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Die Frau in Weiß

Fortsetzung der Aussage Walter Hartrights

XVII.

Meine erste Ueberzeugung, als ich mich in der Straße befand, war die, daß mir Nichts weiter übrig bleibe, als nach den Mittheilungen zu handeln, die mir gemacht worden – mich des Grafen noch in dieser Nacht zu versichern, oder mich der Gefahr auszusetzen, falls ich bis zum Morgen wartete, Laura’s letzte Hoffnung zu verlieren. Ich blickte auf meine Uhr. Es war zehn Uhr.

Ich hatte auch nicht den Schatten eines Zweifels in Bezug auf des Grafen Absicht, als er das Theater verlassen. Sein Entwischen aus der Oper war sicher nur die Einleitung seines Entweichens aus London. Das Zeichen der »Verbindung« war auf seinem Arme, davon war ich so fest überzeugt, als wenn er mir das Brandmal gezeigt hätte – und der Verrath der »Verbindung« lag auf seinem Gewissen, ich hatte ihn in seinem Erkennen Pesca’s gelesen.

Es war leicht zu verstehen, warum dieses Erkennen nicht ein gegenseitiges gewesen. Ein Mann vom Charakter des Grafen würde nie die fürchterlichen Folgen, Spion zu werden, riskiren, ohne für seine persönliche Sicherheit ebensowohl zu sorgen, wie für seine goldene Belohnung. Das rasirte Gesicht, welches ich in der Oper bezeichnete, mochte zu Pesca’s Zeit mit einem großen Barte bedeckt gewesen sein; sein dunkelbraunes Haar war vielleicht eine Perrücke; sein Name offenbar ein falscher. Der Zufall der Zeit mochte ihm auch geholfen haben – seine ungeheure Corpulenz war vielleicht erst in späteren Jahren gekommen. Es war jeder Grund vorhanden, daß Pesca ihn nicht wieder erkannte – und ebenfalls jeder Grund, daß er Pesca erkannte, dessen eigenthümliche kleine Persönlichkeit ihn, wohin er auch gehen mochte, zu einer auffallenden Erscheinung machte.

Ich habe gesagt, daß ich überzeugt war, des Grafen Absicht, indem er uns im Theater entwischte, zu kennen. Wie konnte ich darüber in Zweifel sein, wenn ich mit meinen eigenen Augen sah, daß er sich ungeachtet der Veränderungen in seinem Aeußern von Pesca erkannt und deshalb in Gefahr glaubte? Falls ich ihn diese Nacht sprechen und ihm zeigen konnte, daß auch ich die tödtliche Gefahr kannte, in der er schwebte, was würde der Erfolg davon sein? Ganz einfach dieser: Einer von uns Beiden mußte Herr über unsere Lage – Einer von Beiden mußte unfehlbar in der Gewalt des Andern sein.

Ich war es mir schuldig, die Chancen gegen mich wohl zu erwägen; und ich war es meiner Frau schuldig, alles Mögliche zu thun, um die Gefahr zu verringern.

Die Chancen gegen mich waren leicht hergerechnet: sie liefen alle in einer einzigen zusammen. Sobald der Graf durch mein eigenes Bekennen erfuhr, daß der gerade Weg zu seiner Sicherheit über mich als Leiche ging, so war er wahrscheinlich der letzte Mann von der Welt, der zaudern würde, diesen Weg einzuschlagen, wenn er mich allein in seiner Gewalt hatte. Die einzigen Vertheidigungsmittel gegen ihn, von denen ich hoffen durfte, daß sie die Gefahr verringern würden, stellten sich nach etwas sorgfältiger Ueberlegung deutlich genug heraus. Bevor ich mein persönliches Bekenntniß der Entdeckung in seiner Gegenwart machte, mußte ich die Entdeckung selbst so placiren, daß sie zu augenblicklichem Gebrauche gegen ihn bereit und gegen jeden Versuch von seiner Seite, dieselbe unwirksam zu machen, gesichert war. Falls ich die Mine unter seinen Füßen grub, ehe ich mich ihm näherte, und einer dritten Person Weisung gab, sie nach Verlauf eines gewissen Zeitraumes anzuzünden, wenn nicht vorher entgegengesetzter Befehl von meiner eigenen Hand oder meinen eigenen Lippen einginge – so mußte des Grafen Sicherheit durchaus von der meinigen abhängen, und ich durfte dann selbst in seinem eigenen Hause ihm überlegen sein.

Dieser Gedanke kam mir, als ich dicht vor der neuen Wohnung angelangt war, die wir bei unserer Rückkehr von dem Badeorte gemiethet hatten. Ich ließ mich, ohne Jemanden zu stören, mit Hülfe meines eigenen Schlüssels ein. Es stand ein Licht im Flur, und ich schlich leise mit demselben auf mein Arbeitszimmer, um meine Vorbereitungen zu treffen und mich absolut zu einer Unterredung mit dem Grafen zu verpflichten, ehe sowohl Marianne als Laura nur die leiseste Ahnung von dem haben konnten, was ich zu thun beabsichtigte – Ein Brief an Pesca schien mir die sicherste Vorsichtsmaßregel, die ich jetzt treffen konnte. Ich schrieb ihm Folgendes:

»Der Mann, den ich Dir in der Oper bezeichnete, ist ein Mitglied der ›Verbindung‹ und zugleich ein Verräther an derselben. Ueberzeuge Dich sofort von der Wahrheit dieser beiden Behauptungen. Du kennst den Namen, unter welchem er in England lebt. Seine Adresse ist Numero 5, Forest Road, St. John’s Wood. Bei der Liebe, die Du einst für mich gehegt, beschwöre ich Dich, die Macht, die Dir verliehen, ohne Erbarmen und ohne Verzug in Anwendung zu bringen. Ich habe Alles gewagt und Alles verloren und mit meinem Leben für mein Mißlingen bezahlt.«

Ich unterzeichnete und datirte diese Zeilen, that sie in ein Couvert und versiegelte dasselbe. Oben darauf schrieb ich Folgendes: »Lasse das Couvert bis morgen früh um neun Uhr ungeöffnet. Wenn Du vor dieser Zeit Nichts von mir hörst oder siehst, so brich das Siegel mit dem Glockenschlage und lies den Inhalt.« Ich schrieb meine Anfangsbuchstaben darunter, und that das Ganze in ein zweites versiegeltes Couvert, welches ich an Pesca in seiner Wohnung adressirte.

Es blieb mir hiernach Nichts weiter übrig, als den Brief augenblicklich an seine Bestimmung zu schaffen, worauf ich Alles gethan haben würde, was in meiner Macht lag. Falls mir in des Grafen Hause Etwas zustieße, so hatte ich wenigstens dafür gesorgt, daß er es mit dem Leben büßen mußte.

Daß es in Pesca’s Macht lag – falls es ihn beliebte, von derselben Gebrauch zu machen – unter welchen Verhältnissen es auch sei, des Grafen Entweichen zu verhindern, bezweifelte ich keinen Augenblick. Der außerordentliche Eifer, mit dem er seinen Wunsch ausgesprochen, über des Grafen Identität unaufgeklärt zu bleiben – oder mit anderen Worten, über Thatsachen hinlänglich im Unklaren zu bleiben, um sich in seinem eigenen Gewissen dafür gerechtfertigt zu fühlen, daß er passiv bliebe – verrieth deutlich, daß er Mittel zur Hand hatte, um die fürchterliche Gerechtigkeit der »Verbindung« walten zu lassen, obgleich es ihm, als einem von Natur humanen Manne, widerstrebte, dies in meiner Gegenwart zu sagen. Die tödtliche Gewißheit, mit welcher die Rache fremder politischer Gesellschaften einen Verräther der Sache zu erreichen weiß, hatte selbst in meiner oberflächlichen Erfahrung zu viele Beispiele gegeben, um mir einen Zweifel zu gestatten. Wenn ich den Gegenstand als bloser Zeitungsleser betrachtete, erinnerte ich mich an Fälle, in Paris sowohl als in London, wo Ausländer erstochen in den Straßen gefunden worden, deren Mörder man niemals auf die Spur kam – an Leichname und Theile von solchen, die von Händen, welche nie entdeckt wurden, in die Themse und in die Seine geworfen waren – an Todesfälle, durch geheime Gewaltthat, die man sich nur auf eine Weise erklären konnte. Ich habe in diesen Blättern Nichts verschwiegen, das mich selbst betrifft – und verhehle auch hier nicht, daß ich glaube, ich hatte, falls die schreckliche Nothwendigkeit eintrat, welche Pesca autorisirte meinen Brief zu öffnen, Graf Fosco’s Todesurtheil geschrieben.

Ich verließ mein Zimmer, um ins Erdgeschoß hinunter zu gehen und den Hauswirth zu bitten, mir einen Boten zu besorgen. Er kam zufällig gerade die Treppe herauf, und wir begegneten einander auf dem ersten Treppenabsatze. Sein Sohn, ein flinker Bursche, war der Bote, den er mir vorschlug, als er hörte, was ich brauchte. Wir ließen den Knaben heraufkommen und gaben ihm unsere Weisungen. Er sollte einen Fiaker nehmen, um den Brief hinzubringen – den Letzteren in Pesca’s eigne Hände geben und mir von ihm eine Zeile zurückbringen, die mich überzeugte, daß er mein Schreiben richtig erhalten; dann sollte er in dem Fiaker zurückkommen und denselben für meinen Gebrauch warten lassen. Es war jetzt beinah halb elf Uhr. Ich berechnete, daß der Knabe in zwanzig Minuten würde zurück und ich dann in noch zwanzig Minuten in St. John’s Wood angelangt sein können.

Als der Bursche fort war, kehrte ich in mein Arbeitszimmer zurück, um gewisse Papiere zu ordnen, so daß man sie leicht finden möchte, in dem Falle, wo sich das Schlimmste ereignete. Den Schlüssel des altmodischen Schreibtisches, in welchem ich die Papiere aufbewahrte, versiegelte ich, schrieb Mariannen’s Namen auf das kleine Paket und legte es auf meinen Arbeitstisch. Darauf ging ich ins gemeinschaftliche Wohnzimmer hinab, wo ich Laura und Marianne, meiner Heimkehr von der Oper harrend, zu finden erwartete. Ich fühlte meine Hand zum erstenmale erzittern, als ich sie auf die Thürklinke legte.

Marianne war allein im Zimmer. Sie las und blickte erstaunt auf ihre Uhr, als ich eintrat.

»»Wie früh Du wieder da bist!« sagte sie, »Du mußt fortgegangen sein, ehe die Oper aus war.«

»Ja,« sagte ich; »weder Pesca noch ich blieben bis zu Ende. Wo ist Laura?«

»Sie hatte eine ihrer bösen Migränen heute Abend, und ich rieth ihr, sich lieber gleich nach dem Thee zu Bette zu legen.«

Ich verließ das Zimmer wieder unter dem Vorwande, nachzusehen, ob Laura schliefe. Mariannen’s scharfe Augen begannen sich prüfend auf mein Gesicht zu heften. Ihr scharfer Instinct fing an wahrzunehmen, daß Etwas auf meinem Gemüth lastete.

Als ich ins Schlafzimmer trat und mich leise im matten Schimmer der Nachtlampe dem Bette näherte, sah ich, daß meine Frau schlief.

Wir waren noch nicht ganz einen Monat verheirathet. Falls mein Herz schwer wurde, falls mein Entschluß abermals auf einen Augenblick wankte, als ich ihr liebes Antlitz betrachtete, das sich im Schlafe so treu meinem Kissen zuwandte – als ich ihre Hand offen auf der Decke liegen sah, wie sie von der meinigen gefaßt zu werden erwartete – gab es da nicht einige Entschuldigung für mich? Ich gestattete mir nur ein paar Minuten, um an dem Bette niederzuknieen und sie ganz nahe zu betrachten – so nahe, daß ihr Athem mein Gesicht streifte. Ich berührte zum Abschiede blos ihre Hand und ihre Stirn mit meinen Lippen. Sie bewegte sich im Schlafe und murmelte meinen Namen, doch ohne zu erwachen. Ich zögerte einen Augenblick an der Thür, um sie noch einmal anzuschauen. »Gott segne Dich und behüte Dich, mein treues Herz!« flüsterte ich und verließ sie dann.

Marianne stand an der Treppe und wartete auf mich. Sie hielt einen zusammengelegten Papierstreifen in der Hand.

»Des Hauswirths Sohn hat Dies für Dich gebracht,« sagte sie. »Ein Fiaker ist vor der Thür; er sagt, Du hast ihm befohlen, denselben auf Dich warten zu lassen.«

»Ganz recht, Marianne. Ich brauche den Fiaker. Ich muß noch einmal fort.«

Ich ging die Treppe hinab und trat in die Wohnstube, um den Streifen Papier zu lesen. Derselbe enthielt Folgendes in Pesca’s Handschrift:

»Ich habe Deinen Brief erhalten. Wenn ich Dich vor der genannten Zeit nicht sehe, werde ich mit dem Glockenschlage das Siegel brechen.«

Ich legte das Papier in mein Taschenbuch und wandte mich zur Thür. Marianne trat mir an der Schwelle entgegen und schob mich ins Zimmer zurück, so daß das Licht der Lampe voll auf mein Gesicht fiel. Sie hielt meine beiden Hände fest und heftete ihre Augen prüfend auf die meinigen.

»Ich sehe es!« sagte sie mit leisem, schnellem Flüstern, »Du willst heute Abend die letzte Chance versuchen.«

»Ja, die letzte und die beste,« gab ich flüsternd zurück.

»Nicht allein! O, Walter, um Gotteswillen nicht allein! Laß mich mit Dir gehen. Verweigere es mir nicht, weil ich blos ein Weib bin. Ich muß mitgehen! Ich will mitgehen! Ich will draußen im Fiaker warten!«

Jetzt mußte ich sie halten. Sie versuchte sich von mir loszumachen und zuerst hinunter zu eilen.

»Falls Du mir helfen willst,« sagte ich, »so bleibe hier und schlafe heute Abend im Zimmer meiner Frau. Laß mich nur mit über Laura beruhigtem Gemüthe gehen, und ich stehe für alles Uebrige. Komm, Marianne, küsse mich und zeige mir, daß Du Muth hast zu warten, bis ich wiederkomme«

Ich wagte nicht, ihr Zeit zu lassen, noch ein Wort weiter zu sagen. Sie versuchte nochmals, mich zu halten. Ich nahm ihre Hände auseinander und hatte das Zimmer in einer Minute verlassen. Der Knabe unten hörte mich die Treppe herunter kommen und öffnete die Hausthür. Ich sprang in den Fiaker, ehe noch der Kutscher vom Bocke steigen konnte. »Forest Road, St. John’s Wood,« rief ich ihm durch das vordere Fenster zu. »Ich zahle doppelt, falls wir in einer Viertelstunde dort sind.«

»Ich will’s machen, Sir.«

Ich sah auf meine Uhr. Elf Uhr – es war keine Minute mehr zu verlieren.

Die schnelle Bewegung des Fiakers, das Bewußtsein, daß jede Secunde mich dem Grafen näher brachte, die Ueberzeugung, daß ich mich endlich auf das gewagte Unternehmen eingelassen, versetzten mich dermaßen in Aufregung, daß ich dem Kutscher wiederholt zurief, schneller zu fahren. Als wir die Straßen verließen und in St. John’s Wood Road einfuhren, war ich so vollkommen von meiner Ungeduld überwältigt, daß ich im Wagen aufstand und den Kopf aus dem Fenster steckte, um das Ziel der Reise zu sehen, ehe wir es erreichten. Gerade als eine Kirchenuhr in der Ferne das Viertel nach Elf schlug, bogen wir in Forest Road ein. Ich ließ den Kutscher in einiger Entfernung von des Grafen Hause halten – bezahlte und entließ ihn – und ging dann zu Fuße an die Thür.

Als ich mich dem Gartenpförtchen näherte, sah ich Jemanden von der entgegengesetzten Seite her ebenfalls zu demselben herankommen. Wir trafen unter der Gaslampe der Straße zusammen und sahen einander an. Ich erkannte augenblicklich den blonden Ausländer mit der Narbe im Gesichte; und es schien mir, er erkannte mich. Er sagte Nichts; und anstatt ins Haus zu gehen, setzte er seinen Weg fort. War er durch Zufall in Forest Road? Oder war er dem Grafen von der Oper her gefolgt?

Ich gehe nicht weiter in diese Fragen ein. Nachdem ich ein paar Secunden gewartet, bis der Fremde außer Gesichtsweite war, zog ich die Glocke am Pförtchen. Es war jetzt zwanzig Minuten nach elf Uhr – spät genug, daß der Graf mich leicht durch die Entschuldigung, er sei bereits im Bette, hätte loswerden können.

Die einzige Art und Weise, mich gegen diesen Möglichkeitsfall zu verwahren, war die, mich ohne weitere Fragen sofort bei meinem Namen anmelden zu lassen und ihm dabei zugleich sagen zu lassen, daß ich wichtige Gründe habe, ihn noch zu so später Stunde zu sprechen zu wünschen.

Demzufolge nahm ich, während ich wartete, bis man mir öffnen würde, eine Karte heraus und schrieb unter meinen Namen »in wichtigen Geschäften.« Die Hausmagd öffnete die Thür, während ich noch das letzte Wort schrieb und frug mich argwöhnisch, »was ich wünsche.«

»Seien Sie so gut, Dies an Ihren Herrn abzugeben,« entgegnete ich, ihr die Karte gebend.

Ich sah aus dem zögernden Wesen des Mädchens, daß, hätte ich sie gefragt, ob ihr Herr zu Hause sei, sie ihre erhaltenen Weisungen befolgt und mir geantwortet haben würde, er sei nicht zu Hause. Aber die Zuversicht, mit der ich ihr meine Karte gab, machte sie unschlüssig. Nachdem sie mich mit erstaunter Verwirrung angestiert, ging sie mit meiner Karte ins Haus zurück, indem sie die Thür schloß und mich im Garten stehen ließ.

In ein paar Minuten kam sie wieder heraus. »Eine Empfehlung von ihrem Herrn, und ob ich nicht so gut sein wolle, zu sagen, wozu ich ihn zu sprechen wünsche?«

»Machen Sie Ihrem Herrn meine Empfehlung und sagen Sie ihm, ich könne dies Niemandem als ihm selbst mittheilen.« Sie verließ mich abermals, kam wieder heraus – und bat mich diesmal, einzutreten.

Ich folgte ihr sofort. Im nächsten Augenblicke befand ich mich im Hause des Grafen Fosco.

 

XXII.

Es war keine Lampe im Flur; aber in dem matten Schimmer des Lichtes, welches die Magd mit aus der Küche gebracht hatte, sah ich eine ältliche Dame geräuschlos das Hinterzimmer des Erdgeschosses verlassen. Sie warf mir einen einzigen Natternblick zu, als ich in den Flur trat, sagte jedoch Nichts, sondern ging langsam und ohne meinen Gruß zu erwidern die Treppe hinauf. Ich war durch meine Bekanntschaft mit Mariannen’s Tagebuche hinlänglich überzeugt, daß diese ältliche Dame die Gräfin Fosco sei.

Die Magd führte mich nach dem Zimmer, welches die Gräfin soeben verlassen hatte. Ich trat ein und stand dem Grafen gegenüber.

Er war noch in seiner Abendtoilette, ausgenommen, daß er seinen Rock ausgezogen und über einen Stuhl geworfen hatte. Seine Hemdärmel waren am Handgelenke umgekrämpt, aber nur wenig. Zur einen Seite von ihm stand ein Nachtsack, zur anderen ein Reisekoffer. Bücher, Papiere und Kleidungsstücke lagen zerstreut im Zimmer umher. Auf einem Tische zur einen Seite der Thür stand eine Pagode, die mir der Beschreibung nach so wohl bekannt war und die seine weißen Mäuse enthielt. Die Canarienvögel und der Kakadu waren wahrscheinlich in einem anderen Zimmer. Als ich eintrat, saß er vor dem Reisekoffer, welchen er packte, und stand mit einigen Papieren in der Hand auf, um mich zu empfangen. Sein Gesicht zeigte noch deutliche Spuren von der Erschütterung, welche ihn in der Oper überwältigt hatte. Seine großen Wangen hingen welk, seine kalten grauen Augen blickten mit verstohlener Wachsamkeit, seine Stimme, sein Blick und sein Wesen waren alle gleich argwöhnisch, als er mir einen Schritt entgegenkam und mich mit zurückhaltender Höflichkeit ersuchte, Platz zu nehmen.

»Sie kommen in Geschäften, Sir?« sagte er. »Ich kann nicht errathen, welcher Art dieselben sein können.«

Die unverhohlene Neugier, mit der er mir, während er sprach, fest ins Gesicht blickte, überzeugte mich, daß er mich in der Oper nicht bemerkt hatte. Er hatte Pesca zuerst erblickt und offenbar von diesem Augenblicke an bis zu dem, wo er das Theater verließ, Nichts weiter gesehen als ihn. Mein Name mußte ihn natürlich darauf gefaßt machen, daß mich kein anderer als ein feindlicher Zweck in sein Haus brachte – aber er schien bis hierher vollkommen im Unklaren über den wirklichen Zweck meines Besuches.

»Ich habe Glück, indem ich Sie heute Abend noch hier finde,« sagte ich; »Sie scheinen im Begriffe zu sein, eine Reise zu machen.«

»Haben Ihre Geschäfte mit meiner Reise zu thun?«

»In gewisser Beziehung, ja.«

»In welcher Beziehung? Wissen Sie, wohin ich reise?«

»Nein. Ich weiß blos, warum Sie London verlassen.«

Er schlüpfte mit Blitzesschnelle an mir vorüber, verschloß die Thür und steckte den Schlüssel in die Tasche.

»Sie und ich, Mr. Hartright,« sagte er, »sind dem Rufe nach sehr wohl mit einander bekannt. Ist es Ihnen zufällig eingefallen, als Sie nach diesem Hause kamen, daß ich nicht ein Mann sei, mit dem Sie Ihr Spiel würden treiben können?«

»Allerdings,« entgegnete ich; »und ich bin durchaus nicht dazu hergekommen. Ich bin hier in einer Sache über Leben und Tod – und wäre jene Thür, die Sie soeben verschlossen haben, offen, so würde mich Nichts, das Sie zu sagen oder zu thun im Stande wären, bewegen können, dieses Zimmer zu verlassen.«

Ich trat weiter in das Innere des Zimmers hinein und stand ihm auf dem Kaminteppiche gegenüber. Er zog einen Stuhl vor die Thür, setzte sich darauf und stützte sich mit einem Arme auf den Tisch. Die Pagode mit den weißen Mäusen stand dicht neben ihm und die kleinen Thierchen stürzten aus ihren Schlafstellen, als sein schwerer Arm den Tisch erschütterte und schauten ihn durch die bunten Drahtstäbe hindurch an.

»In einer Sache über Leben und Tod?« wiederholte er für sich. »Diese Worte bedeuten vielleicht mehr als Sie denken. Was wollen Sie damit andeuten?«

»Was ich sage.«

Dichter Schweiß trat auf seine breite Stirn. Seine linke Hand stahl sich über die Kante des Tisches. Es war eine verschließbare Schublade darin und der Schlüssel steckte im Schlosse. Sein Finger und Daumen faßten den Schlüssel, doch drehte er ihn nicht um.

»Sie wissen also, weshalb ich London verlasse?« fuhr er fort. »Nennen Sie mir gefälligst den Grund.« Während er sprach drehte er den Schlüssel um und öffnete die Schublade.

»Ich kann noch mehr thun, als das,« entgegnete ich; »ich kann Ihnen den Grund zeigen

»Wie können Sie ihn mir zeigen?«

»Sie haben Ihren Rock abgelegt,« sagte ich »Wollen Sie Ihren linken Hemdärmel hinauf ziehen – und Sie werden ihn sehen.«

Dieselbe fahle, bleierne Blässe, die ich schon im Theater auf seinem Gesichte hatte lagern sehen, überzog dasselbe abermals. Das tödtliche Leuchten seiner Augen brannte sich fest und tief in die meinigen. Er sagte Nichts. Aber seine linke Hand zog langsam die Schublade heraus und schlüpfte dann leise hinein. Es ließ sich auf einen Augenblick ein harter, scharrender Ton hören, wie wenn er einen schweren Gegenstand bewegte, den ich jedoch nicht sah. Die Stille, welche folgte, war eine so tiefe, daß ich an der Stelle wo ich stand, deutlich das leise Nagen der kleinen weißen Mäuse an ihren Stäben hören konnte.

Mein Leben hing an einem Faden, und ich wußte es. In diesem entscheidenden Augenblicke dachte ich mit seinem Geiste, fühlte ich mit seinen Fingern – ich wußte so bestimmt, als ob ich es gesehen hätte, was er in der Schublade vor mir versteckt hielt.

»Warten Sie ein wenig,« sagte ich »Sie haben die Thür verschlossen – Sie sehen, daß ich mich nicht rühre – daß meine Hände leer sind. Warten Sie ein wenig. Ich habe Ihnen noch Etwas zu sagen.«

»Sie haben genug gesagt,« entgegnete er mit einer plötzlichen Ruhe, die etwas so Unnatürliches und Gespenstisches hatte, daß sie mich heftiger erschütterte, als der gewaltigste Wuthausbruch gethan haben würde. »Ich brauche noch einen Augenblick für meine eignen Gedanken, wenn Sie ihn mir erlauben wollen. Errathen Sie, woran ich denke?«

»Vielleicht.«

»Ich denke daran,« sagte er mit großer Ruhe, »ob ich die Unordnung in diesem Zimmer noch dadurch vermehren soll, daß ich Ihr Gehirn über den Kamin spritze.«

Ich sah es seinem Gesichte an, daß, falls ich mich in diesem Augenblicke gerührt, er es gethan haben würde.

»Ich rathe Ihnen, ehe Sie sich über diese Frage entschließen, zwei geschriebene Zeilen zu lesen, die ich bei mir trage,« entgegnete ich.

Dieser Vorschlag schien seine Neugierde zu erregen.

Ich nickte mit dem Kopfe. Ich nahm Pesca’s Bescheinigung über den Empfang meines Briefes aus meinem Taschenbuche und hielt ihm dieselbe auf Armlänge hin; dann kehrte ich zu meinem Platze vor dem Kamine zurück.

Er las die Zeilen laut vor: »Ich habe Deinen Brief erhalten. Wenn ich Dich vor der genannten Zeit nicht sehe, werde ich mit dem Glockenschlage das Siegel brechen.«

Für einen anderen Mann in seiner Lage hätten diese Worte einer Erklärung bedurft – bei dem Grafen war eine solche unnöthig. Ein einmaliges Durchlesen des Billets zeigte ihm so deutlich, als wenn er in dem Augenblicke, wo ich sie traf, zugegen gewesen, durch welche Vorsichtsmaßregel ich mich geschützt hatte. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich augenblicklich und seine Hand zog sich leer aus der Schublade zurück.

»Ich verschließe meine Schublade nicht, Mr. Hartright, und ich sage nicht, daß ich nicht doch noch Ihr Gehirn über den Kamin spritzen werde,« sagte er. »Aber ich bin selbst gegen meinen Feind gerecht – und will vorläufig bekennen, daß sein Gehirn klüger ist, als ich es geglaubt hätte. Kommen Sie zur Sache, Sir! Sie verlangen Etwas von mir?«

»Ja, und ich beabsichtige, es zu erhalten.«

»Unter Bedingungen?«

»Ohne Bedingungen.«

Seine Hand fiel wieder in die Schublade.

»Bah! wir machen Umwege, und Ihr kluges Gehirn ist schon wieder in Gefahr. Der Ton, den Sie annehmen, ist von einer beklagenswerthen Unvorsichtigkeit, Sir – mäßigen Sie ihn auf der Stelle! Das Risico, Sie an der Stelle, wo Sie stehen, zu erschießen, ist geringer für mich, als das, Sie lebend aus diesem Hause zu lassen – ausgenommen unter Bedingungen, die ich selbst vorschreiben werde. Sie haben es jetzt nicht mit meinem verstorbenen Freunde zu thun, sondern stehen Fosco gegenüber! Und wenn die Leben von zwanzig Mr. Hartright’s als Stufensteine zu meiner Sicherheit nöthig wären, so würde ich, auf meine erhabene Gleichgültigkeit und meine undurchdringliche Ruhe gestützt, über sie hinwegschreiten. Achten Sie mich, wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist! Ich fordere Sie aus, mir drei Fragen zu beantworten, ehe Sie wieder Ihre Lippen öffnen. Hören Sie sie an – sie sind zu dieser Unterredung nothwendig. Beantworten Sie sie – sie sind mir nothwendig.« Er hielt einen Finger seiner rechten Hand empor »Erste Frage!« sagte er. »Sie kommen hier im Besitze einer Mittheilung, welche wahr oder falsch sein mag – woher haben Sie dieselbe?«

»Ich schlage es aus, die Frage zu beantworten.«

»Einerlei, ich werde es schon erfahren. Wenn diese Mittheilung wahr ist – bemerken Sie wohl, daß ich mit der ganzen Kraft meiner Entschlossenheit sage, wenn – so treiben Sie hier, entweder durch Ihren eignen Verrath oder den Verrath eines anderen Mannes, Ihren Handel damit. Ich mache mir aus diesem Umstande eine Anmerkung in meinem Gedächtnisse, welches Nichts vergißt, für künftigen Gebrauch, und jetzt weiter.« Er hielt einen zweiten Finger empor. »Zweite Frage! Jene Zeilen, die Sie mir zu lesen gaben, sind ohne Unterschrift. Wer hat sie geschrieben?«

»Ein Mann, auf den ich alle Ursache habe mich zu verlassen, den aber Sie alle Ursache haben zu fürchten.«

Meine Antwort traf ihn diesmal ziemlich hart. Seine linke Hand zitterte hörbar in der Schublade.

»Wie lange geben Sie mir Zeit,« frug er, indem er seine dritte Frage in ruhigerem Tone that, »ehe das Siegel mit dem Glockenschlage gebrochen wird?«

»Zeit genug für Sie, um auf meine Bedingungen einzugehen,« entgegnete ich.

»Geben Sie mir eine deutlichere Antwort, Mr. Hartright, welches ist die Stunde, die der Glockenschlag angeben soll?«

»Neun Uhr, morgen früh.«

»Neun Uhr, morgen früh? Ja, ja – Sie haben Ihre Falle wohl angelegt – ehe ich meinen Paß visirt bekommen und London verlassen kann. Ich nehme an, daß es nicht schon früher ist? Doch werden wir darauf sogleich zurückkommen – ich kann Sie als Geißel hier behalten und einen Handel mit Ihnen treffen, daß Sie den Brief holen lassen, ehe ich Sie fort lasse. Inzwischen haben Sie jetzt die Güte, Ihre Bedingungen zu nennen.«

»Die sollen Sie hören. Dieselben sind einfach und bald erklärt. Sie wissen, wessen Interessen ich repräsentire, indem ich hierher komme?«

Er lächelte mit erhabenster Gelassenheit und machte eine nachlässige Bewegung mit der rechten Hand.

»Ich will es zu errathen wagen,« sagte er spöttisch »Die Interessen einer Dame natürlich!«

»Die Interessen meiner Frau.«

Er blickte mir mit dem ersten ehrlichen Ausdrucke, den ich noch bei ihm gesehen, ins Gesicht – einem Ausdrücke des größten Erstaunens. Ich konnte sehen, daß ich in meiner Eigenschaft als gefährlicher Mann von diesem Augenblicke an in seiner Achtung sank. Er schloß sofort die Schublade, faltete die Arme über seine Brust und hörte mich mit einem Lächeln satyrischer Aufmerksamkeit an.

»Sie sind hinlänglich von dem Fortgange meiner Nachforschungen während der letzten Monate unterrichtet,« sagte ich, »um zu wissen, daß jeder Versuch, die einfachen Thatsachen zu läugnen, in meiner Gegenwart vollkommen nutzlos ist. Sie haben sich eines schändlichen Anschlages schuldig gemacht, und der Gewinn eines Vermögens von zehntausend Pfund war der Zweck desselben.«

Er sagte Nichts. Aber über sein Gesicht zog sich eine Wolke finsterer Besorgniß.

»Behalten Sie Ihre Beute,« sagte ich. (Sein Gesicht erhellte sich augenblicklich wieder, und seine Augen öffneten sich in immer größerem Erstaunen.) »Ich bin nicht hergekommen, um mit Ihnen um Geld zu feilschen, das durch Ihre Hände gegangen und der Preis eines schändlichen Verbrechens gewesen –«

»Sachte, Mr. Hartright. Ihre moralischen Gemeinplätze sind bei Ihren Landsleuten von vorzüglicher Wirkung – behalten Sie dieselben gefälligst für sich und für sie. Die zehntausend Pfund waren ein Legat, welches der verstorbene Mr. Fairlie meiner Frau vermacht hatte. Nehmen wir die Sache aus diesem Gesichtspunkte, und ich habe Nichts dawider, sie zu besprechen. Für einen Mann von meinen Gefühlen jedoch ist der Gegenstand ein sehr erbärmlicher.  Ich ziehe vor, ihn fallen zu lassen und fordere Sie auf, die Nennung Ihrer Bedingungen wieder aufzunehmen Was fordern Sie?«

»Ich verlange erstens ein volles Bekenntniß des begangenen Verrathes, von Ihnen selbst in meiner Gegenwart geschrieben und unterzeichnet.«

Er erhob den Finger. »Eins!« sagte er, mich mit der ruhigen Aufmerksamkeit eines practischen Mannes controlirend.

»Zweitens einen klaren Beweis – der nicht von Ihrer persönlichen Behauptung abhängt – von dem Datum, an welchem meine Frau Blackwater Park verließ und nach London reiste.«

»So! so! Ich sehe, Sie sind im Stande, die schwache Stelle herauszufühlen,« bemerkte er mit Gelassenheit »Sonst noch Etwas?«

»Für jetzt Nichts«

»Gut! Sie haben Ihre Bedingungen genannt, jetzt hören Sie die meinigen. Vielleicht ist die Verantwortlichkeit, Das einzuräumen, was Sie ›den Anschlag‹ zu nennen beliebt, eine geringere für mich, als die, Sie dort todt auf den Kaminteppich hinzustrecken. Wir wollen annehmen, daß ich auf Ihren Wunsch eingehe – unter meinen eigenen Bedingungen. Die Angabe, welche Sie von mir verlangen, soll geschrieben, der klare Beweis des Datums geliefert werden. Vermuthlich werden Sie einen Brief von meinem verstorbenen Freunde, von ihm selbst geschrieben, datirt und unterzeichnet, wodurch er mich von dem Tag und der Stunde der Ankunft seiner Frau unterrichtet, einen Beweis nennen? Diesen kann ich Ihnen geben. Ich kann Sie außerdem zu dem Manne schicken, von welchem ich den Wagen miethete, in dem ich meinen Besuch am Tage ihrer Ankunft vor der Eisenbahnstation abholte – sein Bestellungsbuch mag Ihnen vielleicht zu dem Datum verhelfen können, selbst wenn der Kutscher, welcher mich fuhr, Ihnen nicht von Nutzen sein kann. Dies kann ich und will ich thun – unter Bedingungen. Diese sind folgende: Erste Bedingung! Die Gräfin und ich verlassen dieses Haus wann und wie wir wollen, ohne jegliches Hinderniß von Ihrer Seite. Zweite Bedingung! Sie warten hier in meiner Gesellschaft, um meinen Agenten zu sehen, welcher morgen früh um sieben Uhr herkommt, um meine Geschäfte zu ordnen. Sie geben meinem Agenten einen geschriebenen Befehl an den Mann, welcher Ihren versiegelten Brief hat, daß er ihm denselben ausliefere. Sie warten hier, bis der Agent jenen Brief ungeöffnet in meine Hände gegeben hat, und dann geben Sie mir eine gemessene halbe Stunde, um das Haus zu verlassen, worauf Sie dann Ihre Freiheit wieder erhalten und gehen mögen, wohin Sie wollen. Dritte Bedingung! Sie geben mir die Genugthuung eines Gentleman für Ihre Einmischung in meine Privatangelegenheiten und für die Sprache, die Sie sich während dieser Unterredung gegen mich erlaubt haben. Zeit und Ort für das Zusammentreffen sollen Ihnen, sobald ich sicher auf dem Festlande angelangt sein werde, in einem Briefe von meiner Hand mitgetheilt werden, in welchem ich einen Papierstreifen, welcher genau die Länge meines Degens angiebt, beischließen will. Dies sind meine Bedingungen. Sagen Sie mir, ob Sie dieselben eingehen – Ja oder Nein.«

Die merkwürdige Mischung von der schnellen Entschlossenheit, schlauen Berechnung und dem comödiantischen Bombast dieser Rede machte mich einen Augenblick förmlich stutzig – aber nur auf einen Augenblick. Die eine Frage, welche ich zu bedenken hatte, war die, ob ich berechtigt sei, mir die Mittel zu Laura’s Identification auf Kosten des ungestraften Entkommens des Schurken zu verschaffen, welcher sie derselben beraubt hatte. Ich wußte, daß mein Beweggrund, die gerechte Anerkennung meiner Frau in dem Geburtsorte, aus dem sie als Betrügerin vertrieben, zu erlangen und öffentlich die Lüge zu vertilgen, die noch immer den Grabstein ihrer Mutter entweihte, dadurch, daß er von aller bösen Leidenschaft frei, weit reiner war, als der rachsüchtige Beweggrund, welcher sich von Anfang an mit meinem Zwecke verbunden hatte. Und doch kann ich nicht mit Ehrlichkeit sagen, daß meine eignen moralischen Ueberzeugungen stark genug waren, um den Kampf in mir allein zu entscheiden. Es kam ihnen meine Erinnerung an Sir Percival’s Tod zu Hülfe. Auf wie furchtbare Weise war nicht dort das Werk der Vergeltung im letzten Augenblicke aus der Hand gerissen worden! Welches Recht hatte ich in meiner kleinen, sterblichen Unkenntniß der Zukunft anzunehmen, daß auch dieser Mensch ungestraft entgehen müsse, weil er mir entging. Ich dachte an diese Dinge – vielleicht mit dem mir innewohnenden Aberglauben; vielleicht aber auch mit einem Gefühle, das meiner würdiger war, als bloßer Aberglaube. Es war hart, jetzt, da ich ihn endlich gefaßt hielt, ihn freiwillig wieder los zu lassen – doch überwand ich mich, das Opfer zu bringen. Mit deutlicheren Worten, ich beschloß, mich durch den einen höheren Beweggrund leiten zu lassen, dessen ich gewiß war, den nämlich, Laura’s Sache und der Sache der Wahrheit zu dienen.

»Ich nehme Ihre Bedingungen an,« sagte ich, »doch mit einem Vorbehalte auf meiner Seite.«

»Welcher Vorbehalt mag dies sein?« frug er.

»Derselbe betrifft den versiegelten Brief,« entgegnete ich. »Ich verlange, daß Sie ihn ungeöffnet in meiner Gegenwart vernichten, sobald er in Ihre Hände gegeben sein wird.«

Der Zweck dieser meiner Bedingung war einfach der, ihn zu verhindern, geschriebenes Zeugniß von der Beschaffenheit meiner Mittheilungen an Pesca mit sich zu nehmen. Das Factum derselben mußte er nothwendigerweise am nächsten Morgen erfahren, wo ich dem Agenten die Adresse geben würde. Doch konnte er auf seine alleinige Angabe keinen Gebrauch davon machen – selbst wenn er das Experiment zu machen wagte – welcher mir für Pesca die geringsten Befürchtungen zu verursachen gebraucht hätte.

»Ich lasse Ihren Vorbehalt gelten,« entgegnete er, nachdem er ungefähr eine Minute lang ernstlich überlegt. »Die Sache ist keines Streites werth – der Brief soll vernichtet werden, sowie er meinen Händen übergeben wird.«

Während er noch sprach, erhob er sich von dem Platze, den er mir gegenüber bis zu diesem Augenblicke eingenommen hatte. Mit einer einzigen Anstrengung schien er den Druck, welcher während unserer ganzen Unterredung auf seinem Geiste gelastet, von sich abzuwälzen. »Puh!« rief er, indem er voll Behagen die Arme streckte, »das Scharmützel war heiß, so lange es währte. Nehmen Sie Platz, Mr. Hartright. Wir werden einander später als tödtliche Feinde gegenüberstehen – lassen Sie uns bis dahin die höflichen Aufmerksamkeiten wohlgesitteter Ehrenmänner austauschen. Erlauben Sie, daß ich mir die Freiheit nehme, meine Frau zu rufen.«

Er öffnete die Thür. »Eleanor!« rief er mit seiner tiefen Stimme. Die Dame mit dem Natterngesichte kam herein. »Die Gräfin Fosco – Mr. Hartright,« sagte der Graf, uns mit würdevoller Unbefangenheit einander vorstellend. »Mein Engel,« fuhr er zu seiner Gemahlin gewendet fort, »wird Deine Beschäftigung des Einpackens Dir vielleicht Zeit gestatten, mir einen schönen, starken Kaffee zu machen. Ich habe Schreibegeschäfte mit Mr. Hartright – und bedarf des vollen Besitzes all meiner Geisteskräfte, um ersteren gerecht werden zu können.«

Die Gräfin verneigte zweimal den Kopf – einmal strenge gegen mich und das zweitemal in Unterwürfigkeit gegen ihren Gemahl und glitt dann aus dem Zimmer.

Der Graf ging an einen Schreibtisch am Fenster, öffnete sein Schreibepult und nahm mehrere Buch Papier und ein Paquet Gänsefedern heraus. Er streute die Federn über den Tisch, so daß sie nach allen Richtungen hin bereit lagen, wie er ihrer bedürfen möge, und zerschnitt dann das Papier in einen Haufen schmaler Streifen von der Gestalt, wie sie von Schriftstellern für den Druck gebraucht werden.

»Ich werde hieraus ein außerordentliches Document machen,« sagte er, mich über die Schulter hinweg anblickend. »Ich bin vollkommen mit literarischen Arbeiten vertraut. Eins der seltensten Geistestalente, die ein Mann besitzen kann, ist die großartige Fähigkeit, seine Gedanken zu ordnen. Ein ungeheurer Vorzug! Ich besitze ihn. Sie ebenfalls?«

Er ging, bis der Kaffee kam, im Zimmer auf und ab, indem er vor sich hin summte und die Stellen, wo ihm beim Ordnen seiner Gedanken Hindernisse aufstießen, dadurch markirte, daß er sich mit der Handfläche vor die Stirne schlug. Die ungeheure Frechheit, mit der er die Situation ergriff, in die ich ihn versetzt hatte, und aus ihr das Piedestal machte, das seine Eitelkeit zu dem geliebten Zwecke zur Schaustellung seiner selbst bestieg, bemeisterte sogar mein Erstaunen. So tiefen Widerwillen ich auch gegen den Mann hegte, machte doch die wunderbare Kraft seines Charakters, selbst unter ihrem unbedeutendsten Anblicke, wider meinen Willen tiefen Eindruck auf mich.

Die Gräfin selbst brachte den Kaffee. Er küßte ihr in dankbarer Höflichkeit die Hand und begleitete sie dann zur Thür; darauf kehrte er zurück, schenkte eine Tasse Kaffee für sich ein und trug sie auf seinen Schreibtisch.

»Darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee anbieten, Mr. Hartright?« frug er, ehe er sich setzte.

Ich dankte.

»Wie! Sie glauben, ich werde Sie vergiften?« sagte er munter. »Der englische Verstand ist gesund, soweit er geht,« fuhr er fort, während er sich an seinem Tische zurechtsetzte; »aber er hat einen bedeutenden Fehler: er ist stets am unrechten Orte vorsichtig.«

Er tauchte seine Feder in die Tinte, legte einen Streifen des Papiers mit einem Schlage der Hand vor sich auf das Pult, räusperte sich und begann. Er schrieb mit großem Geräusche und großer Schnelligkeit in einer so großen, kühnen Handschrift und so gesperrten Zeilen, daß er in kaum zwei Minuten, nachdem er angefangen, am Ende der Seite angelangt war. Jeden Streifen warf er, nachdem er damit fertig war und ihn numerirt hatte, über seine Schulter auf den Boden. Als er seine erste Feder abgenutzt hatte, flog auch diese über seine Schulter, und er ergriff eine andere von dem zerstreut umherliegenden Paquete. Ein Streifen nach dem andern, zu Dutzenden, zu Funfzigen, zu Hunderten flogen zu beiden Seiten von ihm über seine Schultern, bis er sich rund umher in Papier eingeschneiet hatte. Eine Stunde verging nach der anderen – und da saß ich und wartete; da saß er und schrieb. Er machte keine Pausen, ausgenommen um seinen Kaffee zu schlürfen, und als dieser zu Ende war, um sich von Zeit zu Zeit mit der Hand vor die Stirne zu schlagen. Es schlug ein Uhr – zwei, drei, vier – und immer noch flogen die Streifen um ihn her, noch immer kratzte die unermüdliche Feder ihren Weg über die Seiten fort, und immer höher stieg das weiße Papierchaos um seinen Stuhl. Um vier Uhr hörte ich ein plötzliches Spritzen der Feder, welches den Schnörkel verkündete, mit dem er– seinen Namen unterzeichnete. »Bravo!« rief er aus, indem er mit der Leichtigkeit eines jungen Mannes aufsprang und mir mit einem Lächeln süperben Triumphes ins Gesicht sah.

»Fertig, Mr. Hartright!« rief er aus, indem er sich mit der Faust auf die breite Brust schlug »Fertig zu meiner eigenen höchsten Genugthuung – zu Ihrem höchsten Erstaunen, wenn Sie lesen werden, was ich geschrieben habe. Der Gegenstand ist erschöpft: der Mann – Fosco – nicht. Jetzt ans Ordnen, Lesen und Revidiren meiner Streifen – die emphatisch für Ihr Auge allein bestimmt sind. Gut! Das Ordnen, Lesen und Revidiren – von Vier bis Fünf. Ein kurzer Schlummer zu meiner Stärkung – von Fünf bis Sechs. Letzte Reisevorkehrungen·– von Sechs bis Sieben. Geschäfte mit dem Agenten und wegen des versiegelten Briefes von Sieben bis Acht. Um acht Uhr en route. Das Programm – le voilà!«

Er setzte sich mit übereinandergeschlagenen Beinen zu seinem Papiere auf den Fußboden, zog die Streifen mit einer Schnürnadel auf ein Band, corrigirte sie, schrieb alle Titel und Ehren, durch die er persönlich ausgezeichnet war, oben über die erste Seite und las mir das Manuscript dann mit lauter, theatralischer Emphase und vielfältigen theatralischen Gesten vor. Der Leser wird in Kurzem Gelegenheit haben, sich seine eigene Ansicht über das Actenstück zu bilden Genüge es hier, nur zu erwähnen, daß es meinem Zwecke entsprach.

Er schrieb mir zunächst die Adresse des Mannes auf, von dem er den Wagen gemiethet hatte, und gab mir Sir Percival’s Brief. Derselbe war aus Hampshire und den 25. Juli datirt und kündigte Lady Glyde’s Abreise nach London auf den 26. an. Demnach also war sie an demselben Tage, an dem des Arztes Certificat sie als in St. John’s Wood verstorben erklärte, nach Sir Percival’s eigenem Beweise lebend in Blackwater – und sollte am folgenden Tage eine Reise antreten! Sobald ich den Beweis dieser Reise von dem Lohnkutscher würde erhalten haben, sollten also jetzt meine Beweise vollständig sein.

»Ein Viertel nach Fünf,« sagte der Graf, auf seine Uhr blickend. Es wird Zeit zu meinem Stärkungsschlummer. Sie haben vielleicht meine persönliche Aehnlichkeit mit Napoleon dem Großen bemerkt, Mr. Hartright– ich gleiche aber dem großen Manne auch noch in der Fähigkeit, nach Willen über meinen Schlaf zu verfügen. Entschuldigen Sie mich einen Augenblick. Ich will die Gräfin bitten, Sie vor Langerweile zu bewahren.«

Da ich so gut wie er wußte, daß er die Gräfin nicht zu meiner Unterhaltung herbeirief, sondern damit sie es verhindere, daß ich das Haus verließe, erwiderte ich Nichts und beschäftigte mich mit dem Zusammenbinden der Papiere, welche er mir eingehändigt hatte.

Die Dame kam herein – kühl, bleich und giftig wie immer. »Unterhalte Mr. Hartright, mein Engel,« sagte der Graf. Dann reichte er ihr einen Stuhl, küßte ihre Hand zum zweitenmale, zog sich nach dem Sopha zurück und schlief in drei Minuten so friedlich und glücklich, wie der tugendhafteste Mensch von der Welt.«

Die Gräfin nahm ein Buch vom Tische, setzte sich und blickte mich mit der ruhigen, rachsüchtigen Bosheit einer Frau an, die nie wieder vergißt noch vergiebt.

»Ich habe Ihre Unterhaltung mit meinem Gemahle angehört,« sagte sie. »Wäre ich an seiner Stelle gewesen, so hätte ich Sie todt auf den Kaminteppich hingestreckt.«

Mit diesen Worten öffnete sie ihr Buch, und von diesem Augenblicke bis zu dem Augenblicke, wo ihr Mann erwachte, sah sie mich weder an, noch sprach sie wieder ein Wort zu mir.

Genau eine Stunde, nachdem er sich zum Schlafen niedergelegt, öffnete er die Augen und erhob sich vom Sopha.

»Ich fühle mich unbeschreiblich erquickt,« bemerkte er. »Eleanor, mein gutes Weib, bist Du oben ganz fertig? Das ist recht. Mein Bischen Packen hier kann in zehn Minuten fertig – und ich in noch zehn Minuten zur Reise gerüstet sein. Was ist noch zu thun, ehe der Agent kommt?« Er schaute sich im Zimmer um und erblickte den Käfig mit den weißen Mäusen. »Ach!« rief er aus; »es bleibt mir noch ein letztes Zerreißen meiner Gefühle übrig. Meine unschuldigen Lieblinge! meine geliebten kleinen Kinder! Was soll ich mit ihnen anfangen? Für’s Erste haben wir nirgends einen festen Wohnort, wir werden unaufhörlich reisen und je weniger Gepäck wir bei uns führen, desto besser für uns. Mein Kakadu, meine Canarienvögel und meine weißen Mäuse – wer wird sie pflegen, wenn ihr guter Papa ferne von ihnen ist?«

Er ging in tiefen Gedanken im Zimmer auf und ab. Er war beim Aufschreiben seines Bekenntnisses keinen Augenblick in Verlegenheit gewesen; aber die weit wichtigere Frage der Art und Weise, wie er über seine Lieblingsthiere verfügen solle, verursachte ihm ernstliches Nachdenken. Nach langer Ueberlegung setzte er sich endlich wieder an den Schreibtisch

»Ich habe einen Gedanken!« rief er aus. »Ich will meinen Kakadu und meine Canarienvögel dieser großen Hauptstadt zum Geschenk machen – mein Agent soll sie in meinem Namen dem Präsidenten des Thiergartens übergeben, und ich will sofort das ›Instrument‹ ihrer Beschreibung aufsetzen.«

Er fing an zu schreiben, wobei er die Worte laut wiederholte, wie sie aus seiner Feder flossen.

»Numero Eins. Kakadu, von strahlendem Gefieder: allein fähig, ein ganzes Publikum von Geschmack anzuziehen. – Numero Zwei. Canarienvögel von beispielloser Lebhaftigkeit und Klugheit: würdig des Gartens des Paradieses und würdig des Gartens im Regent’s Park. Huldigung der Zoologie. Dargeboten von Fosco

Die Feder spritzte abermals, und der Schnörkel um die Unterschrift war gemacht.

»Graf! Du hast die Mäuse ausgelassen,« sagte die Gräfin.

Er verließ den Tisch, nahm ihre Hand und legte sie auf sein Herz.

»Alle menschliche Entschlossenheit hat ihre Grenzen, Eleanor,« sagte er. »Meine Grenzen stehen in jenem Documente geschrieben. Ich kann mich von meinen weißen Mäusen nicht trennen. Habe Nachsicht mit mir, mein Engel, und nimm sie mit hinauf in ihren Reisekäfig.«

»Bewunderungswürdige Zärtlichkeit,« sagte die Gräfin, ihren Gemahl anstaunend, und mit einem letzten Natternblicke in meine Richtung. Sie nahm den Käfig vorsichtig auf und verließ das Zimmer.

Der Graf sah auf seine Uhr. Ungeachtet seiner festen Entschlossenheit, seine Fassung zu behalten, schien er doch mit Unruhe der Ankunft des Agenten entgegen zu sehen. Die Lichter waren längst ausgelöscht worden, und das Sonnenlicht des neuen Morgens ergoß sich ins Zimmer. Es war bereits fünf Minuten nach sieben Uhr, als man am Gartenpförtchen schellen hörte und der Agent anlangte. Er war ein Ausländer, mit einem dunklen Barte.

»Mr. Hartright – Monsieur Rubelle,« sagte der Graf, uns einander vorstellend. Er nahm den Agenten (dem man in jedem Zuge des Gesichtes den Spion ansah) in einen Winkel des Zimmers, flüsterte ihm einige Verhaltungsbefehle zu und verließ uns dann. Monsieur Rubelle bat mich, sobald wir allein waren, mit ausgesuchtester Höflichkeit, ihm seine Instructionen zu geben. Ich schrieb zwei Zeilen an Pesca, welche ihn autorisirten, »dem Ueberbringer« den versiegelten Brief auszuhändigen; dann adressirte ich das Billet und gab es Monsieur Rubelle.

Der Agent blieb bei mir, bis sein Vorgesetzter – in Reisekleidern – wieder zu uns hereinkam. Der Graf betrachtete die Adresse des Briefes, ehe er den Agenten entließ. »Ich dachte es mir!« sagte er, sich mit einem finsteren Blick gegen mich wendend, und veränderte sein Benehmen gegen mich sofort wieder.

Er machte sein Gepäck fertig und setzte sich dann, um eine Reisecarte zu studiren, wobei er Anmerkungen in sein Tagebuch schrieb und von Zeit zu Zeit ungeduldig nach seiner Uhr sah. Er sprach kein Wort wieder zu mir. Der nahe Augenblick seiner Abreise und der Beweis, den er gesehen hatte, von der Verbindung zwischen Pesca und mir, hatten offenbar seine Aufmerksamkeit wieder ganz auf die Masregeln gelenkt, welche zu seiner Flucht nothwendig waren.

Kurz vor acht Uhr kehrte Monsieur Rubelle mit meinem uneröffneten Briefe zurück. Der Graf betrachtete aufmerksam Siegel und Adresse – zündete ein Licht an– und verbrannte den Brief. »Ich erfülle mein Versprechen, Mr. Hartright,« sagte er, »aber die Sache ist hiermit nicht zu Ende.«

Der Agent hatte den Fiaker, in welchem er zurückgekehrt war, vor dem Hause warten lassen. Er und die Magd beschäftigten sich jetzt, das Gepäck aufzuladen. Die Gräfin kam dicht verschleiert und mit dem Käfige, der die weißen Mäuse enthielt, von oben herunter. Sie sprach weder zu mir, noch sah sie mich an. Ihr Gemahl führte sie an den Fiaker. »Folgen Sie mir bis in den Gang,« flüsterte er mir ins Ohr, »ich mag Ihnen im letzten Augenblicke noch Etwas zu sagen haben.«

Ich ging bis an die Hausthür, und der Agent stand vor mir im Vordergarten. Der Graf kam allein zurück und zog mich ein paar Schritte in den Gang hinein.

»Denken Sie an meine dritte Bedingung!« flüsterte er. »Sie sollen von mir hören, Mr. Hartright – ich mag vielleicht früher, als Sie es denken, die Genugthuung eines Gentleman von Ihnen fordern.« Er ergriff, ehe ich dergleichen noch ahnen konnte, meine Hand und drückte sie fest – dann wandte er sich zur Thür, stand still und kam nochmals zurück zu mir.

»Noch ein Wort,« sagte er vertraulich; »als ich Miß Halcombe zum letzten Male sah, schien sie mir blaß und elend auszusehen. Ich bin besorgt um jenes bewunderungswürdige Weib. Sorgen Sie für ihre Gesundheit, Sir! Mit der Hand auf dem Herzen flehe ich Sie feierlich an, für Miß Halcombe’s Wohl zu sorgen!«

Dies waren seine letzten Worte zu mir, bevor er seinen ungeheuren Körper in den Fiaker klemmte und davonfuhr.

Der Agent und ich warteten ein paar Minuten an der Thüre und sahen ihm nach. Während wir dastanden, kam ein zweiter Fiaker um eine Ecke etwas weiter den Weg hinabgefahren. Derselbe folgte dem Fiaker des Grafen; und als er an dem offnen Gartenpförtchen vorbeikam, schaute der Darinsitzende zu uns heraus. Wieder der Fremde von der Oper – der Ausländer mit der Narbe auf der linken Wange.

»Sie werden noch eine halbe Stunde länger mit mir hier warten, Sir!« sagte Monsieur Rubelle.

»Ja·«

Wir kehrten ins Wohnzimmer zurück. Ich war nicht in der Stimmung, mit dem Agenten zu sprechen oder ihn mit mir sprechen zu lassen. Ich nahm die Papiere heraus, welche der Graf mir übergeben hatte und las die furchtbare Geschichte des Anschlages, wie der Mann, welcher ihn erdacht und ausgeführt, sie aufgeschrieben hatte.


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