin.«

Mr. Vimpany nahm diesen Auszug aus dem Familienregister des Lords mit der ihm eigenen Ruhe auf.

»Es gewährt mir eine wahrhafte Erleichterung, dies zu hören«, sagte er, »Sie werden dann vielleicht doch etwas von dem gesunden englischen Verstand durch Ihre Großmutter geerbt haben. Ich will wenigstens versuchen, ob es der Fall ist. Dieses Mädchen ist viel zu verwegen und viel zu klug, um wie ein gewöhnlicher Dienstbote behandelt zu werden. Ich bin sehr geneigt, anzunehmen, dass sie Ihrer Frau als Spionin dient. Ob ich nun recht habe, oder ob ich mich darin irre, das können wir, so viel ich sehe, nur auf eine Weise herausbringen: wir müssen sie zur Pflegerin des Dänen machen. Halten Sie mich jetzt immer noch für verrückt?«

»Für verrückter denn je.«

»Nun, dann haben Sie eben nichts von dem gesunden englischen Verstand Ihrer Großmutter geerbt. Jetzt hören Sie mir einmal zu. Laufen wir denn die geringste Gefahr, wenn Fanny in ihrem Interesse es für nötig hält, uns zu verraten? Wir wollen uns doch einmal fragen, was sie denn eigentlich herausbekommen haben kann. Sie weiß, wir wollen einen kranken Mann aus dem Hospital hieher bringen. Weiß sie aber, wozu wir ihn brauchen? - Nein, das weiß sie nicht. Weder Sie noch ich haben darüber ein Wort verlauten lassen. Sie hat dann ferner gehört, wie wir beide darin übereinstimmten, dass Ihre Frau uns im Wege ist. Was tut das? Hat sie uns denn sagen hören, warum wir nicht wünschen, dass Ihre Frau unsern Plan entdeckt? - Nein, das hat sie auch nicht. Nun also! Wenn Fanny dann Oxbyes Pflegerin ist, so wird sie auch nicht seinen Tod verhindern und somit auch nicht das, was wir durch den Tod des Dänen gewinnen wollen. O, Sie brauchen nicht so entsetzt auszusehen; ich meine selbstverständlich seinen natürlichen Tod, den die Schwindsucht herbeiführen wird. Kein Verbrechen, mein lieber Freund, kein Verbrechen!«

Der irische Lord, welcher neben dem Doktor saß, rückte seinen Stuhl eilig weg.

»Wenn in meinen Adern englisches Blut fließt«, sagte er, »so will ich Ihnen etwas sagen, Vimpany: dann fließt in Ihren Adern teuflisches.«

»Alles, was Sie wünschen, nur kein irisches Blut«, entgegnete der kaltblütige Schurke.

Als Mr. Vimpany diese freche Antwort gab, kam Fanny wieder herein mit einer genügenden Entschuldigung für ihr Wiedererscheinen. Sie meldete, dass ein Bote aus dem Hospital draußen sei, welcher den englischen Doktor zu sprechen wünsche.

Es war ein junger Mann, der in dem Sekretariat des Hospitals angestellt war. Oxbye beharrte auf seinem Entschluss und wünschte sehnlichst, in die Behandlung Mr. Vimpanys zu kommen. Die Ärzte wollten sich nur noch über eines vergewissern, und damit war der junge Mann beauftragt. Der ärztlichen Behandlung durch Mr. Vimpany konnten sie vollständiges Vertrauen schenken, aber sie wollten auch ihrer Verantwortlichkeit gegenüber sichergestellt sein, dass der Däne von einer zuverlässigen Wärterin gepflegt werde. Wenn Mr. Vimpany die Person, die er dazu bestimmt hätte, in dem Hospital vorstellen könnte, so würde er ihnen einen großen Gefallen erweisen. Sobald dann auch diese Angelegenheit zur vollständigen Zufriedenheit erledigt sei, könne Oxbye unverweilt in sein neues Quartier überführt werden.

Am nächsten Morgen begab sich in der Villa von Passy der erste in einer langen Reihe von Vorfällen, die kein prophetischer Geist hätte vorhersehen können. Mr. Vimpany und Fanny Mere verließen gemeinsam Passy und fuhren miteinander nach Paris.

Zweiundfünfzigstes Kapitel

Der Tag, an welchem der Doktor die neue Krankenpflegerin mit sich in das Hospital nahm, sollte Iris in traurigem Andenken bleiben.

Am Morgen hatte Fanny Mere sie um die Erlaubnis gebeten, ausgehen zu dürfen. Vor kurzem noch hatte Lady Harry ihr so oft dazu die Erlaubnis erteilt. Diesmal jedoch entschloss sie sich, da die früheren Ausgänge Fannys das gewünschte Ergebnis nicht gehabt hatten und weil sie auch nicht mehr mit ihrer Untergebenen gemeinsame Geheimnisse haben wollte, die Erlaubnis zu verweigern. Fanny versuchte keine Einwendungen und verließ schweigend das Zimmer.

Eine halbe Stunde später klingelte Iris nach ihrem Kammermädchen. Daraufhin erschien die Köchin und meldete als Entschuldigung für ihr Kommen, dass Fanny Mere ausgegangen sei. Iris war über diese unbekümmerte Missachtung ihres Befehls von seiten einer Person, welche ihr noch vor kurzem ihre dankbare Ergebenheit ausgedrückt hatte, mehr betrübt als erzürnt. Zur Köchin sagte sie nur:

»Schicken Sie Fanny sofort zu mir, wenn sie zurückkommt.«

Zwei Stunden vergingen, ehe dies der Fall war.

»Ich habe Ihnen die Erlaubnis nicht gegeben, heute morgen auszugehen, und Sie haben sich trotzdem die Freiheit genommen, zwei Stunden lang das Haus zu verlassen. Sie hätten mir wohl auf eine etwas passendere Weise zu verstehen geben können, dass Sie die Absicht haben, meinen Dienst zu verlassen.«

Höflich wie immer antwortete Fanny:

»Ich will Ihren Dienst gar nicht verlassen, Mylady.«

»Was soll dann Ihr Benehmen bedeuten?«

»Es bedeutet, wenn Sie nichts dagegen haben, dass ich eine Pflicht zu erfüllen hatte, und dass ich sie erfüllt habe.«

»Eine Pflicht gegen sich selbst?« fragte Iris.

»Nein, Mylady, eine Pflicht gegen Sie.«

Gerade als sie diese Antwort gab, wurde die Tür geöffnet, und Lord Harry betrat das Zimmer. Als er Fanny Mere erblickte, kehrte er sogleich um und wollte hinausgehen.

»Ich wusste nicht, dass Dein Kammermädchen bei Dir ist«, sagte er. »Ich werde später wiederkommen.«

Dass ihr Gemahl einen Dienstboten als ein Hindernis ansah, wenn er mit ihr zu sprechen wünschte, war ein durchaus unpassendes Zugeständnis für den Herrn des Hauses und ganz und gar entgegengesetzt seiner gewöhnlichen Ansicht von dem, was ihm zustand. Iris rief ihn erstaunt zurück. Sie sah ihr Mädchen an, das sogleich ihre Herrin verstand und sich zurückzog.

»Was hat denn das zu bedeuten?« fragte sie ihren Gemahl, als sie allein waren. Alsbald bemerkte sie eine gewisse Verlegenheit und Verwirrung in seinem Wesen, die sie beunruhigte. »Ist irgendetwas geschehen«, fragte sie, »das so ernst ist, dass Du Bedenken trägst, es mir mitzuteilen?«

Er setzte sich neben sie und ergriff ihre Hand. Der zärtliche Blick aber, den sie so gut kannte, sprach jetzt nicht aus seinen Augen; sie drückten im Gegenteil Zweifel aus.

»Ich fürchte, ich werde Dich unangenehm überraschen.«

»Lass mich nicht lange im unklaren, was es ist«, entgegnete sie. »Sag' es mir rund heraus.«

Er lächelte gezwungen.

»Es handelt sich um Vimpany.«

Nachdem er so weit gekommen war, schwieg er wieder still. Sie entzog ihm ihre Hand.

»Ich verstehe jetzt«, sagte sie; »ich muss mir Mühe geben, mich zu beherrschen. Du hast mir jedenfalls etwas zu sagen, was mich erregen wird.«

Er hob seine Hände auf in komischem Protest.

»O mein Liebling, da hast Du wieder einmal Deine allzu lebhafte Einbildung, die aus der Mücke einen Elefanten macht, wie es im Sprichwort heißt; es ist nicht halb so ernst, wie Du Dir zu denken scheinst. Ich will Dir nur sagen, dass eine kleine Veränderung stattfinden wird.«

»Eine kleine Veränderung?« wiederholte sie. »Was für eine denn?«

»Nun, mein Liebling, Du siehst -« Er stockte, nahm sich aber dann wieder zusammen und fuhr fort: »Du musst nämlich wissen, dass Vimpanys Pläne sich geändert haben. Er wird nicht länger das Zimmer hier in unserer Villa bewohnen.«

Iris sah unaussprechlich erleichtert aus.

»Er will endlich weggehen?« rief sie. »O Harry, warum hast Du mich so geängstigt? - Das solltest Du niemals wieder tun. Es sieht Dir gar nicht ähnlich. Es ist grausam, mich wegen nichts zu beunruhigen. Mr. Vimpanys Zimmer wird für mich von jetzt an der interessanteste Raum im ganzen Hause sein, wenn ich abends hineinsehen werde.«

Lord Harry stand auf und trat ans Fenster. Iris kannte den Grund dieser Bewegung nur zu gut, sie folgte ihm und trat an seine Seite. Es war für sie jetzt gar kein Zweifel mehr vorhanden, dass ihr Mann ihr noch mehr zu sagen hatte, und dass er nur noch nicht wusste, wie er es seiner Frau mitteilen sollte.

»Fahre fort!« sagte sie still ergeben.

Er hatte erwartet, dass sie seinen Arm nehmen würde oder dass sie ihm schmeicheln oder ihn wenigstens durch ihre freundlichen Worte oder ihr süßes Lächeln ermutigen würde. Aber die andauernde Selbstbeherrschung, welche sie jetzt bewies, legte er als ein Zeichen zurückgehaltenen Grolls aus.

»Gut«, sagte er, »es ist nur das: Du darfst abends in dieses Zimmer nicht gehen.«

»Warum denn nicht?«

»O, aus dem einfachsten Grunde auf der Welt: Du könntest nämlich jemand darin finden.«

Diese Antwort erregte ihre Neugier; fragend ruhten ihre Augen auf ihm.

»Einen Deiner Freunde?« fragte sie.

Er fuhr fort, gute Laune zu heucheln, die sich aber durch die Art und Weise, wie sie zum Ausdruck kam, nur zu sehr als erkünstelt erwies. »Ich muss gestehen, es kommt mir vor, als ob ich vor einem Gerichtshof stände und von einem Richter verhört würde; nun, mein Liebling, nein, nicht ganz ein Freund von mir.«

Sie dachte einen Augenblick nach.

»Du meinst doch hoffentlich nicht etwa einen Freund von Mr. Vimpany?« fragte sie.

Er tat, als ob er diese Frage nicht gehört hätte, und zeigte durch das Fenster hinaus in den Garten.

»Haben wir heute nicht einen prächtigen Tag? Komm, wir wollen ein wenig hinausgehen und uns die Blumen ansehen«, schlug er vor.

Hast Du nicht gehört, was ich soeben gesagt habe?« entgegnete sie.

»Entschuldige, Liebling, ich dachte gerade an etwas anderes. Wollen wir nicht in den Garten gehen?«

Iris blieb ruhig am Fenster stehen, fest entschlossen, eine Antwort zu erzwingen.

»Ich fragte Dich, Harry, ob die Person, welche an Stelle Mr. Vimpanys das Zimmer beziehen wird, einer von dessen Freunden ist.«

»Sagen wir ein Patient von Mr. Vimpany, und Du wirst der Wahrheit schon näher gekommen sein«, antwortete er ungeduldig.

Sie konnte ihm unmöglich glauben.

»Ist es wirklich eine kranke Person?« fragte sie.

»Natürlich!« antwortete er.

»Ein Mann oder eine Frau?«

»Ein Mann.«

»Darf ich fragen, ob er aus England kommt?«

»Er kommt aus einem der französischen Hospitäler. Wünschest Du sonst noch etwas zu wissen?«

Iris ließ jetzt ihrem Gatten Zeit, seine gute Laune wiederzugewinnen, und ging zu ihrem Stuhl zurück. Das sonderbare Geständnis, welches sie ihm entlockt, hatte einen geradezu betäubenden Eindruck auf sie gemacht. Ihre Liebe zu ihm, ihre feine weibliche Beobachtung seines Charakters, ihre genaue Bekanntschaft mit all seinen Vorzügen und Fehlern konnten diesmal keinen vernünftigen Anhaltspunkt finden für die Erklärung dessen, was sie vernommen. Sie sah sich nach ihm um mit dem gemischten Gefühl des Erstaunens und der Bekümmernis.

Er stand immer noch am Fenster, aber er hatte demselben den Rücken zugekehrt. Seine Augen hingen voll heimlicher Erwartung an seiner Frau. In der Tat nahm sie noch einmal das Wort.

»Ich muss offen bekennen«, sagte sie, »dass ich nicht ganz das Opfer verstehe, welches Du Mr. Vimpany bringen zu wollen scheinst. Willst Du mir sagen, Harry, was das zu bedeuten hat?«

Hier bot sich die günstige Gelegenheit, dem Rate des Doktors zu folgen und die Leichtgläubigkeit seiner Frau auf die Probe zu stellen. Würde sie, da sie Vimpany genau kannte, wirklich die Geschichte glauben, welche sein nobler Freund und er den fremden Ärzten im Hospital vorgelogen hatten? - Lord Harry war entschlossen, wenigstens den Versuch zu machen; welches auch das Ergebnis sein mochte, jedenfalls war er der Verantwortlichkeit ledig, die ihn jetzt so schwer bedrückte. Er brauchte nichts mehr zu sagen, wenn die Täuschung gelang. Er konnte nichts mehr tun, wenn dies nicht der Fall war. Unter dem Einfluss dieser beruhigenden Überlegung gewann er seinen Mut wieder; sein hübsches Gesicht erstrahlte von neuem in seinem liebenswürdigen, jugendlichen Lachen.

»Was für eine wunderbare Frau Du bist!« rief er aus. »Stehe ich denn nicht gerade deshalb hier, um Dir zu sagen, was ich meine, und meine kluge Frau durchschaut mich ganz und gar und erinnert mich daran, was ich tun muss. Zahle mir aber erst meinen Lohn, Iris, gib mir einen Kuss. Die Erklärung wird mir sehr erleichtert werden, wenn Du an eines denkst: Vimpany und ich sind alte Freunde, und es gibt nichts, was wir uns nicht gegenseitig gern zu Gefallen täten.«

Die dumme Erdichtung, welche der Doktor erfunden hatte, übte auf Iris eine Wirkung aus, auf welche Lord Harry gar nicht vorbereitet war. Je länger Iris zuhörte, um so befremdeter sah sie ihren Gatten an. Nicht ein Wort fiel von ihren Lippen, als er geendet hatte; er bemerkte, dass sie blass wurde - es schien ihm fast, als ob er sie erschreckt hätte.

Wenn sein kleiner Verstand Ursache und Wirkung hätte vereinigen können, das wäre gerade das Resultat gewesen, welches er hatte erreichen wollen.

Man verlangte von ihr, zu glauben, dass eine neue Methode in der ärztlichen Behandlung von einem Menschen wie Mr. Vimpany erfunden worden sei. Man verlangte von ihr, zu glauben, dass ein Kranker aus einem fremden Hospital, der außerdem Lord Harry vollständig unbekannt war, aus reiner Menschenfreundlichkeit in die Villa aufgenommen werden sollte. Man verlangte von ihr, zu glauben, dass dies erstaunliche Zugeständnis dem Doktor als ein Tribut der Freundschaft gezollt würde, nachdem ihr Gatte ihr doch selbst gesagt hatte, dass er bedaure, Vimpany zum zweiten Mal zu sich eingeladen zu haben. Hier war ein unwahrscheinlicher Umstand auf den andern gehäuft, und man stellte nun an eine kluge Frau die lächerliche Zumutung, die ungeheuerlichen Beweggründe, die man ihr auftischte, als glaubwürdige Tatsachen anzunehmen. Unwiderstehlich warf die Furcht vor irgendetwas Schlechtem einen tiefen Schatten über ihr Gemüt. Es war kein Irrtum von Lord Harry, als er Iris blass werden sah, und als er fürchtete, er habe sie erschreckt.

»Wenn meine Erklärung Dich zufriedenstellt«, begann er jetzt wieder, »so brauchen wir nicht mehr darüber zu reden.«

»Ich stimme mit Dir vollständig überein, wir wollen nicht weiter darüber sprechen.«

Es wurde ihr zu eng in demselben Zimmer mit dem Mann, der sie absichtlich belog und der doch ihr Gatte war. Sie erinnerte Lord Harry daran, dass er einen Spaziergang in den Garten vorgeschlagen. In der freien Luft, unter freiem Himmel hoffte sie leichter atmen zu können.

»Wir wollen nach den Blumen sehen«, sagte sie.

So gingen sie beide zusammen in den Garten - die Frau, die ihren lügnerischen Gatten fürchtete, und der Mann, der seine kluge Frau fürchtete.

Während sie wie zwei Fremde schweigend neben einander hergingen, sahen sie sich hie und da die Blumen und sonstigen Gewächse an. Iris bemerkte ein zartes Farnkraut, welches sich von der Stütze losgemacht hatte, an der es sich bisher festgehalten hatte. Sie blieb stehen und beschäftigte sich damit, es wieder aufzurichten; als sie damit fertig war und wieder aufblickte, war ihr Gatte verschwunden, und an seiner Stelle stand Mr. Vimpany.

Dreiundfünfzigstes Kapitel

»Wo ist Lord Harry?« fragte Iris.

Die Antwort, die sie auf diese Frage erhielt, erschreckte sie. »Lord Harry überlässt es mir, Ihnen zu sagen, Mylady, wozu er selbst nicht den Mut besitzt.«

»Ich verstehe Sie nicht, Mr. Vimpany.«

Der Doktor zeigte auf das Farnkraut, das soeben der Gegenstand der sorglichen Bemühungen Lady Harrys gewesen war.

»Sie haben dieser kranken Pflanze geholfen, damit sie weiter leben und weiter gedeihen könne. Neugierde trieb mich, Sie dabei zu beobachten, denn ich habe dasselbe mit einer andern kranken Pflanze vor. Mein Garten ist die leidende Menschheit, meine Kunst die des Arztes. Was es sonst noch ist, das - ich sage es Ihnen offen - wird sich wahrscheinlich nicht sehr angenehm für eine Dame anhören, besonders wenn es ein Mann ausspricht, der alles, wie Sie wissen, frei von der Leber weg redet. Aber nicht böse sein! Ihr ergebener Diener versucht nur, den richtigen Eindruck auf Sie hervorzubringen, und erlaubt sich, in einem gewissen Punkte Lord Harry nicht viel zuzutrauen.«

»In welchem Punkt, Sir?«

»Ich werde es in die Form einer Frage kleiden, Mylady. Hat mein Freund Sie dazu gebracht, Vorbereitungen für Ihren Weggang aus der Villa zu treffen?«

Iris maß Lord Harrys Freund mit den Blicken, ohne sich die Mühe zu geben, ihre wahre Ansicht über ihn zu verbergen.

»Das ist eine unverschämte Frage«, sagte sie. »Wer gibt Ihnen das Recht, sich darnach zu erkundigen, was mein Gatte und ich mit einander gesprochen haben?«

»Wollen Sie mir einen Gefallen erweisen, Mylady? Oder, wenn das zu viel verlangt ist, wollen Sie sich wenigstens selbst Gerechtigkeit widerfahren lassen? Bitte, versuchen Sie es einmal, die Tugend der Selbstbeherrschung zu üben.«

»Ganz nutzlos, Mr. Vimpany. Bemerken Sie gefälligst, dass Sie nicht im stande sind, mich in Zorn zu bringen.«

»Ich danke Ihnen sehr, Lady Harry; Sie ermutigen mich, fortzufahren. Wenn ich kühn genug war, von Ihrem Weggang aus der Villa zu sprechen, so hatte ich dabei nur den guten Zweck im Auge, Sie vor nutzloser Beunruhigung zu bewahren.«

»Und was sollte mich denn beunruhigen?« fragte Iris scharf.

»In dieser unserer kleinen, merkwürdigen Welt«, erwiderte der Doktor gelassen, »genießen wir unser Leben nur unter höllisch harten Bedingungen. Wir leben unter der Bedingung, dass wir sterben. Der Mann, welchen ich heilen will, kann sterben trotz allem, was ich zu tun für ihn im stande bin - er kann langsam dahinsiechen, was wir Ärzte einen harten Tod nennen. Zum Beispiel würde es mich gar nicht verwundern, wenn es mir große Schwierigkeiten verursachen würde, ihn in seinem Bett zu halten. Es kann leicht sein, dass er im ganzen Hause herum tobt und lärmt, wenn ich den Rücken gewendet habe. Es kann aber auch sein, dass er laut schreit und flucht. Wenn Sie so etwas von ihm hörten, würden Sie, wie ich fürchte, sehr entsetzt sein, und trotz meines besten Bestrebens, dies zu verhindern, kann ich, wenn das Schlimmste sich ereignet, doch nicht dafür bürgen, ihn ruhig zu halten; an Ihrer Stelle würde ich - wenn Sie mir erlauben wollen, Ihnen einen freundschaftlichen Rat zu geben -«

Iris unterbrach ihn. Anstatt ihr die Wahrheit zu bekennen, war er so unverschämt, sie einschüchtern zu wollen.

»Ich erlaube einer Person, zu der ich kein Vertrauen habe, nicht, mir zu raten«, sagte sie. »Ich wünsche nichts weiter zu hören.«

»Gestatten Sie mir noch ein letztes Wort«, sagte Vimpany mit seiner unerschütterlichen Zudringlichkeit. »Ich wollte mir durchaus nicht herausnehmen, Ihnen, Mylady, meinen Rat aufzudrängen; ich wollte Ihnen nur in ganz bescheidener Weise einen Wink geben. Wie mir Lord Harry erzählte, befindet sich Hugh Mountjoy wieder auf dem Weg der Besserung. Sie stehen mit ihm in brieflicher Verbindung, wie ich zufällig bemerkte, als ich das Glück hatte. Ihnen den unbedeutenden Dienst mit der Briefmarke erweisen zu dürfen. Warum gehen Sie nicht nach London und überraschen und erfreuen durch einen unerwarteten Besuch Ihren alten Freund? - Harry wird nichts dagegen haben - ich bitte sehr um Entschuldigung, ich hätte sagen sollen Lord Harry. Sehen Sie, meine teure Lady, ich bin ein rauher Knabe, aber ich meine es gut. Geben Sie sich selbst Ferien, und kommen Sie wieder zu uns zurück, wenn Mylord Ihnen schreibt, dass er das Vergnügen haben kann, Sie wieder zu empfangen.« Er wartete einen Augenblick, dann fragte er: »Soll mir nicht das Glück einer Antwort zuteilwerden?«

»Mein Gatte wird Ihnen antworten.«

Nach diesen unzweideutig verabschiedenden Worten kehrte Iris dem Doktor den Rücken zu.

Sie trat in das Haus und suchte Lord Harry bald in diesem, bald in jenem Zimmer, aber er war nirgends zu finden. Sollte er absichtlich fortgegangen sein, um nicht mit ihr zusammenzutreffen? - Ihre Erinnerung an Mr. Vimpanys Worte und Benehmen sagte ihr, dass es so sein müsse. Die beiden Männer waren im Bunde miteinander. Von allen Gefahren ist die unbekannte Gefahr die schrecklichste. Die letzten Stützen von Lady Harrys Entschlossenheit brachen zusammen; sie sank ratlos in einen Stuhl.

Nach einem Zeitraum - ob er kurz oder lang gewesen war, das konnte sie mit dem besten Willen nicht entscheiden - hörte sie jemand draußen an der Tür. Hatte sich Lord Harry anders besonnen und kam nun zurück zu ihr?

»Herein«, rief sie hastig, »herein!«

Vierundfünfzigstes Kapitel

Die Person, welche das Zimmer betrat, war Fanny Mere.

Ein einziger Gedanke beschäftigte jetzt Iris.

»Wissen Sie, wo Ihr Herr ist?« fragte sie.

»Ich sah ihn ausgehen«, antwortete das Mädchen; »welchen Weg er aber eingeschlagen hat, darauf habe ich nicht acht gegeben.«

Fanny nahm die Gelegenheit wahr, vor ihrer Gebieterin ihr Herz auszuschütten. Sie beichtete, wie Mr. Vimpany entdeckt hatte, dass sie französisch verstehe, wie dann der Doktor selbst es gewesen, der sie vor dem Zorn ihres Herrn geschützt, und wie er sie höchst merkwürdigerweise dazu ausersehen habe, die Pflegerin des Kranken zu werden, dessen Ankunft bevorstand.

»Mylady werden mich hoffentlich entschuldigen«, sagte sie, »ich habe das Anerbieten angenommen.«

Diese wunderbare Wendung verblüffte Iris vollständig.

»Was soll man nun daraus machen?« fragte sie ratlos. »Ist Mr. Vimpany noch ein verwegenerer Schurke, als ich bisher geglaubt habe?«

»Das ist er ganz gewiss!« antwortete Fanny mit vollster Überzeugung. »Was er in Wahrheit dabei beabsichtigt in seinen verworfenen Gedanken, das werde ich schon mit der Zeit herausbekommen; jedenfalls bin ich einstweilen die Wärterin, welche ihn in der Pflege des Kranken unterstützen soll. Als ich heute morgen Ihnen zuwiderhandelte, Mylady, geschah es nur, weil ich Mr. Vimpany in das Hospital begleiten sollte. Ich habe dort auch gleich den Mann gesehen, den ich in Zukunft pflegen werde. Ein armer, schwacher, höflicher Mensch, der aussah, als ob er keiner Fliege an der Wand etwas zu leide tun könnte, und dennoch erschreckte mich sein Anblick, denn ich entdeckte sofort eine auffallende Ähnlichkeit mit jemand.«

»Mit jemand, den ich kenne?« fragte Iris.

»Mit dem, Mylady, der Ihnen von allen Menschen auf der Welt am nächsten steht - eine Ähnlichkeit mit dem gnädigen Herrn.«

»Wie?«

»O, es ist keine Einbildung; ich weiß ganz genau, was ich sage. Für mich hat die Ähnlichkeit des Dänen mit Mylord etwas entschieden Unheimliches; ich weiß nicht, warum. Ich kann nur sagen, dass es mir nicht gefällt, und ich werde nicht eher ruhen, als bis ich herausgebracht habe, was es zu bedeuten hat. Außerdem, Mylady, muss ich noch den Grund ermitteln, warum diese beiden Herren Sie von hier entfernen wollen. Bitte, nehmen Sie Ihren ganzen Mut, Ihre ganze Kraft zusammen. Ich werde Sie noch rechtzeitig warnen, wenn ich von einer Ihnen drohenden Gefahr überzeugt bin.«

Iris wollte nicht zugeben, dass für sie irgendwelche Gefahr aus diesen Dingen erwachsen könne.

»Sie sind es, die sich in Gefahr begeben will!« rief sie aus.

Fanny antwortete ruhig:

»Das geschieht in Ihrem Dienst und zählt daher nicht.«

Obgleich Iris dankbar diesen einfachen Ausdruck der Anhänglichkeit empfand, beharrte sie doch auf ihrer Meinung.

»Sie stehen in meinem Dienst«, sagte sie; »ich lasse Sie einfach nicht fort zu Mr. Vimpany. Geben Sie Ihren Plan auf, Fanny, geben Sie ihn auf!«

»Ich werde ihn aufgeben, Mylady, wenn ich weiß, was der Doktor zu tun beabsichtigt; eher nicht.«

Da ihre Autorität nicht durchdrang, versuchte es Iris mit Überrednng.

»Als Ihre Herrin habe ich die Pflicht, Ihnen mit gutem Beispiel voranzugehen«, sagte sie. »Eine von uns muss in diesem Wirrwarr die Vernünftige bleiben. Lassen Sie mich versuchen, das zu sein. Es kann nichts Schlimmes, aber wohl viel Gutes bringen, wenn wir in dieser Sache eine Frau um Rat fragen, auf deren Treue und Verschwiegenheit ich bauen kann.«

»Kenne ich die Dame, an welche Mylady dabei denkt?« fragte Fanny. »In diesem Fall wird diese Freundin schon morgen früh wissen, um was es sich handelt; ich habe an Mrs. Vimpany geschrieben.«

»Sie ist es, die ich im Sinn hatte, Fanny. Wann können wir von ihr eine Antwort erwarten?«

»Wenn Mrs. Vimpany kurz besonnen ist«, antwortete Fanny, »werden wir morgen ein Telegramm von ihr haben.«

Ein heftiges Klopfen an die Zimmertüre schreckte die beiden aus ihrem Gespräch.

»Wer ist da?« rief Iris argwöhnisch.

Des Doktors rauhe Stimme antwortete:

»Kann ich einige Worte mit Fanny Mere sprechen?«

Das Mädchen öffnete die Tür. Mr. Vimpanys schwere Hand fasste sie am Arm, führte sie durch den Hausflur und schloss die Tür hinter ihr. Nach kurzer Abwesenheit kehrte Fanny zurück mit Nachrichten von Mylord.

Ein Dienstmann hatte eine Botschaft an den Doktor gebracht, und Fanny war beauftragt, sie ihrer Herrin mitzuteilen.

Lord Harry ließ aus Paris sagen, er sei von einigen Freunden eingeladen worden, mit ihnen in das Theater zu gehen und dann mit ihnen zu soupieren. Wenn er daher erst spät nach Hause käme, so solle sich Mylady deswegen nicht ängstigen. Ihr Gatte hatte also die bestimmte Absicht gehabt, nachdem er Mr. Vimpanys Dazwischentreten in dem Garten gutgeheißen, eine nochmalige Unterredung mit seiner Frau zu vermeiden. Iris blieb allein und konnte nun über diese Entdeckung nachdenken, denn Fanny hatte Befehl erhalten, das Schlafzimmer für die Aufnahme des Kranken zurecht zu machen.

Fünfundfünfzigstes Kapitel

Gegen Abend wurde der Däne in die Villa gebracht.

Ein Gefühl von Stolz, welches ihr verbot, irgendwelche Neugier zu zeigen und welches vielleicht noch durch die unüberwindliche Scheu vor Mr. Vimpany verstärkt wurde, hielt Iris in ihrem Zimmer zurück. Nichts als der Schall von Fußtritten auf der Treppe sagte ihr, dass der kranke Mann in das für ihn zurecht gemachte Zimmer gebracht wurde, das in demselben Stockwerke lag. Fanny erzählte ihr später, dass der Doktor die Lampe auf dem Korridor klein geschraubt habe, bevor der Kranke die Treppen heraufgetragen wurde, um zu verhindern, dass die Herrin des Hauses das Gesicht genau sehen und so die auffallende Ähnlichkeit mit ihrem Gatten erkennen könnte.

Die Stunden schlichen dahin, das Geräusch des häuslichen Lebens versank in Stillschweigen, alle, nur Iris allein nicht, ruhten friedlich in ihren Betten.

Während der schlaflosen Nacht lastete das Gefühl ihrer traurigen Lage schwer auf ihr. Die Heimlichkeiten und die durch sie drohende unbekannte Gefahr beunruhigten sie im höchsten Grade. Das Haus, in welchem sie die ersten glücklichen Tage ihres ehelichen Lebens verbracht hatte, konnte über kurz oder lang der Schauplatz irgendeiner schändlichen Tat werden, welche die lebenslängliche Trennung von ihrem Gatten erforderte. Welch entsetzlicher Gedanke!

Die frühen Morgenstunden kamen heran; immer noch lauschte sie vergebens auf den Klang der Fußtritte auf der Treppe, die ihr Lord Harrys Rückkehr ankündigen sollten; immer noch hatte sie nicht das vorsichtige Öffnen seines Vorzimmers gehört. Iris verließ jetzt den Stuhl und legte sich auf das Bett. Nach einiger Zeit übermannte sie die Müdigkeit doch, und sie schlief ein.

Als sie spät am Morgen wieder erwacht war, klingelte sie nach Fanny Mere. Lord Harry war soeben nach Hause gekommen. Er hatte den letzten Nachtzug nach Passy versäumt, und anstatt das viele Geld, das ein Wagen um diese Zeit kosten würde, zu verschwenden, hatte er das freundliche Anerbieten eines Freundes angenommen, der ihm ein Bett in seinem Hause zur Verfügung stellte. Er wartete jetzt unten in der Hoffnung, Lady Harry beim Frühstück zu sehen.

Iris begab sich hinunter in das Speisezimmer.

Selbst nicht während der Zeit ihrer Flitterwochen war der irische Lord ein so unwiderstehlich liebenswürdiger Mann gewesen als an diesem denkwürdigen Morgen. Seine Entschuldigung, dass er die Rückkehr zur rechten Zeit versäumt, war ein kleines Meisterstück von gewinnender Liebenswürdigkeit. Dann berichtete er mit köstlicher Laune über die Theatervorstellung, die er am vergangenen Abend gesehen. Seine beißenden Bemerkungen über das Stück standen in ergötzlichem Gegensatz zu der fein begründeten Anerkennung des Spiels der Mitwirkenden. Die Zeit war vorüber, wo Iris eine solche unbarmherzige Spielerei mit ihren Gefühlen übel vermerkt haben würde. In früheren, glücklicheren Tagen hätte sie ihn in freundlicher Weise an ihr Anrecht auf sein Vertrauen erinnert; sie hätte alles versucht, was Liebenswürdigkeit und Geduld tun konnten, um ihn zu einem Bekenntnis des Einflusses zu bringen, welchen sein schlimmer Freund auf ihn ausübte, und sie hätte dagegen den ganzen Einfluss ihrer Liebe und ihrer Entschlossenheit aufgewendet, um diese verhängnisvolle Verbindung zu lösen, welche schließlich doch zu dem Verderben ihres Gatten führen musste.

Aber aus Iris Henley war jetzt ganz eine Lady Harry geworden. Sie gab sich den Anschein, als ob sie für das, was ihr Gatte sprach, lebhaftes Interesse fühle, und wartete nur auf eine passende Gelegenheit, um ihn mit seinen eigenen Waffen zu schlagen. Ohne es zu wissen, bot er ihr selbst diese Gelegenheit dar, indem er die gleiche Falle aufstellte, um seine Frau zu fangen, welche Iris anzuwenden beabsichtigte, um ihren Gatten zum Bekenntnis der Wahrheit zu zwingen.

»Jetzt habe ich aber mehr als genug von meinen Vergnügungen am vergangenen Abend erzählt«, sagte er. »Die Reihe ist nun an Dir, Liebling. Hast Du den armen Menschen, den der Doktor kurieren will, schon gesehen?« fragte er ganz unvermittelt. Es lag ihm sehr viel daran, herauszubekommen, ob sie die Ähnlichkeit zwischen Oxbye und ihm selbst bemerkt habe.

Ihre Augen ruhten gespannt auf ihm.

»Ich habe den Mann noch nicht gesehen«, antwortete sie. »Hegt Mr. Vimpany Hoffnung, ihn wiederherzustellen?«

Lord Harry zog seine Zigarrentasche heraus.

»Es liegt kein Grund vor, Schlimmes zu befürchten«, sagte er mit übertriebener Aufmerksamkeit für die Auswahl seiner Zigarre. »Mr. Oxbye befindet sich in guten Händen.«

»Viele Leute sterben an dieser Krankheit«, bemerkte sie ruhig.

Ohne darauf etwas zu erwidern, zog er sein Feuerzeug aus der Tasche. Seine Hand zitterte ein wenig. Der erste Versuch, ein Zündholz anzubrennen, misslang.

»Die Ärzte machen zuweilen auch Fehler«, fuhr Iris fort.

Er blieb immer noch schweigsam. Der zweite Versuch mit dem Zündholz gelang, und er setzte seine Zigarre in Brand.

»Angenommen nun, Mr. Vimpany machte einen Fehler«, sagte Iris wieder. »Das würde in diesem Fall zu sehr bedauernswerten Folgen führen.«

Jetzt verlor Lord Harry seine Ruhe und mit ihr seine Farbe.

»Was zum Teufel soll das heißen?« fragte er zornig.

»Ich möchte meinerseits fragen«, antwortete sie, »was ich denn gesagt habe, das Dich so zornig werden lässt? Ich machte doch nur eine ganz einfache Bemerkung.«

In diesem kritischen Moment trat Fanny Mere ins Zimmer; sie hatte ein Telegramm in der Hand.

»Für Sie, Mylady.«

Iris öffnete das Telegramm; es war von Mrs. Vimpany unterzeichnet und enthielt folgende Worte:

»Sie sollten schleunigst zu Ihrem Vater kommen, er ist gefährlich erkrankt.«

Lord Harry sah seine Frau plötzlich die Farbe wechseln, und alsbald war in seiner schuldbewussten Seele der Argwohn rege.

»Betrifft das Telegramm mich?« fragte er.

Iris händigte ihm schweigend das Papier ein. Nachdem er es gelesen hatte, fragte er, was sie zu tun gedenke.

»Das Telegramm spricht deutlich genug«, entgegnete sie. »Hast Du etwas dagegen, wenn ich Dich verlasse und zu meinem Vater gehe?«

»Nicht das mindeste«, antwortete er schnell. »Du musst auf alle Fälle gehen.«

Iris erhob sich, um auf ihr Zimmer zu gehen; er begleitete sie bis zur Türe.

Nachdem die nötigsten Reisevorkehrungen getroffen, wollte Iris noch einen letzten Versuch machen, das Vertrauen ihres Gatten zu gewinnen. Aber er war weder in seinem Zimmer, noch in einem andern Teil des Hauses, noch im Garten zu finden. Die Stunde drängte; Iris musste allein zu Mittag essen. Zum zweiten Male vermied er sie; zum zweiten Mal hatte er Furcht vor dem Einfluss, den seine Frau auf seine Handlungen ausüben könnte! Mit schwerem Herzen traf sie ihre Vorbereitungen zur Abreise mit dem Kurierzug.

Fanny war durch ihre Pflichten als Krankenpflegerin in der Villa festgehalten. Von Sorge um das treue Mädchen erfüllt, das sie zurückließ, - welchem Schicksal, wer konnte es wissen? - küsste sie Iris beim Abschied.

Fannys blassblaue Augen füllten sich mit Tränen; sie trocknete sie rasch und hielt die Hand ihrer Herrin einen Augenblick fest.

»Ich weiß, an wen Sie jetzt denken«, flüsterte sie. »Der gnädige Herr ist nicht hier, um Ihnen Lebewohl zu sagen. Lassen Sie mich sehen, ob ich in seinem Zimmer etwas für Sie finde.«

Iris hatte sich zwar schon überall im Zimmer Lord Harrys umgesehen in der Hoffnung, einen Brief zu finden, ohne etwas derart entdecken zu können, aber sie ließ Fanny hinaufeilen, um noch einmal nachzusuchen. Bald kam das Mädchen zurück mit einem kleinen Stück zusammengefalteten Schreibpapiers in der Hand.

»Meine hässlichen Augen sind besser als die Ihrigen«, sagte sie. »Der Wind muss zum Fenster hereingeweht und es vom Tisch heruntergeblasen haben.«

Iris las hastig den Brief:

»Ich darf Dir nicht verschweigen, daß es für Dich besser ist, wenn Du für die nächste Zeit nicht bei uns bleibst, aber nur für eine kurze Zeit. Verzeihe mir, Liebste, ich kann den Mut nicht finden, Dir Lebewohl zu sagen.«

Diese wenigen Worte waren alles, was er ihr zu sagen hatte!

Seine Frau antwortete ihm ihrerseits kurz, aber nicht unfreundlich:

»Du hast mir einen schmerzlichen Augenblick erspart. Darf ich hoffen, bei meiner Rückkehr den Mann zu finden, dem ich vertraut, den ich geachtet habe? - Lebe wohl!«

Wann sollten sie sich wiedersehen? - Und wie?

Sechsundfünfzigstes Kapitel

Es galt jetzt nur noch eine Person aus dem Hause Lord Harrys zu entfernen: das war die Köchin. Unter der Bedingung, dass sie sofort weggehe - als Grund wurde größere Einschränkung angegeben - empfing sie von ihrem Herrn noch einen Monatslohn mehr, als ihr eigentlich zukam, und ein Zeugnis, das ihren vielen guten Eigenschaften mehr als gerecht wurde. Die Arme verließ ihre Stelle mit den innigsten Segenswünschen aus dankbarem Herzen.

Der kranke Däne stellte Fanny Meres Standhaftigkeit auf eine harte Probe. Dieser Landsmann Hamlets, wie er sich selbst mit Vorliebe nannte, war ein lebender Protest gegen die eingewurzelten Gefühle der Verachtung und des Hasses, mit denen seine Pflegerin gewohnt war, jeden Mann zu betrachten. Wenn die Schmerzen ihn zeitweise verließen, dann zeigte Mr. Oxbye ganz die glänzenden blauen Augen und das gewinnende Lächeln, welches so sehr an Lord Harry erinnerte. Sein bartloses Gesicht, das in den unteren Partien sehr schmal war, vervollständigte die Ähnlichkeit nur bis zu einem gewissen Grade, denn der kühne Ausdruck, den Lord Harrys Züge nicht selten anzunehmen pflegten, erschien bei Mr. Oxbye niemals.

Fanny pflegte ihn sorgfältig und kam auf das gewissenhafteste ihren Pflichten nach; sie befand sich in dem Bannkreis eines Mannes, der in den schmerzlosen Zwischenpausen seiner Krankheit kleine Gedichte zu ihrem Preise verfasste, der sie bat, ihm einige Blumen aus dem Garten zu holen, und dann aus ihnen zierlich zusammengestellte Bouquets band, die er ihr dann schenkte; der weinte, wenn sie ihm sagte, er sei ein Narr, und der ihr dann doch kaum fünf Minuten später die Hände küsste, wenn sie ihm die Medizin reichte, obgleich sie ihm nichts Süßes dazu gab, das imstande gewesen wäre, den bittern Geschmack in seinem Munde zu vertreiben. Dieser liebenswürdige Patient liebte Lord Harry, liebte Mr. Vimpany und liebte Fanny, so wenig dieselbe davon wissen wollte. Nachdem sie es hartnäckig verweigert hatte, ihm die Geschichte ihres Lebens zu erzählen, obgleich er ihr selbst mit gutem Beispiel vorangegangen war, verlegte er sich darauf, sich selbst eine Geschichte ihres Lebens zu bilden, und kam zu dem Schluss, dass dieses interessante Mädchen das Opfer eines schweren Herzenskummers sein müsste.

»Sie sehen entsetzlich bleich aus«, sagte er. »Sie werden bald sterben; bei mir wird dann ein Blutgefäß springen, und ich werde Ihnen bald nachfolgen. Dann werden wir nebeneinander über den Wolken weilen und immerfort zusammen singen unter der Begleitung himmlischer Harfen. O, was für ein Hochgenuss wird das sein!«

Wie ein Kind schrie er laut, wenn er Schmerzen hatte, und wie ein Kind lachte er, sobald sie wieder vorüber waren. Sagte sie ärgerlich zu ihm: »Wenn ich gewusst hätte, was für ein Mensch Sie sind, so würde ich es niemals übernommen haben, Sie zu pflegen«, dann antwortete er ihr nur: »Meine Liebe, lassen Sie uns gemeinsam Gott danken, dass Sie es nicht gewusst.« Er konnte niemals in Zorn gebracht werden, und was noch schlimmer war, an besseren Tagen, wenn er sich wohler befand, war es nicht möglich, ihn zu überzeugen, dass er nicht lange genug leben würde, um seine Pflegerin zu heiraten. Oft genug hatte er ihr diesen Antrag gestellt. Was war mit einem solchen Mann anzufangen? - Fanny suchte sich einzureden, ihr schwacher Patient sei ihr höchst gleichgültig. Dabei aber bereitete sie die Mahlzeiten für ihn eigenhändig zu, während die anderen Bewohner der Villa, da die Köchin ja nicht mehr da war, sich mit der wenig verlockenden Kost eines benachbarten Gasthofes zufrieden geben mussten.

Dabei lag Fanny immer sorgsam auf der Lauer, ob es ihr nicht einmal gelinge, Vimpanys Absichten zu durchschauen. Vorderhand aber bemerkte sie nur mit immer wachsendem Interesse die Aufmerksamkeit, mit welcher der harmlose Däne von Mylord und dem Doktor beobachtet wurde. Auch bemerkte sie sehr wohl, dass Lord Harry sich in beständiger Aufregung befand. Bald wanderte er aus einem Zimmer in das andere oder durchstreifte, beharrlich rauchend, den Garten nach allen Richtungen hin; bald ritt er aus oder fuhr mit der Bahn nach Paris und blieb dann den ganzen Tag weg. Verhielt er sich einmal ausnahmsweise ruhig, so hatte er gewiss seine Zuflucht in das Zimmer seiner Gattin genommen. Fanny beobachtete ihn dann desöfteren durch das Schlüsselloch und sah ihn auf dem Stuhl seiner Frau sitzen. Es schien einleuchtend, dass er sich lebhaft nach Lady Harry sehnte; aber was hatte seine Besorgnis um Mr. Oxbye zu bedeuten? Aus welchem Grunde ging er so viel als möglich - ohne den Versuch zu machen, es zu verbergen - Mr. Vimpany aus dem Wege, und wie kam es, dass dieser sein elender Freund, obgleich er so unliebenswürdig behandelt wurde, niemals darüber gekränkt, sondern eher belustigt erschien.

Was das Benehmen des Doktors gegenüber seinem Patienten anbetraf, so war es nach der Ansicht Fannys keineswegs eines Arztes würdig.

Er schien kein Interesse für den Mann zu fühlen, der auf seinen eigenen Wunsch zu ihm aus dem Hospital geschickt worden war und den zu heilen, wie er vorgegeben, sein höchster Ehrgeiz war. Wenn Mr. Oxbye von seinen Schmerzen sprach, so gab sich Mr. Vimpany kaum den Anschein, als ob er zuhörte; mit finsterem Gesicht wendete er das Stethoskop an, fühlte den Puls und besah sich die Zunge und zog seine Schlüsse in ärgerlichem Stillschweigen; wenn die Pflegerin einen günstigen Bericht abzustatten hatte, kehrte er ihr brutal den Rücken, wenn aber entmutigende Folgen der Behandlung während der Nacht sich zeigten und Fanny es für ihre Pflicht hielt, dieselben zu melden, dann lächelte er höhnisch, als ob er zweifelte, dass sie die Wahrheit spreche. Mr. Oxbyes unerschöpfliche Geduld und Liebenswürdigkeit fand endlose Entschuldigungen für seinen ärztlichen Berater.

»Es ist mein Unglück, dass ich meinen hochverehrten Doktor in einem Zustand von immerwährendem Ärger halte«, pflegte er zu sagen, »und wir alle wissen, was es für eine Geduldsprobe ist, in unaufhörlicher Ungewissheit zu schweben. Ich habe zu Mr. Vimpany das beste Vertrauen.«

Fanny hütete sich wohlweislich, ihre eigene Meinung zu verraten. Die Bedenken, die sie gegen den Doktor hegte, beunruhigten sie mehr und mehr. Sobald sich nur irgendwelche Gelegenheit bot, beobachtete sie ihn auf das sorgfältigste. Eine Lieblingsbeschäftigung seiner Mußestunden bestand in Versuchen mit dem photographischen Apparat. Er machte zuerst kleine Aufnahmen von den Zimmern der Villa; dann folgten Bilder aus dem Garten. Nachdem er damit fertig geworden, setzte er die Pflegerin erst recht in Verwunderung dadurch, dass er ein Bild von dem Dänen verfertigte, während dieser eines Tages schlafend dalag, nachdem sich in der letzten Zeit eine kleine Besserung in seinem Befinden gezeigt hatte. Fanny bat um die Erlaubnis, das Bild sehen zu dürfen. Der Doktor aber betrachtete es zuerst selbst, zerriss es dann und ließ die Stücke in alle Winde fliegen.

»Ich bin nicht damit zufrieden«, erklärte er kurz. Neben ihm stand zufällig ein Gartenstuhl; er setzte sich darauf nieder und sah aus wie ein Mann, der von seinen eigenen Gedanken gequält wird.

Hätte sich die Wirkung der Medikamente, die Vimpany dem Kranken verabreichte, als eine bedenkliche erwiesen, dann würde Fannys Argwohn ein ernster geworden sein; aber die Veränderung, die mit Oxbye vorging, seitdem er in reinerer Luft schlief und bessere Nahrung erhielt, als sie ihm im Spital gegeben werden konnte, zeigte eine entschiedene Zunahme seiner Kräfte. Seine hohlen Wangen füllten sich wieder. Auf der Blässe der Haut begann sich etwas Farbe zu zeigen. So sonderbar nun auch das Benehmen Lord Harrys und Mr. Vimpanys sein mochte, es bot sich insoweit keine Möglichkeit dar, dasselbe in Verbindung zu bringen mit der Lage, in der sich der dänische Gast befand. Niemand, der sein Gesicht gesehen hatte damals, als er in die Villa gebracht worden war, konnte es nach dem Verlauf von vierzehn Tagen wieder betrachten, ohne Hoffnung auf seine Wiedergenesung zu schöpfen.

Siebenundfünfzigstes Kapitel

Nach einiger Zeit empfing Fanny einen Brief von Lady Harry, die ihr über ihre ersten Londoner Erlebnisse berichtete. Bei ihrer Ankunft war sie auf dem Bahnhof von Mrs. Vimpany empfangen worden, an welche sie telegraphisch die Bitte gerichtet hatte, sie dort zu erwarten. Lady Harrys erste Frage betraf natürlich ihren Vater. Mrs. Vimpany antwortete augenscheinlich etwas verwirrt und halb beschämt, es sei durchaus kein Grund zu ernsteren Befürchtungen vorhanden.

Iris atmete erleichtert auf, fragte aber sofort weiter, seit wann die glückliche Wendung zum Bessern eingetreten. Da erfuhr sie denn zu ihrem nicht geringen Befremden, dass es um ihren Vater gar nie so schlimm gestanden habe, wie sie aus dem an sie gelangten Telegramm schließen musste. Mrs. Vimpany hatte nur zufällig erfahren, er sei von einem Podagraanfall heimgesucht worden. Das war alles. Zugleich aber hatte Fannys Brief sie mit einer so lebhaften Sorge um Lady Harry erfüllt, dass sie den nächsten besten Vorwand benützte, um die Lady von Passy zu entfernen.

»Wenn ich daran dachte«, sagte sie, »dass Sie sich in der Gewalt meines elenden Mannes befänden, der, wie es mir nur zu klar ist, an Ihrem Gatten einen würdigen Genossen gefunden hat, vermochte ich nicht anders zu handeln, als ich getan. Ich schäme mich vor mir selber; aber, Lady Harry, ich hatte zu große Angst um Sie. Bitte, verzeihen Sie mir! Ich liebe Sie ja so sehr und bin so glücklich, Sie jetzt hier in Sicherheit zu wissen. Gehen Sie nicht wieder zurück! Um Gottes willen, gehen Sie nicht wieder zurück!«

Iris hatte auch gar nicht die Absicht, zurückzukehren, so lange der Doktor und sein Patient sich in Passy aufhielten, und sie fand in Mrs. Vimpanys herzlicher Teilnahme guten Grund, ihr eine Voreiligkeit zu vergeben, die sie nur aus aufrichtiger Liebe zu ihr begangen und durch ehrliches Bekenntnis wieder gut gemacht hatte.

Fanny las aufmerksam die nächste Seite des Briefes, auf welcher Lady Harry ihr erstes Zusammentreffen mit Mr. Mountjoy nach seiner Krankheit schilderte. Die Ausdrücke des Glücks, in denen ihre Herrin über die Wiedererneuerung ihrer freundschaftlichen Beziehungen zu ihrem alten und lieben Freund sprach, bestärkten Fanny in ihrer ersten Empfindung, dass vorderhand keine Furcht vorhanden sei, Iris würde zu vorzeitig nach Passy zurückkehren mit der Entschuldigung, dass sie sehnsüchtiges Verlangen, Lord Harry wiederzusehen, empfunden habe.

Auch nach dem, was auf der letzten Seite des Briefes stand, schien Mr. Mountjoys Einfluss sich in heilsamster Weise geltend zu machen. Daneben fanden sich auch einige Stellen, in welchen Iris Befürchtungen wegen Fannys Sicherheit aussprach und ihre Begierde, zu erfahren, welche Entdeckungen ihr Mädchen wohl schon gemacht habe. Die einzige Erwähnung Mylords bestand in oberflächlicher Nachfrage nach seinem Befinden. War das nun ein Beweis dafür, dass ihre Gefühle für ihren Gatten abgestumpft waren, oder legte sie sich nur der Dienerin gegenüber Zurückhaltung auf?

Achtundfünfzigstes Kapitel

»Haben Sie bereut und Ihren Sinn geändert?« fragte Lord Harry den Doktor.

»Ich -bereut?« antwortete dieser lachend. »Halten Sie mich einer solchen Dummheit für fähig?«

»Der Mann wird jeden Tag kräftiger und gesünder. Sie gehen also doch damit um, ihn wiederherzustellen. Ich fürchtete« - er verbesserte sich - »ich dachte«, - das war der richtigere Ausdruck - »Sie wollten ihn vergiften.«

»Sie dachten, ich wollte - das heißt, wir wollten, Mylord - ein solch törichtes und nutzloses Verbrechen begehen, und dieses auch noch, während unsere kluge Pflegerin anwesend ist und die ganze Zeit aufpasst mit dem Argwohn einer Katze und jede Veränderung in dem Befinden des Kranken wahrnimmt? - Nein; ich gestehe zudem, sein Fall hat mich anfangs beunruhigt, weil ich nicht diese günstige Wendung in seinem Befinden voraussetzte. Nun, es ist das Beste, Fanny Mere sieht ihn jeden Tag kräftiger werden. Was dann auch geschehen mag, sie kann bezeugen, mit welcher Sorgfalt der Mann behandelt worden ist. Sie dachte, sie hätte uns in der Tasche, und wir haben sie.«

»Sie sind furchtbar klug, Vimpany, aber manchmal sind Sie doch zu klug für mich, vielleicht zu klug für sich selbst.«

»Ich werde mich Ihnen deutlicher erklären«, sagte der Doktor, und wohlbekannt mit dem Argwohn der Pflegerin, lehnte er sich vorwärts und flüsterte Lord Harry ins Ohr: »Fanny muss fort, jetzt ist es höchste Zeit; der Mann befindet sich auf dem Weg der Besserung, der Mann muss verschwinden, und der nächste Patient werden Sie selbst sein, Mylord. Verstehen Sie mich jetzt?«

»Zum Teil.«

»Das genügt vollständig. Wenn ich handeln soll, so ist es hinreichend, wenn Sie nur nach und nach mich verstehen. Unsere argwöhnische Pflegerin aber muss fort. Das ist zunächst notwendig. Überlassen Sie es ruhig mir, sie zu entfernen.«

Lord Harry ging weg; er überließ die Sache dem Doktor. Sie schien ihn überhaupt gar nicht weiter zu berühren, wenn ihm auch sein Schuldbewusstsein etwas Unbehagen verursachte. Er trug das Abschiedsbillet seiner Frau bei sich: »Darf ich hoffen, bei meiner Rückkehr den Mann zu finden, dem ich vertraut, den ich geachtet habe?« Sein Gewissen quälte ihn mit Vorwürfen, so oft er - und das geschah wohl fünfzigmal am Tage! - das kleine Stück Papier aus seinem Notizbuch nahm und es wieder durchlas. Ja, sie würde immer den Mann bei ihrer Rückkehr finden, den Mann, dem sie vertraut, den sie geachtet hatte - den letzten Zusatz überging er jedoch - es würde natürlich derselbe Mann sein; ob sie aber noch imstande sein würde, ihm zu trauen, ihn zu achten, diese Frage stellte er sich gar nicht. Übrigens führte ja der Doktor die Sache aus und nicht er.

Dann dachte er an Hugh Monntjoy, und seine alte Eifersucht wurde sofort wieder lebendig. Iris würde jetzt bei ihm sein, bei dem Mann, dessen Liebe zu ihr nur deutlicher durch seine Achtung, seine Ergebenheit und sein Zartgefühl zu Tage trat; sie würde in seiner Gesellschaft verweilen; sie würde die wahre Bedeutung dieser Achtung und dieses Zartgefühls verstehen lernen; sie würde die Tiefe seiner Ergebenheit würdigen; sie würde Hugh, den Mann, den sie hätte heiraten können, mit ihm, dem Mann, den sie geheiratet hatte, vergleichen.

Und sein Haus war ohne sie so traurig, so öde. Er verabscheute in seiner Verzweiflung und in seinem Leichtsinn den Anblick des Doktors.

Er beschloss, an Iris zu schreiben, setzte sich hin und schüttete ihr sein ganzes Herz aus, aber zu einem Geständnis der Wahrheit kam es nicht.

»An unserer Trennung bin ich, nur ich ganz allein, schuld; es ist mein eigenes abscheuliches Benehmen gewesen, das sie herbeigeführt hat. Verzeihe mir, liebste Iris. Wenn ich es Dir unmöglich gemacht habe, mit mir weiter zu leben, so ist es unmöglich für mich, ohne Dich zu leben. Das ist meine Strafe. Das Haus ist öde und leer; die Stunden schleichen langsam dahin, ich weiß nicht, wie ich sie herumbringen soll; mein Leben ist für mich eine Qual und eine Last geworden, da Du nicht mehr bei mir bist. Und doch habe ich kein Recht zu klagen; ich sollte mich freuen, wenn ich daran denke, dass Du glücklich bist, von meiner Gesellschaft befreit zu sein. Liebling, ich bitte Dich nicht, jetzt zurückzukommen«, - er erinnerte sich wirklich daran, dass ihre Zurückkunft in diesem kritischen Zeitpunkt von sehr ernsten Folgen sein konnte - »ich kann Dich noch nicht bitten, zurückzukommen, aber lass mir nur ein wenig Hoffnung; lass mich empfinden, dass Du in Deiner unaussprechlichen Güte an meine Reue glaubst, und lass mich mit Vertrauen vorwärts blicken auf eine Wiedervereinigung in naher Zukunft.«

Er adressierte diesen Brief an Lady Harry Norland unter der Adresse von Hugh Mountjoy in dessen Hotel in London. Mountjoy würde den Schreiber nicht erraten und sicherlich den Brief an Iris abgeben. Da er genau wusste, wie sehr ihn seine Frau liebte, so rechnete er darauf, dass Iris ihm auf halbem Weg entgegenkommen und zurückkehren würde, sobald er in der Lage war, sie zurückzurufen. Er hatte, wie wir sehen werden, die Rechnung ohne den Wirt gemacht.

Nachdem er den Brief abgeschickt, kehrte er glücklicher und heiterer in die Villa zurück; er hoffte ja nun bald seine Frau wieder bei sich zu haben. Er blickte in das Krankenzimmer. Der Kranke saß im Bett aufrecht und plauderte munter. Es war der beste Tag, den er bis jetzt während seiner Krankheit gehabt hatte. Der Doktor saß neben seinem Bett auf einem Stuhl, und die Pflegerin stand ruhig und in sich versunken dabei, aber nichtsdestoweniger wachsam und argwöhnisch.

»Sie machen so rasche Fortschritte, mein Lieber«, sagte Doktor Vimpany, »dass wir Sie in einem oder zwei Tagen außer dem Bett sehen werden. Sie sind zwar noch nicht ganz wieder hergestellt, noch nicht ganz.« Er zog sein Stethoskop heraus und untersuchte nochmals die Lunge, wobei er ein außerordentliches wissenschaftliches Interesse heuchelte. »Meine Behandlungsweise hat, wie Sie sehen, Erfolg gehabt«, - er machte sich einige Notizen in sein Taschenbuch- »sie hat Erfolg gehabt«, wiederholte er, »Sie werden das selbst zugeben müssen.«

»Gütiger Herr, ich bin Ihnen unaussprechlich dankbar - ich habe Ihnen so sehr viele Mühe gemacht!«

»Ein solch interessanter Krankheitsfall kann niemals zu viele Mühe machen«, entgegnete der Doktor, »das ist unmöglich. Denken Sie nur daran, Oxbye, dass es sich hier um die Wissenschaft handelt. Sie sind nicht Oxbye, Sie sind ein Fall, - nicht ein Mann, sondern ein Teil der Maschine ist in Unordnung geraten. Die Wissenschaft wacht an der Seite Ihres Krankenlagers, sie schaut Sie durch und durch. Obgleich Sie aus festem Fleisch und Knochen bestehen und auch Kleider anhaben, sind Sie für die Wissenschaft doch ganz durchsichtig. Doch handelt es sich für sie nicht nur darum, Ihre Krankheitserscheinungen zu beobachten, sondern sie will auch die Maschine wieder vollständig in Ordnung bringen.«

Der Däne war ganz überwältigt von diesen hochtrabenden Worten und konnte nur seinen Dank immer von neuem aussprechen.

»Ob er wohl stehen kann? - Was glauben Sie, Wärterin?« fuhr der Doktor, an Fanny gewendet, fort; »wir wollen es einmal versuchen. Er soll heute nicht gleich allzu viel herumgehen, sondern nur einmal aus dem Bett heraus, und wenn der Versuch nur dazu dient, ihm selbst zu beweisen, dass es mit ihm schon viel besser geht. Wir müssen ihn überzeugen, dass er schon fast ganz gesund ist. Kommen Sie, Wärterin, wir wollen ihn an der Hand halten.«

Der Däne fühlte sich natürlich noch sehr schwach, nachdem er so lange an das Bett gefesselt gewesen war. Liebevoll unterstützte ihn Mr. Vimpany, als er an das Fenster ging und in den Garten hinaussah.

»So«, sagte er, »jetzt ist es für heute genug. Nur nicht gleich zu viel fürs erstemal. Morgen wird er schon allein aufstehen und herumgehen können. Nun, Fanny, Sie sind jetzt mit mir doch der gleichen Meinung, wie ich hoffe, dass ich den Kranken wieder gesund gemacht habe? Nicht wahr, endlich glauben Sie es doch auch?«

Sein Blick zeigte deutlich, was er meinte. »Sie dachten«, sagte dieser Blick, »dass irgendein Schurkenstreich beabsichtigt sei? Sie haben sich als Pflegerin für diesen Mann nur aus dem Grund angeboten, weil Sie uns überwachen und diesen Schurkenstreich entdecken wollten! - Nun, was haben Sie jetzt zu sagen?« fügte der Doktor laut hinzu.

Alles, was Fanny zu sagen hatte, war das in bescheidener Weise gegebene Zugeständnis, dass der Mann sich auffallend erholt und sein Befinden sich stetig gebessert habe, seit er in die Villa gebracht worden.

Solches besagten ihre Worte; im Herzen aber war sie immer noch voller Zweifel und Argwohn.

Wir wollen nicht darüber rechten, wie weit des Doktors Scharfblick ging, wo es sich darum handelte, den Zustand der Lungen und des ganzen inneren Organismus zu erkennen; sicher aber ist, dass er die Fähigkeit besaß, in der Seele einer Frau zu lesen. Er erkannte so deutlich, als ob es vor ihm auf ein Stück Papier gezeichnet wäre, welche Verwirrung in Fannys Gedanken herrschte. Sie wusste, es war etwas beabsichtigt, was sie nicht wissen sollte. Dass der Mann nur darum in die Villa gebracht worden war, um einem wissenschaftlichen Experiment zu dienen, glaubte sie nun und nimmermehr; sie hatte gedacht, sie würde ihn sterben sehen; aber er starb nicht, sondern es ging ihm von Tag zu Tag besser, so dass er in kurzer Zeit wieder so gesund sein würde, wie er es jemals in seinem Leben gewesen war. Zu welchem Zweck hatte das nun der Doktor getan? Hier stand sie vor einem Rätsel, über dessen Lösung sie vorerst vergeblich grübelte; nur etwas Gutes traute sie dem Doktor auch jetzt nicht zu.

»Die Zeit ist endlich gekommen«, sagte, sie durchschauend, der schlaue Vimpany an diesem Abend, als er mit Lord Harry allein war, »wo dieses Mädchen fort muss. Der Mann wird sich jetzt sehr rasch wieder erholen und bedarf dann keiner Pflegerin mehr; deshalb ist auch kein Grund vorhanden, sie länger zu behalten. Wenn sie immer noch Verdacht hegt, so hat sie dazu nicht den geringsten Grund; sie hat bei der Behandlung eines fast hoffnungslosen Kranken durch einen geschickten Arzt geholfen. Was will sie mehr? Nichts, gar nichts!«

»Kann sie meiner Frau so viel, aber sonst nichts weiter erzählen?« fragte Lord Harry. »Weiß sie wirklich nichts mehr?«

»Sie kann Lady Harry nicht mehr erzählen als das, weil sie nicht mehr weiß und wir nicht mehr sagen«, antwortete der Doktor ruhig. »Sie würde gewiss gern tiefer in unsere Geheimnisse eindringen; sie ist furchtbar enttäuscht, dass sie nichts weiter zu erzählen hat, aber sie soll ganz gewiss nichts mehr ergründen. Sie hasst mich, aber sie hasst Sie, lieber Freund, noch viel mehr.«

»Warum?«

»Weil sie ihre Herrin noch liebt. Solch eine Frau wie sie pflegt die ganze Liebe, deren sie fähig ist, auf eine Person zu konzentrieren. - Sie lachen? - Sie ist ein Dienstbote und ein gewöhnliches, ungebildetes Mädchen. Es ist allgemein bekannt, und es sind schon sehr viele Fälle dagewesen, dass eine solche Frau - sagen wir ein Dienstmädchen, welches noch tiefer steht und das eine ganz übertriebene Verehrung für ihre Herrin hegt - dabei zugleich von der heftigsten Eifersucht beseelt war. Fanny Mere ist auch eifersüchtig und zwar auf Sie, lieber Freund. Sie hasst Sie und möchte gar zu gern, dass Ihre Frau Sie auch hassen soll. Ihr würde nichts angenehmer und erwünschter sein, als wenn sie jetzt zu ihrer Herrin zurückkehren könnte und in den Händen die Beweise solcher Handlungen Ihrerseits hätte - ich sage solcher Handlungen« - er wählte seine nächsten Worte sorgfältig aus - »welche Ihre Frau für immer von Ihnen trennen würden.«

»Dann ist sie ja ein wahrer Teufel«, rief Lord Harry; »aber was geht das schließlich mich an? Was tut es mir, wenn das Kammermädchen einer Lady mich mehr oder weniger hasst oder liebt?«

»Das sprach der Aristokrat, Mylord. Erinnern Sie sich gefälligst daran, dass das Kammermädchen einer Dame auch ein Weib ist. Sie sind wahrscheinlich in der Ansicht aufgewachsen und auferzogen worden, dass Dienstboten überhaupt keine Menschen sind. Das ist ein Irrtum - ein großer Irrtum. Kein Mensch in der Welt ist so niedrig gestellt, dass er nicht imstande wäre, Unheil anzustiften. Die Fähigkeit dazu ist einem jeden von uns gegeben. Dies ist die wahre, die einzige Gleichheit unter den Menschen; wir haben alle die Kraft, zu zerstören. Und auf mein Wort, es ist viel gefährlicher, von einer Frau gehasst zu werden als von einem Mann. Aber seien Sie unbesorgt! Morgen werden wir Fanny Mere zum letzten Male sehen.«

Am nächsten Vormittag besuchte der Doktor seinen Patienten viel früher als gewöhnlich. Er fand den Dänen in dem besten Wohlsein vor, lebhaft und heiter mit seiner Pflegerin plaudernd. »So«, sagte Mr. Vimpany nach der gewöhnlichen Untersuchung und den üblichen Fragen, »das geht ja besser, als ich erwartete. Jetzt sind Sie wieder imstande, allein aufzustehen. Sie können es nach dem Frühstück langsam versuchen; Sie können sich selbst anziehen; Sie brauchen keine Hilfe mehr. Pflegerin«, wendete er sich an Fanny, »wir haben Sie, wie ich glaube, nicht mehr nötig. Ich bin sehr zufrieden mit der aufmerksamen Pflege, die Sie meinem Patienten haben angedeihen lassen. Wenn Sie jemals daran denken sollten, den Beruf einer Krankenpflegerin zu wählen, dann beziehen Sie sich nur auf meine Empfehlung. Mein Versuch«, setzte er nachdenklich hinzu, »ist vollkommen geglückt; ich kann nicht leugnen, dass ich dies zum Teil der Klugheit und Geduld zu danken habe, mit der Sie meine Befehle ausführten, aber ich glaube, dass Ihre Dienste jetzt überflüssig geworden sind.«

»Wann soll ich gehen?« fragte Fanny ruhig.

»In jedem andern Fall würde ich gesagt haben: Bleiben Sie noch etwas länger, so lange es Ihnen beliebt; richten Sie es ganz nach Ihrer eigenen Bequemlichkeit ein. In Ihrem Fall muss ich jedoch sagen: Gehen Sie sofort zu Ihrer Herrin. Lady Harry war sehr betrübt, dass sie Sie hier lassen musste; sie wird sich daher freuen, wenn Sie wieder zu ihr zurückkommen. Wie lange werden Sie Zelt brauchen, um sich zur Abreise fertig zu machen?«

»Ich könnte, wenn es nötig wäre, in zehn Minuten fertig sein.«

»Das ist nicht nötig. Sie können den Nachtzug nach Dieppe benützen. Er verlässt Paris um neun Uhr fünfzig abends. Sie brauchen eine Stunde, um von einer Station zur andern zu gelangen. Wenn Sie daher nur vor sieben Uhr von hier wegfahren, so haben Sie vollkommen Zeit. Sie werden Lord Harry fragen, ob er Ihnen Briefe oder sonst einen Auftrag mitzugeben hat.«

»Gut, Sir«, antwortete Fanny. »Mit Ihrer Erlaubnis werde ich sogleich weggehen, damit ich den Tag für mich in Paris habe.«

»Ganz, wie Sie wollen, ganz, wie Sie wollen«, sagte der Doktor, der sich nicht denken konnte, warum sie einen vollen Tag in Paris bleiben wollte; aber es konnte ja in gar keinem Zusammenhang mit dem kranken Dänen stehen. Er verließ das Zimmer, nachdem er vorher noch versprochen hatte, in einer oder zwei Stunden wieder nach Mr. Oxbye zu sehen. Dann stellte er sich an dem Gartentor auf, durch welches Fanny Mere das Haus verlassen musste. Ungefähr nach einer halben Stunde kam sie den Weg entlang mit ihrer Reisetasche. Der Doktor öffnete ihr die Tür.

»Leben Sie wohl, Fanny«, sagte er; »nochmals meinen besten Dank für Ihre Sorgfalt. Ich bin sehr froh«, fügte er mit seinem, wie er glaubte, süßesten Lächeln hinzu, was aber doch nur wie ein Grinsen aussah, »dass Ihre Bemühungen in einer solchen Weise gekrönt worden sind, wie Sie wohl selbst kaum erwartet haben.«

»Ich danke Ihnen, Sir«, antwortete das Mädchen. »Mr. Oxbye ist jetzt in der Tat wieder fast ganz gesund und kann sich daher wirklich ohne mich behelfen.«

»Die Tasche ist aber viel zu schwer für Sie, Fanny. - Nein, nein, geben Sie sie nur her, ich werde sie Ihnen bis zum Omnibus tragen.«

Es war nicht weit bis zum Omnibus, und die Tasche war auch nicht zu schwer, aber Fanny fügte sich. »Er will sehen, ob ich auch wirklich abreise«, dachte sie.

»Ich will meiner Sache gewiss sein!« dachte er.

Der Doktor kehrte gedankenvoll in das Haus zurück. Jetzt war der Zeitpunkt für die Ausführung seines Planes gekommen. Jedes Hindernis war aus dem Wege geräumt.

»Sie ist fort«, sagte er, als Lord Harry gegen elf Uhr zum Frühstück zurückkehrte. »Ich sah sie mit dem Omnibus nach dem Westbahnhof fahren.«

»Sie ist fort«, wiederholte sein Verbündeter, »und ich bin nun allein in diesem Hause mit Ihnen und mit -«

»Mit dem Kranken - in Zukunft Sie selbst, Mylord.«

Neunundfünfzigstes Kapitel

Vimpany täuschte sich, denn ganz unbemerkt kehrte Fanny zurück. Es ließ ihr keine Ruhe; sie musste dem Doktor auf die Schliche kommen.

In Paris am Bahnhof aus dem Omnibus gestiegen, hatte sie zunächst ein nahegelegenes Hotel aufgesucht, in welchem sie ihre Reisetasche abstellte. Dann hatte sie die Zeit mit Spazierengehen verbracht, um sich die Läden und die Straßen anzusehen, wie sie auf Befragen erklärt haben würde; - um sich einen bestimmten Plan auszudenken, wie sie eigentlich hätte erklären müssen. Sie kaufte sich ein neues Kleid, einen neuen Hut und einen sehr dichten Schleier, der sie auf eine gewisse Entfernung hin unkenntlich machte. Einer Entdeckung durch den Doktor zu entgehen, wenn sie mit ihm in der Nähe zusammentraf, das war unmöglich. Aber sie war fest entschlossen, alles zu wagen; sie wollte sich jeder Gefahr aussetzen, um sich nur über Vimpanys Absichten Klarheit zu verschaffen.

Am nächsten Morgen kehrte sie mit dem Omnibus zurück, so dass sie die Villa ungefähr um ein Viertel auf zwölf Uhr wieder erreichen konnte. Sie wählte diese Zeit aus zwei Gründen: erstens, weil das Frühstück um elf Uhr aus dem Restaurant geschickt wurde und die Herren daher sicherlich um diese Zeit in dem Speisezimmer bei dem Frühstückstisch saßen, und zweitens, weil der Doktor jedesmal nach dem Frühstück seinen Kranken besuchte. Sie konnte daher hoffen, ungesehen ins Haus zu kommen, und das war zunächst notwendig. Das Schlafzimmer, welches dem Kranken, seitdem er sich wohler befand, angewiesen war, lag im Erdgeschoß neben dem Speisezimmer; es stand mit dem Garten durch große Flügeltüren und eine Freitreppe in Verbindung.

Fanny ging vorsichtig den Weg vor der Gartentür entlang; ein rascher Blick überzeugte sie, dass niemand zu sehen war; sie öffnete hastig die Tür und schlüpfte hinein. Sie wusste, dass die Fenster des Krankenzimmers von innen geschlossen und die Rouleaux noch herabgelassen waren, da man den Patienten um diese Zeit noch nicht durch einen Besuch zu stören pflegte. Die Fenster des Speisezimmers gingen nach der andern Seite des Hauses heraus. Fanny eilte geräuschlos und vorsichtig auf die Rückseite der Villa und fand, wie sie erwartet hatte, die dort befindliche Tür weit offen stehen. In der Vorhalle hörte sie die Stimmen des Doktors und Lord Harrys und das Geräusch von Messern und Gabeln. Die beiden Herren saßen also wirklich beim Frühstück.

Aber noch eins: was sollte sie Oxbye sagen? Welchen Grund sollte sie für ihre Rückkehr angeben? Wie sollte sie ihn dazu bringen, Stillschweigen über ihre Wiederkehr zu beobachten? Sie wusste, er hielt große Stücke auf sie, und das gab ihr einen Plan an die Hand. Sie wollte ihm sagen, sie sei zurückgekommen aus Anhänglichkeit an ihn, um, ungesehen von dem Doktor, über ihm zu wachen und ihn geleiten zu können, sobald er zur Reise kräftig genug wäre. Er war eine so einfache, reine Seele und würde sicherlich diese kleine, unschuldige Täuschung für wahr halten. Es würde dann ganz leicht für sie sein, in dem Hause zu bleiben, vollständig ungestört und unbemerkt von den beiden anderen Herren.

Sie öffnete die Tür und sah in das Krankenzimmer.

Der Kranke schlief ganz ruhig, aber nicht in seinem Bett. Er lag vielmehr halb angekleidet und mit einer Decke zugedeckt auf dem Sofa. Mit der Sorglosigkeit eines Wiedergenesenden hatte er sein Lager nach einer schlaflosen Nacht gewechselt und schlief bis tief in den Morgen hinein.

Das Bett stand, wie es meistens in französischen Häusern der Fall zu sein pflegt, in einem Alkoven. Ein schwerer Vorhang fiel davor in Falten über eine Stange herunter, wie das ebenfalls französische Art ist. Ein Teil des Vorhanges lag über dem Kopfende des Bettes.

Fanny erkannte sofort die Möglichkeit, diesen Vorhang als Versteck zu benützen. Es befand sich zwischen dem Bett und der Mauer ein Zwischenraum von ungefähr einem Fuß. Dorthin, an das Kopfende des Bettes, stellte sich Fanny, wo der Vorhang sie vollständig verbarg. Nichts war unwahrscheinlicher, als dass der Doktor hinter das Bett in diesen Winkel sehen würde. Dann bohrte sie mit ihrer Schere ein Loch in den Vorhang, groß genug, um einen vollständigen Durchblick zu gestatten, ohne dass der dahinter Stehende die geringste Gefahr lief, selbst gesehen zu werden, und nun wartete sie der Dinge, die da kommen sollten.

So stand sie wohl eine halbe Stunde lang, während welcher der Schlafende ruhig dalag und die Stimmen der beiden Herren aus dem Speisezimmer herüber bald leiser, bald lauter schallten. Jetzt war gerade ein kurzes Stillschweigen eingetreten. »Sie zünden sich ihre Zigarren an,« sagte Fanny zu sich, »dann werden sie ihren Kaffee trinken und in wenigen Minuten hier sein.«

Als Lord Harry und Mr. Vimpany ein paar Minuten später wirklich in das Krankenzimmer traten, rauchten sie noch ihre Zigarren. Lord Harrys Gesicht war leicht gerötet, vielleicht von dem Wein, den er beim Frühstück getrunken hatte - vielleicht auch infolge des Glases Cognac nach dem Kaffee.

Der Doktor warf sich in einen Stuhl, schlug die Beine übereinander und betrachtete gedankenvoll seinen Patienten. Lord Harry stand ihm gegenüber.

»Jeden Tag geht es mit dem Dänen besser,« sagte er.

»Ja,« antwortete der Doktor, »bis jetzt ist er allerdings jeden Tag wohler geworden.«

»Jeden Tag wird sein Gesicht dicker, und er wird mir dadurch immer unähnlicher.«

»Das ist wahr,« entgegnete der Doktor.

»Ja, was zum Teufel sollen wir nun tun?«

»Noch etwas warten,« antwortete der Doktor gelassen.

Das Mädchen wagte in seinem Versteck kaum zu atmen.

»Was?« fragte Lord Harry. »Sie glauben trotz allem, dass der Mann -«

»Warten wir nur noch ein wenig,« wiederholte der Doktor ruhig.

Lord Harry schüttelte bedenklich den Kopf.

»Hören Sie mich!« sagte der Doktor. »Wer von uns beiden hat Medizin studiert, Sie oder ich?«

»Sie natürlich.«

»Nun gut. Dann sage ich Ihnen als Arzt, dass der Schein trügt. Dieser Mann hier sieht weit besser aus als vor etlichen Wochen; er denkt, dass er wieder gesund werden wird; er fühlt sich kräftiger. Sie selbst haben bemerkt, dass er in seinem Gesicht dicker geworden ist. Seine Pflegerin, Fanny Mere, ging weg mit der Überzeugung, dass es ihm viel besser gehe und dass er binnen kurzem das Haus werde verlassen können.«

»Nun?«

»Nun, Mylord, erlauben Sie mir, Ihnen etwas anzuvertrauen. Ärzte pflegen meistens ihre Kenntnisse in solchen Fällen für sich zu behalten. Wir kennen und entdecken allerlei Symptome, die für Sie unsichtbar sind, und durch diese Symptome - durch diese Symptome gerade,« wiederholte er langsam und sah dabei Lord Harry scharf an, »weiß ich, dass dieser Mann - nicht mehr Oxbye, mein Patient, sondern ein anderer - sich in einem höchst gefährlichen Zustand befindet.«

»Und wann - wann -«

Lord Harry war furchtbar bleich. Seine Lippen bewegten sich zwar, aber er konnte den Satz nicht vollenden. Das, wozu er seine Einwilligung gegeben hatte, war schrecklich nahe, und es sah hässlicher aus, als er erwartet hatte.

»O - wann?« wiederholte der Doktor unbekümmert. »Vielleicht heute, vielleicht in einer Woche. So genau lässt sich das nicht vorausbestimmen.«

Lord Harry atmete tief auf.

»Wenn der Mann sich in einem solch besorgniserregenden Zustand befindet,« sagte er, »ist es dann sicher oder klug von uns, wenn wir in dem Hause allein, ohne einen Dienstboten und eine Wärterin, sind?«

»Ich bin nicht von gestern, das kann ich Sie versichern, Mylord,« sagte der Doktor in seiner scherzhaften Weise. »Die Wärterin ist schon gefunden. Sie wird heute kommen, und das Leben meines Patienten ist nach menschlicher Voraussicht,« - Lord Harry schauderte zusammen - »bis zu ihrer Ankunft vollständig sicher.«

»Gut, aber sie ist eine Fremde. Sie muss doch wissen, wen sie pflegt.«

»Gewiss. Es wird ihr gesagt - das heißt, ich habe es ihr schon gesagt - dass sie Lord Harry Norland, einen jungen irischen Edelmann, pflegen soll. Sie ist eine Fremde. Das ist die wertvollste Eigenschaft, die sie besitzt. Sie ist eine vollkommen Fremde. Und was Sie betrifft, Mylord, wer Sie sind? - Alles, was Sie wollen. Ein englischer Edelmann, der mir Gesellschaft leistet bei Lord Harrys trauriger Krankheit. Was kann es Natürlicheres geben? Der englische Doktor ist bei seinem Patienten, und der englische Freund ist bei dem Doktor. Wenn der Versicherungsbeamte Nachforschungen anstellt, - und er wird es höchstwahrscheinlich tun - dann wird die Pflegerin unschätzbar sein, des Zeugnisses wegen, das sie geben wird.«

Er stand auf, zog geräuschlos die Rouleaux in die Höhe und öffnete die Fenster. Weder die frische Luft noch das Licht weckten den Kranken auf.

Vimpany sah nach seiner Uhr.

»Es ist Zeit, dass er die Medizin nimmt,« sagte er; »wecken Sie ihn auf, während ich sie zubereite.«

»Wollen Sie ihn nicht lieber ausschlafen lassen?« fragte Lord Harry, wieder bleich werdend.

»Wecken Sie ihn nur auf, schütteln Sie ihn tüchtig an der Schulter. Tun Sie, was ich Ihnen sage,« entgegnete der Doktor grob. »Er wird schon wieder einschlafen. Eine von den feineren Eigenschaften meiner Medizin ist, dass sie den Kranken Schlaf verschafft; es ist eine höchst beruhigende Medizin. Sie verursacht Schlaf, tiefen Schlaf. Wecken Sie ihn also nur auf.«

Er trat an den Wandschrank, in welchem die Arzneiflaschen aufbewahrt waren. Lord Harry machte mit einiger Mühe den Kranken munter, der sich schwer und matt erhob und fragte, warum man ihn störe.

»Es ist Zeit zum Einnehmen, lieber Freund,« sagte der Doktor. »Sie sollen dann nicht weiter gestört werden, das verspreche ich Ihnen.«

Die geöffnete Tür des Wandschrankes verhinderte die Lauscherin, zu sehen, was der Doktor tat. Aber er brauchte diesmal mehr Zeit zum Füllen des Glases als gewöhnlich. Lord Harry schien das zu bemerken, denn er verließ den Dänen und schaute dem Doktor über die Schulter.

»Was machen Sie?« fragte er in flüsterndem Ton.

»Sie tun besser, nicht zu fragen, Mylord,« antwortete der Doktor. »Was verstehen Sie denn von den Geheimnissen der Arzneikunde!«

»Warum soll ich nicht fragen?«

Vimpany drehte sich um und lehnte die Tür des Wandschrankes an. In seiner Hand hielt er ein bis zum Rande gefülltes Glas.

»Wenn Sie das Glas genau betrachten,« sagte er, »dann werden Sie verstehen, warum.«

Lord Harry warf einen prüfenden Blick auf das Glas und seinen Inhalt. Dann taumelte er zurück, fiel in einen Stuhl und sagte nichts mehr.

»Nun, mein lieber Freund,« sagte der Doktor, »trinken Sie, und es wird Ihnen besser werden, immer besser, immer besser. So, das war brav.« Er sah ihn sonderbar an. »Nun, wie schmeckt die Medizin heute?«

Oxbye schüttelte seinen Kopf wie ein Mann, der etwas Widerliches genossen hat.

»Das schmeckt mir ganz und gar nicht,« sagte er. »Das schmeckt nicht wie die andere Medizin, die ich bisher genommen habe.«

»Natürlich nicht,« entgegnete der Doktor, »denn ich habe sie anders zubereitet; ich habe sie stärker gemacht.«

Der Däne schüttelte wieder seinen Kopf.

»Sie verursacht mir Schmerz in der Kehle,« sagte er, »sie sticht, sie brennt.«

»Geduld, nur Geduld! Es wird sofort vorübergehen, und Sie werden sich dann wieder niederlegen und leicht einschlafen.«

Oxbye sank auf das Sofa zurück; seine Augen schlossen sich. Dann öffnete er sie wieder und sah sich in sonderbarer Weise um wie ein Mann, der eine neue Erfahrung gemacht hat. Dann schüttelte er seinen Kopf, schloss seine Augen wieder und öffnete sie nicht mehr. Er war eingeschlafen.

Der Doktor stand ihm zu Häupten und beobachtete ihn genau. Lord Harry saß in seinem Stuhl; er neigte sich nach vorn und beobachtete auch den Kranken; aber sein Gesicht war schrecklich bleich, und seine Hände zitterten.

Als sie den Schlafenden so anstarrten, fiel sein Kopf ein wenig zur Seite; sein Gesicht wurde dadurch dem Zimmer mehr zugekehrt. Dann trat etwas Sonderbares, etwas Erschreckendes ein. Sein Mund begann sich langsam zu öffnen.

»Hat er - hat er - hat er eine Ohnmacht bekommen?« flüsterte Lord Harry.

»Nein, er ist eingeschlafen. Haben Sie noch niemals einen Menschen mit weitgeöffnetem Mund schlafen sehen?«

Dann waren sie einen Augenblick still. Der Doktor unterbrach zuerst das Schweigen.

»Wir haben heute morgen ausgezeichnetes Licht,« sagte er ruhig. »Ich will einmal den Versuch mit einer Photographie machen. Halt, lassen Sie mich ihm zuerst noch das Tuch so umbinden, dass der Mund geschlossen ist; so - so.«

Der Kranke wurde durch diese Hantierung nicht im mindesten gestört, obgleich der Doktor durchaus nicht zart zu Werke ging. Ein gesunder Schläfer wäre gewiss davon aufgewacht.

»Nun wollen wir einmal sehen, ob er aussieht wie ein nach dem Tode Photographierter.«

Vimpany ging in das nächste Zimmer und kehrte mit dem photographischen Apparat zurück. In wenigen Minuten hatte er ein Bild aufgenommen und hielt das Negativ gegen seinen Ärmel, um es sichtbar zu machen.

»Wir wollen abwarten, wie es aussieht,« sagte er, »wenn es kopiert ist. Vorerst glaube ich kaum, dass es gut genug sein wird, um als ein Bild von Ihnen gelten zu können, das an die Versicherungsgesellschaft geschickt werden muss. Niemand, der Sie kennt, würde, fürchte ich, dies für ein nach dem Tode aufgenommenes Bild Lord Harrys halten. Nun, wir wollen sehen; vielleicht sind wir morgen in der Lage, eine bessere Photographie zu bekommen - nicht wahr?«

Lord Harry folgte seinen Bewegungen und beobachtete ihn genau, sagte aber nichts. Sein Gesicht blieb bleich, und seine Finger zitterten immer noch. Es konnte jetzt weder an Vimpanys verbrecherischer Absicht noch an dem Verbrechen selbst länger gezweifelt werden. Er wagte es nicht, sich zu bewegen oder zu sprechen.

Da tönte der Schall der Haustürglocke. Lord Harry fuhr mit einem Schreckensrufe von seinem Stuhl auf.

»Das ist die Pflegerin,« sagte der Doktor ruhig, »die neue Pflegerin, die Fremde.«

Er löste das Tuch, mit dem er Oxbyes Kinnlade hinaufgebunden, sah sich im Zimmer um, als ob er sich überzeugen wollte, ob alles an seiner richtigen Stelle stehe, und ging dann hinaus, um die Frau hereinzulassen.

Lord Harry sprang auf und fuhr mit der Hand über das Gesicht des Kranken.

»Ist es möglich?« flüsterte er. »Kann der Mann vergiftet sein? Ist er schon tot - schon, und vor meinen Augen umgebracht?«

Er legte seine Finger auf den Puls des Kranken, aber der Klang der Schritte und der Stimme des Doktors schreckten ihn zurück. Vimpany trat mit der neuen Pflegerin in das Zimmer. Sie war eine ältliche, bescheiden aussehende Frau. Lord Harry blieb an der Seite des Sofas stehen in der Hoffnung, der Däne würde wieder aufwachen.

»So,« sagte Vimpany freundlich, »hier ist Ihr Patient, Pflegerin; er ist jetzt eingeschlafen. Lassen Sie ihn nur ruhig ausschlafen, er hat seine Medizin schon genommen und wird für eine Zeit lang nichts weiter bedürfen. Wenn Sie etwas wünschen, so lassen Sie es mich wissen; wir werden in dem nächsten Zimmer sein oder im Garten, irgendwo in der Nähe des Hauses. Kommen Sie, lieber Freund!«

Er zog Lord Harry sanft bei dem Arm weg, und beide verließen das Zimmer.

Fanny Mere begann hinter dem Vorhang darüber nachzusinnen, wie sie wohl ungesehen entkommen könnte.

Die Pflegerin, allein gelassen, sah sich jetzt ihren Patienten an, welcher mit dem Gesicht ihr zugekehrt lag; seine Augen waren geschlossen, und sein Mund stand weit offen. »Ein sonderbarer Schlaf,« murmelte sie; »aber der Doktor muss es, wie ich denke, ja wissen; er soll ausschlafen!«

»In der Tat ein sonderbarer Schlaf!« dachte die Lauscherin. Sie fühlte sich in diesem Momente versucht, hervorzutreten und zu bekennen, was sie gesehen hatte; aber der Gedanke an Lord Harrys Mittäterschaft hielt sie zurück. Mit welchem Gesicht konnte sie zu ihrer Herrin zurückkehren und ihr sagen, dass sie es in der Hand habe, ihren Gatten des Mordes zu beschuldigen! Sie entschloss sich daher, zu warten.

Die Wärterin legte ihren Hut und ihren Mantel ab und sah sich im Zimmer um. Sie trat an das Bett und prüfte das Bettzeug und das Kissen, wie es eine gute französische Hausfrau tut. Ob sie wohl den Vorhang zurückschlagen würde? Wenn sie das täte, was sollte dann geschehen? Dann würde es notwendig sein, die neue Pflegerin in das Vertrauen zu ziehen, denn sonst... Fanny dachte das Ende dieses Satzes nicht aus; es hieß: Wenn Vimpany herausbekommen würde, wo sie gewesen war, was sie gesehen und gehört hatte, dann würden statt eines Menschen zwei in einen tiefen Schlummer fallen.

Die Pflegerin ging aber wieder von dem Bett weg und trat, durch die halb geöffnete Tür angezogen, an den Wandschrank. Da standen die Medizinflaschen; sie nahm eine nach der andern heraus und betrachtete sie mit berufsmäßiger Neugierde; sie entkorkte jede und roch daran; dann stellte sie die Flaschen wieder an ihren früheren Platz zurück. Darauf ging sie an die offen stehende Glastür und trat hinaus auf die in den Garten führende Steintreppe. Sie sah sich rings um und atmete mit vollen Zügen die weiche, von dem Duft der zahlreichen Blumen erfüllte Luft ein. Nach einer Weile kehrte sie in das Zimmer zurück, und es hatte den Anschein, als ob sie noch einmal das Bett untersuchen wollte. Sie wurde indes durch ein kleines Bücherbrett davon abgelenkt und begann ein Buch nach dem andern herunterzunehmen und durchzublättern wie eine halbgebildete Person, in der Hoffnung, etwas recht Unterhaltendes zu finden.

Und sie fand auch ein Buch mit Bildern. Sie setzte sich in den Armstuhl nieder neben dem Sofa und sah sich langsam ein Blatt nach dem andern an. Wie lange sollte das dauern?

Es dauerte ungefähr eine halbe Stunde. Die Pflegerin legte das Buch gähnend weg, lehnte sich in den Sessel zurück, gähnte noch einmal, faltete die Hände und schloss die Augen. Sie stand im Begriff, einzuschlafen. Wenn sie nur wirklich auch einschlafen wollte, damit das Mädchen hinter dem Vorhang ungesehen entschlüpfen könnte!

Aber zuweilen wird der Schlaf, gerade wenn man am meisten dazu geneigt ist, durch ein Ungefähr verscheucht. In diesem Fall geschah es dadurch, dass sich die Pflegerin, bevor sie einschlief, daran erinnerte, dass sie einen kranken Mann zu pflegen hatte. Sie richtete sich daher noch einmal auf, ehe sie sich ganz der süßen Ruhe hingab, und sah den Schlafenden genau an.

Wie von einer plötzlichen Eingebung geleitet, sprang sie auf und beugte sich über den Mann. »Atmet er noch?« fragte sie. Sie beugte sich tiefer. »Schlägt sein Puls noch?«

Sie ergriff sein Handgelenk.

»Doktor,« schrie sie laut auf und rannte in den Garten, »Doktor, kommen Sie, kommen Sie schnell, er ist tot!«

Fanny Mere trat rasch aus ihrem Versteck hervor und eilte durch die an der Rückseite des Hauses gelegene Tür, durch den Garten und auf die Straße hinaus.

Sie war entkommen, sie hatte das Verbrechen begehen sehen. Jetzt wusste sie endlich, was man beabsichtigt hatte, und warum sie fortgeschickt worden war. Nur den Zweck des Verbrechens konnte sie nicht erraten.

Sechzigstes Kapitel

Was sollte sie mit diesem schrecklichen Geheimnis tun?

Der Polizei davon Mitteilung machen! Aber dem stand zweierlei entgegen. Erstens konnte sich die Pflegerin sehr leicht geirrt haben, als sie annahm, ihr Patient sei tot, und zweitens kam ihr der fürchterliche Gedanke, dass sie bis zu dem vorhergegangenen Tage die Pflegerin des Kranken gewesen sei, seine einzige Pflegerin bei Tag und Nacht. Was konnte den Doktor verhindern, die Schuld, ihn vergiftet zu haben, auf sie zu wälzen? Nein! Der Mann war den ganzen Morgen allein gelassen worden; am Tag vorher war jedes Anzeichen vorhanden gewesen, dass er wieder gesund werden würde. Sie hätte also bekennen müssen, dass sie sich versteckt hatte. Wie lange war sie in dem Versteck gewesen, und warum hatte sie sich versteckt? War es nicht geschehen, nachdem sie den Mann vergiftet hatte und die nahenden Schritte des Doktors hörte? Da sie selbstverständlicherweise mit den Giften und ihren Wirkungen wenig vertraut war, so schien es ihr, als ob die Tatsachen in dieser Zusammenstellung gegen sie sprächen. Deshalb beschloss sie, den Tag über ruhig in Paris zu bleiben und am Abend mit dem Dampfschiff von Dieppe aus nach England überzufahren. Die ersten, denen sie alles, was sie gehört und gesehen hatte, entdecken wollte, sollten Mrs. Vimpany und Mr. Mountjoy sein, und was sie dann ihrer Herrin sagen sollte, das sollten ihr die anderen raten.

Sie kam sicher in London an und fuhr geradenwegs in das Hotel, in welchem Hugh Mountjoy wohnte, da sie vorhatte, zuerst ihm die ganze Geschichte mitzuteilen.

Sie fand aber in seinem Wohnzimmer nur Mrs. Vimpany.

»Wir dürfen ihn nicht aufwecken, was Sie auch für Nachrichten bringen mögen. Seine volle Wiederherstellung hängt einzig und allein von vollständiger Ruhe ab. Hier,« - sie zeigte auf den Kaminsims - »hier liegt ein Brief von Mylady. Ich fürchte, ich weiß nur zu gut, was er enthält.«

»Was soll er enthalten?«

»Heute morgen war ich in ihrer Wohnung,« fuhr Mrs. Vimpany fort, »aber sie war nicht mehr da.«

»Nicht mehr da? Mylady war fort? Ja, wohin kann sie denn gegangen sein?«

»Nun, wohin glauben Sie wohl, dass sie gegangen sein wird?«

»Doch nicht etwa zu ihrem Gatten? Nur nicht zu ihm, es wäre schrecklich! Es wäre noch viel schrecklicher, als Sie sich denken können.«

»Sie werden mir nachher erzählen, warum das jetzt um so viel schrecklicher ist als früher. Inzwischen habe ich herausbekommen, dass dem Kutscher befohlen war, nach dem Bahnhof zu fahren. Das ist alles, was ich weiß. Ich hege indessen nicht den geringsten Zweifel, dass sie zu ihrem Gatten zurückgegangen ist. Sie befand sich immer in einer tief niedergeschlagenen Stimmung, seitdem sie nach England gekommen war. Mr. Mountjoy ist auch diesmal so liebenswürdig wie immer gegen sie gewesen, aber er war doch nicht imstande, ihren Kummer zu verscheuchen. Ob sie sich nun wirklich nach ihrem Gatten gesehnt hat, oder ob sie - ich kann das zwar kaum glauben - den Mann, welchen sie verloren, mit dem Mann, den sie geheiratet hat, verglich, das weiß ich nicht. Ich weiß nur das eine, dass sie, seitdem sie aus Frankreich kam, unglücklich gewesen ist, und glaube, sie hat sich immer darüber Vorwürfe gemacht, dass sie ihren Gatten ohne hinreichende Gründe verlassen hat.«

»Hinreichende Gründe?« wiederholte Fanny. »O, gnädiger Gott, wenn sie nur wüsste! Es sind Gründe genug vorhanden, um hundert Gatten zu verlassen.«

»Nichts schien sie aufzuheitern,« fuhr Mrs. Vimpany fort, ohne die Unterbrechung zu beachten. »Ich fuhr mit ihr hinaus auf das Gut, um ihr früheres Kammermädchen, Rhoda Bennet, zu besuchen. Die Gesundheit des Mädchens ist wieder zurückgekehrt; sie steht im Begriff, sich mit dem Bruder des Pächters zu verheiraten. Lady Harry war sehr freundlich mit ihr und sagte ihr die liebenswürdigsten Dinge; sie zog sogar einen der hübschesten Ringe von ihrem Finger und gab ihn dem Mädchen. Aber ich konnte sehen, dass es sie große Anstrengung kostete, Teilnahme zu heucheln. Ihre Gedanken weilten während der ganzen Zeit bei ihrem Gatten. Ich war schon seit langem fest davon überzeugt, dass es in dieser Weise endigen würde, und ich bin daher auch nicht im mindesten überrascht; aber was wird Mr. Mountjoy sagen, wenn er den Brief öffnet?«

»Zurück zu ihrem Gatten?« wiederholte Fanny. »O mein Gott, was sollen wir dann tun?«

»Ich verstehe nicht recht den Zusammenhang Ihrer gesteigerten Befürchtungen. Was hat sich denn neuerdings ereignet?«

»Ich muss es Ihnen erzählen; ich dachte, ich würde es zuerst Mr. Mountjoy mitteilen können, aber ich muss es Ihnen jetzt sagen, obgleich - obgleich -« Sie hielt inne.

»Obgleich es meinen Gatten betrifft. Kehren Sie sich nicht daran und erzählen Sie mir ruhig alles, was Sie wissen.«

Fanny berichtete nun die ganze Geschichte von Anfang an.

Als sie geendet hatte, sah Mrs. Vimpany ängstlich nach der Tür des Schlafzimmers.

»Gott sei Dank,« sagte sie, »dass Sie diese Geschichte mir anstatt Mr. Mountjoy erzählt haben. Jedenfalls bitte ich Sie inständigst, ihn ja nichts von alledem wissen zu lassen. Wir können jetzt gar nichts tun. Nur Sie müssen sogleich wieder fort. Mr. Mountjoy darf Sie nicht hier finden, er darf Ihre Geschichte nicht hören. Wenn er erfährt, was sich ereignet hat, und wenn er dann noch den Brief von Lady Harry liest, dann wird ihn niemand und nichts davon abhalten können, ihr nach Passy zu folgen. Er wird sofort begreifen, dass sie jedenfalls in diese verbrecherische Gemeinschaft verstrickt wird, und er wird sich der größten Gefahr aussetzen bei dem erfolglosen Versuch, sie zu retten. Er ist zu schwach, um die Reise ertragen zu können, er ist viel zu schwach für die heftigen Erregungen, welche dann noch folgen werden, und vor allem viel zu schwach, um es mit meinem Gatten aufnehmen zu können.«

»Was sollen wir aber dann um Gottes willen anfangen?«

»Alles, alles lieber, als dulden, dass Mr. Mountjoy sich zwischen Lord Harry und seine Frau stellt.«

»Ja, ja, aber solch ein Mann! Mrs. Vimpany, Lord Harry war zugegen, als der Däne vergiftet wurde; er wusste, dass der Mann vergiftet wurde; er saß in seinem Stuhl, sein Gesicht war leichenblass, aber er sagte nichts. Ich habe es kaum über mich gewinnen können, nicht hervorzuspringen und dem Doktor das Glas aus der Hand zu schlagen. Lord Harry aber sagte nichts.«

»Liebe Fanny, begreifen Sie nicht, was Sie tun sollen?«

Fanny gab keine Antwort.

»Bedenken Sie - mein Gatte - Lord Harry - keiner von ihnen weiß, dass Sie zugegen waren. Sie können daher ohne jedes Bedenken nach Passy zurückkehren, und dann werden Sie, was sich immer auch ereignen mag, zur Hand sein, um Mylady zu schützen. Bedenken Sie nur, Sie können als ihr Kammermädchen immer bei ihr sein, in ihrem Zimmer, bei Nacht, überall und zu jeder Zeit, während Mr. Mountjoy nur hie und da das könnte, und außerdem noch der Gefahr ausgesetzt wäre, mit ihrem Gatten Streit zu bekommen.«

»Das wäre er!« sagte Fanny.

»Und Sie sind kräftig und gesund, während Mr. Mountjoy schwach und krank ist.«

»Sie meinen also, dass ich nach Passy zurückkehren soll?«

»Sofort, ohne jeden Aufschub. Lady Harry reiste vergangene Nacht ab; fahren Sie heute abend, sie wird Sie dann vierundzwanzig Stunden nach Ihrer Ankunft bei sich haben.«

Fanny stand auf.

»Ich werde gehen,« sagte sie. »Wenn mich auch schon der bloße Gedanke an eine Rückkehr in dieses schreckliche Haus zu dem furchtbaren Mann schreckt, so werde ich dennoch gehen. Mrs. Vimpany, ich weiß, dass es von keinem Nutzen sein wird. Was sich in Zukunft ereignet, das wird sich ereignen, ohne dass es in meiner Gewalt steht, es zu befördern oder es zu verhindern. Ich bin fest überzeugt, dass meine Reise ganz nutzlos sein wird. Aber ich werde abreisen, ja, ich werde heute abend noch nach Passy abreisen.«

Dann gab sie das Versprechen, so bald wie möglich zu schreiben, wenn sie etwas Wichtiges mitzuteilen hätte, und ging fort.

Mrs. Vimpany horchte, allein gelassen, nach dem Schlafzimmer, aber es ließ sich darin kein Laut vernehmen. Mr. Mountjoy schlief noch. Wenn er kräftig genug wäre, dann würde es hinreichend Zeit sein, um ihm mitzuteilen, was geschehen war. Sie saß nachdenklich da. Selbst wenn man den schlechtesten Gatten von der Welt hat und seinen Charakter ganz und gar kennt, so ist es doch höchst peinlich, eine solche Geschichte von ihm zu hören, wie sie Fanny ihr soeben erzählt hatte.

Einundsechzigstes Kapitel

»Er ist ganz tot,« sagte der Doktor, indem er mit der einen Hand den Puls des Toten fühlte und mit der andern Hand sein Augenlid aufhob, »er ist tot. Ich dachte nicht, dass es so schnell gehen würde. Noch vor einer halben Stunde ließ ich ihn ganz ruhig atmend zurück. Hat er noch einige Zeichen von Bewusstsein gegeben?«

»Nein, Sir.«

»Heute morgen war er so heiter. Ein so plötzlich eintretender Umschlag ist nicht ungewöhnlich bei solchen Kranken. Ich habe ähnliches schon bei vielen Fällen meiner Praxis bemerkt. Gerade an dem letzten Morgen vor dem Sterben, in demselben Moment, in welchem der Tod mit aufgehobener Sense an der Schwelle steht, ist der Kranke munter und sogar heiter; er schaut hoffnungsvoller in die Zukunft als seit vielen Monaten. Er denkt - ja, er ist vollkommen überzeugt davon, dass er wieder gesund werden wird; er sagt, dass er über kurz oder lang aufstehen und seiner Wege gehen werde; seit dem Beginn seiner Krankheit hat er sich nie so kräftig gefühlt. Dann schlägt ihn der Tod nieder, und er sinkt dahin.«

Der Doktor brachte diese Darlegung in sehr einleuchtender Weise vor.

»Jetzt bleibt nichts anderes zu tun übrig, als die Ursache des Todes zu bestätigen, die üblichen Formalitäten zu erfüllen und so die Behörden zu befriedigen. Ich werde diese Verpflichtung auf mich nehmen. Der unglückliche junge Mann gehörte zu einer hoch angesehenen Familie. Ich werde an seine Verwandten und an seine Freunde schreiben und ihnen seine Papiere übersenden, und noch eine letzte Pflicht kann ich für ihn tun: ich werde im Interesse seiner Familie und Freunde eine letzte Photographie von ihm aufnehmen, wie er auf seinem Totenbette ruht.«

Lord Harry stand in dem Hausflur und hörte stöhnend und furchtsam zu. Er wagte es nicht, in das Zimmer einzutreten; es war das Sterbezimmer. Welchen Teil hatte er daran, den vernichtenden Engel gerufen zu haben, der den Befehlen und Wünschen eines jeden zu Gebot steht, selbst des Geringsten? Rufe ihn, und er kommt! Befiehl ihm, jemand niederzustrecken, und er gehorcht!

Schwer seufzend wendete sich Lord Harry von dem ihn schier erdrückenden Bilde des Todes ab und ging aus dem Hause. Eine Stunde lang wandelte er auf der Straße weiter, dann blieb er stehen und ging wieder zurück. Wie mit Stricken zog es ihn heim, er konnte nicht länger widerstehen. Es war ihm, als ob sich etwas ereignet haben müsste. Möglicherweise fand er den Doktor arretiert und die Polizei auf ihn selbst wartend, um ihn als Mitschuldigen oder als Anstifter eines Verbrechens zu verhaften.

Er fand jedoch bei seiner Rückkehr nichts Derartiges vor. Der Doktor saß in dem Salon, und vor ihm lagen verschiedene Briefe und amtliche Formulare. Vimpany blickte vergnügt zu ihm auf.

»Mein lieber Freund,« sagte er, »das unerwartet schnelle Ende des jungen irischen Lords ist ein sehr trauriges Ereignis. Ich habe den Namen des Rechtsanwalts der Familie ausfindig gemacht und an ihn geschrieben. Ich habe ferner an seinen Bruder geschrieben als das Haupt der Familie. Ich fand auch, als ich seine Papiere durchsuchte, dass er sein Leben versichert hatte; ich habe daher der Versicherungsgesellschaft seinen Tod mitgeteilt. Ferner haben die Behörden, die in solchen Dingen ganz besonders aufmerksam und peinlich sind, die notwendigen Berichte erhalten. Morgen, wenn alle gesetzlichen Formalitäten erfüllt sind, werden wir den Verstorbenen begraben.«

»So bald?«

»So bald?! Je schneller ein Toter in solchen Fällen von vorgeschrittener Lungenkrankheit begraben wird, um so besser ist es. Der französische Gebrauch einer schnellen Beerdigung kann als gesünder als der unsrige sehr wohl verteidigt werden; andererseits gebe ich aber auch zu, dass er viele bedenkliche Seiten hat. Verbrennung ist vielleicht die beste und einzige Methode, um den Toten fortzubringen, gegen die man nichts einzuwenden hat als nur das eine: ich meine nämlich die Möglichkeit, dass der Tote durch Gift aus dem Wege geräumt worden ist. Aber solche Fälle sind selten, und sie würden auch meistens von dem Arzt, der mit der Behandlung betraut worden ist, vor oder während des Todes entdeckt werden. Ich glaube, wir brauchen nicht - aber, mein lieber Freund, Sie sehen ja so schlecht aus, hat Sie denn so etwas Einfaches, wie der Tod eines Menschen, angegriffen? Erlauben Sie, dass ich Ihnen sogleich etwas verschreibe. Ein Glas unvermischten Cognac. So,« - er ging in das Esszimmer und kehrte mit seiner Medizin zurück - »jetzt trinken Sie das erst, dann wollen wir weiter mit einander reden.«

Der Doktor setzte die Unterhaltung in der liebenswürdigsten Weise fort, ohne dass er dabei jemals seine Tat und deren Folgen, die sie möglicherweise haben konnte, erwähnte. Er erzählte Geschichten aus den Hospitälern, welche von plötzlichen und unerwarteten Todesfällen handelten. Einige von ihnen behandelte er in scherzhafter Weise. Der Tote in dem nächsten Zimmer war ein Fall; er kannte noch viele ähnliche und gleich interessante Fälle. Sobald man einmal so weit gekommen ist, einen Toten für einen Fall anzusehen, dann ist nicht viel Furcht vor der gewöhnlichen menschlichen Schwachheit vorhanden, welche uns erzittern lässt in der erhabenen Gegenwart des Todes.

Draußen auf dem Korridor wurden jetzt Schritte hörbar. Der Doktor stand auf und verließ das Zimmer, kam aber schon nach wenigen Minuten zurück.

»Die Leichenträger sind da; sie sind jetzt mit der Pflegerin bei ihrer Arbeit beschäftigt. Für die anderen Menschen hat ihr Geschäft etwas Aufregendes; für sie ist es aber nichts weiter als ihre tägliche Arbeit. Ich habe auch, nebenbei gesagt, eine Photographie von dem Toten in Gegenwart der Pflegerin genommen; unglücklicherweise aber - nun. Sie werden ja selbst sehen.«

Lord Harry wendete sich ab. - »Ich will's nicht sehen, ich kann den Anblick nicht ertragen. Sie vergessen, ich war ja gerade dabei, als -«

»Sie waren nicht dabei, als er starb; seien Sie doch kein Narr. Was ich sagen wollte, war das: das Gesicht ist nicht im mindesten Ihnen ähnlich. Niemand, der Sie jemals auch nur einmal sah, würde glauben, dass es Ihr Gesicht ist. Der Mann - er hat uns umsonst viel Mühe verursacht - war Ihnen, als er kam, ein wenig ähnlich. Ich hatte unrecht, als ich annahm, dass diese Ähnlichkeit dauern würde. Nun er tot ist, ist keine Spur mehr davon vorhanden. Ich hätte daran denken sollen, dass die Ähnlichkeit mit dem Tod aufzuhören und zu verschwinden pflegt. - Kommen Sie, sehen Sie sich ihn an.«

»Nein, nein!«

»Verdammte Schwachheit! Der Tod gibt jedem Menschen seine Individualität wieder. Nicht zwei Menschen sehen sich im Tode gleich, wenn sie es auch im Leben gewesen sind. Gut; wir kommen also zu folgendem: Wir wollen Lord Harry Norland morgen begraben, und wir müssen eine Photographie von ihm haben, wie er auf seinem Totenbett liegt.«

»Nun?«

»Nun, mein Freund, gehen Sie hinauf in Ihr Zimmer, und ich werde Ihnen mit meinem photographischen Apparat nachkommen.«

Nach einer Viertelstunde hielt er das Glas gegen seinen Rockärmel.

»Ausgezeichnet!« sagte er. »Die Backen sind etwas eingefallen; das ist die Wirkung der Kreide und die richtige Anwendung des Schattens. Die Augen sind geschlossen, das Gesicht ist weih, und die Hände sind ruhig ausgestreckt. Es ist wunderbar! Wer behauptet nun noch, dass es uns nicht möglich ist, die Sonne zur Lügnerin zu machen?«

Er verwendete eine oder zwei Stunden darauf, von dem Negativ eine zweite Kopie zu nehmen. Diese gab er Lord Harry.

»Wir werden morgen noch einen bessern Abzug machen; hier ist der erste.«

Er hatte ihn auf einen Karton aufgezogen und darunter den Namen geschrieben, den der Tote einst getragen hatte, mit dem Datum seines Todes. Das Bild schien in der Tat das Bild eines Toten zu sein. Lord Harry schauderte.

»Alles andere,« sagte er, »ist für uns von keinem Nutzen gewesen; die Gegenwart des kranken Mannes, die Verdachtsgründe der Pflegerin, sein Tod, sogar sein Tod hat uns nichts genützt. Wir hätten uns das Andenken, das schreckliche Andenken an seinen Tod sparen können.«

»Sie vergessen, mein lieber Freund,« entgegnete Vimpany gelassen, »dass wir einen Leichnam brauchten. Wir müssen jemand begraben, warum also nicht den Dänen Oxbye?«

Zweiundsechzigstes Kapitel

Mrs. Vimpany hatte natürlich vollständig recht gehabt. Iris war zu ihrem Gatten zurückgereist. Sie kam am Abend bei der Villa an, gerade bevor es dunkel wurde - zu der Zeit also, wo manche Menschen mehr als sonst empfänglich für Erscheinungen und Laute sind und die Augen leichter als zu anderen Zeiten durch sonderbare Truggebilde getäuscht werden. Iris trat in den Garten, fand aber niemand darin. Sie öffnete die Tür des Hauses mit ihrem eigenen Schlüssel und ging hinein. Das Haus kam ihr so sonderbar still und leer vor. Sie öffnete die Tür des Speisezimmers; auch dort war niemand. Wie alle französischen Esszimmer wurde es zu nichts anderem benutzt als zum Abhalten der Mahlzeiten und war daher auch nur mit den nötigsten Gegenständen ausgestattet. Sie schloss die Tür wieder und öffnete die des Empfangszimmers; auch das fand sie leer. Sie rief ihren Gatten; es kam keine Antwort. Sie rief den Namen der Köchin; auch hierauf ließ sich kein Laut vernehmen. Es war ein großes Glück, dass sie nicht auch noch die Tür des nächsten Zimmers aufmachte, denn dort lag der Leichnam des Verstorbenen. Sie stieg die Treppen hinauf in ihres Mannes Zimmer; das war auch leer, aber auf dem Tisch lag etwas, - eine Photographie. Sie nahm sie in die Hand; ihr Gesicht wurde plötzlich kreideweiß; sie schrie laut auf, dann ließ sie das Bild fallen und sank selbst ohnmächtig auf den Boden nieder, denn das Bild war kein anderes als das ihres Gatten, der tot dalag - in weißen Sterbekleidern, mit geschlossenen Augen und wachsbleichen Wangen.

Ihr Schrei drang zu den Ohren Lord Harrys, der sich unten im Garten befand. Er eilte in das Haus, hob seine Gattin auf und trug sie auf das Bett. Die Photographie sagte ihm deutlich, was geschehen war.

Iris kam bald wieder zu sich. Als sie aber ihren Gatten lebend vor sich sah und sich erinnerte, was sie gesehen hatte, da schrie sie wieder laut auf und bekam eine zweite Ohnmacht.

»Was ist jetzt zu tun?« fragte sich Lord Harry. »Was soll ich ihr sagen? Wie soll ich ihr das Ungeheuerliche verständlich machen?«

Es war niemand da, der helfen konnte. Die Pflegerin war ausgegangen, um einige Besorgungen zu machen; der Doktor traf die Vorbereitung zur Beerdigung Oxbyes unter dem Namen Lord Harry Norlands. Das Haus war leer.

Solch ein Ohnmachtsanfall dauert nicht ewig; auch Iris kam wieder zu sich, setzte sich in dem Bett aufrecht und blickte wild um sich.

»Was ist das,« schrie sie, »was soll das heißen?«

»Es heißt, Liebling, dass Du wieder zu Deinem Gatten zurückgekehrt bist.«

Er schlang seinen Arm um sie und küsste sie immer und immer wieder.

»Bist Du mein Harry? Lebend, mein Harry?«

»Dein Harry, mein Liebling! Wer sollte ich sonst sein?«

»Dann sage mir, was bedeutet das, jenes Bild, jenes schreckliche Bild?«

»Das Bild? - O, das bedeutet nichts! Eine Laune, ein Scherz des Doktors. Was könnte es auch anderes bedeuten?« Er hob es auf. »Ich lebe, wie Du siehst, mein Liebling, und befinde mich außerordentlich wohl. Was sollte es anderes bedeuten als einen Scherz?«

Er legte das Bild wieder auf den Tisch mit dem Gesicht nach unten, aber ihre Augen sagten ihm, dass sie nicht befriedigt war.

»Man pflegt nicht mit dem Tode zu scherzen; es ist ein wirklich trauriger Spaß, einem Menschen Sterbekleider anzuziehen und ihn zu Photographieren, als ob er gestorben wäre.«

»Aber Du, meine Iris, Du bist hier! Sage mir, wie, warum, wann kamst Du? Erzähle mir alles! Denke nicht mehr an jenes einfältige Bild, erzähle mir!«

»Ich erhielt Deinen Brief, Harry,« antwortete sie.

»Meinen Brief?« wiederholte er. »Du hast meinen Brief erhalten und ersahst daraus, dass Dein Gatte Dich noch liebt?«

»Ich konnte es nicht mehr ohne Dich aushalten, was auch vorgefallen war. Ich blieb weg, so lange ich konnte. Tag und Nacht dachte ich an Dich, und endlich - endlich kehrte ich - kehrte ich zurück. Bist Du mir deswegen böse, Harry?«

»Böse, guter Gott, meiner Iris böse?« Er küsste sie leidenschaftlich - nicht weniger leidenschaftlich, als wenn sie nicht zu einer so schrecklichen Zeit zurückgekehrt wäre. Was sollte er ihr sagen, und wie sollte er es ihr sagen? Während er sie mit seinen Küssen fast erstickte, stellte er sich selbst diese Fragen. Wenn sie es herausbekam, wenn er ihr die volle Wahrheit bekennen würde, dann würde sie ihn sicherlich wieder verlassen. Doch er verstand nicht die Natur der Frau, welche liebt. Er hielt sie in seinen Armen; seine Küsse sprachen für ihn, sie beherrschten sie ganz; sie war bereit, zu glauben und selbst ihre Wahrheitsliebe und Ehrliebe aufzugeben, und sie war bereit, obgleich sie es nicht wusste, die Teilnehmerin an einem Verbrechen zu werden. Lieber, als dass sie ihren Gatten wieder verließ, würde sie alles tun.

Lord Harry fühlte jedoch, dass er etwas verheimlichen müsste: er konnte ihr alles gestehen, nur nicht die Ermordung des Dänen. Kein einziges Wort des Bekenntnisses war über die Lippen des Doktors gekommen, aber Lord Harry wusste nur zu gut, dass der Mann vergiftet worden war, und das war vollständig nutzlos gewesen, so weit wenigstens die Ähnlichkeit Mr. Oxbyes mit ihm in Betracht kam.

»Ich habe Dir sehr viel zu erzählen, Liebling,« sagte Lord Harry, während er ihre beiden Hände zärtlich in den seinigen hielt. »Du wirst sehr viel Geduld mit mir haben müssen. Du musst Dich darauf gefasst machen, dass Du anfangs sehr erschrecken wirst, obgleich ich imstande sein werde, Dich zu überzeugen, dass wirklich nichts anderes getan werden konnte, wirklich nichts anderes.«

»O, fang an, Harry. Erzähle mir alles. Verschweige nichts.«

»Ich will Dir alles erzählen, Liebling,« antwortete er.

»Zuerst, wo ist der arme Mann, den der Doktor herbrachte, und den Fanny pflegte, und wo ist Fanny selbst?«

»Der arme Mann,« antwortete er leichthin, »machte so rasche Fortschritte in seiner Wiedergenesung, dass er bald vollständig wieder auf seinen Beinen war und abreisen konnte. Soviel ich weiß, wollte er zunächst in das Spital zurückgehen, aus dem er kam. Es ist ein sehr großer Triumph für den Doktor, dessen neue Behandlung von Lungenkranken sich jetzt als erfolgreich bewiesen hat. Er wird sehr viel Geschrei damit machen. Ich darf sagen, wenn alles das, was er erzählt, wahr ist, dann hat er in der Tat einen großen Schritt in der Heilung dieser Krankheit getan.«

Iris war nicht lungenkrank und interessierte sich daher auch sehr wenig für diese wissenschaftlichen Sachen.

»Wo ist dann mein Kammermädchen?«

»Fanny? Sie ist fortgegangen; lass mich einmal nachrechnen: heute ist Freitag - am Mittwochmorgen. Es hatte keinen Zweck mehr, sie länger hier zu behalten. Der Mann war wieder gesund, und sie wünschte sehr, zu Dir zurückzukehren. Daher reiste sie am Mittwochmorgen ab mit der Absicht, von Dieppe aus das am Abend abgehende Dampfschiff zu benützen.«

»Sie muss sich dann irgendwo auf ihrer Reise aufgehalten haben. Sie wird aber jedenfalls Mrs. Vimpany in London aufsuchen; ich werde daher an die Frau des Doktors einige Zeilen schreiben.«

»Gewiss, da wird sie sicher zu finden sein.«

»Gut, Harry. Hast Du mir sonst noch etwas zu erzählen?«

»Noch sehr viel,« antwortete er, »noch die Hauptsache. Jene Photographie, Iris, welche Dich so sehr erschreckt hat, ist mit der größten Sorgfalt von Vimpany für einen bestimmten Zweck hergestellt worden.«

»Für welchen Zweck?«

»Es gibt Fälle,« entgegnete er, »in denen das Beste, was einem Mann geschehen kann, ist, dass man ihn gestorben wähnt. In einer solchen Lage befinde ich mich jetzt. Für mich und nicht minder für Dich ist es nützlich, ja sogar notwendig, dass die Welt glaubt, ich sei tot; ich muss daher hinfort als Toter gelten. Nicht etwa, dass ich irgendetwas getan hätte, das diese falsche Annahme erforderlich machte, oder dass ich. mich vor irgendetwas zu fürchten hätte; das brauchst Du nicht zu denken. Nein, es geschieht nur aus dem einfachen Grund, weil ich nicht einen einzigen Pfennig Geld mehr besitze und auch keine Quellen mehr habe, wo ich welches erhalten könnte. Aus diesem Grund allein muss ich gestorben sein. Wenn Du nicht so unerwartet zurückgekehrt wärest, so würdest Du durch den Doktor von meinem Tod gehört haben, und er würde es dem Zufall überlassen haben, eine passende Gelegenheit ausfindig zu machen, wie er Dir die Wahrheit hätte mitteilen können; ich bin indessen tief betrübt, dass ich so sorglos war und diese Photographie auf dem Tisch habe liegen lassen.«

»Ich verstehe Dich nicht,« sagte sie. »Du gibst vor, gestorben zu sein?«

»Ja, ich muss Geld haben, ich muss notwendigerweise Geld haben, und um es zu bekommen, muss ich gestorben sein.«

»Was soll das nützen?«

»Ich habe mein Leben versichert, und die Versicherungssumme wird nach meinem Tod ausbezahlt werden, aber nicht früher.«

»Aber musst Du denn Geld zu bekommen suchen, sogar durch einen -«

Sie zauderte.

»Nenne es eine kleine Intrige, Liebling, wenn Du willst. Da es gar keinen andern Weg gibt, Geld zu bekommen, so muss ich auf diese Weise in den Besitz desselben zu gelangen suchen.«

»O, das ist schrecklich - eine Intrige, Harry? - Ein - ein - ein Betrug!«

»Ja, wenn Du so willst; die Advokaten würden es wenigstens so nennen.«

»O Harry, das ist ja ein Verbrechen! Für solche Handlungen wird man in Untersuchung gezogen, schuldig befunden und verurteilt.«

»Gewiss, wenn es herauskommt. Indessen ist es nur das arme, unwissende, ungeschickte Volk, welches entdeckt wird. In der City geschehen solche Dinge jeden Tag als etwas ganz Selbstverständliches,« fügte er leichtsinnig hinzu. »Es ist nicht gebräuchlich, dass die Männer ihre Frauen bei so etwas ins Vertrauen ziehen; in diesem Fall muss es aber doch geschehen, ich habe keine Wahl, wie Du ohne weiteres einsehen wirst.«

»Sage mir, Harry, wer hat zuerst an diesen Ausweg gedacht?«

»Natürlich Vimpany. O, in solchen Fällen musst Du ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen, wo es sich um wirkliche Klugheit und Schlauheit handelt. Vimpany hat den Plan ausgedacht. Als er mich genau in denselben verzweifelten Vermögensverhältnissen fand, unter denen er jetzt selbst schmachtet, da kam er auf den Ausweg, uns Geld zu verschaffen. Ich wollte, wie ich offen gestehen muss, zuerst nichts davon wissen. Aber wenn man sich so Angesicht gegen Angesicht mit dem vollständigen Ruin findet, dann ist man gern bereit, alles zu tun, und außerdem ist dies auch, wie ich Dir sogleich beweisen werde, kein eigentlicher Betrug; ich nehme einfach nur schon jetzt, was ich oder vielmehr meine Hinterbliebenen nach einigen Jahren doch bekommen werden. Es ist indessen noch ein anderer Grund vorhanden.«

»War denn das Geld wirklich nicht auf eine andere Weise, auf ehrlichem Wege zu bekommen?«

Lord Harry beachtete diese Frage nicht, sondern fuhr fort: »Mein Liebling, Du kannst es vergessen und Du wirst es mir gewiss niemals vorwerfen, aber meine Liebe zu Dir wird es niemals dulden, dass ich vergesse, dass Dein kleines Vermögen bei einer zweifelhaften Spekulation durch mich verlorengegangen ist. Es ist alles fort und keine Aussicht vorhanden, es jemals wiederzugewinnen, und das, nachdem ich geschworen hatte, niemals einen Pfennig davon anzurühren.«

Er sprang auf und ging heftig erregt im Zimmer auf und ab.

»Iris, ich könnte ins Schuldgefängnis wandern, ich könnte meinen vollständigen Ruin ruhig mit ansehen; der Verlust meines ganzen Vermögens würde mir keinen Kummer verursachen, aber dass ich Dich um Dein Vermögen gebracht habe, das kann ich nicht ertragen.«

»Aber, Harry, als ob ich darnach etwas fragte! Alles, was ich besitze, gehört Dir; als ich mich Dir gab, gab ich Dir alles, was mein Eigentum ist. Nimm alles, verwende alles, verliere alles, ich werde niemals deswegen traurig sein, noch irgendein Wort des Vorwurfs und Tadels darüber aussprechen, teuerster Harry, wenn das alles ist.«

»Nein, dass ich weiß, dass Du mir niemals einen Vorwurf machen wirst, das wird gerade mein immerwährender Ankläger sein. Nach meinem Tod wirst Du alles wieder bekommen. Aber ich bin noch nicht alt, ich kann noch viele, viele Jahre leben. Wie kann ich auf meinen eigenen Tod warten, wenn ich imstande bin, dieses Unrecht mit einem Schlage wieder gut zu machen?«

»Aber nur durch ein anderes Unrecht oder durch noch etwas viel Schlimmeres.«

»Nein, kein neues Verbrechen mehr. Du musst bedenken, dass dieses Geld mir gehört. Es wird eines Tages meinen Erben zufallen, so sicher, wie morgen die Sonne scheinen wird. Früher oder später wird es mein sein; ich will es eben nur früher anstatt später haben, das ist alles. Die Versicherungsgesellschaft wird nichts weiter verlieren als die paar elenden Zinsen für den Rest meines Lebens. Mein Liebling, wenn das ein Unrecht ist, so will ich das Unrecht gern auf mich nehmen. Es ist leichter zu tragen als die immerwährenden Selbstvorwürfe, die ich mir machen müsste, so oft ich an Dich dächte und an den Verlust, den Du durch mich erlitten hast.«

Wiederum schloss er sie in seine Arme; er kniete vor ihr nieder und weinte. Dieser Anblick brachte Iris ganz außer sich, und sie versuchte keinen weiteren Widerstand.

»Ist es,« fragte sie furchtsam, »zu spät, umzukehren?«

»Es ist zu spät,« antwortete er, an den Toten unten denkend. »Es ist zu spät, alles ist schon fertig.«

»Mein armer Harry, was sollen wir tun? Wie sollen wir in Zukunft leben? Wie sollen wir es anstellen, nicht entdeckt zu werden?«

Sie wollte ihn nicht verlassen, sie fügte sich in die Verhältnisse. Er war ganz verwirrt über diese Bereitwilligkeit, welche sie zeigte, aber er verstand nicht, wie sie willens war, sich an ihn anzuklammern, selbst wenn er Schlimmeres getan hätte, als er gestanden.

Sie warf sich wieder in seine Arme und vergaß alles, willigte in alles. Von nun an sollte sie, obgleich sie es nicht wusste, das gefügige Werkzeug in der Hand zweier Schurken sein.

Dreiundsechzigstes Kapitel

»Ich habe dieses schreckliche Ding schon einmal ungeschickterweise liegen lassen,« sagte Lord Harry und nahm das Bild vom Tische. »Ich will es jetzt lieber an einen sichereren Platz bringen.« Er schloss eine Schublade auf. »Ich will es hier hineinlegen. Aber da liegt ja mein Testament!« rief er aus, als ob er plötzlich an etwas anderes dächte. »Das werde ich wahrscheinlich nächstens auch einmal auf dem Tisch liegen lassen. Meine süße Iris, ich habe Dir alles hinterlassen, alles wird einst Dein gehören. Bewahre das Testament daher jetzt für mich.« Er nahm das Dokument heraus. »Es ist Dein, Du kannst es ebenso gut schon jetzt haben, und ich weiß, dass es in Deinen treuen, sorgsamen Händen gut aufgehoben sein wird. Ich habe Dir nicht nur alles hinterlassen, sondern Du bist auch die einzige Vollstreckerin meines Willens.«

Iris nahm das Testament, ohne ein Wort zu sagen. Sie verstand jetzt, was es bedeutete. Wenn sie die einzige Vollstreckerin war, so würde sie zu handeln haben. Wenn ihr alles gehören sollte, was er hinterließ, so würde sie auch das Geld bekommen. Auf diese Weise wurde sie durch einen einzigen Schritt nicht nur Mitwisserin des Verbrechens, sondern auch das Hauptwerkzeug, um es auszuführen.

Nachdem dies geschehen war, hatte Lord Harry ihr nur noch zu sagen, was sie jetzt infolge ihrer verfrühten Ankunft tun musste. Er hatte, wie er ihr sagte, geplant, sie nicht eher kommen, sie nicht eher etwas von der Wahrheit wissen oder vermuten zu lassen, als bis das Geld von der Versicherungsgesellschaft an seine Witwe ausbezahlt worden wäre. Wie nun aber einmal die Dinge lägen, so würde es das Beste für sie beide sein, Passy sofort zu verlassen, noch an diesem Abend, bevor irgendjemand etwas von ihrer Ankunft erführe. Vimpany sollte das noch Erforderliche allein besorgen. Sie könnten ihm vollständig trauen; er würde alles, was nötig sei, ausführen.

»Die Behörde wird von dem Doktor schon die Nachricht von meinem Tod erlitten haben. Gestern abend schrieb er an verschiedene, auch an meinen Bruder - der Teufel soll ihn holen! - und an den Rechtsanwalt unserer Familie. In jedem Augenblick, den ich noch hier verweile, wächst die Gefahr für mich, gesehen oder erkannt zu werden, nachdem die Behörde schon davon benachrichtigt ist, dass ich gestorben bin.«

»Wohin wollen wir denn gehen?«

»Daran habe ich auch schon gedacht. Es gibt eine kleine, ruhige Stadt in Belgien, wohin überhaupt niemals ein Engländer kommt. Dahin wollen wir uns wenden. Dann wollen wir einen andern Namen annehmen. Wir werden für die Außenwelt begraben sein und für die übrige Zeit unseres Lebens für uns allein leben. Bist Du damit einverstanden?«

»Ich will alles tun, Harry, was Du für das Beste hältst.«

»Es wird nur für eine gewisse Zeit sein. Wenn alles so weit in Ordnung ist, dann wirst Du vor die Front zu treten haben, das Testament in Deiner Hand wird eröffnet werden, und Du wirst alles erhalten, was Dir als der Witwe des Lord Harry Norland zukommt. Dann wirst Du - aber erst nach einiger Zeit, um allen Argwohn zu vermeiden, nach Belgien zurückkehren und dort wieder die Frau von William Linville werden.«

Iris seufzte schwer. Als sie aber sah, dass die Augen ihres Gatten zweifelnd auf ihr ruhten, zwang sie sich, zu lächeln.

»In allem, Harry,« sagte sie, »bin ich Deine Dienerin. Wann wollen wir abreisen?«

»Sofort. Ich habe nur noch einen Brief an den Doktor zu schreiben. Wo ist Dein Gepäck? Ist das alles? Ich will erst hinausgehen, um zu sehen, ob niemand in der Nähe ist. Hast Du das Testament? - Ah so, hier ist es, in Deiner Reisetasche.«

Er eilte dann schnell die Treppen hinunter, kam aber rasch wieder herauf.

»Die Pflegerin ist zurückgekehrt,« sagte er; »sie ist in dem Zimmer, welches der Kranke bewohnte.«

»Welche Pflegerin?«

»Die Pflegerin, die der Doktor kommen ließ, nachdem uns Fanny verlassen hatte. Der Däne befand sich besser, aber Vimpany hielt es doch für geraten, noch eine neue Wärterin zu engagieren,« setzte er eilig auseinander. Iris fand damals nichts Verdächtiges darin; erst später sollte es dazu kommen. »Geh jetzt ruhig hinunter und verlass das Haus durch die Türe an der Rückseite, dann wird Dich die Wärterin nicht sehen.«

Iris gehorchte und tat, wie Lord Harry ihr gesagt hatte. Sie schlich sich aus ihrem eigenen Hause wie ein Dieb, ebenso wie es ihr Kammermädchen Fanny Mere vor kurzem gemacht hatte. Sie ging durch den Garten und trat dann auf die Straße hinaus; dort wartete sie auf ihren Gatten.

Lord Harry aber setzte sich nieder und schrieb an den Doktor.

Der Brief lautete:

»Lieber Doktor!

»Während Sie die auswärtigen Angelegenheiten besorgen, ist im Innern ein unerwartetes Ereignis eingetreten. Nichts passiert öfter als das Unerwartete. Meine Frau ist zurückgekommen, und das ist doch das unerwartetste Ereignis, welches vorkommen konnte. Alles andere hätte hingehen können. Glücklicherweise hat sie das Krankenzimmer nicht gesehen und weiß infolge dessen auch nicht, was darin ist.

»Über diesen Punkt können Sie sich selbst die Gewissheit holen.

»Meine Frau ist nämlich schon wieder fort. Sie fand auf dem Tisch Ihren ersten photographischen Versuch. Beim Anblick desselben - sie hatte mich nämlich noch nicht gesehen - bekam sie eine kleine Ohnmacht, von der sie sich indessen sehr bald wieder erholte.

»Ich habe ihr die Dinge bis zu einem gewissen Punkt erklärt. Sie sieht die Notwendigkeit ein, dass Lord Harry gestorben sein muss. Sie versteht aber nicht, warum wir ein Begräbnis haben wollen; es liegt auch gar kein zwingender Grund vor, sie darüber aufzuklären. Sie sieht, wie ich glaube, vollständig ein, dass sie nicht hier gewesen sein darf, deshalb geht sie auch sofort wieder weg.

»Die Wärterin hat sie nicht gesehen, sie ist überhaupt von keinem Menschen gesehen worden.

»Sie versteht ferner, dass sie als die Witwe, Erbin und Testamentsvollstreckerin von Lord Harry sein Testament eröffnen lassen und das Geld, welches die Versicherungsgesellschaft ihrem Gatten schuldig ist, in Empfang nehmen muss. Sie will dies tun aus Liebe zu ihrem Gatten. Ich glaube, die Überredungskünste eines gewissen Mannes sind bis jetzt noch nicht nach ihrem vollen Wert gewürdigt worden.

»In Anbetracht der außerordentlichen Dringlichkeit, Iris von hier zu entfernen, bevor sie irgendetwas von dem Inhalt des Krankenzimmers wahrgenommen, und in Anbetracht der außerordentlichen Dringlichkeit, dass ich von hier fortkomme, ehe irgendwelche obrigkeitlichen Nachforschungen stattfinden, werden Sie, wie ich glaube, mit mir übereinstimmen, dass ich recht daran tue, Passy und Paris noch heute nachmittag mit Lady Harry zu verlassen.

»Sie können an William Linville in Louvain in Belgien postlagernd schreiben. Sie werden, wie ich sicher hoffe, diesen Brief sofort vernichten.

»Louvain ist ein ruhiger, weltentlegener Ort, wo man ganz getrennt von den alten Freunden leben kann und noch dazu sehr billig.

»In Anbetracht der kleinen Summe Geldes, die sich noch in meinem Besitz befindet, rechne ich auf Ihr außerordentliches Geschick, mit der größten Sparsamkeit vorzugehen. Ich weiß nicht, wie lange es dauern wird, bis unsere gerechten Forderungen befriedigt werden - vielleicht zwei Monate, vielleicht aber auch ein halbes Jahr. Jedenfalls ist, bis die Angelegenheit in Ordnung kommt, große Sparsamkeit vonnöten.

»Zu gleicher Zeit wird es Lady Harry keine Schwierigkeit verursachen, wenn sie nach London kommt, noch sonst einige Vergünstigungen in pekuniärer Hinsicht mit Hilfe des Rechtsanwalts von der Familie ihres verstorbenen Gatten zu erhalten.

»Ich bedaure sehr, mein lieber Doktor, dass ich Sie allein lassen muss während der Beerdigung dieses unglücklichen jungen Edelmanns. Sie werden auch, wie ich höre, sehr viel Schreibereien mit seiner Familie haben. Sie werden möglicherweise sogar deswegen nach England reisen müssen; aber Sie werden dies alles allein besorgen können, und werden es sehr gut besorgen. Die Rechnung für Ihren ärztlichen Beistand werden Sie gut tun, an die Witwe einzusenden.

»Noch einige Worte: Das Kammermädchen Fanny Mere hat sich nach London begeben, jedoch Lady Harry nicht gesehen. Sobald sie hören wird, dass ihre Herrin London verlassen hat, wird sie natürlich sofort nach Passy zurückkehren. Sie kann daher jeden Moment kommen. Wenn ich Sie wäre, dann würde ich diese Person an der Gartentür empfangen und wieder fortschicken. Das ist wenigstens nach meiner Meinung das Beste; jedenfalls wäre es sehr unangenehm, wenn sie vor dem Begräbnis käme.

»Mein lieber Doktor, ich rechne auf Ihren Verstand, Ihre Klugheit und Ihre Findigkeit.

Ihr ganz ergebener

englischer Freund.«

Lord Harry las den Brief, nachdem er ihn geschrieben hatte, noch einmal sehr sorgfältig durch. Nach seiner Meinung stand nichts irgendwie Gefahrbringendes darin, und doch deutete etwas auf Gefahr. Er ließ den Brief indessen so. Es wäre nahegelegt gewesen, den Doktor noch einmal zur größten Vorsicht zu ermahnen; er musste aber seine Frau so schnell wie möglich und unauffällig wegbringen.

Nachdem er den Brief in ein Couvert geschlossen und denselben an den Doktor adressiert hatte, packte er seine Sachen rasch zusammen und eilte nach dem Bahnhof. Passy sah ihn niemals wieder.

Am nächsten Tage wurden die sterblichen Überreste Lord Harry Norlands bestattet.

Vierundsechzigstes Kapitel

Es war am Samstag nachmittag gegen fünf Uhr. Die Beerdigung war vorüber. Der unglückliche junge irische Edelmann schlief nun in einem Grab auf dem Friedhof von Auteuil den ewigen Schlaf. Sein Name, sein Alter und sein Stand waren vorschriftsmäßig in die Totenliste eingetragen worden, und der englische Arzt, der auf Wunsch der Familie des Verstorbenen dessen Behandlung übernommen, hatte durch seine Unterschrift die Ursache des Todes beglaubigt. Er wurde bei der Erledigung dieser Formalitäten von jener ehrenwerten Frau begleitet, die während der letzten Zeit den Kranken gepflegt hatte. Alles war in der besten Ordnung. Der Arzt war der einzige Leidtragende bei der Beerdigung gewesen. Niemand hatte den kleinen, unscheinbaren Leichenzug beachtet. Eine Beerdigung erregt ja überhaupt stets nur wenig Aufmerksamkeit.

Nachdem die einfache Feierlichkeit vorüber war, gab der Doktor den Auftrag, dass zur Erinnerung an Lord Harry Norland ein einfaches Monument auf dem Grab errichtet werde. Dann kehrte er in die Villa zurück, bezahlte und entließ die Pflegerin, nachdem er vorher ihre Adresse aufgeschrieben hatte für den Fall, dass er eine Gelegenheit finden würde, wie er bestimmt hoffe, sie unter seiner zahlreichen und vornehmen Kundschaft zu empfehlen. Dann machte er sich daran, alles in der Villa in beste Ordnung zu bringen, bevor er die Schlüssel dem Hauseigentümer übergab. Zuerst entfernte er alle Medizinflaschen, die in dem Wandschrank standen, mit der größten Sorgfalt und ließ keine stehen. Die meisten derselben warf er in die Aschengrube; eine oder zwei stellte er in ein Feuer, welches er zu diesem Zweck in der Küche angezündet hatte; in kurzer Zeit waren nur noch zwei kleine Haufen geschmolzenen Glases von ihnen übrig. Diese Flaschen enthielten ohne Zweifel die verborgensten Geheimnisse der Wissenschaft. Dann ging er in jedes Zimmer und suchte an jedem nur möglichen Platz nach etwaigen Briefen oder Papieren, die vielleicht noch liegen geblieben sein konnten. Derartige Dinge sind immer indiskret, und die Folgen einer ihrer Indiskretionen können möglicherweise sehr weit reichen und unberechenbar sein. Nachdem er sich vollständig überzeugt hatte, dass nichts Derartiges liegen geblieben war, setzte er sich in das Empfangszimmer und vollendete seine geschäftliche Korrespondenz mit der Familie des Verstorbenen und den Rechtsanwälten.

Während er noch damit beschäftigt war, hörte er draußen Fußtritte, Fußtritte auf dem Gartenkies und dann Fußtritte im Hausflur. Ohne das leiseste Zeichen von nervöser Erregtheit stand er auf und öffnete die Thür. Lord Harry hatte recht gehabt. Da stand die Frau, welche die erste Pflegerin des Verstorbenen gewesen war - die Frau, welche ihn genau beobachtet und bewacht hatte - die Frau, die noch immer Argwohn gegen ihn hegte. Das sah er sofort, als er sie erblickte, denn der Argwohn und die Absicht, ihn zu beobachten, waren in ihren fest auf ihn gerichteten Augen zu lesen. Sie war zurückgekommen, um ihren Beobachtungsposten wieder anzutreten.

In ihrer Hand hielt sie ihre Reisetasche, welche sie von dem Platz, wo sie aus dem Omnibus ausgestiegen war, bis in die Villa selbst getragen hatte. Sie wollte in die Tür eintreten, aber die dicke Gestalt des Doktors versperrte ihr den Weg.

»Ah, Sie sind es!« rief er, ohne im geringsten überrascht zu sein. »Wer hat Sie denn zurückkommen heißen?«

»Ist meine Herrin zu Hause?« - »Nein, sie ist nicht zu Hause.«

Er machte nicht die geringste Bewegung, um sie hereinzulassen.

»Dann will ich hineingehen und auf sie warten.«

Er stand ihr immer noch im Wege.

»Wann wird sie zurückkehren?«

»Haben Sie von ihr gehört?«

»Nein.«

»Hat sie Ihnen aufgetragen, dass Sie ihr nachkommen sollen?«

»Nein. Ich habe überhaupt keine Nachricht von ihr erhalten. Ich dachte nur -«

»Dienstboten sollen niemals denken. Sie sollen nur gehorchen.«

»Ich kenne meine Pflicht ganz gut, Doktor Vimpany, ohne dass Sie mich erst daran zu erinnern brauchen. Wollen Sie mich vorüber lassen?«

Er trat zurück, und sie schritt in das Haus hinein.

»Kommen Sie, bitte, nur ruhig herein«, sagte er, »wenn Sie mir für einige Zeit Gesellschaft leisten wollen. Ihre Herrin werden Sie aber nicht hier finden.«

»Nicht hier? Wo ist sie denn sonst?«

»Wenn Sie in London einen oder zwei Tage gewartet hätten, so würden Sie jedenfalls, wie ich wenigstens glaube, davon unterrichtet worden sein. Wie die Sache jetzt liegt, haben Sie Ihre Reise umsonst gemacht.«

»Ist sie denn nicht hier gewesen?«

»Sie ist nicht hier gewesen!«

»Doktor Vimpany«, sagte das Mädchen, zum äußersten getrieben, »ich glaube Ihnen nicht. Sie ist ganz bestimmt hier gewesen. Was haben Sie mit ihr gemacht?«

»Sie glauben mir nicht? Das ist traurig, aber ich kann es nicht ändern. - Sie glauben mir nicht? Das ist in der Tat sehr traurig!«

»Sie können sich meinetwegen, so viel Sie wollen, über mich lustig machen. Sagen Sie mir nur das eine: Wo ist Lady Harry?«

»Ja, wo ist sie?«

»Sie verließ London, um sich zu Lord Harry zu begeben. Wo ist er?«

»Das weiß ich nicht. Derjenige, der auf diese Frage eine bestimmte Antwort geben könnte, würde sicherlich ein weiser Mann sein.«

»Kann ich ihn sprechen?«

»Gewiss nicht; er ist fortgegangen auf eine lange, lange Reise.«

»Dann werde ich auf ihn warten - hier«, setzte sie mit Bestimmtheit hinzu, »hier in diesem Hause.«

»Ganz, wie Sie wünschen.«

Sie zögerte. In den Augen des Doktors lag ein zufriedener, beruhigter Ausdruck, den sie nicht gern sah.

»Ich glaube«, sagte sie, »dass meine Herrin im Hause ist. Sie muss im Hause sein. Was haben Sie mit ihr vor? Ich glaube, Sie haben sie irgendwo eingesperrt.«

»Jedenfalls.«

»Sie wären zu allem fähig. Ich werde auf die Polizei gehen.«

»Ganz, wie Sie wünschen.«

»O Doktor, sagen Sie mir, wo sie ist!«

»Sie sind eine treue Dienerin. Es ist schön, dass man in unseren Zeiten noch hie und da ein Mädchen findet, das im Dienst ihrer Herrin so eifrig und ihr so ganz ergeben ist. Treten Sie ein, Sie braves und treues Mädchen, durchsuchen Sie das Haus von oben bis unten, treten Sie ein! Wovor fürchten Sie sich? Setzen Sie Ihre Reisetasche nieder, und suchen Sie nach Ihrer Herrin.«

Fanny tat, wie er sagte. Sie eilte in das Haus, öffnete die Türen zu dem Speise- und Empfangszimmer eine nach der andern; niemand war darin. Sie sprang die Treppen hinauf und sah in das Zimmer ihrer Herrin; auch darin war nichts zu sehen, nicht einmal ein Band oder eine Haarnadel, welche verraten hätte, dass eine Frau kürzlich hier gewesen. Dann blickte sie in Lord Harrys Zimmer, aber auch das war leer. Wenn Frauen Haarnadeln in ihren Zimmern liegen lassen, so lässt ein Mann seine Zahnbürste liegen; aber nichts von alledem war in den Räumen zu entdecken. Dann schloss sie die Schränke in jedem Zimmer auf, nichts Außergewöhnliches war darin enthalten. Sie stieg die Treppen langsam wieder hinunter, gespannt, wie sich das Rätselhafte aufklären werde.

»Darf ich in das Krankenzimmer sehen?« fragte sie, in der Erwartung, eine grobe, abschlägige Antwort zu erhalten.

»Selbstverständlich, selbstverständlich!« erwiderte der Doktor freundlich. »Sie kennen ja den Weg. Wenn darinnen etwas liegen geblieben ist, was Ihnen oder Ihrer Herrin gehört, dann, bitte, nehmen Sie es an sich.«

Sie versuchte noch eine weitere Frage.

»Wo ist mein Kranker, wo ist Mr. Oxbye?«

»Er ist fort.«

»Auch fort? Wohin ist er denn gegangen?«

»Er ging gestern, am Freitag, fort. Er war ein außerordentlich dankbarer Mensch. Ich wünschte, wir hätten noch mehr solche dankbare Kranke, ebenso wie noch mehr solche treue Dienstboten. Er sprach davon, dass er nach London gehen wolle, um Ihnen noch besonders seinen Dank auszudrücken. Wirklich eine gute Seele.«

»Fort?« wiederholte sie. »Aber am Donnerstagmorgen sah ich doch, dass er -«

Sie hielt noch zur rechten Zeit inne.

»Es war am Mittwochmorgen, als Sie ihn zum letztenmal sahen; damals befand er sich auf dem Weg einer raschen Besserung.«

»Aber er war damals doch noch viel zu schwach, um reisen zu können.«

»Sie dürfen ganz versichert sein, dass ich ihm diese Reise nicht gestattet haben würde, wenn er dazu nicht kräftig genug gewesen wäre.«

Fanny gab keine Antwort. Sie hatte mit eigenen Augen den Mann blass und ganz bleich daliegen sehen, als wenn er tot wäre; sie hatte gesehen, wie die neue Pflegerin aufsprang, und hatte gehört, wie sie laut schrie: »Er ist tot!« Und jetzt wurde ihr gesagt, dass er ganz gesund und dass er fortgereist sei! In diesem Augenblick war jedoch keine Zeit, darüber nachzudenken.

Sie stand im Begriff, zu fragen, wo sich die neue Wärterin befinde; aber sie dachte noch zur rechten Zeit daran, dass es für sie das Beste sei, nichts zu wissen und keinerlei Verdacht zu erregen. Sie öffnete die Tür des Krankenzimmers und sah hinein. Ja, der Mann war fort, tot oder lebendig, und keine Spuren seiner Anwesenheit waren zurückgeblieben. Das Zimmer war aufgeräumt; die Türen des Wandschranks standen offen; es war nichts mehr darin; das Bett war gemacht; der Vorhang war zurückgeschlagen und das Sofa wieder an seinen alten Platz an die Wand gerückt; das Fenster stand offen. Nichts in dem Zimmer zeigte an, dass dasselbe noch vor zwei Tagen bewohnt worden war. Der tote Mann war also fort. Sie starrte ratlos vor sich hin. Hatten denn alle ihre Sinne sie getäuscht? War er nicht tot gewesen, sondern hatte er nur geschlafen? Hinter ihr in dem Korridor stand der Doktor vergnügt lächelnd.

Sie erinnerte sich jetzt plötzlich daran, dass ihre Hauptaufgabe war, ihre Herrin zu finden. Sie stand in keinerlei näherer Verbindung mit dem Dänen; sie schloss daher die Tür wieder und trat in die Vorhalle zurück.

»Nun«, fragte der Doktor, »haben Sie irgendwelche Entdeckungen gemacht? Sie sehen, dass das Haus verlassen ist, und werden wohl auch gemerkt haben, dass es für lange Zeit verlassen ist. Was wollen Sie jetzt tun? Werden Sie nach London zurückkehren?«

»Ich muss Mylady finden.«

Der Doktor lächelte.

»Wenn Sie mit anderen Gesinnungen und anderen Absichten hieher gekommen wären«, sagte er, »so würde ich Ihnen alle diese Mühe erspart haben. Sie kamen indessen mit einem Gesicht, das deutlich Ihren Argwohn zeigte. Sie waren überhaupt immer argwöhnisch und haben immer auf der Lauer gestanden. Es mag sein, dass es aus treuer Ergebenheit und Anhänglichkeit an Ihre Herrin geschah, aber solch eine Absicht ist für andere Leute nicht angenehm. Deswegen habe ich Sie das leere Haus ganz durchsuchen und so Ihren Argwohn befriedigen lassen. Lady Harry ist nicht hier verborgen, und was Lord Harry betrifft, - aber darüber werden Sie ohne Zweifel zur rechten Zeit hören. Und jetzt nehme ich auch keinen Anstand mehr, zu sagen, dass ich Myladys gegenwärtige Adresse kenne.«

»Bitte, sagen Sie mir, wo sich meine Herrin befindet.«

»Es hat den Anschein, als ob Lady Harry vor zwei Tagen über Paris nach der Schweiz gereist ist; sie hat ihre Adresse für die nächsten vierzehn Tage hieher geschickt. Sie wird jetzt, wie ich vermute, dort angekommen sein. Der Ort ist Bern, das Hotel - aber woher weiß ich denn, dass sie Sie haben will?«

»Natürlich will sie mich haben.«

»Oder vielmehr: natürlich wollen Sie sie haben. Das bleibt sich aber ganz gleich, ich trage dafür keine Verantwortlichkeit, sondern nur Sie. Ihre Adresse ist Hotel d'Angleterre in Bern. Soll ich es Ihnen aufschreiben? Hier haben Sie die genaue Adresse: Hotel d'Angleterre in Bern. Jetzt werden Sie es nicht vergessen. Aber sie will nur vierzehn Tage dort bleiben. Wohin sie sich dann begeben wird, kann ich Ihnen nicht sagen, und da alle ihre Sachen fortgeschickt sind und ich auch im Begriff stehe, Passy zu verlassen, so werde ich es wahrscheinlich auch nicht erfahren.«

»Ich muss zu ihr gehen, ich muss sie finden«, rief das Mädchen eifrig aus, »und wenn es nur ist, um mich zu überzeugen, dass mit ihr nichts Schlimmes beabsichtigt ist.«

»Das ist Ihre Sache. Ich für meinen Teil kenne niemand, der Mylady etwas Schlimmes wünscht.«

»Ist Mylord bei ihr?«

»Ich weiß nicht, ob Sie das etwas angeht. Ich habe Ihnen schon gesagt, dass er fortgegangen ist, weit, sehr weit fort. Wenn Sie mit Ihrer Herrin in Bern zusammentreffen, werden Sie ja bald herausbekommen, ob er sich auch dort befindet.«

Etwas in dem Ton seiner Stimme ließ Fanny rasch aufblicken. Aber sein Gesicht verriet nichts.

»Was wollen Sie also tun?« fragte der Doktor. »Sie müssen sich jetzt schnell entschließen, ob Sie nach England zurückkehren oder nach der Schweiz reisen wollen. Hier können Sie nicht bleiben, weil ich die letzten Sachen zusammenpacke und noch heute abend dem Besitzer der Villa die Schlüssel des Hauses übergeben will. Alle Rechnungen sind bezahlt, und ich beabsichtige, sobald als möglich Passy zu verlassen.«

»Ich verstehe nichts von alledem!« flüsterte sie ratlos vor sich hin.

»Mein liebes Kind«, entgegnete der Doktor rauh, »was zum Teufel geht es mich an, ob Sie es verstehen oder ob Sie es nicht verstehen! Lady Harry befindet sich, wie ich Ihnen schon gesagt habe, in Bern; wenn Sie ihr nachreisen wollen, so tun Sie es; das ist Ihre Sache, nicht die meinige. Wenn Sie aber vorziehen, nach London zurückzukehren, dann gehen Sie eben wieder dahin, woher Sie gekommen sind, das ist ebenfalls Ihre Sache. Wünschen Sie sonst noch etwas zu wissen?«

Fanny wollte nichts weiter wissen. Sie nahm ihre Reisetasche wieder in die Hand - diesmal erbot sich der Doktor nicht, diese Tasche für sie zu tragen.

»Wohin gedenken Sie zu reisen?« fragte er. »Wozu haben Sie sich entschlossen?«

»Ich kann mit der Ringbahn bis auf den Lyoner Bahnhof fahren. Von dort aus will ich dann den ersten gewöhnlichen Zug benützen und nach Bern reisen.«

»Dann wünsche ich Ihnen eine glückliche Reise!« rief der Doktor vergnügt und schlug die Türe zu.

Es ist eine lange Reise von Paris nach Bern, selbst für diejenigen, welche erster Klasse und mit einem Schnellzug fahren können - soweit sechzehn Stunden eine lange Reise genannt werden dürfen. Für diejenigen aber, welche in der dritten Klasse eines Personenzugs sich zusammenschütteln lassen müssen, der an jeder kleinen Station anhält, ist es eine überaus lange und ermüdende Reise. Doch selbst die längste Reise nimmt einmal ein Ende. Der Zug fuhr langsam in den Bahnhof von Bern ein, und Fanny stieg mit ihrer Reisetasche in der Hand aus. Ihre Wanderungen waren damit für jetzt vorüber. Sie würde ihre Herrin in dieser Stadt finden und damit am Ziel angelangt sein.

Sie fragte nach dem Weg zu dem Hotel d'Angleterre. Der Sicherheitswachmann mit dem aufgekrämpten Hut sah sie erstaunt an. Sie wiederholte daher ihre Frage.

»Hotel d'Angleterre?« fragte er endlich. »Es gibt kein Hotel d'Angleterre in Bern.«

»O doch, es muss ein Hotel dieses Namens hier geben. Ich bin das Kammermädchen einer englischen Dame, welche in diesem Hotel wohnt.«

»Nein, hier gibt es gewiss kein Hotel d'Angleterre«, wiederholte er. »In Bern gibt es das Hotel Bernerhof.«

»Nein!« Sie zog das Papier heraus, auf welches ihr der Doktor die Adresse geschrieben hatte, und zeigte es dem Schutzmann: »Lady Harry Norland, Hotel d'Angleterre, Bern.«

»Hier gibt es ein Hotel Bellevue, ein Hotel Viktoria, ein Hotel Schweizerhof, ein Hotel zum Falken, ferner das Hotel Schroedel, das Hotel Schneider, die Pension Simkin.«

Fanny hatte jetzt noch keinen andern Argwohn, als dass der Doktor zufällig einen falschen Namen aufgeschrieben hätte. Ihre Herrin befand sich in Bern; sie würde also sicher in einem der Hotels sein. Bern ist keine große Stadt. Das war gut; sie konnte daher in kurzer Zeit alle Hotels aufsuchen und sich nach Lady Harry Norland erkundigen. Das tat sie auch. Es gibt in der Tat in Bern nicht mehr als ungefähr ein halbes Dutzend Hotels, in denen eine vornehme Dame wohnen kann. Fanny ging in jedes hinein und fragte nach Lady Harry. Niemand aber hatte von einer Dame dieses Namens gehört; man zeigte ihr überall die Listen der in dem betreffenden Hotel wohnenden Fremden. Dann ging sie auf das Postbureau, aber auch dort hatte keine Dame dieses Namens nach Briefen gefragt. Dann erkundigte sie sich, ob es noch irgendwelche Pensionen gäbe, und suchte auch diese auf, aber ebenso vergeblich.

Jetzt blieb kein anderer Schluss übrig: der Doktor musste sie absichtlich getäuscht haben. Um sie aus dem Wege zu schaffen, schickte er sie nach Bern; er würde sie selbst nach Jericho geschickt haben, wenn ihr Geld für diese Reise gereicht hätte. Sie war also einfach betrogen worden.

Sie zählte ihr Geld. Es waren genan achtundzwanzig Schillinge und zehn Pence in ihrem Geldbeutel.

Darauf ging sie wieder in die billigste und unansehnlichste der Pensionen, die sie besucht hatte, zurück. Sie setzte der Besitzerin ihre Lage auseinander. Sie hätte ihre Herrin verfehlt und müsste daher warten, bis sie Nachricht, wohin sie nachkommen sollte, und das Geld zur Reise erhielte. Würde man sie, bis das eine oder andere einträfe, hier aufnehmen? Natürlich wollte die Wirtin sie aufnehmen für fünf Franken täglich, an jedem folgenden Morgen zu zahlen.

Sie machte sich einen kleinen Überschlag über ihre Mittel - sie hatte achtundzwanzig Schillinge und zehn Pence, das sind genau fünfunddreißig Franken - hinreichend für sieben Tage. Wenn sie sofort an Mrs. Vimpany schrieb, so konnte sie in fünf Tagen eine Antwort erhalten.

Sie nahm daher das Anerbieten der Wirtin an, bezahlte ihre fünf Franken und wurde in ein Zimmer geführt. Zugleich sagte man ihr, dass das Diner um sechs Uhr aufgetragen werde.

So weit war alles gut. Hier hatte sie wenigstens Ruhe und konnte darüber nachdenken, was zu tun sei. Zuerst schrieb sie zwei Briefe, einen an Mrs. Vimpany und einen an Mr. Mountjoy.

In diesen beiden Briefen erzählte sie genau, was ihr seit ihrer Ankunft in Passy begegnet war.

In dem Brief an Mr. Mountjoy fügte sie die Bitte hinzu, er möge ihr gütigst das Geld zur Rückreise schicken; ihre Herrin würde es ihm sicherlich wieder zurückerstatten.

Sie trug beide Briefe selbst auf die Post - es war am Dienstag - und wartete gespannt auf die Antworten.

Mrs. Vimpany schrieb sofort zurück:

»Meine liebe Fanny, ich habe Ihren Brief mit dem größten Interesse gelesen. Ich fürchte nicht nur, dass irgendeine neue Schurkerei im Gang ist, sondern ich bin vollkommen davon überzeugt; wir wollen nur hoffen und Gott bitten, dass Mylady nicht darunter zu leiden hat. Sie werden erfreut sein, zu hören, dass Mr. Mountjoy sich wieder wohler befindet. Als er soweit wieder hergestellt war, dass er den Anprall einer heftigen Erregung aushalten konnte, übergab ich ihm Lady Harrys Brief. Es war gut, dass ich es nicht eher getan hatte, denn er war so außer sich über den Inhalt des Schreibens, dass ich fürchtete, er würde einen Rückfall bekommen. ,Kann eine Frau rief er aus, ,entschuldigt werden, dass sie wieder zurückkehrt zu ihrem unwürdigen Gatten, bevor er eine ernste Besserung bewiesen hat?! Was nützt es, wenn sie auch tausend Briefe mit reuevollen Versicherungen empfangen hat? Die Aufrichtigkeit seiner Reue soll sich in Handlungen, nicht in Worten zeigen; sie hätte noch warten sollen.' Er schrieb einen Brief an sie, den er mir zeigte. ,Steht in dem Brief irgend etwas', fragte er mich, ,wodurch sie sich beleidigt fühlen könnte?' Ich konnte nichts finden. Er schrieb ihr, aber ich fürchte, es ist leider zu spät, dass sie sich der Gefahr der Erniedrigung aussetze, ja, vielleicht noch etwas Schlimmerem, wenn es noch etwas Schlimmeres gäbe, wenn sie darauf bestünde, zu ihrem unwürdigen Gatten zurückzukehren. Im Fall, dass sie seinen Rat nicht mehr wünsche, so bitte er, sie möge ihm bei dieser letzten Gelegenheit, wo er sich erlaube, ihr seinen Rat anzubieten, dann nicht antworten; ihr Schweigen würde ihm Antwort genug sein. Das war in kurzem der Inhalt des Briefes. Bis heute hat er noch keine Antwort von Lady Harry erhalten und ebensowenig irgend eine Mitteilung, ob der Brief sie überhaupt erreicht hat. Wie soll man das Schweigen deuten? Doch offenbar nur so, dass sie in Zukunft auf seine Ratschläge verzichtet.

»Sie müssen über Paris zurückkehren, obgleich die Reise weiter ist als über Basel und Lyon. Mr. Mountjoy wird Ihnen, wie ich weiß, das Geld schicken. So viel hat er mir gesagt. ,Ich bin jetzt mit Lady Harry fertig,' fügte er dann noch hinzu. ,Was sie tut, und wohin sie geht, das kümmert mich jetzt nicht weiter, aber ihrem Kammermädchen werde ich das Geld schicken, nicht als ein Darlehen, welches zurückbezahlt wird, sondern als ein Geschenk von mir.'

»Deshalb, meine liebe Fanny, bleiben Sie wenigstens für eine Nacht in Paris und suchen Sie, wenn möglich, zu erfahren, was in Passy eigentlich geschehen ist. Vielleicht können Sie die Pflegerin ausfindig machen und sie darnach fragen. Mit dem, was Sie schon wissen, ist es fast unmöglich, dass wir nicht die Wahrheit herausbekommen sollten. Die Leute müssen doch aufzufinden sein, die die Nahrungsmittel und all die sonstigen zum Leben notwendigen Gegenstände in die Villa geliefert haben - der Restaurateur, der Apotheker, die Wäscherin - Sie kennen sie ja gewiss alle schon; suchen Sie sie auf; und sprechen Sie mit ihnen; wir werden dann die Ergebnisse zusammenstellen. Was die Suche nach Ihrer Herrin betrifft, so hängt der Erfolg ganz und gar von Ihnen allein ab. Ich erwarte Sie in ungefähr einer Woche hier in London. Sollte sich inzwischen hier etwas von Wichtigkeit ereignen, so werde ich es Ihnen erzählen, wenn Sie mich aufsuchen.

Ihre ganz ergebene

A. Vimpany.«

Der Inhalt dieses Briefes stimmte ganz mit dem überein, was sich Fanny schon selbst vorgenommen hatte. Der Doktor hatte jetzt Passy verlassen. Sie war fest überzeugt, dass er nicht allein in der Villa zu bleiben beabsichtigte, denn die Vorstadt Passy, so reizend sie auch in verschiedenen Beziehungen ist, ist nicht gerade der Ort, der einen Mann von Mr. Vimpanys Charakter fesseln könnte. Sie wollte einen oder zwei, oder wenn es notwendig wäre, auch drei Tage in Passy bleiben und dort alle die Erkundigungen einziehen, von denen Mrs. Vimpany in ihrem Brief gesprochen hatte.

Am gleichen Tag brachte ihr die Post den bereits von Mrs. Vimpany angekündigten Brief Mountjoys nebst einem Postmandat, welches auf hundertundfünfundzwanzig Franken lautete; er hoffe, schrieb Mountjoy, dass diese Summe für ihre augenblicklichen Auslagen genügen würde.

Fanny trat ihre Rückreise noch an demselben Tag, einem Sonnabend, an. Am Sonntagabend traf sie in Passy ein mit der Absicht, dort Erkundigungen einzuziehen.

Die erste Person, die sie aufsuchte, war der Besitzer der Villa, ein kleiner Rentner, der, nachdem er sich ein hübsches Vermögen durch einen Fleischhandel erworben, dasselbe in diesem Besitztum angelegt hatte. Fanny sagte ihm, dass sie das Kammermädchen von Lady Harry Norland sei, welche noch vor kurzem diese Villa bewohnt habe. Sie möchte gern die gegenwärtige Adresse der Dame wissen.

»Mon dieu, woher soll ich die denn kennen?« antwortete er. »Die Frau des englischen Lords hatte so viel Liebe zu ihrem Gatten, dass sie ihn während seiner langen Krankheit allein ließ.«

»Während seiner langen Krankheit?«

»Gewiss, während seiner langen Krankheit. Mademoiselle ist vielleicht nicht bekannt mit dem, was sich hier ereignet hat. Mylady ist nicht einmal gekommen, um ihren verstorbenen Gatten noch einmal zu sehen, bevor er begraben wurde; sie ist eben eine Frau nach englischer Art.«

Fanny atmete schwer.

»Ihren verstorbenen Gatten? Ist Lord Harry gestorben? Wann starb er denn?«

»Aber haben Sie denn das nicht gehört, Mademoiselle? Der englische Lord starb am Donnerstagmorgen - es ist jetzt zehn Tage her - an der Lungenschwindsucht, und er wurde auf dem Friedhof von Auteuil gestern vor acht Tagen begraben. Mademoiselle scheinen erstaunt!«

»In der Tat, Monsieur, ich bin sehr erstaunt.«

»Es ist auch schon ein Grabstein zur Erinnerung an den unglücklichen jungen Mann errichtet, welcher, wie man sagt, einer sehr vornehmen irischen Familie angehören soll. Mademoiselle können sich davon mit eigenen Augen auf dem Friedhof überzeugen.«

»Bitte, noch einen Augenblick, Monsieur. Würden Sie wohl die Güte haben, mir zu sagen, wer die Pflegerin von Mylord während der letzten Zeit war?«

»Aber gewiss. Jedermann kennt die Witwe La Chaise. Es war die Witwe La Chaise, welche der Doktor holen ließ. Ja, das war ein Mann, dieser Doktor! Was für eine Leuchte der Wissenschaft! Welche Aufopferung für seinen Freund! Welche bewunderungswürdige Gefühlstiefe er besaß! Es ist wahr, die Engländer können tief und wahr fühlen, so weit es ihre zur Schau getragene Kälte gestattet. Die Witwe La Chaise ist sehr leicht zu finden.«

Er gab Fanny in der Tat die Adresse der Pflegerin. Damit versehen, machte sie sich, nachdem ihr der Wirt noch die Hauptsachen über Lord Harrys vorgeblichen Tod erzählt hatte, auf die Suche nach der ehrbaren Witwe.

Sie fand sie in ihrer Wohnung, wirklich eine ehrbare Frau, welche sogleich bereit war, alles zu erzählen, was sie wusste. Sie hatte augenscheinlich nicht den geringsten Verdacht, dass irgendetwas Unrechtes geschehen war. Sie war am Donnerstagmorgen aufgefordert worden, die Pflege eines kranken Mannes zu übernehmen; man hatte ihr gesagt, der Kranke sei ein junger irischer Lord, der gefährlich an einem Lungenleiden darniederliege. Der Doktor teilte ihr in der Tat mit, dass das Leben des Kranken nur an einem Faden hinge und dass es jeden Augenblick mit ihm zu Ende gehen könne, obgleich er andererseits auch Fälle gekannt hätte, bei denen der Tod erst nach Monaten eingetreten sei.

»Als ich kam«, erzählte die Pflegerin, »lag der Kranke in tiefem Schlaf.«

»Sind Sie sicher, dass er schlief und nicht etwa schon tot war?« fragte Fanny scharf.

»Mademoiselle, ich bin viele Jahre lang Krankenpflegerin gewesen; ich kenne mein Geschäft, ich kenne meine Pflichten. In dem Augenblick, als mich der Doktor mit dem Patienten allein gelassen hatte, überzeugte ich mich von der Richtigkeit der Angaben, die er mir gemacht. Ich untersuchte, indem ich den Puls des Kranken fühlte und seinen Atem beobachtete, dass er wirklich schlief.«

Fanny gab keine Antwort; sie konnte unmöglich dieser ehrbaren Frau ins Gedächtnis rufen, dass sie, sobald der Doktor sie verlassen hatte, sich zuerst damit beschäftigte, den Wandschrank, die Schubladen und andere Dinge zu untersuchen; dass sie dann ein Buch mit Bildern fand, in dem sie ungefähr eine Viertelstunde las, und dass sie darauf das Buch sinken ließ und einschlafen wollte.

»Dann traf ich Vorbereitungen«, fuhr die Witwe fort, »welche sein Aufwachen verhindern sollten; auch zog ich die Vorhänge auf und kehrte die Bettstücke um, um das Bett zu lüften - o Madame, Madame, das war alles unnötig! - schüttelte die Federn auf und tat alles das, was die Pflicht einer gewissenhaften Pflegerin ist, bis die Zeit herankam, wo ich meinem Patienten zum erstenmal Medizin geben sollte. Stellen Sie sich nun vor, der, den ich ruhig atmend gefunden hatte - mit der Regelmäßigkeit eines Wiedergenesenden atmend, nicht etwa so schwer, wie ein Sterbender zu atmen pflegt - den fand ich tot! Er war tot.«

»Sind Sie auch sicher, dass er tot war?«

»Als ob ich niemals zuvor einen Toten gesehen hätte! Ich rief den Doktor; es geschah nur der Pflicht wegen, denn ich wusste ja ganz genau, dass er tot war.«

»Und dann?«

»Dann fühlte der Doktor, der doch auch gewusst haben musste, dass er tot war, seinen Puls und sein Herz und sah ihm in die Augen und erklärte hierauf, dass er wirklich tot sei.«

»Und dann?«

»Was dann? Wenn ein Mann tot ist, dann ist er tot. Sie können ihn nicht mehr zum Leben zurückrufen. Der Doktor tat aber noch etwas. Er brachte einen photographischen Apparat herbei und photographierte den Toten für seine Freunde.«

»So, so, er photographierte also Lord Harry Norland. Zu welchem Zweck tat er das?«

»Ich sagte es Ihnen ja schon: für seine Freunde.«

Fanny war verwirrter denn je. Was in aller Welt wollte der Doktor mit einer Photographie des Dänen Oxbye? Beabsichtigte er wirklich, sie den Freunden Lord Harrys zu zeigen? Konnte er wirklich einen so groben Fehler gemacht haben, ohne dass ihn jemand dazu gezwungen hätte? Es war einfach unmöglich, dass jemand das Gesicht des armen Dänen für das Gesicht Lord Harrys halten konnte.

Sie hatte alles erfahren, was sie wollte, in der Tat alles, was für sie von Nutzen sein konnte. Eins blieb noch übrig: sie wollte das Grab sehen.

Der Friedhof von Auteuil ist nicht so groß wie der Pèrelachaise; auf ihm ruhen auch nicht so viele berühmte Personen wie auf dem letztern, der vielleicht, wenn man die berühmten Toten in Betracht zieht, der berühmteste Friedhof in der ganzen Welt ist. Der Friedhof von Auteuil ist die letzte Ruhestätte der besseren Klassen. Seine Gräber sind nicht die Gräber von Unsterblichen, aber doch die Gräber von angesehenen Leuten.

Unter ihnen fand Fanny leicht, indem sie den ihr gegebenen Weisungen folgte, das Grab, welches sie suchte.

Der Grabstein trug in englischer Sprache die Aufschrift: »Gewidmet dem Andenken Lord Harry Norlands, des zweiten Sohnes des Marquis of Malven«, dann folgte das Datum und das Alter; sonst nichts.

Fanny ließ sich auf eine Bank nieder und betrachtete den lügnerischen Stein.

»Der Däne Oxbye befand sich«, sagte sie zu sich, »auf dem Weg rascher Besserung. Das war der Grund, weswegen man mich fortschickte. Am nächsten Tag vergiftete ihn der Doktor, der mich schon weit entfernt glaubte. Ich sah, wie er es tat. Der Pflegerin wurde gesagt, dass er eingeschlafen sei, und erst später entdeckte sie, dass er tot war. Ihr gegenüber wurde der Kranke für einen jungen irischen Lord ausgegeben, und er wurde dann auch unter dem Namen Lord Harrys begraben. Deshalb fand ich auch den Doktor allein. Und Mylady? Wo ist sie?«

Fünfundsechzigstes Kapitel

Fanny kehrte nach London zurück. Teils ließen ihr ihre knappen Mittel keine andere Wahl, teils aber hatte es für sie auch keinen Zweck mehr, länger in Passy zu bleiben, nachdem sie alles erfahren hatte, was sie dort erfahren konnte.

Als sie in London ankam, hatte sie noch dreißig Schillinge in der Tasche, welche ihr von Mr. Mountjoys Geschenk übrig geblieben waren. Sie suchte sich eine billige Unterkunft und fand auch ein Zimmer bei Leuten, die anständig zu sein schienen. Sie musste dafür vier Schilling und sechs Pence wöchentlich zahlen und außerdem täglich einen Schilling für die Kost. Nachdem sie dort eingezogen, eilte sie in das Hotel Mr. Mountjoys, um Mrs. Vimpany alle die Neuigkeiten mitzuteilen, die sie brachte.

Jeder kennt die Enttäuschung, wenn die einzige Person in der Welt, die man gerade in dem Augenblick zu sehen und zu sprechen wünscht, nicht anwesend ist. Dann müssen die Neuigkeiten unterdrückt, die Schlüsse, die Zweifel, die Vermutungen hinausgeschoben werden. Diese Enttäuschung, fast ebenso groß als die in Bern, musste Fanny an der Tür des Londoner Hotels machen.

Mr. Mountjoy war nicht mehr dort.

Die Besitzerin des Hotels, welche Fanny kannte, kam selbst heraus und erzählte ihr, was geschehen.

»Mr. Mountjoy befand sich wohler«, sagte sie, »aber er war noch sehr schwach. Man schickte ihn daher nach Schottland unter der Pflege von Mrs. Vimpany. Er sollte langsam oder schnell hinreisen, ganz, wie er sich imstand fühlte. Ich habe für Sie die Adresse bekommen; hier ist sie. Ja, Mrs. Vimpany hat mir auch sonst noch etwas an Sie aufgetragen. Sie möchten, sagte sie, wenn Sie schrieben, den Brief an sie und nicht an ihn schicken. Sie meinte, Sie wüssten schon, warum.«

Fanny kehrte tief entmutigt in ihre Wohnung zurück. Sie war ganz erfüllt von dem schrecklichen Geheimnis, welches sie entdeckt hatte. Der einzige Mensch, welcher in dieser kritischen Lage einen Rat geben konnte, war Mr. Mountjoy, und er war fort. Sie wusste nicht, was aus ihrer Herrin geworden war. Was konnte sie tun? Der Verantwortlichkeit war mehr, als sie ertragen konnte.

Sie konnte nicht zweifeln, dass sich ihre Herrin in der Gewalt jener beiden Schurken befand, welche zu ihren anderen Verbrechen einen Mord hinzugefügt hatten. Was sie selbst betraf, so war sie allein, fast freundlos. In einer oder zwei Wochen würde sie auch mittellos sein. Wenn sie ihre Geschichte erzählte, welches Unheil konnte sie dadurch anstiften, und wenn sie schwieg, welches Unheil konnte dann folgen?

Sie setzte sich nieder, um an die einzige Freundin, die sie hatte, einen Brief zu schreiben. Aber ihr Verstand war infolge der Sorge und des Kummers wie eingefroren. Sie war nicht imstande, die Sache klar und deutlich zu berichten; die Worte fehlten ihr.

Sie war nicht zu jeder Zeit fähig, die Feder leicht zu führen, und fand sich daher auch jetzt nicht imstande, eine irgendwie vernünftige Erzählung von dem, was sich ereignet hatte, niederzuschreiben. Es wäre zu jeder Zeit schwierig gewesen, das, was sie wusste, so darzustellen, dass der sich daraus für sie ergebende Schluss auch dem Leser klar und deutlich entgegengetreten wäre, und jetzt war es für sie einfach ganz unmöglich; sie beschränkte sich daher auf einen einfachen, ziemlich nichtssagenden Bericht.

»Ich kann nur das eine sagen«, schrieb sie, »dass ich nach dem, was ich sah und hörte, gewichtige Gründe habe, zu glauben, dass Lord Harry überhaupt nicht tot ist.« Sie fühlte, dass dies ein sehr ungenügender Bericht war, aber sie konnte für den Augenblick nicht mehr geben. »Wenn ich wieder schreibe«, fuhr sie in ihrem Bericht fort, »nachdem ich von Ihnen gehört habe, werde ich Ihnen noch viel mehr sagen können; heute bin ich nicht dazu fähig. Ich bin zu sehr niedergedrückt und ich fürchte mich, zu viel zu sagen; außerdem habe ich kein Geld mehr, und ich muss mich nach Arbeit umsehen. Ich habe indessen keine Sorge um meine Zukunft, weil meine Herrin mich gewiss nicht vergessen wird. Ich bin fest davon überzeugt. Meine Angst um sie und die furchtbaren Geheimnisse, welche ich entdeckt habe, die sind es, welche mir keine Ruhe lassen.«

Mehrere Tage vergingen, bevor eine Antwort kam, und dann war es eine Antwort, welche ihr wenig half. »Ich habe keine guten Nachrichten für Sie«, schrieb Mrs. Vimpany; »Mr. Mountjoy ist immer noch sehr schwach. Was daher auch Ihr Geheimnis sein mag, so bitte ich Sie, ihm in seiner gegenwärtigen Lage nichts davon mitzuteilen. Er ist über alle Maßen betrübt und zugleich empört über Lady Harrys Entschluss, wieder zu ihrem Gatten zurückzukehren. Es wäre kaum zu verstehen, wenn ein Mann wie Mr. Mountjoy auch jetzt noch der treue Freund und beharrliche Liebhaber sein sollte, und er hat es auch wirklich über sich gebracht, zu erklären, daß er alle freundschaftlichen Beziehungen zu Iris abgebrochen habe. Dennoch konnte er es nicht länger in London aushalten. Alles dort erinnerte ihn an sie. Trotz seines schwachen Gesundheitszustandes bestand er darauf, seine Besitzung in Schottland aufzusuchen. Krank, wie er war, würde er keinen Widerspruch und Aufschub geduldet haben. Wir reisten in sehr kleinen Abschnitten, hielten uns in Peterborough, York, Durham, Newcastle und Berwick auf; an einigen Orten nur eine Nacht, an anderen aber mehrere. Trotz aller meiner Vorsichtsmaßregeln war er in besorgniserregender Weise erschöpft, als wir seine Besitzung am Solway Firth endlich erreichten. Ich ließ den Doktor des Ortes holen, der etwas zu verstehen scheint. Jedenfalls ist er klug genug, um einzusehen, dass in diesem Fall mit Medizin und Apotheken nichts zu machen ist. Vollständige Ruhe und vollständiges Fernhalten von allen aufregenden Gedanken ist unerlässlich notwendig; deswegen darf Mr. Mountjoy auch keine Zeitung lesen. Das trifft sich sehr gut, weil, wie ich vermute, Lord Harrys Tod in den Blättern angezeigt worden ist, und weil der Gedanke, dass die Frau, welche er liebt, Witwe geworden, ihn jedenfalls furchtbar aufregen würde. Sie werden jetzt verstehen, warum ich die Botschaft an Sie in dem Hotel zurückließ, und warum ich ihm Ihren Brief nicht gezeigt habe. Ich sagte ihm nur, dass Sie, ohne Ihre Herrin zu finden, zurückgekehrt wären. »Sprechen Sie mir niemals mehr von Lady Harry«, sagte er gereizt; deshalb habe ich auch nichts weiter gesagt. Was den Geldpunkt anbetrifft, so bin ich im Besitz von einigen Pfunden, die zu Ihrer Verfügung stehen. Sie können sie mir einmal später wieder zahlen, wenn Sie imstande dazu sind. Ich habe an etwas gedacht, an das neue Weltblatt, zu dessen Besitzern ja Lord Harry gehört. Wo Lady Harry sich auch befinden mag, so viel ist sicher, sie wird das Blatt in die Hände bekommen. Lassen Sie eine Annonce unter ihrer Adresse dort einrücken, in der Sie ihr mitteilen, dass Sie ihren Aufenthaltsort nicht wüssten, dass Sie aber selbst jeden Brief erhalten würden, der unter Ihrer Adresse an ein von Ihnen angegebenes Postamt geschickt würde. Ich glaube, dass Sie auf eine solche Annonce hin eine Antwort von ihr erhalten werden, wenn sie nicht wünscht, allein und unentdeckt zu bleiben.«

Fanny hielt diesen Vorschlag für annehmbar. Nach sorgfältiger Überlegung schrieb sie folgende Annonce:

»Fanny M. an L. H.

»Ich bin nicht imstande gewesen, Ihre Adresse ausfindig zu machen. Bitte, schreiben Sie mir an das Postamt Hunterstreet, London W. C.«

Sie bestellte, dass diese Annonce an drei Sonnabenden eingerückt werde; man sagte ihr, es sei besser, wenn sie nicht drei auf einander folgende Sonnabende wähle, sondern immer einen dazwischen frei lasse. Ermutigt durch das Gefühl, dass etwas, wenn auch nur wenig, geschehen sei, setzte sie sich nieder, entschlossen, einen Bericht aufzuschreiben, in welchem sie alles genau so, wie es geschehen war, erzählte. Ihr Hass und ihr Argwohn gegen Mr. Vimpany unterstützten sie dabei, dass sie sich, so merkwürdig es auch klingt, genau an die nackten Tatsachen hielt, denn es war durchaus nicht ihr Wunsch, irgendwelche Beschuldigungen und Anklagen zu erheben. Sie wollte nur die einfachen Geschehnisse niederschreiben und zwar so, dass jeder, welcher ihren Bericht las, zu dem gleichen Schluss wie sie selbst kommen musste.

Nachdem sie mit ihrem Bericht fertig geworden, was sehr viel Zeit in Anspruch nahm, kaufte sie ein Buch mit leeren Blättern und schrieb ihn noch einmal ab. Dabei kam sie darauf, noch zwei oder drei Tatsachen hinzuzufügen, die ihr bei der ersten Niederschrift entgangen waren. Dann fertigte sie noch eine zweite Abschrift an, diesmal ohne Namen von Leuten und Orten. Diese zweite Abschrift schickte sie als eingeschriebenen Brief an Mrs. Vimpany.

Inzwischen war die Meldung von dem Tode Lord Harrys erfolgt. Diejenigen, welche die Familiengeschichte kannten, sprachen ihre unverhohlene Freude über dieses Ereignis aus. »Das Beste, was er jemals getan hat. - Das wird seinen Angehörigen angenehm sein. - Ein schlechter Mensch weniger auf der Welt. - Ein wahres Glück, dass er gestorben ist. Ich glaube, er war aber auch verheiratet. - Er war einer von den Menschen, die alles mögliche getan haben. - Schade, dass man nicht sein Leben beschreiben kann.« Das waren ungefähr die Bemerkungen, welche man über den Tod des jungen Edelmanns machte. Am nächsten Tag war er so vergessen, als ob er gar nicht gelebt hätte. So pflegt es im Leben zu gehen.

Sechsundsechzigstes Kapitel

Nicht viele englische Reisende biegen von ihrer Tour ab, um Louvain zu besuchen, obgleich es ein Rathaus hat, welches selbst das von Brüssel übertrifft, und obgleich man schon nach einer einstündigen Eisenbahnfahrt von dieser Stadt der Augenlust und des Vergnügens dort sein kann. Es wohnten dort überhaupt keine Engländer, wenigstens bekam man keine zu sehen, wenn es vielleicht auch einige gab, die aus denselben Gründen dorthin gegangen waren, welche Mr. William Linville und seine Frau veranlasst hatten, dieses Nest zum ständigen Aufenthaltsort zu wählen, nämlich, um ganz allein und unbemerkt zu leben. Es gibt viel mehr Menschen, als wir wissen, welche vor allem Einsamkeit und Zurückgezogenheit lieben und nichts mehr fürchten als ein zufälliges Zusammentreffen mit einem alten Freund.

Mr. William Linville mietete ein kleines, möbliertes Haus wie die Villa in Passy, ebenso wie diese in einem Garten gelegen. Hier richtete Iris mit einer Köchin und einem Stubenmädchen ihren bescheidenen Haushalt ein.

Zu fragen, ob sie glücklich war, wäre töricht. Zu keiner Zeit seit ihrer Heirat war sie vollkommen glücklich gewesen, und nun unter dem Druck der fortwährenden Verborgenheit leben zu müssen, war durchaus nicht darnach angetan, eine Frau glücklich zu machen. Das Beste war noch, dass sie keine Zeit hatte, die Bitterkeit des Planes, nach dem ihr Gatte sein jetziges Leben eingerichtet hatte, recht zu empfinden.

Wenn dieser Plan auch bis jetzt ganz erfolgreich ausgefallen war, so war dieses noch so junge Paar dadurch doch lebenslänglich zur Verbannung verurteilt; das war die erste Schattenseite. Dann durften sie niemals den Versuch machen, in irgendwelche freundschaftliche Beziehungen zu Landsleuten zu treten, da sie immer fürchten mussten, entdeckt zu werden. Iris konnte niemals wieder mit einer englischen Dame sprechen. Wenn sie Kinder haben würden, so würde die Gefahr noch zehnmal schrecklicher, würden die Folgen noch zehnmal furchtbarer sein. Die Kinder selbst müssten aufwachsen ohne Familie und ohne Freunde. Ihr Gatte, von jedem Verkehr mit anderen Männern abgeschnitten, würde ganz auf sich selbst angewiesen sein. Mann und Frau würden mit dieser schrecklichen Last auf dem Gewissen den gegenseitigen Anblick hassen und verabscheuen. Der Mann würde, wie fast mit Sicherheit vorauszusehen war, sich schließlich dem Trunk ergeben, und die Frau - wir wollen indes die Sache jetzt nicht weiter verfolgen.

Sie bezogen das Haus und richteten sich darin ein. Sie waren beide sehr schweigsam. Lord Harry saß still und mit finsterem Gesicht da, nachdem sein großer Coup erfolgreich geendet hatte. Er blieb den ganzen Tag über zu Hause und wagte es nur, während der Dunkelheit auszugehen. Für einen Mann, dessen ganzes Leben Tätigkeit und Geselligkeit gewesen war, musste dieses schlecht enden.

Die Einförmigkeit wurde zuerst unterbrochen durch die Ankunft des Briefes von Hugh, welcher zugleich mit anderen Dokumenten aus Passy geschickt wurde. Iris las ihn und las ihn immer und immer wieder und machte den Versuch, zu verstehen, was er meinte. Dann zerriss sie ihn. »Wenn er nur alles wüsste«, sagte sie zu sich, »dann würde er sich nicht die Mühe genommen haben, diesen Brief zu schreiben. Hier gibt es keine Antwort, Hugh. Es kann keine geben, wenigstens jetzt nicht. Ich soll nach Deinem Rat handeln? Das ist nicht möglich; von jetzt an muss ich auf Befehl handeln, denn ich bin ja die Teilnehmerin an einem Verbrechen.«

Zwei Tage darnach kam ein Brief vom Doktor. Er hielt es nicht für notwendig, etwas von dem Erscheinen Fannys in Passy zu erwähnen oder von ihrer Reise nach Bern. »Alles«, schrieb er, »ist so weit gut gegangen. Die Welt weiß durch die Zeitung, dass Lord Harry gestorben ist. Es wird sich jetzt einfach noch darum handeln, das Geld zu bekommen. Zu diesem Zweck wird es notwendig sein, dass Lady Harry als seine Witwe und einzige Erbin sein Testament und die Lebensversicherungspolice dem Advokaten ihres Gatten übergibt, damit das Testament eröffnet und die Geldforderung anerkannt werden kann. Verschiedene Papiere werden dabei zu unterschreiben sein. Die ärztliche Bestätigung des Todes und die Bestätigung des Begräbnisses sind schon in den Händen des Advokaten. Je eher die Witwe nach London gehen wird, um so besser wird es sein. Sie sollte ihre Ankunft schriftlich anmelden und zwar von Paris aus, als ob sie seit dem Tod ihres Gatten dort gelebt hätte.

»Ich habe Sie nun noch daran zu erinnern, mein lieber Linville, dass Sie mir zweitausend Pfund schuldig sind. Ich werde natürlich sehr erfreut sein, eine Anweisung auf die Summe zu erhalten, sobald Sie selbst das Ihnen gehörende Geld in den Händen haben. Ich werde in Paris sein in dem Hotel Continental, wohin Sie mir die Summe schicken können. Es ist natürlich kein Grund vorhanden, dies zu verschweigen, und wenn die Versicherungsgesellschaft irgendwelche Auskunft von mir wünscht, so bin ich jederzeit bereit, ihr dieselbe zu geben.«

Lord Harry gab den Brief seiner Frau.

Sie las ihn und legte ihn offen auf ihren Schoß.

»Muss es sein, Harry«, fragte sie, »muss es wirklich sein?«

»Es bleibt uns keine andere Wahl, mein Herz, und es ist ja auch gar nichts weiter dabei. Du warst nicht in Passy, als Dein Gatte starb. Du bist in London gewesen. Du warst in Brüssel oder sonst irgendwo, und als Du wieder zurückkehrtest, war alles vorbei; Du hast seinen Leichenstein gesehen. Doktor Vimpany hatte ihn in der Behandlung; Du wusstest, dass er krank war, aber Du hieltest es für ein ganz geringfügiges Unwohlsein, das binnen kurzem wieder behoben sein würde. Du gehst zu dem Advokaten und zeigst das Testament vor. Er hat die Lebensversicherungspapiere schon und wird auch alles übrige besorgen. Du brauchst nicht einmal etwas zu unterschreiben. Das einzige, was Du tun musst, ist: Du musst Dir eine vollständige Witwenkleidung anschaffen; es wird dann nicht das leiseste Bedenken erhoben werden, und wer alles in Erwägung zieht, wird es ganz begreiflich finden, wenn Du niemand besuchst und nirgends hingehst.«

Hughs Brief hatte indes in der armen Frau ihr besseres Selbst wieder wachgerufen; sie war zwar schon zu weit in den Betrug verwickelt, als dass sie hätte jetzt stehen bleiben können, aber sie schauderte doch jetzt davor zurück, als ihr eine tätige Rolle dabei aufgezwungen wurde.

»O Harry«, - sie brach in Tränen aus - »ich kann nicht, ich kann nicht! Du forderst von mir, dass ich eine Lügnerin, eine Diebin werde - o Gott im Himmel, eine gemeine Diebin!«

»Es ist zu spät, Iris! Wir sind alle gemeine Diebe. Es ist zu spät, jetzt mit Weinen und Wehklagen zu beginnen.«

»Harry«, - sie warf sich vor ihm auf ihre Knie - »schone mich! Lass irgend eine andere Frau gehen und gib sie für Deine Witwe aus; ich will dann fortgehen und mich irgendwo verbergen.«

»Sprich keinen Unsinn, Iris«, antwortete er rauh. »Ich sage Dir, es ist viel zu spät; Du hättest Dir das früher überlegen müssen; jetzt ist alles vorbereitet.«

»Ich kann nicht gehen!« sagte sie.

»Du musst gehen, andernfalls ist all unsere Mühe umsonst gewesen.«

»Dann will ich nicht gehen«, rief sie aufspringend, »ich will mich nicht noch tiefer erniedrigen, ich will nicht gehen!«

Harry stand auch auf; er schaute sie einen Augenblick an, dann senkten sich seine Augen. Selbst er erinnerte sich in dem Moment daran, wie tief eine Frau gesunken sein musste, welche sich damit einverstanden erklärte, eine solche Rolle zu spielen.

»Du sollst nicht gehen«, sagte er, »wenn Du es nicht willst. Du kannst mich infolge meiner Handlungen, meiner Erniedrigung verlassen. Geh nach England zurück. Nur in einem schone mich: sage nicht, was Du weißt! Was mich betrifft, so werde ich einen Brief von Dir fälschen.«

»Einen Brief fälschen?«

»Gewiss, denn das ist der einzige Weg, der mir noch offen bleibt, um dem Advokaten Vollmacht zu erteilen, handelnd vorzugehen. Was sich dann zunächst ereignen wird, durch wessen Hände ich das Geld bekommen soll, weiß ich bis jetzt noch nicht. Aber Du kannst mich verlassen, Iris; es ist besser so, denn ich würde Dich immer noch tiefer und tiefer herabziehen.«

»Warum musst Du den Brief fälschen? Warum kommst Du nicht mit mir irgendwohin? Die Welt ist ja so groß! Komm an irgend einen Ort, wo wir unbekannt sind, und wo wir ein neues Leben beginnen! Wir haben nicht viel Geld; aber ich kann meine Uhren, meine Ringe, meine Ketten verkaufen, und wir werden genug haben. O Harry, nur einmal lass Dich leiten, nur einmal höre auf mich! Wir werden irgend eine bescheidene Lebensstellung finden und können noch glücklich sein. Niemand ist ein Leid zugefügt worden dadurch, dass Du nur behauptet hast, Du seist tot. Niemand ist benachteiligt, niemand ist betrogen worden.«

»Iris, Du sprichst unüberlegt. Bildest Du Dir denn auch nur einen Augenblick ein, dass der Doktor mich von meiner Verpflichtung loslassen wird?«

»Welche Verpflichtung?«

»Nun, er muss doch natürlich bezahlt werden für den Teil, den er an der Sache genommen hat; ohne ihn wäre sie ja überhaupt gar nicht auszuführen gewesen.«

»Du musst ihm also von dem Geld einen Teil geben?« sagte sie, sich wohl bewusst, dass dergleichen Abmachungen nichtig sind und vor das Gericht gehören.

»Gewiss, ich habe ihm eine große Summe von dem Geld abzugeben.«

»Nicht wahr, es beträgt im ganzen fünfzehntausend Pfund? Und wie viel musst Du davon dem - dem Doktor zahlen?«

»Wir sind übereingekommen, dass er die Hälfte haben soll«, sagte Lord Harry leichthin lachend; »aber da ich glaubte, dass siebentausendfünfhundert Pfund eine Summe Geldes wären, die ihm wahrscheinlich den Kopf verdrehen und ihn in einem oder zwei Jahren zu Grunde richten würde, so sagte ich ihm, dass der ganze Betrag sich auf viertausend Pfund beliefe. Deshalb wird er zweitausend für seinen Teil bekommen, und das ist vollkommen genug für ihn.«

»Täuschung über Täuschung, Betrug über Betrug«, sagte seine Gattin. »Wollte Gott«, fügte sie mit einem Seufzer hinzu, »Du wärest diesem Manne niemals begegnet!«

»Ich darf wohl sagen, dass das im ganzen genommen besser für mich wäre«, entgegnete er; »aber, liebes Kind, einem Manne wie mir geht es leider immer so, dass er mit Leuten zusammentrifft, mit denen er lieber hätte nicht zusammentreffen sollen. Gleich und gleich gesellt sich gern. Der handelnde Schurke und der passive Teilnehmer, sie sind sicher, sich zu finden. Nicht dass ich irgend einen Stein auf den würdigen Doktor werfen sollte; nicht im entferntesten.«

»Das können wir auch nicht, Harry«, sagte seine Frau.

»Wir können nicht, mein Herz, sehr richtig bemerkt. Es bleibt nun nichts mehr zu sagen übrig. Du kennst die Lage der Dinge vollkommen. Du kannst Dich, wenn Du willst, noch beizeiten zurückziehen und mich verlassen; dann werde ich auf einen neuen Betrug sinnen müssen, der noch weit gefährlicher ist als der erste. Ich will Dich nicht mit ins Verderben ziehen, das ist mein Entschluss. Wenn es zu öffentlichem Skandal kommt - aber das soll es nicht, Iris - ich verspreche Dir das eine«, - in diesem Augenblick sah er wirklich so aus, als ob er es aufrichtig meinte, - »ehe ich die Schande auf mich nehme, will ich lieber sterben, - sterben, ohne dass Dein Name dabei genannt wird, und Du bemitleidet wirst, die Frau eines solchen Mannes gewesen zu sein.«

Wiederum gelang es ihm, sie für seine Absichten zu gewinnen.

»Harry«, sagte sie, »ich werde gehen.«

Siebenundsechzigstes Kapitel

Drei Tage später fuhr ein Londoner Cab bei der sehr angesehenen Rechtsanwaltsfirma vor, welche die Geschäfte der Familie Norland führte. Sie waren außerdem noch die Sachwalter von zwei oder drei anderen Familien und verdienten trotz des landwirtschaftlichen Niedergangs viel Geld mit ihren bequemen Geschäften. In dem Cab saß eine Dame in tiefer Trauer.

Lady Harry Norland erwartete nichts anderes, als dass sie mit Kälte und Argwohn empfangen werden würde. Ihr Gatte hatte, wie sie nur zu gut wusste, nicht das Leben geführt, welches man in unseren Tagen von einem jüngeren Sohn einer vornehmen Familie erwartet. Ebensowenig war die Erinnerung, welche sein älterer Bruder, das Haupt der Familie, von ihm hatte, eine derartige, dass sie ihn bei diesem hätte besonders wert machen können. Weitere Gründe zur Furcht lagen in ihrem Schuldbewusstsein als Mitwisserin gewisser Dinge, welche leicht durch einen Zufall herauskommen konnten. Überdies hatte Iris noch niemals mit Rechtsanwälten zu tun gehabt und kannte daher deren Art und Weise nicht.

Anstatt dass sie indessen empfangen wurde von einem Herrn mit der feierlichen Miene eines Mitglieds des Kanzleigerichtes oder dem drohenden Blick eines Mitgliedes des Assisenhofes, fand sie einen älteren Herrn von väterlich freundlichem Benehmen, der ihre beiden Hände festhielt und aussah, als hätte er über den schweren Verlust, den sie erlitten, geweint. Durch lange Praxis verstand es dieser würdige Mann, immer zur rechten Zeit den Schein anzunehmen, als ob er mit seinen Klienten weinte und wehklagte.

»Meine teure Lady«, sprach er mit leiser, trauervoller Stimme, »meine teure Lady, dies ist eine schwere Zeit für Sie.«

Sie sah ihn erschreckt an, denn sie fürchtete, dass schon etwas herausgekommen.

»Gerade jetzt, wo Sie kaum den schmerzlichen Verlust erlitten haben, schon an Geschäfte denken zu müssen!«

»Ich bringe Ihnen«, antwortete sie kurz, »meines Gatten - meines verstorbenen Gatten letzten Willen.«

»Ich danke Ihnen. Mit Ihrer Erlaubnis - es wird Sie allerdings etwas aufhalten - werde ich ihn sogleich durchlesen. Aha, der ist ja sehr kurz und bündig und klar. Dieses Testament wird uns wenig Mühe und Arbeit machen. Leider muss ich indessen die Befürchtung aussprechen, dass Sie, Mylady, außer der Versicherungssumme nicht sehr viel erhalten werden.«

»Ich weiß das. Es wird gar nichts sein. Mein Gatte war stets ein armer Mann, wie Sie ja auch selbst wissen werden. Zur Zeit seines Todes verfügte er nur über sehr wenig bares Geld. Ich bin daher wirklich in großer Verlegenheit.«

»Das sollen Sie nicht länger sein, Mylady; Sie brauchen sich nur auf uns zu berufen. Was Lord Harrys Tod anbetrifft, so sind wir davon schon durch Doktor Vimpany benachrichtigt, der sein Freund sowohl als sein ärztlicher Berater gewesen zu sein scheint.«

»Doktor Vimpany hat eine Zeit lang mit meinem Gatten zusammengelebt.«

»Er hat uns geschrieben, dass die Krankheit Ihres Gatten einen sehr schnellen Verlauf gehabt.«

»Ich war gerade fern von meinem Gatten, als er starb. Ich befand mich in Geschäftsangelegenheiten schon eine Zeit lang vor seinem Tod hier in London. Ich wusste es nicht einmal, dass sein Zustand gefährlich war. Als ich zurück nach Passy eilte, kam ich zu spät. Mein Gatte war schon - war schon beerdigt.«

»Das traf sich sehr unglücklich. Und außerdem die Tatsache, dass Seine Lordschaft nicht aus freundschaftlichem Fuß mit den Mitgliedern seiner Familie lebte, - bitte, missverstehen Sie mich nicht, Mylady, ich will durchaus nicht irgend eine Meinung über diese Verhältnisse aussprechen - aber diese Tatsache hat jedenfalls sein Ende noch unglücklicher gemacht.«

»Er hatte Doktor Vimpany«, sagte Iris in einem Ton, welcher Misstrauen gegen den Rechtsanwalt oder Missfallen gegen den Doktor ausdrückte.

»Es bleibt uns jetzt nur noch übrig«, sagte der Anwalt, »das Testament eröffnen zu lassen und Ihre Forderung an die Lebensversicherungsgesellschaft geltend zu machen. Ich habe die Police hier. Lord Harry hatte sein Leben bei der Royal Unicorn Lilfe Insurance Company für die Summe von fünfzehntausend Pfund versichert. Wir können nun nicht erwarten, dass diese große Forderung sogleich befriedigt wird. Vielleicht wird die Gesellschaft drei Monate für die Auszahlung verlangen. Aber Mylady können sich inzwischen, wie ich Ihnen schon sagte, auf uns berufen.«

»Sind Sie auch sicher, dass die Gesellschaft zahlen wird?«

»Ganz sicher. Warum nicht? Sie muss zahlen.«

»Ich dachte nur, dass vielleicht eine so große Summe -«

»Meine liebe gnädige Frau«, - der Mann, der so große Vermögen verwaltete, musste unwillkürlich lächeln - »fünfzehntausend Pfund sind für uns keine große Summe. Wenn eine Versicherungsgesellschaft die Auszahlung einer gesetzlich anerkannten Forderung verweigern würde, so würde sie sich dadurch selbst eine Grube graben, denn ihre ganze Existenz hängt nur einzig und allein davon ab, dass sie alle gerechten und gesetzlich anerkannten Forderungen befriedigt. Wenn der Tod eines Menschen amtlich beglaubigt worden ist, dann bleibt der Versicherungsgesellschaft nichts anderes übrig, als die Versicherungssumme der Person auszuzahlen, welche zum Empfang des Geldes berechtigt ist. In diesem Fall bin ich diese Person als Ihr Stellvertreter.«

»Ja, ich verstehe; aber ich dachte nur, dass sich vielleicht einige Schwierigkeiten ergeben würden, weil mein Gatte im Ausland gestorben ist.«

»Schwierigkeiten könnten allerdings vorhanden sein, wenn Lord Harry in Zentralafrika gestorben wäre. Aber er starb in einer Vorstadt von Paris, und das französische Gesetz ist in solchen Fällen noch viel sorgfältiger und genauer als unser eigenes. Wir haben die offiziellen Papiere und die Beglaubigung des Doktors. Wir haben außerdem eine Photographie des unglücklichen jungen Edelmanns, wie er auf seinem Totenbett liegt. Sie ist von wunderbarer Ähnlichkeit, und die Sonne kann nicht lügen; es war das ein ausgezeichneter Gedanke von dem Doktor, den Toten zu photographieren. Wir haben ferner auch eine Photographie von dem erst kürzlich errichteten Grabstein. Zweifel? Meine teure Lady, man könnte ebensowenig einen Zweifel an der Nichtigkeit der Sachlage haben, wenn Ihr Gatte in dem Familienerbbegräbnis bestattet wäre. Wenn irgend etwas einen Grund an Zweifeln entfernen kann, so ist es die Tatsache, dass die einzige Person, welche aus Lord Harrys Tod einen Vorteil zieht, Sie selbst sind. Wenn er dagegen in den Händen von Leuten gewesen wäre, welche Grund hätten, seinen Tod zu wünschen, dann könnten allerdings Zweifel entstehen. Das wäre aber Sache der Polizei und nicht der Versicherungsgesellschaft.«

»O, wie.bin ich froh, zu hören, dass die Angelegenheit keinen Anstand weiter hat. Ich verstehe so gar nichts von Geschäften und glaubte daher -«

»Nein, nein, Mylady, Sie brauchen keinen solchen Gedanken zu haben. Da ich ja voraussehen konnte, dass Sie mich aufsuchen würden, so habe ich schon vorher an den Geschäftsleiter der Versicherungsgesellschaft geschrieben. Er drückte allerdings seine lebhafte Verwunderung über die Ursache des Todes aus, denn in der Familie Ihres Gatten war noch kein Fall von Auszehrung vorgekommen. Aber Lord Harry hat auch, wenn ich mich so ausdrücken darf, sehr große Anforderungen an seine Gesundheit gestellt. Ja, ja, etwas zu starke, so habe ich es wenigstens der Gesellschaft erklärt.«

In Wirklichkeit hatte jedoch dieser würdige Mann die Erklärung in ganz anderen Worten gegeben. Was er wirklich gesagt hatte, lautete folgendermaßen: »Lord Harry Norland, Sir, war ein Teufel. Es gab nichts, was er nicht getan hatte; ich wundere mich nur darüber, dass er überhaupt noch so lange gelebt hat. Wenn man mir gesagt hätte, dass er an allen Krankheiten zusammen gestorben wäre, so würde ich darüber nicht im mindesten erstaunt gewesen sein. Die gewöhnliche galoppierende Schwindsucht war viel zu einfach für solch einen Mann.«

Iris nannte dem Rechtsanwalt ihre Londoner Adresse und ließ sich von ihm zum voraus hundert Pfund geben, wovon sie die Hälfte an William Linville in Louvain schickte. Dann begab sie sich nach Hause, um dort zu warten. Sie musste jetzt so lange in London bleiben, bis die Forderung ausgezahlt wurde.

Sie wartete sechs Wochen. Am Ende dieser Zeit erfuhr sie durch ihren Rechtsanwalt, dass die Versicherungsgesellschaft die Sache in Ordnung gebracht und dass er als ihr Rechtsanwalt bei ihrem Bankier die Summe von fünfzehntausend Pfund als vollen Betrag der Versicherungssumme eingezahlt habe.

In Übereinstimmung mit den Anordnungen ihres Gatten suchte sie sich dann ein anderes Bankhaus und eröffnete bei diesem ein Konto für einen gewissen William Linville, einen Edelmann, der im Ausland lebte. Sie ließ eine Probe der eigenhändigen Namensunterschrift William Linvilles zurück und zahlte auf dieses Konto eine Anweisung von achttausend Pfund ein. Dann sprach sie mit dem Geschäftsführer ihrer eigenen Bank und erklärte ihm, dass sie diese Summe für eine sichere Kapitalanlage brauche, und bat ihn außerdem noch um zweitausend Pfund in Banknoten, die sie für einen andern Zweck benötige. Der Bankier glaubte, sie beabsichtige irgendeine wohltätige Stiftung damit zu machen - vielleicht ein Sühnopfer für die Ausschreitungen ihres verstorbenen Gatten.

Dann schrieb Iris sofort an Mr. Vimpany, der sich in Paris aufhielt, und verabredete eine Zusammenkunft mit ihm.

»Es hat nicht die mindeste Mühe gemacht«, schrieb sie, nachdem das alles besorgt war, an ihren Gatten, »und wird auch in Zukunft keine weitere verursachen. Die Lebensversicherungsgesellschaft hat meine Forderung schon berichtigt. Von dem erhaltenen Geld habe ich achttausend Pfund auf das Konto von William Linville eingezahlt. Mein eigener Bankier, der meinen Vater kennt, glaubt, dass das Geld zu einer Kapitalanlage verwendet wird, und ich glaube, mein lieber Harry, dass, wenn nicht der Doktor uns wieder zu quälen anfängt, - und er wird dies sicher tun, sobald er sein Geld durchgebracht hat - vor uns ein ebener Weg liegt. Lass uns, wie ich Dich schon einmal gebeten habe, geradenwegs nach einem entlegenen Teil von Amerika gehen, wo wir sicher sind, nicht erkannt zu werden. Du kannst Dein Haar färben und Deinen Bart wachsen lassen, um uns vor jeder Entdeckung zu schützen. Lass uns weit weg gehen von jedem Ort und von jeder Person, die uns an die Vergangenheit erinnern kann. Dann werden wir vielleicht etwas von dem alten Frieden wiederfinden und, wenn das jemals noch möglich ist, die alte Selbstachtung.«

Es sollten ihr indessen doch noch Mühen und Unannehmlichkeiten erwachsen und zwar derartige, die sie wenig erwartet hatte, und vor denen sie sich auch nicht schützen konnte, und diese Unannehmlichkeiten wurden durch Iris' eigene Handlungsweise hervorgerufen.

Achtundsechzigstes Kapitel

Iris sah Fannys Annonce, und ihr erster Gedanke war, das Mädchen wieder in ihre Dienste zu nehmen; aber sie erinnerte sich daran, dass sie vor allen früheren Bekannten verborgen bleiben müssten. Sie durfte sich und ihren Gatten nicht in die Gewalt dieses Mädchens geben, dessen Treue auf zu harte Proben gestellt werden könnte.

Daher beantwortete sie die Annonce durch einen Brief, der keine Adresse enthielt und den sie selbst auf das Hauptpostamt trug. Sie überlegte ihre Worte sehr sorgfältig. Sie durfte nicht zu viel und nicht zu wenig sagen.

»Ich lege diesem Brief,« schrieb sie, »eine Bank¬note von zehn Pfund bei, welche Sie für sich ver¬wenden sollen. Ich stehe im Begriff, ins Ausland zu reisen, muss aber unter den gegenwärtigen Verhältnissen auf die Dienste eines Kammermädchens Verzicht leisten. Im weiteren Verlauf meiner Reisen werde ich, wie ich hoffe, auch nach Brüssel kommen. Wenn Sie daher mir etwas zu sagen oder mich etwas zu fragen haben, so schreiben Sie, bitte, dorthin postlagernd an mich, und innerhalb von ungefähr sechs Monaten werde ich den Brief, wie ich mit Sicherheit annehmen zu können glaube, von dort abholen lassen. Ich erwarte aber dann auch gewiss einen Brief von Ihnen. Denken Sie nicht etwa, dass ich Sie oder Ihre treuen Dienste vergessen habe, obgleich ich für den Augenblick außerstande bin, Sie an meine Seite zu rufen. Fassen Sie sich daher in Geduld!«

Dass in dem Brief keine Adresse angegeben war, musste befremden. Wenn Lady Harry sich in London befand, - und der Brief war auf dem dortigen Hauptpostamt aufgegeben - warum nannte sie dann ihre Adresse nicht? Und wenn sie sich im Ausland befand, warum verheimlichte sie selbst dann ihren Aufenthaltsort? Auf jeden Fall, warum sollte sie sich ohne ein Kammermädchen behelfen, sie, die niemals ohne ein solches gewesen war, der ein Kammermädchen so notwendig war wie eine ihrer Hände? - O, sie konnte überhaupt niemals ohne Kammermädchen sein. Fanny wusste natürlich nichts, noch ahnte sie irgendetwas von den Geschäften, welche Iris in London gehabt hatte, und von deren Teilnahme an dem Verbrechen.

Sie wandte sich daher wieder an ihre einzige Freundin, an Mrs. Vimpany, welcher sie den Brief von Lady Harry schickte, und beschwor sie, wenn es möglich wäre, Mr. Mountjoy jetzt die ganze Geschichte zu erzählen.

»Er ist nunmehr um so viel kräftiger und gesünder geworden,« schrieb Mrs. Vimpany zurück, »dass ich es demnächst werde wagen können, ihm alles mitzuteilen; aber übereilen Sie nichts. Wir wollen um Gottes willen nichts tun, was ihr irgendwelche Unannehmlichkeiten bereiten könnte. Ich bin fest überzeugt, dass wieder irgendetwas im Werk ist, natürlich etwas Schlechtes. Ich habe Ihren Bericht von dem, was Sie erfahren und miterlebt haben, wieder und immer wieder durchgelesen und bin ebenso überzeugt wie Sie, dass Lord Harry und mein würdiger Gatte den vermeintlichen Tod des ersteren zu ihren unsauberen Zwecken ausbeuten. Wir können aber jetzt nichts tun, wir müssen warten.«

Drei Tage später schrieb sie wieder:

»Der günstige Augenblick, auf den ich gewartet habe, ist jetzt endlich gekommen. Mr. Mountjoy hat sich wieder, wie ich glaube, vollständig erholt. Als ich ihn heute morgen so gesund und kräftig fand, nahm ich die Gelegenheit wahr, ihn zu fragen, ob ich es wagen dürfte, ihm ein Buch vorzulegen, das eine Erzählung enthielte.

»,Betrifft die Erzählung Iris?' fragte er.

»,Sie hat mit Lady Harry indirekt zu thu.'

»Eine Zeit lang gab er keine Antwort. Dann fragte er mich, ob sie auch deren Gatten betreffe.

»,Auch Lord Harry und meinen Gatten,' antwortete ich.

»Darauf schwieg er wieder eine Zeit lang.

»Nach einer Weile sah er auf und sagte:

»,Ich habe mir selbst das Versprechen gegeben, mich niemals wieder in Lady Harry Norlands Angelegenheiten zu mischen. Ist es Ihr besonderer Wunsch, dass ich diese Erzählung lese, Mrs. Vimpany?'

».Gewiss. Es liegt mir sehr viel daran, dass Sie sie lesen und mir dann einen Rat geben.'

»,Wer hat sie geschrieben?'

»,Fanny Mere, das Kammermädchen der Lady.'

»,Wenn es sich nur darum handelt, mir zu sagen, dass Lord Harry ein Schurke ist, dann will ich sie nicht lesen.'

»,Wenn Sie nun durch die Lektüre in stand gesetzt würden, Lady Harry vor einem furchtbaren Unglück zu bewahren?' wendete ich ein.

»,Geben Sie mir den Bericht, ich will ihn lesen,' sagte er darauf.

»Bevor ich ihm jedoch Ihre Aufzeichnungen einhändigte, - ich trug sie stets bei mir in meiner Tasche - zeigte ich ihm eine Zeitung, welche eine gewisse Anzeige enthielt.

»,Lord Harry tot?' rief er. Unmöglich, dann ist Iris ja frei?'

»,Sie lesen vielleicht zuerst diese Aufzeichnungen von Fanny Mere,' entgegnete ich und zog das Buch aus der Tasche, übergab es ihm und ging aus dem Zimmer. Er sollte allein sein, während er Ihren Bericht las.

»Eine halbe Stunde später kam ich wieder zurück. Ich fand ihn in einem Zustand der heftigsten Erregung, jedoch ohne irgendwelches Zeichen von Schwäche, wie ich es bei früheren ähnlichen Gelegenheiten an ihm bemerkt hatte.

»,Mrs. Vimpany,« rief er, ,das ist ja entsetzlich! Für mich ist kein Zweifel, nicht der geringste Zweifel mehr vorhanden, dass der Däne Oxbye derjenige ist, welcher unter dem Namen Lord Harry Norlands auf dem Friedhof von Auteuil beerdigt wurde, und dass er ermordet worden ist, mit kaltem Blut ermordet worden von jenem schlechtesten aller Schurken -'

»,Von meinem Gatten!' sagte ich.

»,Ja, von Ihrem Gatten, Sie unglücklichste aller Frauen! Was Lord Harrys Beteiligung an dem Mord betrifft, so ist es gleichfalls vollständig erwiesen, dass er davon wusste, wenn er nicht sogar damit übereingestimmt hat. Mein Gott im Himmel, verstehen Sie es, können Sie sich wirklich vorstellen, was sie getan haben? Ihr Gatte und der Gatte von Iris können deswegen in Untersuchung gezogen werden, in eine wirkliche Untersuchung wegen Mords, und zu einem schmachvollen Tod verurteilt werden. Haben Sie schon daran gedacht?'

»,Ich denke immer daran; der Himmel weiß es, ich denke jeden Tag daran, ich denke daran Tag und Nacht. Ich werde aber nichts laut werden lassen, was dieses Schicksal auf sie herabbeschwören könnte, und ebensowenig wird Fanny Mere irgend etwas sagen. Wenn Fanny nicht zufälligerweise Augenzeugin gewesen wäre, so würden wir überhaupt nicht die geringste Ahnung davon haben, wie sich die ganze Sache in Wirklichkeit verhält.' ,Was weiß aber Iris davon?' ,Von dem Morde sicherlich nichts!' ,Nein, nein, sie kann nichts davon wissen. Das wenigstens durften sie ihr nicht sagen. Aber wie weit mag sie im übrigen in diese dunkle Sache verwickelt sein? Mrs. Vimpany, ich werde noch heute abend nach London zurückkehren. Wir werden mit dem Nachtzug fahren. Ich fühle mich vollständig kräftig genug.'

»Ich begann diesen Brief in Schottland, ich vollende ihn hier in London.

»Wir sind wieder in der Stadt. Kommen Sie sofort in das Hotel und suchen Sie uns auf.«

So, da war endlich der Mann da, der einen guten Rat geben konnte. Zum erstenmal seit langer, langer Zeit war Fanny wieder dafür dankbar, dass es auf der Welt Männer gab.

Das erste, was Mountjoy tat, nachdem er sich durch Rücksprache mit Fanny Mere noch einmal sorg-fältig von der Richtigkeit aller ihrer brieflichen Angaben versichert, war, dass er sich erkundigte, ob und welche Schritte in der Versicherungsangelegenheit getan worden seien. Um Iris willen ging er dabei ganz offen vor, denn es durfte nur den Anschein haben, als ob er die gegenwärtige Adresse der Lady Harry wissen wollte. In einer Sache, bei der Bankiers, Lebensversicherungsgesellschaften und Rechtsanwälte gemeinsam beteiligt waren, konnte es unmöglich schwer fallen, etwas so Einfaches ausfindig zu machen.

Er erfuhr denn auch alsbald die Namen der Rechtsanwälte der Familie Norland. Er suchte deren Bureau auf, schickte seine Karte hinein und trug, nachdem er vorgelassen worden, sein Anliegen vor. Als langjähriger Freund der Lady Harry wünschte er deren gegenwärtige Adresse zu wissen. Er sei soeben aus Schottland gekommen, wo er krank gelegen, und habe daher auch jetzt erst ihren schmerzlichen Verlust erfahren.

Der Rechtsanwalt machte keinerlei Schwierigkeiten; hatte er doch nicht den geringsten Grund dazu. Lady Harry, berichtete er, war in London gewesen; sie war fast zwei Monate lang durch die Geschäfte in der Stadt aufgehalten worden, die mit dem traurigen Ereignis zusammenhingen; sie war aber jetzt schon wieder fortgereist und befand sich in der Schweiz oder sonst wo. Ihre Adresse habe sie ihm demnächst zu senden zugesagt.

»Das, was Lady Harry hier in London zu tun hatte, betraf, so viel ich weiß, die Eröffnung des Testaments und die Ordnung ihrer Vermögensverhältnisse.«

»Ganz richtig!«

»Lady Harry besaß auch ein eigenes kleines Vermögen,« fuhr Mr. Mountjoy fort, »das sie endlich doch noch von ihrem Vater bekommen hatte, ungefähr fünftausend Pfund, mehr war es meines Wissens nicht.«

»So? Sie hat in der Beziehung nicht meine Hilfe in Anspruch genommen.«

»Ich glaube, dieses Vermögen war sicher angelegt und befand sich in den Händen eines Vormundes. Aber ich weiß es selbst nicht genau. Lord Harry war, soviel ich gehört habe, gewöhnlich in Geldverlegenheit. Hatte er denn sein Leben versichert?«

»Ja, glücklicherweise. Die Versicherungssumme hatte seine Familie für ihn bezahlt, sonst würde er seiner Witwe überhaupt nichts hinterlassen haben.«

»Und diese Summe ist ihr gewiss schon ausgezahlt worden?«

»Ja. Sie ist auf ihr Privatkonto übertragen worden.«

»Ich danke Ihnen,« sagte Mr. Mountjoy. »Mit Ihrer Erlaubnis werde ich einen Brief an Lady Harry in Ihre Hände legen mit der Bitte, ihn bei nächster Gelegenheit an sie weiter zu befördern.«

»Iris wird nie wieder nach London kommen,« dachte er; »ihr Gatte hat sie also wirklich dahin gebracht, an dem Verbrechen teilzunehmen. Gott im Himmel, sie ist eine Schwindlerin, eine Betrügerin, eine Verbrecherin geworden! Iris! Es ist unglaublich, es ist fürchterlich! Was ist da zu tun?«

Er schrieb zunächst einen Brief, den er in die Hände des Rechtsanwalts niederlegte. Er teilte ihr darin mit, dass er eine Entdeckung gemacht habe, die für sie von der größten Wichtigkeit sei, vermied aber alles, was den geringsten Verdacht in ihr erregen konnte; er beschwor sie, ihm eine Zusammenkunft irgendwo, in irgend einem Teil der Welt, aber mit ihr allein, zu gewähren. Er sagte ihr, dass die Folgen einer abschlägigen Antwort verhängnisvoll, furchtbar verhängnisvoll für ihr zukünftiges Glück sein könnten, und bat sie noch einmal inständigst, ihm zu glauben, dass er für nichts anderes als für ihr Glück besorgt, und dass er noch immer, wie zu jeder Zeit, ihr aufrichtig ergebener Freund sei.

Für jetzt konnte er nichts weiter tun; er hegte nicht einmal die Hoffnung, dass der Brief irgendwelchen Erfolg haben, ja, er glaubte nicht einmal, dass er Iris erreichen werde. Sie hatte das Geld empfangen, und es war auf ihr eigenes Konto übertragen worden; es lag daher in der Tat gar kein Grund vor, warum sie wieder in Verbindung mit dem Rechtsanwalt treten sollte; und was würde sie dann tun? Nur eines blieb ihr übrig. Diese schuldbeladene Frau musste mit ihrem schuldbeladenen Gatten in Verborgenheit den Rest ihrer Tage verleben oder wenigstens so lange, bis der Tod sie von dem Mann befreite, der jetzt schon vorgab, begraben zu sein. Im besten Fall würden sie irgendeinen Ort ausfindig machen, wo sich keine Gelegenheit darbieten würde, mit irgendjemand zusammenzutreffen, der einen von ihnen gekannt hätte, bevor sie das Verbrechen begangen hatten.

Aber konnte sie überhaupt etwas von dem Mord wissen?

Er dachte an den Auftrag, den sie Fanny gegeben hatte, nach Brüssel zu schreiben, und nahm sich vor, das Kammermädchen zu veranlassen, dies sofort zu tun. Er selbst wollte Fanny diktieren, was sie schreiben sollte. So schrieb denn Fanny nach seinem Diktat folgendes:

»Mylady! Ich habe Ihren Brief erhalten und Ihr liebenswürdiges Geschenk von zehn Pfund, für das ich Ihnen bestens danke.

»Mr. Mountjoy, der wieder nach London zurückgekehrt ist, ersucht mich, Ihnen mitzuteilen, dass er mit Ihrem Rechtsanwalt eine Unterredung gehabt und von ihm erfahren hat, dass Sie in London gewesen sind in Geschäftsangelegenheiten, deren Natur er ebenfalls kennen gelernt hat. Er hat für Sie auf dem Bureau des Rechtsanwaltes einen wichtigen Brief niedergelegt; der Rechtsanwalt hat versprochen sobald er Ihre Adresse erfährt, Ihnen diesen Brief zu übersenden.

»Seitdem ich von Passy zurückgekehrt bin, habe ich es für vernünftig gehalten, einen genauen Bericht über alles, was sich dort unter meinen Augen ereignet hat, niederzuschreiben. Mr. Mountjoy hat diese meine Aufzeichnungen gelesen und wünscht, dass ich Ihnen ohne Aufschub eine Abschrift davon übersenden soll. Ich schicke Ihnen daher eine solche, in der ich jedoch alle Namen ausgelassen und dafür nur die einfachen Anfangsbuchstaben eingesetzt habe. Sie werden ja nicht die mindeste Schwierigkeit haben, die Namen auszufüllen.

»Ich verbleibe Myladys aufrichtigst ergebenste Dienerin

Fanny Mere.«

Noch an demselben Abend wurde dieser Brief mit der Abschrift nach Brüssel geschickt, und damit bereits war das düstere Verhängnis, das über Iris hereinbrechen sollte, ins Rollen gebracht.

Neunundsechzigstes Kapitel

Iris kehrte nach Louvain über Paris zurück. Sie musste dort mit dem Doktor abrechnen.

Er folgte ihrer Aufforderung sogleich und suchte sie im Hotel auf.

»Nun, Mylady,« begann er mit seiner rauhen Stimme, indem er seine Hände rieb und lachte, »nun ist es endlich doch zum guten Ende gekommen! Nicht wahr?«

»Ich habe durchaus nicht den Wunsch, Doktor Vimpany, mit Ihnen eine längere Unterhaltung anzuknüpfen; bitte, beeilen wir uns, das Geschäft, das wir mit einander abzumachen haben, so schnell als möglich zu erledigen.«

»Ich hätte nicht gedacht, dass Sie, Mylady, doch noch darauf hereinfallen würden,« entgegnete er. »Jetzt darf ich auch gestehen, dass dies der schwierigste Teil der ganzen Sache war. Es ist ja ganz leicht, zu behaupten, dass ein Mann gestorben ist, aber es ist durchaus nicht leicht, das Geld von einer Versicherungsgesellschaft ausbezahlt zu bekommen. Ich muss offen gestehen, ich hätte nicht recht gewusst, wie wir das ohne Ihre Mithilfe hätten fertig bringen sollen. Sie hatten gewiss keine Schwierigkeit dabei?«

»Nicht die geringste.«

»Ich soll die Hälfte von dem Geld bekommen.«

»Ich bin beauftragt, Ihnen zweitausend Pfund zu übergeben. Ich habe sie bei mir.«

»Ich hoffe, Sie sehen ein, dass ich dieses Geld beanspruchen kann?«

»Ich glaube, Doktor Vimpany, dass Sie nicht nur dieses Geld, sondern alles, was Ihnen in Zukunft aus dieser Sache erblühen kann, reichlich verdienen. Sie haben einen Mann auf Ihren eigenen Standpunkt herabgezogen -«

»Bitte, und zugleich auch eine Frau.«

»Gewiss, auch eine Frau. Ihr Lohn dafür wird nicht ausbleiben. Ich zweifle nicht im mindesten daran.«

»Wenn der Lohn jedesmal die Gestalt von Banknoten annimmt, dann werde ich immer vergnügter sein, je größer der Lohn ist. Sie werden doch als gute Christin jedenfalls auch auf eine Belohnung rechnen, für sich selbst sowohl, wie für Ihren edlen Gatten.«

»Ich habe die meinige schon erhalten,« antwortete sie traurig. »Jetzt erlauben Sie, Doktor Vimpany, dass ich Ihnen das Geld übergebe und so mit Ihnen zu Ende komme.«

Vimpany nahm das Geld in Empfang, zählte es vorsichtig nach und tat es wieder in den Beutel, in welchem es ihm von Iris übermittelt worden war. Diesen Beutel steckte er dann in seine Rocktasche.

»Ich danke Ihnen, Mylady. Ich glaube, wir haben Komplimente genug über diesen Scherz aus-getauscht.«

»Ich hoffe, das heißt, ich bitte Gott, dass Sie uns niemals wieder vor Augen kommen werden.«

»Das kann ich nicht versprechen, Mylady. In dieser engen und kleinen Welt treffen die Leute auf so sonderbare Weise immer wieder zusammen und besonders diejenigen, die dunkle Geschichten mit einander ausgeführt haben, und für die daher gar kein Grund vorliegt, einander auszuweichen.«

»Genug, genug!«

»Sie werden natürlich in der Welt, in der Sie jetzt leben, unter einem andern Namen bekannt sein.«

»Ich werde Ihnen nicht sagen, unter welchem -«

»O, bitte, bitte, das ist gar nicht nötig; ich werde den Namen schon ganz allein herausbekommen. Wir werden uns bald im Hintergrunde der menschlichen Gesellschaft begegnen.«

»Was soll das heißen?«

»Das heißt, Lady Harry, dass Ihr Gatte nicht die geringste Idee von dem Wert des Geldes hat. Die zweitausend Pfund, die Sie ihm mitbringen, werden in einem oder in zwei Jahren verschwunden sein. Was wollen Sie dann anfangen? Was mich selbst betrifft, ich kenne den Wert des Geldes so gut, dass ich mir damit immer die schönsten und angenehmsten Dinge einkaufe. Aber diese angenehmen Dinge kosten eben Geld, viel Geld. Wir wollen uns daher keinen Illusionen hingeben. Sie, Mylady, und Ihr Gatte, der edle Lord Harry, und ich, wir gehören alle zum Hintergrund, und in einem Jahr, - wenn es gut geht, in zwei Jahren, gehören wir zu dem allertiefsten Hintergrund. Ich kann wohl sagen, dass die Welt dann glauben wird, wir gehören zu dem Hintergrund, mit dem die Gerichte zu schaffen haben. Ich wünsche im übrigen Mylady ein angenehmes Wiedersehen mit Ihrem Herrn Gemahl.«

Mit diesen Worten machte der Doktor eine höhnische Verbeugung und ging aus dem Zimmer. Die Prophezeiungen, mit denen er Iris verabschiedet hatte, verließen sie nicht und begleiteten sie auf ihrer Reise, die dadurch nur mit um so schwererem Kummer belastet wurde. Der nächste Tag fand sie auf dem Wege nach Louvain.

Dort begann nunmehr ein neues Leben, ein Leben der Verborgenheit und der Unwahrheit. Iris besorgte pünktlich ihre Haushaltung, aber sie wagte es nicht, aus dem Hause wegzugehen, ohne einen dichten Schleier vor das Gesicht zu binden. Ihr Gatte, der die Entdeckung gemacht hatte, dass doch zuweilen englische Reisende von Brüssel einen Abstecher nach Louvain machten, seines Rathauses wegen, ging überhaupt nur abends aus. Sie hatten keine Freunde und keine Geselligkeit irgendwelcher Art.

Das Haus, das sie bewohnten, lag ganz abgeschlossen hinter einer hohen Mauer in einem Garten, in der ruhigsten Gegend der alten Stadt. Nicht das geringste Geräusch drang bis dorthin, und ebenso sprachen die beiden Leute, die dieses Haus bewohnten, sehr selten miteinander. Sie trafen überhaupt nur bei zwei Gelegenheiten zusammen: beim Frühstück und beim Mittagstisch. Während der übrigen Zeit saß Iris in ihrem Zimmer und Lord Harry in dem seinigen, oder er ging stundenlang im Garten spazieren - schweigend, in sich gekehrt.

So schwanden die Tage eintönig dahin; die Uhren tickten, die Stunden verliefen. Die beiden Eheleute nahmen ihre Mahlzeiten; sie schliefen, standen auf, kleideten sich an und nahmen wieder ihre Mahlzeiten ebenso schweigend und gedrückt wie an den vorhergehenden Tagen ein. Das war der Lauf ihres Lebens, und das war auch alles, was sie von der Zukunft erwarten konnten.

Drei Monate lang hielt Iris dieses Leben aus. Von der Außenwelt erfuhr sie überhaupt nichts mehr. Ihr Gatte hatte selbst das vergessen, was im modernen Leben als das Unentbehrlichste zu gelten pflegt: die Zeitungen. Sie hätte sich ja vollkommen für diese Einsamkeit und Abgeschlossenheit entschädigt gefühlt, wenn das Leben, das sie führte, das Leben in einem Paradiese gewesen wäre. Aber es war ein Gefängnis, in das die beiden zusammen eingesperrt waren, und in dem gleichwohl das Bewusstsein ihrer schweren Schuld zwischen ihnen stand, über die sie kein Wort zu sprechen wagen und die doch keinen andern Gedanken in ihnen aufkommen ließ.

Lord Harry sah immer in den Augen seiner Frau einen Vorwurf. Ihr trauriger und bekümmerter Blick sagte ihm deutlicher als Worte: »Du bist es, der mich so weit gebracht hat.«

Eines Morgens blätterte Iris ohne besondere Absicht in den Papieren, die in ihrem Schreibtisch lagen. Es waren alte Briefe, alte Photographien und alle möglichen unbedeutenden Dinge, welche sie an die Vergangenheit erinnerten, - eine Frau hebt ja alles auf - kleine Andenken an ihre Kindheit, an ihre erste Gouvernante, an ihren ersten Schulunterricht, an ihre Schulfreundschaften und mehr dergleichen. Während Iris diese Sachen durchsah, eilte ihr Geist zurück in die längst vergangenen Tage. Sie wurde wieder ein junges Mädchen, unschuldig, liebefrei; sie wurde größer und war eine Frau, auch noch unschuldig. Dann übersprang ihr Geist die Zwischenzeit bis in die Gegenwart, und sie sah sich, wie sie jetzt war - nicht mehr unschuldig - herabgekommen und verächtlich als Mitwisserin eines gemeinen Verbrechens.

Ihr war wie einem, der eine bunte Brille getragen hat und dieselbe nun ablegt und infolge dessen die Dinge in ihrer wirklichen Färbung wahrnimmt; sie sah, wie sie durch blinde Liebe auf den Stand-punkt des Mannes herabgezogen worden war, der sie an sich gefesselt hielt; und sie sah den Mann, wie er in Wirklichkeit war, leichtsinnig, wankelmütig und unbekümmert um Namen und Ehre. Und dann stellte sie sich zum erstenmal den Abgrund, in den sie hinabgesunken war, vor, und dachte an das Leben, das sie hinfort gezwungen war zu führen. Die blinde Liebe schwand ganz in ihr, sie war endlich tot; aber trotz alledem blieb sie an den Mann gefesselt durch eine Kette, die nichts zerreißen konnte; zum erstenmale seit langer Zeit befand sie sich jetzt in dem vollständigen Besitz ihres klaren Verstandes; sie sah die Dinge so, wie sie wirklich waren; aber dieses Wissen kam zu spät.

Ihr Gatte machte keinen Versuch, die Entfremdung, die seit einiger Zeit zwischen ihnen entstanden war, zu beseitigen; sie nahm im Gegenteil von Tag zu Tag immer mehr zu; er lebte für sich allein und saß in seinem Zimmer, mehr Zigarren rauchend und mehr Cognac mit Wasser trinkend, als für ihn gut war; zuweilen durchschritt er den Garten. Am Abend nach dem Diner ging er aus und durchwanderte die leeren Straßen der ruhigen, kleinen Stadt. Ein- oder zweimal wagte er ein Café zu betreten, setzte sich dort in einen Winkel und zog den Hut tief über die Augen herab. Trotzdem aber blieb es gefährlich. Meistenteils durchwanderte er daher nur ruhelos die einsamen Straßen und sprach mit keinem Menschen.

Inzwischen war der Herbst vergangen, und der Winter begann mit nassen, unangenehmen Tagen. Immerfort regnete es, und die Straßen und Wege wurden fast unbeschreitbar. Lord Harry saß auf seinem Zimmer und rauchte den ganzen Tag über. So nahm die traurige Einsamkeit immer noch zu.

Eines Tages - es war nach dem Frühstück - fing er an, darüber zu sprechen.

»Iris,« sagte er, »wie lange soll das so fortgehen?«

»Das - was?«

»Dieses Leben, diese elende Einsamkeit und Schweigsamkeit?«

»Bis wir sterben!« antwortete sie. »Was erwartest Du anderes? Du hast unsere Freiheit verkauft, und wir müssen uns nun in Geduld fügen.«

»Nein, ich werde ein Ende damit machen; ich kann es nicht länger ertragen.«

»Du bist noch jung; Du wirst vielleicht noch vierzig Jahre oder mehr zu leben haben und zwar ganz in derselben Weise wie jetzt, so einsam und verlassen. Es ist der Preis, den wir zahlen müssen.«

»Nein,« antwortete er, »es kann, es darf nicht so fortgehen.«

»Du würdest allerdings besser tun, wenn Du nach London gingest und in Piccadilly spazieren gingest, um ein wenig Gesellschaft zu bekommen!«

»Was kümmert es Dich, was ich tue oder wohin ich gehe?«

»Wir wollen uns gegenseitig keine Vorwürfe machen, Harry.«

»Was tust Du denn seit langer Zeit anderes, als dass Du mir mit Deinen traurigen Blicken und Deinem Stillschweigen Vorwürfe machst?«

»Wenn Du es kannst, so mache ein Ende. Suche nach einem Ausweg aus dieser Trostlosigkeit.«

»Ich habe einen Plan entworfen. Höre zu, Iris. Wir können dieses Leben nicht länger so fortsetzen. Es macht mich wahnsinnig.«

»Mich auch. Aber eben deshalb brauchten wir nicht den Wunsch nach Abänderung zu haben, denn Wahnsinnige vergessen; sie glauben irgendwo anders zu sein, und für uns würde es an sich Glück bedeuten, wenn wir glaubten, wir wären anderswo.«

»Ich bin entschlossen, es zu ändern, auf jede Gefahr hin. Wir werden Louvain verlassen.«

»Wir können allerdings,« antwortete Iris kühl, »eine andere Stadt in Frankreich oder Belgien auf-suchen, wo wir wiederum ein kleines Haus finden, hinter hohen Mauern in einem Garten gelegen, und können uns dort von neuem verbergen.«

»Nein, ich will mich nicht länger verbergen. Ich bin dessen überdrüssig.«

»Nun, was ist denn dann Dein Plan? Soll ich etwa noch einmal behaupten, irgend jemands Witwe geworden zu sein?«

»Wir wollen nach Amerika gehen. Dort gibt es Gegenden in den Vereinigten Staaten, wohin kein Engländer kommt, weder als Reisender noch als Ansiedler, Gegenden, in denen man gewiss noch nichts von uns gehört hat. Wir werden dort eine ruhige Stadt aufsuchen, ein kleines Gut kaufen und uns unter den anderen Ansiedlern niederlassen. Ich verstehe etwas von Landwirtschaft; wir brauchen also keine Sorge zu haben, dass sich unser Plan nicht bezahlt macht. So können wir wieder zu einem menschenwürdigen Leben kommen, und dann, Iris, wirst Du vielleicht, wenn wir wieder mit Menschen zusammen verkehren - wirst Du vielleicht« - er zögerte einen Augenblick - »wirst Du vielleicht imstande sein, mir zu verzeihen und mich wieder wie früher liebgewinnen. Es geschah ja alles um Deinetwillen.«

»Nein, es geschah nicht um meinetwillen. Sage diese Unwahrheit nicht noch einmal. Das alte Ver-trauen, die alte Liebe werden niemals zurückkehren, Harry. Sie sind für ewig dahin, sie sind gestorben. Ich habe aufgehört, Dich und mich selbst zu achten. Die Liebe kann nicht den Verlust der Selbstachtung überdauern. Wer bin ich, dass ich irgend jemand Liebe schenken könnte, und wer bist Du, dass Du Liebe erwarten könntest?«

»Willst Du mit mir nach Amerika gehen - ob Du mich nun liebst oder nicht? Ich kann nicht länger hier bleiben, ich will nicht länger bleiben.«

»Ich werde mit Dir gehen, wohin Du willst. Es würde mir angenehm sein, wenn wir keine Gefahr liefen, jemand zu begegnen, denn es gibt noch Menschen, denen es Schmerz verursachen würde, Iris Henley schuldig zu sehen, im Bande mit zwei Männern an einem Verbrechen beteiligt.«

»Ich würde an Deiner Stelle, wenn ich Du wäre, Iris, mich daran gewöhnen, nicht allzu offen über solche Dinge zu sprechen. Überlass die Sache ganz mir; ich werde sie schon richtig angreifen. Wir werden mit dem Nachtzug von Brüssel nach Calais reisen und von dort weiter nach Havre. In Havre wählen wir einen Dampfer nach New York, denn kein Engländer fährt jemals mit dieser Linie. Wenn wir einmal in Amerika sind, dann werden wir irgend einen entlegenen Staat aufsuchen, vielleicht Kentucky oder einen andern, und uns dort in irgend einer kleinen Landstadt niederlassen. Nach anderem habe ich kein Verlangen. Ich will nur den Rest meines Lebens ruhig verbringen und keine weiteren Abenteuer erleben. Bist Du damit einverstanden, Iris?«

»Ich werde alles tun, was Du wünschest,« antwortete sie kalt.

»Gut, dann lass uns keine Zeit mehr verlieren. Ich fühle mich hier beunruhigt und beängstigt. Willst Du nach Brüssel reisen und dort ein Reisehandbuch laufen, das uns genau die Zeit angibt, wann die Schiffe abgehen und wie viel das Überfahrtsgeld beträgt und was wir sonst noch zu wissen brauchen? Wir werden natürlich alles Geld, das wir besitzen, mit uns nehmen, um uns dort ankaufen zu können. Du musst also an Deinen Bankier schreiben. Wir können es leicht so entrichten, dass uns das Geld nach New-York nachgeschickt wird. Für die vierzehn Tage auf der See brauchen wir ja keine weiteren Ausgaben. Ich habe alles wunderschön eingerichtet. Jetzt sieh mich wieder so an wie früher, Kind.« Er ergriff ihre Hand, die sie ihm willig überließ. »Ich möchte Dich wieder lachen und glücklich sehen.«

»Das wirst Du niemals wieder.«

»O doch, wenn wir uns erst von diesem verderblichen, ungesunden Leben befreit haben, wenn wir wieder mit unseren Nebenmenschen verkehren. Du wirst dann dieses - dieses kleine Geschäft, das, wie Du weißt, eine unglückliche Notwendigkeit war, vergessen.«

»O, wie kann ich das jemals?«

»Neue Interessen werden unsere Gedanken in Anspruch nehmen, neue Freundschaften geschlossen werden.«

»Harry! Mir selbst werde ich es nie verzeihen können. Lehre mich das, und ich werde alles vergessen.«

Er erwiderte:

»Nun gut! Reise jetzt nach Brüssel und besorge das Nötige. Versuche es nur, diese törichte mora-lische Empfindlichkeit zu überwinden, die übrigens viel zu spät kommt, und Du wirst sehen, wie leicht das geht, wenn wir erst einmal andern Boden unter unseren Füßen spüren und wieder eine freiere Luft atmen.«

»Ich werde sofort gehen und den nächsten Zug benützen.«

»Das ist der Zug, der um dreiviertel auf zwei Uhr von hier abfährt. Du kannst dann in Brüssel alles ruhig besorgen, was nötig ist, und mit dem Fünfuhrzug wieder heimkehren. Iris, die Möglichkeit einer Veränderung, einer Verbesserung unserer Lage macht mich ungeduldig. Lass uns gleich morgen reisen, lass uns mit dem Nachtschnellzug fahren; den werden zwar auch englische Reisende benützen, aber sie sollen mich nicht erkennen. Um ein Uhr morgens sind wir dann in Calais. Von dort fahren wir mit einem früheren Zug weiter, bevor der englische Dampfer in den Hafen einläuft. Kannst Du bis morgen mit allem bereit sein?«

»Ja. Es gibt nichts, das mich aufhalten könnte. Ich hoffe, wir können die Hausmiete zahlen, so dass wir jederzeit reisen können. Ich will daher gleich nach Brüssel fahren und Deine Aufträge besorgen.« »Dann lass uns noch heute nacht abreisen.« »Wie Du willst, ich bin jederzeit bereit.« »Nein, das geht doch nicht gut. Das würde aussehen, als ob wir davonliefen. Wir wollen lieber erst morgen nacht fahren. Du wirst außerdem zu ermüdet sein, wenn Du jetzt nach Brüssel fährst und dann wieder zurückkommst. Iris, wir werden wieder glücklich werden. Ich weiß es, wir werden es wieder.« - Zum erstenmal blickte er wieder offen und zuversichtlich in ihre Augen. - »Jetzt geh, liebes Kind,« fügte er hinzu, »und besorge die Sachen, die wir brauchen.«

Sie band ihren dichten Schleier vor das Gesicht und trat ihre kurze Reise an. Dass so plötzlich ihres Gatten guter Mut zurückgekehrt war, gab auch ihr einen neuen Hoffnungsschimmer. Die Veränderung würde in der Tat heilbringend sein, wenn ihrem Gatten die Möglichkeit geboten war, wieder mit anderen Männern in Verkehr zu treten und für sie, wenn sie dadurch eine Beschäftigung fand. Was das Vergessen anbetrifft, wie konnte sie die Vergangenheit vergessen, so lange sie die Früchte ihres Verbrechens einernteten in Gestalt von soliden Dividenden?

Sie fand ohne große Mühe, was sie suchte. Der Dampfer der Compagnie generale Transatlantique verließ Havre alle acht Tage. Sie würden mit dieser Linie fahren. Je länger sie diesen Plan überlegte, um so mehr empfahl er sich. Sie würden auf jeden Fall aus dieser traurigen Gefangenschaft befreit werden. Es würde doch endlich eine Änderung in ihrem Leben eintreten. Elende Lage! Keine andere Wahl zu haben als ein Leben der Verbannung und des Verborgenhaltens! Keine andere Aussicht als diejenige eines fortgesetzten Betruges, der jedesmal erneuert wurde, so oft die Post ihnen Geld brachte!

Nachdem sie alle ihre Besorgungen gemacht hatte, blieb noch eine Stunde bis zum Abgang des Zuges übrig. Sie wollte diese Zeit benutzen, um eine Wanderung durch die Straßen von Brüssel zu machen. Die Bewegung und das Leben dieser heiteren Stadt, wo alle Menschen, bis auf die Marktweiber hinaus, jung zu sein schienen, gefielen ihr ausnehmend. Es war lange Zeit vergangen, seitdem sie nichts von der Lebhaftigkeit gesehen hatte, welche die Straßen einer großen Stadt kennzeichnet. Sie wanderte langsam dahin und betrachtete die Läden. Sie machte zwei oder drei kleine Einkäufe. In einem Laden, der mit Tauchnitz-Ausgaben angefüllt war, kaufte sie zwei oder drei Bücher. Dann wurde sie von dem langen Herumwandern müde und hielt es für besser, den Weg nach dem Bahnhof anzutreten. Da erinnerte sie sich aber daran, dass sie Fanny Mere gebeten hätte, ihr nach Brüssel zu schreiben.

»Ich bin doch neugierig,« sagte sie zu sich, »ob Fanny es wirklich getan hat.«

Sie erkundigte sich nach dem Weg zum Postamt. Es blieb ihr nicht mehr viel Zeit übrig, sie musste schnell gehen.

Auf der Post fand sich ein Brief für sie, ja, noch mehr als ein Brief, ein ganzes Paket, augenscheinlich ein Buch.

Sie nahm es in Empfang und eilte nach der Bahn zurück.

Während der Fahrt beschäftigte sie sich damit, die neuen Tauchnitz-Ausgaben durchzublättern. Den Brief von Fanny Mere wollte sie erst zu Hause nach dem Essen lesen.

Während des Essens sprachen die beiden Gatten lebhaft mit einander. Lord Harry war aufgeregt durch die Aussicht, wieder unter Menschen zu kommen. Er hätte sein Einsiedlerleben, wie er sagte, lange genug genossen. Er müsse jetzt wieder die Gesellschaft von anderen Menschen aufsuchen.

»Setze mich mitten unter Wilde,« sagte er, »und ich will mich doch mit ihnen befreunden; aber allein leben, das ist fürchterlich. Morgen wollen wir unsere neue Flucht antreten.«

Nach dem Essen zündete er sich eine Zigarre an und fuhr fort, über die Zukunft zu sprechen. Iris erinnerte sich des Pakets, das sie auf dem Postamt bekommen hatte, und öffnete es. Es enthielt ein vollgeschriebenes Buch und einen kurzen Brief. Sie las den Brief, legte ihn dann weg und öffnete das Buch.

Siebenzigstes Kapitel

»Ich werde mich freuen, ein Farmer zu werden«, fuhr Lord Harry fort, während Iris das Buch öffnete und Fannys Niederschrift zu lesen begann. »Ja, ich freue mich darauf, nach allen meinen Abenteuern mich an einem ruhigen Ort niederzulassen und den Boden zu bebauen. An Markttagen werden wir zusammen in die Stadt fahren« - er sprach, als ob Kentucky Warwickshire wäre - »neben einander in einem kleinen Wagen sitzend. Wir werden Getreideproben in kleinen Säckchen mit uns führen, und Du wirst Butter und Käse in Deinem Korb haben. Zur gewöhnlichen Zeit werden wir dann bescheiden zu Mittag speisen, und nach dem Essen werde ich bei einem Glase Grog und einer Pfeife mit Dir über das Wetter und die Ernte plaudern. Und während wir so in Verborgenheit glücklich zusammenleben, wird der Name Lord Harrys hier in Vergessenheit geraten. Das ist sonderbar, nicht wahr? Wir sollen weiter leben, nachdem wir längst tot, begraben und vergessen sind! Beim Jupiter, Iris, wenn wir erst einmal alte Leute sind, dann werden wir in die Heimat zurückkehren und uns zusammen die alten Orte, an denen wir gelebt haben, ansehen! Es ist doch etwas Angenehmes, wenn man auf etwas hinblicken kann, wenn man einen gewissen Lebenszweck hat. Ich fühle mich heute abend außerordentlich glücklich, Iris, glücklicher, als ich seit Monaten gewesen bin. Dieser langweilige Ort hat uns beide hypochondrisch gemacht. Ich murre nicht gern, aber diese Einsamkeit und Abgeschlossenheit hat mich doch furchtbar verstimmt, und Dir ist es genau ebenso gegangen. Du bist dadurch veranlasst worden, über allerhand unmögliche und unnötige Dinge nachzugrübeln. Jetzt blicke ich für meinen Teil wieder hoffnungsfreudiger in die Zukunft. Wir waren ja hier ganz angenehm von der Vergangenheit abgeschnitten, aber damit ist es jetzt vorbei; wir wollen überhaupt an die Vergangenheit gar nicht mehr denken. Was geschehen ist, kann niemals entdeckt werden. Nicht eine Seele weiß es außer dem Doktor, und zwischen ihn und uns haben wir einige tausend Pfund gestellt. - Ja, was ist Dir denn, Iris? Was fehlt Dir denn?«

Iris war nämlich plötzlich aufgestanden; sie hatte bisher unausgesetzt in dem Buch gelesen, während ihr Gatte weitergesprochen hatte. Jetzt ließ sie das Buch fallen und blickte ihren Gatten mit entsetzten Augen an.

»Was gibt es denn?« fragte Lord Harry noch einmal.

»Mein Gott, ist das wahr? - Ist das wirklich wahr?«

»Was denn?«

»Ich kann es nicht sagen. Kann denn dies überhaupt wahr sein?«

»Was denn? So sprich doch nur, Iris!« Er sprang von seinem Stuhl auf. »Ist es - ist es entdeckt?«

»Entdeckt? - Ja, alles - alles - alles - alles ist entdeckt!«

»Wo? Wie? Gib mir das Buch, Iris, schnell, gib es mir! Wer weiß es? Was weiß man?«

Er riss ihr das Buch aus der Hand. Sie schrak zurück vor der Berührung seiner Hände. Sie stieß ihren Stuhl weg und stand aufrecht, als ob sie sich gegen einen unvermuteten Angriff verteidigen sollte, während sie die verstörten Blicke auf ihren Gatten heftete, wie man sie auf etwas Gefahrdrohendes zu heften pflegt. Er überflog hastig die Aufzeichnungen Fannys Seite für Seite, denn er wollte alles wissen, selbst wenn es das Schlimmste wäre. Dann warf er das Buch auf den Tisch.

»Nun?« fragte er, ohne die Augen zu erheben.

»Der Mann ist ermordet worden, ist auf gemeine Weise ermordet worden«, flüsterte sie mit rauher Stimme.

Er gab keine Antwort.

»Und Du hast zugesehen, während er ermordet wurde, Du hast zugesehen und warst damit einverstanden? Du bist ein Mörder!«

»Ich habe keinen Teil daran gehabt. Ich wusste damals nicht und weiß auch jetzt noch nicht, ob er vergiftet worden ist.«

»Das ist eine Lüge! Du wusstest es ganz genau schon damals, als er in Dein Haus kam. O, der tote Mann, der ermordete Mann, der befand sich in der Villa, als ich bei Dir war. Deine Hände waren rot von Blut, als Du mich hinwegbrachtest, damit ich nicht weiter im Wege stünde und damit ich es nicht bemerken sollte!«

Sie hielt inne, - sie konnte nicht weiter reden.

»Ich wusste es nicht, Iris, wenigstens nicht mit Bestimmtheit! Ich glaubte, dass er sterben würde damals, als er in mein Haus kam. Aber er starb nicht; er wurde sogar von Tag zu Tag gesünder. Als der Doktor ihm die Medizin gab, nachdem Dein Kammermädchen fort war, da schöpfte ich den ersten Verdacht. Und dann, als er starb, dann war mein Verdacht gerechtfertigt. Da forderte ich den Doktor auf, mir die Wahrheit zu gestehen. Er leugnete sie nicht. Glaube mir, Iris, ich habe weder davon gewusst, noch etwa gar damit übereingestimmt.«

»Das ist auch wieder nicht wahr! Du hast Dich nur dabei beruhigt. Du hast stillschweigend beigestimmt. Denn Du hättest sonst dem - dem andern Mörder sagen sollen, Du würdest der Polizei anzeigen, woran der Mann gestorben. Das tatest Du aber nicht, Du zogst im Gegenteil Vorteil aus seinem Tode. Denn der Tod dieses armen Unglücklichen setzte Dich instand, Deinen Betrug mit meiner Hilfe auszuführen. Ja, mit meiner Hilfe! Du hast mich zur Genossin eines Mörders gemacht.«

»Nein, meine Iris, Du hast nichts davon gewusst! Kein Mensch kann Dich jemals anklagen, dass -«

»Das verstehst Du nicht. Ich bin es, die selbst eine Anklage gegen sich erhebt.«

»Was das Mädchen schreibt«, fuhr ihr Gatte fort, »ist leider wahr. Ich halte es für vollständig nutzlos, irgendein Wort davon abzuleugnen, denn sie war ja hinter dem Vorhang verborgen. Sie hörte und sah alles. Mein Gott im Himmel, wenn Vimpany sie gefunden hätte! Was würde er dann getan haben? Er hatte doch recht! Niemand ist gefährlicher als eine Frau. Ja, sie hat Dir genau erzählt, was geschehen ist. Sie hegte überdies schon länger Argwohn. Wir hätten so klug sein sollen, sie schon längst fortzuschicken und unsere Pläne zu ändern. Das kommt aber daher, wenn man zu schlau sein will. Der Doktor glaubte, dass gar nichts anderes nötig sei als der Tod dieses Mannes. Ich glaubte, das heißt, wir beide glaubten, dass er eines natürlichen Todes sterben werde. Das tat er aber nicht, und ohne seinen Tod waren wir ratlos. Wir brauchten einen toten Mann, Iris; ich verspreche Dir, ich will nichts vor Dir verheimlichen, was sich ereignet hat. Ich will alles gestehen. Ja, Du hast recht, Du hast recht, ich wusste, dass er sterben werde. Damals, als es ihm besser ging, da glaubte ich an Vorbedeutung, weil ich wusste, dass es ihm nicht beschieden sein sollte, gesund aus der Villa wegzugehen. Denn auf welche Weise sollten wir uns einen Leichnam verschaffen? Es ist kaum möglich, einen Leichnam zu stehlen oder sonst einen aufzutreiben, und wir mussten doch einen haben als Beweis des Todes von Lord Harry Norland. Ich bekenne«, - seine Stimme klang rauh und wild - »ich bekenne, dass ich wusste, dass er sterben musste. Ich las sein Todesurteil in dem Gesicht des Doktors, und wir hatten kein Geld mehr für einen neuen Versuch, wenn Oxbye wieder gesund werden und fortgehen würde. Sobald es so weit war, bemächtigte sich meiner ein tödlicher Schrecken. Ich würde alles darum gegeben haben, alles, wenn der Mann sich von seinem Bett erhoben hätte und weggegangen wäre. Aber es war zu spät. Ich sah, wie der Doktor ihm seine letzte Medizin zubereitete, und als der Kranke das Glas an seine Lippen setzte, da sah ich in den Augen Vimpanys, dass es der Todestrank des Dänen war. Jetzt habe ich Dir alles bekannt.«

»Ja, Du hast mir alles bekannt«, wiederholte sie, »alles, Gott im Himmel, alles!«

»Ich habe Dir nichts verheimlicht, ich weiß nichts mehr hinzuzufügen!«

Sie stand still - wie erstarrt. Sie hatte ihre Hände gefaltet, und ihre Augen ruhten auf dem Gesicht ihres Gatten. Ihr Gesicht war bleich und traurig.

»Was jetzt tun?« fragte sie. »Was jetzt tun?«

»Iris, ich beschwöre Dich, lass keine Änderung in unseren Plänen eintreten!«

»Nein! Ich weiß genau, was ich jetzt zu tun habe. Mein Plan liegt bestimmt vor mir!«

»Iris, ich beschwöre Dich nochmals, lass keine Änderung in unseren Plänen eintreten. Lass uns weit weggehen, wie wir uns vorgenommen haben. Lass uns die Vergangenheit vergessen. Komm mit mir!«

»Ich soll mit Dir zusammen fortgehen? Mit Dir - wirklich mit Dir? O mein Gott!«

Sie bebte zurück vor Entsetzen.

»Iris, ich habe Dir alles gesagt. Wir wollen zusammen fortgehen, gerade als ob Du nichts gehört hättest. Wir können ja nicht tiefer voneinander getrennt sein, als wir es die letzten drei Monate waren. Wenn Du willst, so lass es uns auch noch weiter bleiben, bis Du wieder imstande bist, irgendetwas für mich zu fühlen, bis Du wieder imstande bist, Mitleid mit mir zu haben und mir zu vergeben.«

»Das verstehst Du nicht. Ich soll Dir vergeben? Davon kann jetzt nicht mehr die Rede sein. Wer bin ich denn, dass meine Vergebung nur den geringsten Wert für Dich haben könnte, für Dich oder einen andern?«

»Um was handelt es sich denn sonst?«

»Ich weiß es nicht. Ein schreckliches Verbrechen ist begangen worden, ein schreckliches, fürchterliches Verbrechen, wie man es nur in Zeitungen und Büchern liest und sich dabei wundert, dass es überhaupt Menschen geben kann, die imstande find, ein solches Verbrechen zu begehen. Und nun ist mein Gatte ein solcher Mensch - und ich, ich bin eine von den entsetzlichen Frauen, die es fertig gebracht haben, die Genossin eines solchen Mannes zu werden!«

»Du darfst sagen, Iris, was Du willst, ganz, was Du willst.«

»Ich hab' es gewusst, aber erst, seitdem ich hieher gekommen bin, habe ich es verstanden, dass ich mein Leben einer blinden Liebe geopfert habe. Ja, Harry, ich habe Dich blindlings geliebt, und das war mein Fluch. Ich bin Dir gefolgt, obgleich mich alle Welt davor gewarnt hat, und was ist jetzt meine Belohnung dafür? Wir müssen im Verborgenen leben, denn wenn wir entdeckt würden, dann würden wir sofort wegen verbrecherischer Handlungen verhaftet werden. Ja, wir können von Glück sagen, dass das noch nicht geschehen ist, und dass wir noch nicht unser Leben am Galgen beendet haben. Das ist meine Belohnung!«

»Ich habe niemals Dir gegenüber, Iris, den Heuchler gespielt; ich habe niemals behauptet, Tugenden zu besitzen, die ich nicht besitze. In so weit -«

»Still! Sprich kein Wort mehr! Ich habe Dir noch eins zu sagen, dann werde ich nie mehr zu Dir reden. Still, lass mich meine Gedanken sammeln. Ich kann jetzt nicht die Worte finden, ich kann nicht... warte, warte, um Gottes willen! O, ich Unglückliche!«

Sie setzte sich nieder und brach in ein heftiges Weinen aus, aber nur für kurze Zeit; dann sprang sie energisch auf und trocknete ihre Tränen.

»Für das Jammern und Wehklagen ist es noch später Zeit genug, wenn alles vorüber ist«, sagte sie. »Höre mir jetzt aufmerksam zu, Harry. Es sind die letzten Worte, die ich zu Dir spreche. Du wirst niemals wieder etwas von mir hören. Du musst Dir jetzt Dein Leben selbst einrichten, ganz, wie Du es willst. Ob Du es vernichtest, oder ob Du es erhältst, das ist ganz Deine Sache; ich habe in Zukunft keinen Teil mehr daran. Ich werde nach England zurückkehren und zwar allein. Ich werde Deinen Namen niederlegen und wieder meinen Mädchennamen annehmen oder irgend einen andern. Ich werde irgendwo leben, wo Du mich nicht auffinden kannst. Du wirst ja vielleicht kaum Dich um mich bekümmern.«

»Nein, das werde ich auch nicht«, entgegnete er: »so viel bin ich Dir schuldig, ich werde niemals wieder nach Dir fragen.«

»Was das Geld betrifft, das ich für Dich unter falschen Voraussetzungen bekommen habe, so gehören die fünftausend Pfund, die ich auf mein eigenes Konto eingezahlt habe, selbstverständlich der Versicherungsgesellschaft. Ich werde sie der Gesellschaft sofort zurückerstatten.«

»Gott im Himmel, Iris, dann wirst Du ja als eine Verbrecherin behandelt.«

»Werde ich das wirklich? Das tut nichts, wenn ich nur den Betrogenen alles das, was ich ihnen geraubt habe, wiedererstatten kann. Ja, ich werde es bei Heller und Pfennig zurückzuzahlen suchen.«

»Ist das wirklich Deine Absicht? Willst Du das wirklich tun, nachdem Du Dir alles genau überlegt hast?«

»Wort für Wort so, wie ich Dir sage, wird es geschehen. Ich werde nichts tun und nichts sagen, was Dich irgendwie verraten könnte, aber das Geld, das ich der Versicherungsgesellschaft wiedererstatten kann, das werde ich ihr wiedererstatten, so wahr mir Gott helfe!«

Mit überströmenden Augen erhob sie ihre Hand zum Schwur.

Ihr Gatte beugte sein Haupt.

»Hast Du alles gesagt, was Du sagen wolltest?« fragte er leise.

»Ich habe alles gesagt.«

»Dann lass mich nur noch einmal, nur noch ein einzigesmal in Dein liebes Gesicht sehen. Ja, Iris, ich habe Dich geliebt, Iris, ich habe Dich immer geliebt. Es wäre besser, bei weitem besser gewesen, wenn Du damals an dem Tag, wo Du meine Frau wurdest, tot zu meinen Füßen niedergesunken wärest, dann, dann würde Dir viel Unglück erspart geblieben sein. Du hast recht, Iris; was Du jetzt zu tun hast, das liegt klar vor Dir, und ich, ich muss auch an das denken, was mir jetzt noch übrig bleibt. Lebe wohl, die Lippen eines Mörders sind nicht wert, auch nur den Saum Deines Kleides zu berühren. Lebe wohl auf ewig!«

Er verließ sie; sie hörte, wie er die Haustür öffnete und wieder schloss. Sie wusste, dass sie ihren Gatten niemals wiedersehen würde.

Sie ging in ihr Zimmer und packte ihren Koffer mit den wenigen notwendigen Sachen, die sie mitnehmen wollte. Dann klingelte sie nach dem Hausmädchen und sagte ihr, dass sie sofort nach England abreisen werde; deshalb müsse sie Brüssel noch heute abend erreichen. Das Mädchen brachte einen Gepäckträger, der ihren Koffer auf die Bahn trug.

Iris verließ Louvain, - verließ ihren Gatten für immer.

Einundsiebenzigstes Kapitel

Bei einer außerordentlichen Zusammenkunft der Direktoren und Aufsichtsräte der Royal Unicorn Life Insurance Company, die für einen ganz besonderen Fall einberufen war, hatte der Vorsitzende eine höchst merkwürdige Eröffnung zu machen.

»Meine Herren«, sagte er, »ich fordere hiemit den Sekretär auf, ohne weitere Vorreden Ihnen einen Brief vorzulesen. Das ist der Grund, aus welchem Sie heute zusammenberufen worden sind.«

»Dieser Brief«, begann der Sekretär, »ist einfach überschrieben Paris und vor zwei Tagen auf-gegeben.«

»Erst vor zwei Tagen!« betonte der Vorsitzende; »aber natürlich, das hat nichts zu bedeuten. Da ist noch vollständig Zeit, dass der Schreiber seinen Aufenthaltsort ändert; er kann ja zu derselben Zeit wie der Brief in London sein. Bitte, fahren Sie fort.«

»Meine Herren!« begann der Sekretär Zu lesen. »Es sind jetzt gerade drei Monate vergangen, seitdem von der Firma Erskine, Mansfield, Denham & Co., Rechtsanwälte von Lincoln's Inn Fields, die Aufforderung zur Auszahlung der Summe von fünfzehntausend Pfund an die Erben des Lord Harry Norland an Sie ergangen ist.«

»Diese Forderung«, unterbrach der Vorsitzende den Leser, »ist als gesetzlich anerkannt und daher auch einige Wochen später ausbezahlt worden. Es war für uns allerdings ein schwerer Verlust, aber so etwas kann vorkommen, und es lag damals durchaus kein Grund vor, an der Nichtigkeit der gemeldeten Tatsachen zu zweifeln und infolge dessen die Forderung zu beanstanden.«

»Ich schreibe diesen Brief in der Absicht, meine Herren«, fuhr der Sekretär zu lesen fort, »Ihnen mitzuteilen, dass diese Forderung eine betrügerische war und zwar deswegen, weil Lord Harry Norland zur Zeit, als ich das schreibe, noch am Leben ist.«

»Betrügerisch?! Der Mann lebt noch?« Diese Worte riefen unter den Mitgliedern des Verwaltungsrates eine heftige Erregung hervor; alle standen auf und verlangten das Nähere zu erfahren.

»Ich kann Ihnen nur das eine sagen, meine Herren«, entgegnete der Vorsitzende, »dass der Schreiber dieses Briefes kein anderer als Lord Harry Norland selbst ist. Ich ersuche Sie, den Sekretär jetzt in dem Vorlesen dieses Briefes ohne weitere Unterbrechungen fortfahren zu lassen.«

»In Verbindung mit einer andern Person fasste ich und führte erfolgreich einen Plan aus, durch den ich instand gesetzt war, mit einemmal und ohne in die unangenehme Notwendigkeit versetzt zu sein, zu früh sterben und begraben werden zu müssen, die ganze Summe Geldes, für die ich mein Leben versichert hatte, zu erhalten. Soviel ich weiß, haben schon andere denselben Versuch gemacht, aber sie haben kein Glück damit gehabt. In meinem besondern Fall ist die Sache mit einer wunderbaren Geschicklichkeit ausgeführt worden.«

Hier folgte ein eingehender Bericht über den Tod des Dänen und alles Wesentliche, was damit zusammenhing, nur dass dieser Tod als ein natürlicher, infolge Lungenleidens eingetretener dargestellt wurde. Dann fuhr der Briefschreiber fort:

»Ich bin verheiratet, aber ich habe keine Kinder, ich habe auch nicht in freundschaftlichen Beziehungen zu meinen Blutsverwandten gelebt; es war daher sehr natürlich, dass ich meine Frau als einzige Erbin und Testamentsvollstreckerin bestimmte; es war ebenso natürlich, dass sie zu meinen Rechtsanwälten ging und dieselben beauftragte, ihre Angelegenheit in Ordnung zu bringen. In dieser Hinsicht machte ich meine Frau mit dem Notwendigsten bekannt. Gleich vielen Frauen besitzt sie außer anderen Tugenden auch die, dass sie eine blinde Ergebenheit für ihren Gatten hegt. Wo ihr Mann in Betracht kommt, macht es keine Schwierigkeit, sie selbst von dem Pfad der Ehre abzubringen. Ich rechnete mit dieser blinden Liebe, ich benützte alle Überredungskünste, die eine Frau, das heißt eine liebende Frau, veranlassen konnten, an einem Verbrechen teilzunehmen. Mit kurzen Worten: ich machte meine Frau zur Mitwisserin des Betruges. Sie willigte ein, für mich zu handeln, in dem Glauben, dass, wenn sie nicht täte, was ich von ihr verlangte, der ganze Betrug entdeckt werden würde. Infolge dessen wurde auch die ganze Angelegenheit zu einem erfolgreichen Ende geführt. Sie haben die volle Forderung ausbezahlt; ich habe aber immer das Bewusstsein mit mir herumgetragen, dass nur durch einen großen Betrug die fünfzehntausend Pfund in meinem Besitze waren. Unglücklicherweise hat nun meine Frau entdeckt, dass ihr Gewissen ihr niemals Friede oder Ruhe geben wird, bis das erschwindelte Geld bis auf den letzten Rest wieder an Ihre Gesellschaft zurückbezahlt ist. Sie hat mich von ihrer Absicht, Ihnen ohne Verzug den Teil des Geldes, der auf ihren Namen bei ihrem Bankier eingezahlt ist, zurückgeben zu wollen, benachrichtigt, das heißt, sie wird Ihnen fünftausend Pfund überschicken.

»Ich darf wohl voraussetzen, dass Sie als Ehrenmänner eine Frau, die bereit ist, das ihr nicht von Rechts wegen zukommende Geld zurückzuzahlen, nicht der Schande einer öffentlichen Verfolgung aussetzen werden, abgesehen davon, dass ein solches Vorgehen von gar keinem Nutzen sein würde.

»Da ich überdies wünsche, dass die Gewissensbedenken meiner Frau vollständig beruhigt werden, soll Ihnen auch die erschwindelte Summe mit Abzug von zweitausend Pfund zurückerstattet werden und, wie ich genau weiß, in kürzester Zeit.

»Was schließlich den andern Hauptteilnehmer an dem Betruge betrifft, so haben Sie kaum nötig, nach ihm suchen zu lassen. Ich werde Ihnen dankbar sein, wenn Sie die Propositionen dieses Briefes rückhaltlos anerkennen und es mir erlassen, einen Namen zu nennen, der Sie instand setzen könnte, diejenigen gerichtlich zu verfolgen, die ich in dieses Verbrechen hineingezogen habe. Ich sende Ihnen zugleich eine Adresse, unter welcher mich Ihre Antwort antreffen wird. Vielleicht hegen Sie den Wunsch, das Haus überwachen zu lassen; ich sage Ihnen aber im voraus, dass dies vollständig nutzlos sein wird, denn ich werde nicht dort sein.

»Ich verbleibe, meine Herren, mit der vorzüglichsten Hochachtung

Ihr ganz ergebener

Harry Norland.«

»Vermutlich, meine Herren«, sagte der Sekretär, »steht dieser Brief in Verbindung mit einem andern, der mir heute übersandt worden ist und der eine Anweisung von fünftausend Pfund enthielt. Die Unterschrift dieses Briefes lautete: Wiedererstattetes Geld.«

»Meine Herren«, nahm nun der Vorsitzende das Wort, »wenn uns Banknoten übersendet werden, so müssen wir ganz entschieden ihrem Ursprung nachforschen.«

Die Direktoren sahen sich gegenseitig an. Das war in der Tat eine eigentümliche Angelegenheit und wohl kaum jemals vor ein Direktorium gebracht worden.

»Meine Herren«, fuhr der Vorsitzende fort, »Sie haben jetzt den Inhalt des Briefes gehört. Die Angelegenheit liegt klar vor Ihnen. Ich bitte Sie daher, Ihre Meinungen darüber zu äußern.«

»Da wir, wie es wenigstens den Anschein hat, jedenfalls den größten Teil des Geldes wiedererhalten werden, so scheint es mir das Vernünftigste zu sein, über die ganze Angelegenheit zu schweigen; das ist nach meiner Meinung das Richtigste.«

»Wenn wir Lord Harry selbst bekommen könnten«, bemerkte ein anderer, »dann würde ich sagen, wir wollen ihn laufen lassen; aber ich bin nicht derselben Meinung, wo es sich um seine Frau handelt. Ob das erstere überhaupt möglich ist, scheint mir noch sehr zweifelhaft. Wenn alles das, was von dem irischen Lord erzählt wird, wahr ist, so steht es sehr schlimm um seine Persönlichkeit. Schon als Knabe lief er von seinem Elternhause davon und ging zur See. Dann wurde er ein herumziehender Schauspieler. Er ging nach Amerika und wurde dort, wie man sich erzählt, in den westlichen Staaten gesehen; dann soll er als Stewart auf einem Schiff angestellt gewesen sein; schließlich fand man ihn auf den Rennplätzen als Buchmacher. Was ist er denn überhaupt nicht gewesen?«

»Nun, meine Herren«, sagte ein anderer, »wir haben das Geld erhalten, und das ist die Hauptsache. Wir müssen uns daran erinnern, dass wir niemals den Betrug bemerkt hätten, wenn nicht -«

»Die Gesellschaft darf sich niemals damit zufrieden geben«, warf der Vorsitzende ein.

»Gewiss nicht, das darf sie keineswegs; aber andererseits, würde denn aus einem öffentlichen Skandal mit einer vornehmen Familie uns irgendwelcher Nutzen erwachsen?«

»Das vornehme Haus«, bemerkte ein anderer Direktor, der zu den Radikalen gehörte, »soll gefälligst für sich selbst sorgen. Es fragt sich jetzt nur, ob es von irgendeinem Nutzen sein kann, wenn wir gegen die Frau vorgehen.«

»Wer ist sie denn?«

»Man sollte erwarten, dass ein solcher Lump wie Lord Harry eine Frau heiraten würde, die nicht mehr wert ist als er selbst; das ist aber diesmal nicht der Fall. Er heiratete ein ungemein liebenswürdiges Mädchen, namens Henley, Iris Henley, deren Vater in der City wohl bekannt ist. Ich hörte seinerzeit davon. Ich glaube daher auch, dass es sich vollständig verbietet, irgendwelche Schritte gegen die an und für sich schon unglückliche Frau zu unternehmen, die ja außerdem ihr Möglichstes getan hat, um unserer Gesellschaft den Schaden zu ersetzen.«

»Die Gesellschaft darf sich dabei nicht beruhigen«, wiederholte der Vorsitzende.

»Wenn wir die zweitausend Pfund auch nicht zurückerhalten«, wurde entgegnet, »so verliert die Gesellschaft doch nur wenig, denn wir müssen doch die eingezahlte Summe auch berechnen.«

Ein anderer meinte:

»Wir wissen ja überhaupt nicht, wo Lady Harry aufzufinden ist; sie wird wahrscheinlich unter einem ganz andern Namen leben, und es ist doch gewiss unser Geschäft nicht, ihr nachzujagen.«

»Und selbst wenn wir sie fänden, wäre es immer erst unsere Aufgabe, zu beweisen, dass sie an dem Betrug auch in vollem Sinn des Wortes teilgenommen hat«, sagte ein anderer. »Wie könnte dieser an und für sich sehr wertvolle Brief irgendein Beweis dafür sein, da wir ja nicht einmal wissen, ob er auf Wahrheit beruht? Wir könnten ja den Leichnam auf dem Friedhof von Auteuil ausgraben lassen. Aber was würde dies beweisen, nachdem drei Monate darüber vergangen sind? Wir würden damit höchstens viel Geld verlieren und einen großen Skandal verursachen und schließlich doch nicht mehr erreichen, als wir bis jetzt erreicht haben. Mein Rat ist daher, wir lassen die Sache einfach fallen.«

»Das ist alles ganz gut«, entgegnete ein anderer, »aber angenommen, wir geben zu, dass der Mann noch lebt, dann wird er doch einmal sterben, und bann kann einer kommen und nochmals die Versicherungssumme fordern.«

»Darauf brauchen wir keine Rücksicht zu nehmen«, sagte der Vorsitzende, »Sie haben ja alle den Brief Lord Harry Norlands gehört. Ich wiederhole aber noch einmal, die Gesellschaft darf sich damit nicht beruhigen.«

»Ich gebe zu«, sagte einer der Verwaltungsräte, der noch nicht gesprochen hatte, es war ein Advokat, »dass die Gesellschaft überhaupt nichts von Lady Harry weiß; dann haben wir es mit der Firma Erskine, Mansfield, Denham & Co. von Lincoln's Inn Fields zu tun; das ist eine sehr angesehene Firma. Auf ihren Antrag hin zahlten wir das Geld aus; wenn wir also beweisen können, dass wir betrogen worden sind, so haben wir uns an diese zu halten, und wenn wir deswegen irgend jemand gerichtlich belangen wollen, so kann es nur diese angesehene Firma sein.«

»Gut«, sagte der Vorsitzende, »ich schlage daher vor, dass der Sekretär an Lord Harry schreibt und ihm mitteilt, dass die Versicherungsgesellschaft überhaupt nichts mit seiner Frau zu tun hat und infolge dessen auch ihre Handlungsweise gar nicht beachtet. Wir können dann abwarten, was daraufhin geschieht, und darnach unsere weiteren Schritte überlegen.«

Gerade in diesem Augenblick wurde eine Karte in das Sitzungszimmer gebracht von Mr. Erskine selbst, dem ältesten Teilnehmer der Rechtsanwaltsfirma.

Er trat gleich darauf in das Zimmer, ein alter Herr, sehr ehrenwert, aber für den Augenblick in gewaltiger Aufregung.

»Meine Herren«, sagte er nervös, »ich beeile mich. Ihnen eine Mitteilung zu machen, eine ganz außerordentliche Mitteilung, die ich soeben empfangen habe. Es ist nichts weniger als ein Bekenntnis - ein vollständiges Bekenntnis von einer Person, die ich allen Grund hatte, für tot zu halten. Das Bekenntnis stammt von Lord Harry Norland.«

»Wir wissen schon«, sagte der Vorsitzende ganz ruhig, »was Sie uns mitteilen wollen. Wir sind deswegen heute zusammengekommen, um über diese Angelegenheit zu verhandeln. Es liegt ein sehr schlauer und geschickter Betrug vor. Er ist durch die Mitwirkung einer Frau zu einem erfolgreichen Ende geführt worden. Dieselbe Frau hat jedoch auch eine Entschädigung angeboten. Das Gesetz indessen -«

»Vielleicht gestatten Sie mir«, unterbrach ihn der Rechtsanwalt, »Ihnen den von Lord Harry Norland an uns geschriebenen Brief vorzulesen.«

»Bitte, tun Sie das«, entgegnete der Vorsitzende.

»Meine Herren«, las der Rechtsanwalt, »Sie werden erstaunt und zugleich auch betrübt sein, dass ich nicht, wie man Ihnen mitgeteilt hat, gestorben bin, sondern dass ich im Gegenteil lebe und mich der besten Gesundheit erfreue.

»Die Forderung, die Sie an die Royal Unicorn Life Insurance Company gerichtet haben, ist daher falsch. Sie war das Resultat eines schlau angelegten Betruges. Sie sind ohne Ihr Wissen zu unschuldigen Teilnehmern an diesem Verbrechen gemacht worden.

»Meine Frau, welche jetzt die volle Wahrheit kennt, hat das eifrige Bestreben, Ihnen die ganze Summe wiederzuerstatten. Sie wird Ihnen daher zunächst den Teil des Geldes zurückzahlen, der auf ihren Namen angelegt ist. Der Rest wird Ihnen von mir zugesandt werden in verschiedenen Zeiträumen.

»Ich verbleibe, meine Herren,

Ihr ganz ergebenster Diener

Harry Norland.«

»Das ist ein charakteristischer Brief«, bemerkte der Rechtsanwalt. »Lord Harry scheint dazu geboren zu sein, seiner Familie Sorge zu bereiten. Es hat keine Zeit gegeben, so weit ich mich erinnern kann, wo dies nicht der Fall gewesen. Bisher hatte er indessen ein wirkliches Verbrechen vermieden, wenigstens ist nichts davon bekannt geworden. Jetzt aber scheint das Spiel aus zu sein. Und doch, meine Herren, ist der Brief nicht der eines vollkommenen Schurken.«

»Er wird jedenfalls nicht zu erwischen sein«, bemerkte der Vorsitzende. »Der Brief ist zu kühl und zu vernünftig geschrieben. Er hat sich auf alle Fälle irgend einen sicheren Zufluchtsort vorbehalten und wird sich wahrscheinlich jetzt schon dort befinden in einer passenden Verkleidung. Wir sind daher für den Augenblick nur auf die Lady angewiesen. Sie hat das Geld von Ihnen erhalten,- und wir haben es Ihnen auf Ihre Vorstellung ausgezahlt.«

»Bemerken Sie«, warf der Rechtsanwalt ein, »dass sie, sobald sie die Wahrheit erfahren hatte, sich beeilte, Ersatz zu leisten.«

»Hm«, machte der Direktor und drehte Lord Harrys Brief herum, so dass der Rechtsanwalt ihn nicht lesen konnte. »Haben Sie Lady Harry Norland gesehen?«

»Nein, ich habe sie nicht gesehen, aber ich erwarte schon seit langer Zeit, dass sie zu mir kommen soll, was gewiss auch geschehen wird.«

»Dann muss sie aber sehr schlecht beraten sein«, sagte der Vorsitzende, »wenn sie gerade jetzt jemand aufsuchen würde. Ich gestehe Ihnen, Sir, dass es mir sowohl wie jedem von uns, die wir hier versammelt sind, aufrichtig leid tun würde, die Lady neben ihrem Gatten auf der Anklagebank sitzen zu sehen.«

»Im Interesse der vornehmen Familie, die von so einem Skandal auf das empfindlichste getroffen werden würde, hoffe ich, dass weder der Lord noch die Lady auf die Anklagebank kommt.«

»Wissen Sie, wer der andere Hauptteilnehmer an dem Verbrechen ist?«

»Ich kann es mir denken. Ich weiß indessen nicht, wo er sich befindet. Ich habe Ihnen überhaupt alles, was ich weiß, mitgeteilt, das heißt das, was in diesem Brief enthalten ist.«

»Es wäre gut, wenn man diesen andern erwischen könnte«, bemerkte der Vorsitzende; »wahrscheinlich gehört er nicht zu einer edlen Familie. Ich weiß zwar noch nicht, was geschehen wird, Sir, aber das eine wiederhole ich Ihnen: Unsere Gesellschaft kann sich mit dem, was bis jetzt geschehen ist, nicht zufrieden geben.«

»Sicherlich nicht. Indessen liegt noch sehr wenig vor, woran Sie sich halten und worauf hin Sie weiter in der Sache vorgehen können.«

»Wir wollen uns über diesen Teil der Angelegenheit nicht in längere Erörterungen einlassen«, sagte der Vorsitzende. »Ein Verbrechen ist ja ganz unzweifelhaft begangen worden. Wir können daher möglicherweise dazu veranlasst werden, eine Klage irgendwelcher Art gegen Ihre Firma anzustrengen, Mr. Erskine. Was die Lady Harry Norland betrifft, wenn sie schuldig sein sollte -«

»Nein, nein«, fiel ihm der Rechtsanwalt ins Wort; »sie hat freilich nicht ganz korrekt gehandelt, aber schuldig ist sie nicht.«

Der Vorsitzende faltete den Brief Lord Harrys zusammen und übergab ihn dem Sekretär.

»Wir sind Ihnen zum Dank verpflichtet, Sir, für Ihr rasches Handeln. Man konnte selbstverständlich nichts anderes von Ihrer Firma erwarten. Sie dürfen indessen nicht vergessen, dass die Forderung von Ihnen gemacht wurde, und dass Sie das Geld empfingen und - aber wir werden Ihnen das Weitere in einigen Tagen mitteilen.«

Der Sekretär schrieb auch eine Antwort an Lord Harry. Kurz darauf wurde jedoch mit der Post eine Anweisung eingesendet, unterzeichnet von einem gewissen William Linville auf die Summe von achttausend Pfund. Die Versicherungsgesellschaft hatte daher von den fünfzehntausend Pfund dreizehntausend wieder erhalten. Der Sekretär hatte darauf noch eine andere Unterredung mit Mr. Erskine, deren Ergebnis war, dass die Gesellschaft auch noch in den Besitz der übrigen, an der Gesamtsumme noch fehlenden zweitausend Pfund kam.

Jede Rechtsanwaltsfirma hat ihre eigenen Geheimnisse und bewahrt sie sorgfältig. Deshalb brauchen wir auch nicht weiter nachzuforschen, ob das Geld von der Firma oder von der Familie, zu der Lord Harry gehörte, bezahlt wurde. Es ist indessen erwiesen, dass einige Tage darauf Mr. Hugh Mountjoy in dem Bureau der Firma erschien und dort mit dem älteren Teilnehmer eine lange Besprechung hatte und dass er, als er wegging, eine Anweisung auf eine große Summe Geldes dort zurückließ.

Der Gegenstand kam niemals wieder vor die Direktoren der Gesellschaft; privatim wurde natürlich viel darüber gesprochen und zwar sehr oft. Jedenfalls hatte man auch außerhalb des Beratungszimmers über die Geschichte geflüstert. Solche Dinge verbreiten sich ja ungemein rasch. Man hatte indessen doch das Gefühl, dass diese Sache, bei der es sich um eine Dame handelte, mit etwas mehr Zartheit behandelt werden müsse, als dies gewöhnlich der Fall ist. Außerdem trat einige Tage später ein tragisches Ereignis ein, welches jeden weiteren Schritt in dieser Angelegenheit unmöglich machte. Dieses Ereignis war an und für sich genügend, die ganze Geschichte vergessen zu machen.

Zweiundsiebenzigstes Kapitel

Es war alles vorüber. Iris hatte ihr ganzes Geld hergegeben. Sie lebte in einer kleinen Wohnung, welche Fanny Mere, die sie als ihre Cousine ausgab, für sie gemietet hatte. Sie blieb den ganzen Tag über zu Haus, denn sie fürchtete sich, von jemand beim Ausgehen erkannt zu werden. Sie fürchtete ferner, dass ihr Gatte wegen Betrugs verhaftet worden, und sie fürchtete, dass man auf der Straße ihr etwas Derartiges nachrufen könnte. Daher schrak sie auch zusammen und wurde ganz bleich, als sie eines Tages Schritte auf der Treppe hörte; denn sie dachte immer daran, dass auch sie von den Gerichten gesucht werden könnte.

Der Mann, der eintrat, war Hugh Mountjoy.

»Durch Fanny habe ich Sie endlich aufgefunden«, sagte er. »Das Mädchen wusste, dass sie ohne Rückhalt mir Ihr Geheimnis anvertrauen könnte. Aber warum bleiben Sie immer noch in Verborgenheit?«

»Sie können nicht alles wissen, Hugh«, entgegnete Iris, »sonst würden Sie mich das nicht fragen.«

»Ich weiß alles, und doch frage ich Sie wieder: warum verbergen Sie sich?«

»Weil - o Hugh, schonen Sie mich!«

»Ich weiß alles, und das ist auch der Grund, weswegen ich nicht anders handeln konnte, als dass ich Sie aufsuchte, da ich mit Ihnen reden muss. Verlassen Sie diese elende Wohnung, treten Sie frei vor die Menschen, nehmen Sie Ihren eigenen Namen wieder an. Es liegt nicht der geringste Grund vor, warum Sie das nicht tun sollen. Sie waren nicht in Passy anwesend, als das Verbrechen begangen wurde. Sie sind erst nach der Beerdigung hingekommen. Was haben Sie also mit dem ganzen Verbrechen gemein, Iris?«

»Wissen Sie etwas von dem Geld?« »Gewiss. Sie schickten alles, was Sie zusammenbringen konnten, zurück; es waren fünftausend Pfund. Das allein bewies schon Ihre Unschuld.« »Hugh, Sie wissen, dass ich schuldig bin.« »Die Welt wird glauben, dass Sie unschuldig sind; jedenfalls können Sie sich ohne die geringste Furcht in der Öffentlichkeit zeigen. Sagen Sie mir, was haben Sie für Pläne?«

»Ich habe gar keinen Plan. Ich habe nur den Wunsch, mich irgendwo vor der Welt zu verbergen.« »Gut, wir werden darüber sogleich sprechen. Vorerst habe ich aber einige Neuigkeiten für Sie.« »Neuigkeiten? Was für welche denn?« »Natürlich gute Neuigkeiten. Ich habe Ihnen etwas zu sagen, was Sie überraschen wird.«

»Gute Nachrichten? Was kann es denn für mich noch für gute Nachrichten geben?«

»Ihr Gatte hat das ganze Geld zurückgeschickt.« »Zurückgeschickt? An die Versicherungsgesellschaft?« »Alles ist wiedererstattet worden. Er schrieb dazu zwei Briefe, einen an die Rechtsanwälte und den andern an die Versicherungsgesellschaft. Jetzt kann ja überhaupt nicht mehr über die Angelegenheit gesprochen werden, da die Gesellschaft das Geld wieder erhalten hat. Die Rechtsanwälte haben mich aber versichert, dass nichts mehr zu fürchten ist. Alles ist vorüber.«

Iris seufzte tief auf.

»Dann ist er in Sicherheit?« fragte sie.

»Sie denken natürlich zuerst an ihn!« sagte Hugh eifersüchtig. »Ja, er ist in Sicherheit, und ich hoffe, er ist ganz außer Landes gegangen, um niemals wieder hieher zurückzukehren. Das Wichtigste dabei ist jetzt, dass Sie in Zukunft sicher vor ihm sind. Und was den Doktor anbetrifft, - aber ich kann nicht mit der gewöhnlichen Ruhe von diesem Menschen sprechen - überlassen wir ihn dem Verhängnis, das stets eines solchen Menschen wartet. Er wird sich hoffentlich nirgends, wohin er sich auch begeben mag, sicher fühlen.«

»Ich bin also sicher«, sagte Iris, »nicht nur vor meinem Gatten, sondern auch vor jenem andern. Sie glauben, dass ich sowohl wie mein Gatte in der Beziehung nichts zu fürchten haben. O, diese Furcht hat mich niemals, nicht für einen einzigen Augenblick verlassen. Sie sagen mir, dass ich öffentliche Schande nicht zu fürchten habe, und dass ich wieder frei atmen könne, wo ich doch eigentlich vor Scham in die Erde sinken müsste!«

Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen.

»Iris, wir wissen, was Sie getan haben, wir wissen auch, warum Sie es getan haben. Was sollen wir noch weiter darüber reden? Die Sache ist vorüber und somit abgetan. Wir wollen nie wieder darauf zurückkommen. Die Frage ist jetzt: Was wollen Sie zunächst tun? Wo wollen Sie leben?«

»Ich weiß es nicht. Ich habe Fanny zu mir genommen, und Mrs. Vimpany trägt auch das lebhafteste Verlangen, zu mir zu kommen. Ich bin reich, ja, bin in der Tat reich, seitdem ich zwei so treue Begleiterinnen und einen Freund habe.«

»In dieser Beziehung, Iris, werden Sie immer reich sein. Jetzt hören Sie aber aufmerksam zu. Ich besitze eine Villa auf dem Lande. Sie liegt weit entfernt von London in den schottischen Marschen, ganz abgelegen von der großen Heerstraße, selbst für Reisende zu entlegen. Es ist ein sehr einsamer Ort, aber ein hübsches Haus mit einem großen Garten dahinter und davor die sandige Meeresküste und das unendliche Meer. Dort kann man vollständig abgeschlossen und einsam leben. Ich biete Ihnen dieses Haus als Wohnung an. Schlagen Sie ein, und wohnen Sie dort, so lange es Ihnen gefällt.«

»Nein, nein, ich darf ein solches Anerbieten nicht annehmen«, sagte sie.

»Sie dürfen, Iris, Sie müssen es annehmen. Ich bitte Sie darum als um einen Beweis Ihrer Freundschaft und als nichts weiter. Ich fürchte nur, Sie werden der Einsamkeit bald überdrüssig werden.«

»Nein, nein, das wird niemals geschehen! Einsamkeit ist ja alles, was ich wünsche.«

»Es gibt dort überhaupt keine Gesellschaft.«

»Gesellschaft, Gesellschaft für mich? Was soll ich mit der Gesellschaft?«

»Ich komme auch für einige Zeit in die Nachbarschaft, um dort zu fischen. Werden Sie mir dann erlauben, dass ich Sie aufsuche?«

»Wer hätte sonst das Recht dazu?«

»Dann nehmen Sie also mein Anerbieten an?«

»Mein Gefühl sagt mir, dass ich es annehmen muss. Ja, Hugh, ja, mit dem aufrichtigsten und herzlichsten Dank nehme ich Ihre Güte an.«

Am nächsten Tag fuhr sie mit dem Nachtzug nach Schottland. Mit ihr zugleich reisten Mrs. Vimpany und Fanny Mere.

Dreiundsiebenzigstes Kapitel

Was Lord Harry tat, nachdem er das Geld der Versicherungsgesellschaft zurückgeschickt hatte, war äußerst merkwürdig.

Er verließ London und begab sich nach Dublin.

Dort angekommen, suchte er ein kleines Hotel auf, das ausschließlich von Amerikanern irischen Ursprungs und deren Freunden besucht wurde. Man glaubte allgemein, dass es der Hauptzusammenkunftsort der Unüberwindlichen sei. Jedenfalls war bekannt, dass das Haus fast ausschließlich nur von den Nationalgesinnten besucht wurde. Er machte keinen Versuch, seinen Namen zu verheimlichen. Er betrat das Hotel, begrüßte den Wirt freundlich, nickte dem Oberkellner zu, bestellte ein Diner und nahm keine Rücksicht auf die finsteren und drohenden Blicke, mit denen er in dem Speisesaal empfangen wurde, wo fünf bis sechs Männer saßen und heimlich mit einander sprachen.

Er blieb diese Nacht in dem Hotel.

Am nächsten Tag ging er ganz offen und frei, als ob er gar nichts zu fürchten hätte, weder von Engländern noch von Irländern, auf die Eisenbahn und löste sich ein Billet, nicht im geringsten auf das achtend, was alle Welt sehen und begreifen konnte, nämlich, dass er genau beobachtet wurde. Als er seine Fahrkarte gelöst hatte, traten unmittelbar nach ihm zwei andere Männer an den Schalter, die sich ebenfalls zwei Fahrkarten nach dem gleichen Ort wie Lord Harry lösten. Der Ort, wohin er zu fahren beabsichtigte, lag in dem Teil von Kerry, in dem die Unüberwindlichen einst Arthur Mountjoy ermordet hatten.

Die beiden Männer, welche ihm folgten und Fahrkarten nach demselben Ort gelöst hatten und die sich jetzt auch zu ihm in dasselbe Coupé setzten, waren zwei Mitglieder dieser unheimlichen Bruderschaft. Es ist bekannt, dass über denjenigen, der sich der Gesellschaft anschließt und sie später wieder verlässt oder ihren Befehlen nicht gehorcht, oder der überhaupt in dem Verdacht steht, ihre Geheimnisse zu verraten - es ist allgemein bekannt, dass über denjenigen die Todesstrafe verhängt wird.

Nach der ganz unerwarteten Ankunft Lord Harrys in dem Hotel in Dublin waren sofort die damals gerade in der Stadt anwesenden Mitglieder der Bruderschaft zu einer Versammlung zusammenberufen worden. Man hatte beschlossen, dass der Verräter aus dem Wege geräumt werden müsse. Das Los wurde geworfen, und es fiel auf einen, der sich erinnerte, dass Lord Harry in der Vergangenheit seiner Familie öfters Wohltaten erwiesen hatte. Er wäre glücklich gewesen, wenn ihm der traurige Auftrag erspart geblieben wäre, aber die Gesetze der Gesellschaft sind streng, und daher musste er gehorchen.

Es ist außerdem noch die Gewohnheit der Unüberwindlichen, wenn ein Mord beschlossen und eines ihrer Mitglieder mit der Ausführung beauftragt worden ist, noch ein zweites Mitglied auszuwählen, dessen Pflicht es ist, den Mörder zu begleiten und zu sehen, ob er seinen Auftrag auch wirklich erfüllt.

Am Nachmittag, ungefähr eine Stunde vor Sonnenuntergang, erreichte der Zug die Station, an der Lord Harry aussteigen wollte. Der Stationsvorstand erkannte und begrüßte ihn. Darauf sah er die beiden anderen Männer aussteigen und wurde blass.

»Ich will meine Reisetasche hier in dem Gepäckbureau zurücklassen; sie wird abgeholt werden.«

Später erinnerte sich der Stationsvorstand dieser Worte. Lord Harry sagte nicht, ich werde sie wieder abholen, sondern sie wird abgeholt werden. Bedeutungsvolle Worte!

Das Wetter war kalt; ein feiner Sprühregen fiel; der Tag begann sich seinem Ende zuzuneigen. Lord Harry verließ die Bahnstation und ging mit raschen Schritten den Weg entlang, der durch ein trauriges und verlassenes Stück Land führte. Die beiden Männer folgten ihm. Jetzt beschleunigte der eine seinen Gang und ließ seinen Begleiter ungefähr zwanzig Schritte hinter sich.

Der Stationsvorsteher blickte den drei Davoneilenden nach, bis er sie nicht mehr sehen konnte. Dann schüttelte er den Kopf und kehrte in sein Bureau zurück.

Lord Harry ging auf dem Weg rasch weiter; er wusste, dass die beiden Männer ihm auf dem Fuße folgten. Jetzt wurde er gewahr, dass der eine von ihnen seine Schritte verdoppelte.

Er ging, ohne sich darum zu kümmern, in dem gleichen Schritt fort. Vielleicht wurden seine Wangen bleicher und schlössen seine Lippen sich fester auf einander, da er ja ganz genau wusste, dass er im Begriff stand, in den Tod zu gehen.

Die Schritte hinter ihm kamen rasch immer näher und näher. Lord Harry drehte nicht einmal seinen Kopf nach dem ihm Folgenden um. Der Mann war jetzt ganz dicht hinter ihm. Noch ein kurzer Augenblick, und er ging dicht an seiner Seite.

»Mickey O'Flynn!« sagte Lord Harry.

»Er ist es, der vor Dir steht, Verräter!« entgegnete der Mann.

»Ihre Freunde, die Unüberwindlichen, sagten Ihnen, ich sei ein solcher, Mickey. Nun, glauben Sie etwa, ich wüsste nicht, weswegen Sie hier sind? Nun?« Er blieb stehen. »Ich bin unbewaffnet. Sie halten einen Revolver in Ihrer Hand, in der Hand, die Sie hinter Ihrem Rücken verbergen. Worauf warten Sie noch?«

»Ich kann es nicht tun!« sagte der Mann.

»Sie müssen, Mickey O'Flynn, Sie müssen, oder Sie werden selbst ermordet«, entgegnete Lord Harry ruhig. »Sie brauchen ja nur Ihre Hand zu heben, und dann werden Sie ein Mörder sein. Ich bin auch einer, wir werden also dann beide Mörder sein. Nun also, warum schießen Sie nicht?«

»Bei Gott, ich kann nicht«, sagte Mickey O'Flynn. Er hielt den Revolver immer noch gespannt hinter seinem Rücken, aber er erhob den Arm nicht. Seine Augen blickten starr auf den irischen Lord; sein Mund war geöffnet, das Entsetzen des Mörders sprach sich schon jetzt in seiner ganzen Haltung aus, noch bevor er den Mord begangen hatte. Dann schrak er plötzlich zusammen. »Blicken Sie hinter sich, blicken Sie hinter sich, Mylord.«

Lord Harry drehte sich herum. Der zweite Mann war jetzt ganz nahe bei ihm. Er beugte sich vorwärts und schaute ihm ins Gesicht.

»Arthur Mountjoys Mörder!« schrie Lord Harry laut und sprang dem Mann an die Kehle.

Ein, zwei, drei Schüsse durchhallten die stille Abendluft. Diejenigen, welche sie auf der Bahnstation aus der Richtung des Weges, den die drei Männer eingeschlagen hatten, herüberschallen hörten, schauderten zusammen. Sie kannten die Bedeutung dieser Schüsse. Noch ein Mord mehr lastete auf der Seele von Irland. Lord Harry aber lag tot mitten auf dem Weg.

Der zweite Mann sprang auf und griff nach seinem Hals.

»Wahrhaftig«, sagte er, »ich dachte, es ginge mir auch ans Leben. Komm, Mick, wir wollen ihn etwas aus dem Wege schaffen.«

Sie zogen den Leichnam an die Seite der Straße und eilten dann mit gebeugten Köpfen und tief in das Gesicht gezogenen Hüten querfeldein nach einer andern Eisenbahnstation, wo sie nicht als die beiden erkannt werden würden, die Lord Harry auf der Straße gefolgt waren.

Eine Stunde später ritten zwei bewaffnete Konstabler die Straße entlang und fanden den Leichnam, wo ihn die beiden liegen gelassen hatten.

Sie durchsuchten seine Taschen. Eine Geldbörse mit ein paar Sovereigns fanden sie darin, ferner das Bild einer Dame, der Gattin des Ermordeten, und ein versiegeltes Couvert, gerichtet an Hugh Mountjoy Esq., in einem Londoner Hotel, und eine Visitenkartentasche; nichts von irgendwelcher Bedeutung.

»Das ist Lord Harry Norland«, sagte der eine, »der wilde Lord! So hat er endlich doch sein Ende gefunden!«

Das Couvert enthielt zwei Briefe. Der an Iris gerichtete war kurz. Er lautete:

»Lebe wohl. Ich stehe im Begriff, den Tod eines, der ein Verräter an einer gerechten Sache genannt wird, zu erleiden. Ich bin aber in einem noch viel höheren Grad ein Verbrecher, als meine Mörder glauben. Mag das Ende, welches mir schon seit langem zugedacht ist, als eine Art Sühnopfer betrachtet werden. Vergib mir, Iris; denke an mich so freundlich, wie Du kannst. Aber ich beschwöre Dich, es ist mein letztes Wort an Dich: traure nicht um einen, welcher sein möglichstes getan hat, um Dein Leben zu vergiften und Deine Seele zu verderben.«

In dem zweiten Brief schrieb er:

»Ich kenne die Liebe, die Sie immer für meine Gattin gehegt haben. Iris wird Ihnen sagen, was sie über ihre Zukunft beschlossen hat. Wenn sie Ihnen nichts über ihren verstorbenen Gatten sagt, so denken Sie das Schlimmste von ihm, und Sie werden nicht unrecht haben. Erinnern Sie sich, dass, was sie auch getan haben mag, sie dies alles für mich getan hat und auf meine Veranlassung. Sie hätte Sie anstatt mich heiraten sollen.

»Ich stehe im Angesicht des Todes. Die Männer, welche mich zu töten beabsichtigen, sind mit mir unter dem gleichen Dach. Sie werden ihren Plan vielleicht schon heute nacht ausführen, vielleicht aber warten sie auch auf eine bessere Gelegenheit und einen ruhigeren und sichereren Platz. Aber töten werden sie mich gewiss.

»Im Angesicht des Todes erhebe ich mich über die jammervolle Eifersucht, mit der ich Sie jederzeit betrachtet habe. Ich sehe mit Verachtung herab auf diese unwürdige Leidenschaft und bitte Sie deswegen um Verzeihung. Helfen Sie Iris, die Periode ihres Lebens zu vergessen, über die sie mit Recht beschämt sein muss. Beweisen Sie, dass Sie mir vergeben, dadurch, dass Sie ihr vergeben, und dass Sie ihr helfen in der Aufrichtigkeit und Tiefe Ihrer Liebe, die Erinnerung an mich für immer aus ihrem Herzen zu tilgen. H. N.«

Letztes Kapitel

Als Iris Hugh Mountjoys Anerbieten, seine Besitzung in Schottland als Aufenthaltsort zu benützen, angenommen hatte, reiste sie dorthin mit der Absicht, sich vor aller Welt zu verbergen. Zu viele Menschen, dachte sie, kannten ihre Geschichte und wussten, was sie getan hatte. Es war nicht wahrscheinlich, dass die Direktoren und Aufsichtsräte der Versicherungsgesellschaft alle über ein so ungewöhnliches Ereignis vollkommenes Stillschweigen bewahrt hatten. Und selbst wenn sie Lady Harry nicht der Teilnahme an dem Verbrechen beschuldigten, wie sie es gekonnt hätten, so würden sie doch sicherlich die Geschichte und den zeitweilig erfolgreichen Ausgang dieses eigentümlichen Betruges hie und da erzählt haben, und wahrscheinlich um so eher, nachdem Lord Harry ermordet worden war. Sie konnte daher, wie sie sich selbst sagte, sich niemals wieder vor der Welt sehen lassen.

In ihrer Begleitung befanden sich Fanny Mere, ihre Freundin und ihr Kammermädchen zugleich, die Frau, deren treue Anhänglichkeit an sie sich in so hervorragender Weise betätigt hatte, und außerdem noch Mrs. Vimpany, welche in Zukunft die Geschäfte einer Haushälterin besorgen sollte.

Nachdem ein angemessener Zeitraum vergangen war, suchte Hugh Mountjoy Iris in Schottland auf. Sie war jetzt Witwe. Sie wusste sehr gut, was er ihr zu sagen wünschte, und kam ihm zuvor. Sie teilte ihm mit, dass nichts sie jemals veranlassen könnte, die Frau eines andern Mannes zu werden, nachdem sie sich selbst so erniedrigt habe. Hugh empfing diese vertrauliche Mitteilung, ohne eine Bemerkung dazu zu machen. Er blieb indessen in der Nachbarschaft, besuchte sie häufig, aber sprach nie ein Wort von Liebe zu ihr. So wurde er ihr mit der Zeit notwendig. Seine häufigen Besuche wiederholten sich schließlich jeden Tag. War er früher nur nachmittags gekommen, so erschien er jetzt schon am frühen Morgen und blieb den ganzen Tag über da. Als die Zeit endlich gekommen war, wo Iris diesen seinen stummen Bewerbungen nachgeben durfte und er gar nicht mehr das Haus verließ, da schien ihnen beiden überhaupt keine Änderung eingetreten zu sein; aber sie setzten ihr zurückgezogenes Leben in der gleichen Art und Weise weiter fort, und ich glaube nicht, dass sie es jemals wieder ändern werden.

Ihr Haus war an der Nordküste des Solway Firth gelegen, nahe bei der Mündung des Annanflusses, aber auf dessen westlichem Ufer, gegenüber der kleinen Stadt Annan. Hinter dem Hause breitete sich ein großer Garten aus; die Vorderseite blickte während der Ebbe über einen breiten Dünenstreifen und während der Flut über das Wasser selbst. Das Haus war mit einer guten Bibliothek versehen. Iris sorgte für ihren Garten, ging auf der Düne spazieren, las oder arbeitete. So bildeten sie einen sehr stillen Haushalt. Mann und Frau redeten wenig. Sie gingen zusammen im Garten spazieren, und dabei war sein Arm um ihre Taille geschlungen, oder sie hatten sich bei den Händen gefasst. Wenn sie die Vergangenheit auch niemals ganz vergessen konnten, so hörte sie doch nach und nach auf, sie zu beunruhigen und zu quälen; sie erschien ihnen wie ein wüster, schrecklicher Traum, der seine Spuren nur in einer angenehmen Melancholie zurückgelassen hatte, welche in den längst vergangenen glücklichen Tagen der jungen Frau so ganz fremd gewesen war.

Und dann trat das letzte Ereignis ein, welches der Erzähler dieser Geschichte zu berichten hat.

Es nahm seinen Anfang an einem Morgen mit einem Brief.

Mrs. Vimpany empfing ihn. Sie erkannte die Handschrift sofort, erschrak und verbarg ihn schnell in ihrer Tasche. Sobald sie es möglich machen konnte, unauffällig ihr Zimmer aufzusuchen, begab sie sich dorthin, öffnete den Brief und las ihn.

»Gutes und liebenswürdiges Wesen! Schon seit langer Zeit habe ich, da ich es für sehr wahrscheinlich hielt, daß ich mich noch einmal in dieser Art und Weise an Dich zu wenden haben würde, darüber genaue Erkundigungen eingezogen, wo und bei wem Du Dich aufhältst. Das ausfindig zu machen, hat mir natürlich gar keine Schwierigkeiten verursacht, denn ich brauchte ja nur Dich in Verbindung mit Mr. Mountjoy zu sehen und auszukundschaften, wo er lebte. Ich kann Dir daher auch nur Glück wünschen, dass Du es auf so vortreffliche Weise verstanden hast, für Dich zu sorgen. Du hast Dich wahrscheinlich für Dein ganzes noch übriges Leben in einem sehr angenehmen Hause niedergelassen. Ich empfinde darüber eine so lebhafte Genugtuung, als ob ich selbst zu diesem befriedigenden Ergebnis beigetragen hätte.

»Ich habe daher auch jetzt die Absicht, mich nicht noch unangenehmer zu machen, als ich es an und für sich schon zu tun genötigt bin. Aber Not kennt kein Gebot. Du wirst mich verstehen, wenn ich Dir sage, dass ich all mein Geld ausgegeben habe. Ich bedaure nicht im entferntesten die Art, wie das geschehen ist, aber deswegen bleibt die Tatsache doch bestehen, dass es fort ist, und das ist es auch, was mir tief ins Herz schneidet.

»Ich habe also entdeckt, dass der verstorbene, tief betrauerte Lord Harry Norland, dessen Tod ich übrigens auch selbst aus sehr gewichtigen Gründen auf das lebhafteste beklage, mir in Betreff einer Summe Geldes einen niederträchtigen Streich gespielt hat. Die Geldsumme nämlich, für die er sein Leben versichert hatte, betrug nicht weniger als fünfzehntaufend Pfund. Er selbst hat jedoch mir angegeben, dass es nur viertausend Pfund gewesen seien. Als Vergeltung für gewisse Dienste, die ich ihm bei einer bestimmten Angelegenheit erwiesen hatte, sollte ich die Hälfte der Versicherungssumme bekommen. Ich habe aber nur zweitausend erhalten. Infolge dessen ist man mir noch die Summe von fünftausendfünfhundert Pfund schuldig. Das ist gewiss ein großer Haufen Geld, aber Mr. Mountjoy ist ja, wie ich glaube, ein reicher Mann. Er wird ohne Zweifel die Notwendigkeit einsehen, dass er mir dieses Geld ohne weitere Frage und ohne Aufschub auszahlen muss.

»Du wirst ihn daher sofort aufsuchen; er ist jetzt, wie ich höre, zu Hause; Du kannst ihm dann irgend einen Teil des Briefes, welchen Du willst, oder auch den ganzen, wenn es Dir wünschenswert erscheint, vorlesen und ihn dabei wissen lassen, dass ich im vollen Ernst spreche. Ein Mann mit leeren Taschen kann nicht anders als ernsthaft sein.

»Höchst wahrscheinlich wird er auf meine Forderung nicht eingehen wollen.

»Sehr gut. In diesem Fall wirst Du ihm sagen, dass ein Betrug begangen worden ist, und dass ich in Bezug darauf bereit bin, ein volles Geständnis abzulegen. Ich habe damals bei dem Tode meines Patienten auf die dringenden Bitten von Lord Harry mich damit einverstanden erklärt, dass der Tote für den irischen Lord ausgegeben wurde. Ich bin darauf fortgegangen, fest entschlossen, nichts mehr mit der weiteren Schurkerei zu tun zu haben, welche, wie ich glaube, ins Werk gesetzt wurde, um den vollen Betrag der Summe zu erhalten, für die sein Leben versichert war.

»Die unmittelbar darauf erfolgte Ermordung Lord Harrys veranlasste die Versicherungsgesellschaft, die beabsichtigte Klage fallen zu lassen. Ich werde nun den Herren den gegenwärtigen Aufenthaltsort seiner Witwe mitteilen und mein Zeugnis zu ihrer Verfügung stellen. Was auch geschehen mag, ich werde gewiss die ganze Sache an die Öffentlichkeit bringen. Mir kann dabei gar nichts geschehen, während dagegen weder Mr. Hugh Mountjoy noch seine Frau sich jemals wieder vor der Welt sehen lassen dürfen, ob nun der Staatsanwalt die Sache in die Hände nimmt oder nicht.

»Du kannst Mr. Mountjoy sagen, was Du willst, nur eines nicht: dass mit mir zu spaßen sei. Ich werde ihm morgen meinen Besuch machen und hege die sichere Erwartung, dass ich das Geschäft so gut als erledigt finden werde.

A. V.«

Mrs. Vimpany ließ den Brief erschreckt sinken. Ihr Gatte war seit mehr als zwei Jahren aus ihrem Gesichtskreis verschwunden gewesen; sie hatte sich dem Gedanken hingegeben, er halte sich irgendwo in sicherer Verborgenheit auf, wohl in einem weit entlegenen Lande, aus welchem er niemals zurückkehren werde. Aber ach! Unsere Welt hat kein solch entlegenes Land, und selbst wenn sich dieser gefährliche Mensch so weit von dem Schauplatz seiner Verbrechen entfernt hätte, wie die Rocky Mountains entlegen sind, so konnte ihn doch ein Eilzug und ein Schnelldampfer schleunigst wieder an den Ort seiner früheren Tätigkeit bringen, sobald er Sehnsucht nach etwas mehr Vergnügen und nach der Gesellschaft seiner alten Freunde hat.

Mr. Vimpany war also zurückgekehrt. Was sollte sie nun tun? Was würde Iris tun? Was würde Mr. Mountjoy tun?

Sie las den Brief noch einmal durch. Zwei Dinge standen dem Plan des Doktors entgegen. Erstens wusste er nicht, dass das Geld der Versicherungsgesellschaft vollständig zurückerstattet war, und zweitens hatte er ebensowenig eine Idee davon, dass es einen Augenzeugen des von ihm an dem Dänen verübten Mordes gab. Sie beschloss, ihm nur die letzte Tatsache mitzuteilen. Sie war jetzt mutiger und besser, als sie es jemals früher gewesen war. Sie sah klarer, dass der Weg eines Verbrechers auch für diesen selbst nicht immer so leicht ist. Wenn er wusste, dass sein Verbrechen für ihn verhängnisvoll werden konnte, wenn er wusste, dass er ohne jeden Zweifel des Mordes angeklagt werden würde, falls er es wagen sollte, sich zu zeigen, oder den Versuch machte, Geld zu erpressen, dann würde er gewiss von seinem schlimmen Vorhaben abstehen. Vor solch einer Gefahr musste selbst der verhärmteste Verbrecher zurückschrecken.

Sie sah ferner ein, dass es wünschenswert war, vor ihm zu verbergen, auf welche Weise man ihm sein Verbrechen nachweisen könnte; ebenso durfte sie ihm nicht den Namen des einzigen Zeugen, der gegen ihn aussagen konnte, nennen. Sie wollte ihm nur in aller Ruhe mitteilen, was geschehen würde, wenn er auf seinem Verlangen bestände, und ihn auffordern, sich wieder zu entfernen oder die Folgen seiner Handlungsweise auf sich zu nehmen.

Und dennoch, selbst wenn er sich dadurch für jetzt vertreiben ließe, würde er doch wieder zurückkehren. Sie würde hinfort in steter Furcht vor seiner Rückkehr leben. Ihre Ruhe würde für immer dahin sein.

Gott im Himmel, sollte denn wirklich solch ein Mensch solche Gewalt über das Leben von anderen haben?

Sie verbrachte den schrecklichsten Tag ihres ganzen Lebens. Sie sah im voraus, dass das Glück dieses Hauses vernichtet war. Sie malte sich das Kommen ihres würdigen Gatten aus, aber sie konnte sich seinen Weggang nicht vorstellen, denn sie hatte ihn noch niemals als den Geschlagenen und Überwundenen das Feld räumen sehen.

Er würde in seiner unverschämten und rohen Art und Weise eintreten mit seinem frechen Selbstvertrauen, als wäre er der Herr der Situation und könnte als solcher tun und reden, was er wollte. Er würde sie fragen, was sie getan hätte; er würde ihr fluchen, wenn er erfuhr, dass sie nichts für ihn getan hätte; er würde sich breit und unverschämt in den nächsten Stuhl werfen, die Beine weit von sich strecken und ihr auftragen, zu gehen und Mr. Mountjoy zu holen. Würde sie wie in früheren Zeiten ihm auch jetzt noch gehorsam sein, oder würde sie den Mut finden, ihm zu widerstehen? Ja, sie würde es können, sie würde es für Iris können, sie würde es für den Mann können, der so freundlich mit ihr gewesen war, sie würde es für Hugh Mountjoy können.

Am Abend saßen die beiden Frauen, Mrs. Vimpany und Fanny, in dem Zimmer der Haushälterin. Beide hatten ihre Arbeit auf dem Schoß liegen. Keine arbeitete daran. Der Herbsttag war sehr stürmisch gewesen, und der Sturm hatte gegen abend noch zugenommen.

»Woran denken Sie?« fragte Fanny.

»Ich dachte an meinen Gatten. Wenn er zurückkommen sollte, wenn er irgendwelche Drohungen ausstoßen sollte...«

»O, dann würden Sie mich mein Schweigen brechen, dann würden Sie mich reden lassen müssen!«

»Ja, um Iris willen. Einstens würde ich ihn beschützt haben, wenn ich gekonnt hätte, nun aber nicht mehr, denn jetzt weiß ich endlich, dass auch nicht ein guter Faden an ihm ist.«

»Sie haben von ihm gehört? Ich sah heute morgen den Brief in dem Kasten und erkannte sofort seine Handschrift. Ich wartete daher nur, dass Sie sprechen würden.«

»Leise, Fanny, leise! Ja, ich habe von ihm gehört, er braucht Geld. Er will morgen früh hieher kommen und von Mr. Mountjoy durch Drohungen Geld erpressen. Halten Sie Ihre Herrin in ihrem Zimmer fest, überreden Sie sie, im Bett zu bleiben, oder sonst irgend etwas dergleichen.«

»Er weiß nicht, was ich gesehen habe. Drohen Sie ihm mit der Enthüllung seiner Mordtat; sagen Sie ihm«, fuhr Fanny fort, »dass er, wenn er es wagt, hieher zu kommen, wenn er sich nicht augenblicklich wieder entfernt, dass er wegen des an dem Dänen verübten Mordes verhaftet würde. Ich werde gewiss nicht länger Stillschweigen beobachten.«

»Ich werde es ihm sagen, ich bin fest dazu entsschlossen. O, wer wird uns von diesem Ungeheuer befreien?«

Draußen stieg der Sturm immer höher und höher; die beiden Frauen hörten ihn heulen und von entlaubten Bäumen die dürren Äste herunterreißen und zerknicken; sie hörten das Donnern und Brüllen der Meereswogen, welche die Flut über die gelben Sanddünen trieb.

Plötzlich, mitten in dem Sturm, trat eine augenblickliche Stille ein. Wind und Wasser schienen sich beruhigt zu haben, und durch die Stille drang wie eine Antwort auf die Frage von Mrs. Vimpany ein lauter Schrei, der Schrei eines Menschen, der sich in Todesgefahr befindet.

Die beiden Frauen fassten sich an der Hand und eilten ans Fenster. Sie rissen es auf. Der Sturm fing von neuem an zu toben. Ein neuer Anprall trieb sie zurück. Die Wogen brüllten, der Sturm heulte. Sie hörten die Stimme nicht wieder. Sie schlossen das Fenster und ließen die Gardinen herunter.

Es war lange nach Mitternacht, bevor sie es wagten, ins Bett zu gehen. Eine von ihnen lag während der ganzen Nacht wach. In dem heulenden Sturm hatte sie ein Vorzeichen zu erkennen geglaubt, dass der Zorn des Himmels von neuem auf ihre Herrin fallen wolle.

Ihre Ahnung war jedoch nicht richtig gewesen. Die Rache des Himmels hatte diesmal einen viel Schuldigeren erreicht.

Am Morgen, als sich der Sturm gelegt hatte, fand man an einem der Pfähle, die ein Netz ausgespannt hielten, am Ufer des Solway Firth einen Leichnam angeschwemmt. Er wurde von Hugh, welcher hinausgegangen war, um ihn anzusehen, als der Leichnam Vimpanys erkannt.

Ob der Doktor sich auf dem Rückweg nach Annan befunden oder ob er beabsichtigt hatte, noch am Abend anstatt am nächsten Morgen Mr. Mountjoy aufzusuchen, niemand konnte es sagen. Seine Frau vergoss Tränen, aber es waren Tränen der Erleichterung. Der Mann wurde als ein Fremder beerdigt. Hugh Mountjoy behielt seine Entdeckung für sich. Mrs. Vimpany warf den Brief ihres Gatten ins Feuer. Keiner von ihnen hielt es für gut, die Ruhe von Iris durch die Erwähnung des Mannes zu stören.

Einige Tage später indessen kam Mrs. Vimpany die Treppe herunter in einer Witwenhaube. Auf einen fragenden Blick von Iris entgegnete sie ruhig:

»Ja, ich habe gestern erfahren, dass mein Gatte gestorben ist. Ist es nicht besser, ist es vielleicht nicht für ihn selbst besser, dass er nicht mehr lebt? Er kann nun ferner nichts Schlechtes mehr anstellen, er kann in keinen Haushalt mehr Unglück bringen. Er ist tot!«

Iris gab keine Antwort. Ja, auch sie hielt es für besser, für weit besser, dass der Doktor tot war. Aber wie sie von diesem Mann befreit worden und welchen neuen Gefahren sie durch ihn ausgesetzt gewesen war, das wusste sie nicht und sollte es auch niemals erfahren.

Sie hatte ein Geheimnis, nur ein einziges, welches sie vor ihrem Gatten verborgen hielt. In ihrem Schreibtisch bewahrte sie eine Locke von Lord Harrys Haar auf. Warum? - Ich weiß es nicht. Blinde Liebe stirbt niemals ganz.

ENDE


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