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Herz und Wissen



Capitel XLVII.

Die Verleumdung, von welcher Mrs. Gallilee die Trennung Ovids und Carmina’s erhofft hatte, war jetzt eine wirkliche Verleumdung auf Grund unwiderlegbarer Beweise. Und der Mann, dessen Bemühungen diesen Ausgang erzielt hatten, war ihr eigener Rechtskonsulent, derselbe, den sie für die Geltendmachung jener Vormundschaftsrechte zu gewinnen gedacht hatte, welchem Teresa so kühn zu trotzen gewagt. Die Beziehungen zwischen ihr und Mr. Mool waren gelöst.

Da lag sie nun, hilflos und ihr Ansehen vernichtet, sie selbst das Opfer eines brutalen Ueberfalls, nur von dem einen Gedanken Beherrscht, zu handeln, sich zu rächen, und doch nicht im Stande, sich zu erheben, ihre Macht geltend zu machen; und Niemand ihr zur Seite, der für sie einträte, keinen Verbündeten, der ihren Zwecken diente.

Mit einer Entschlossenheit, wie nur die Verzweiflung sie giebt, sprang sie auf ihre Füße, um gleich darauf wieder halb ohnmächtig auf das Sopha zurückzusinken. Ihr Muth versagte, Alles drehte sich mit ihr, und erst als sie wieder ihre ruhende Stellung eingenommen, ließ der Schwindel nach. Sie vermochte jetzt, die Tischglocke neben sich in Bewegung zu setzen.

»Schicke sogleich nach Mr. Nul1,« sagte sie zu dem eintretenden Mädchen. »Wenn er nicht zu Hause ist, soll der Bote ihn aufsuchen, wo immer er auch sei.«

Der Bote kehrte mit einem Briefe zurück.

Mister Null, hieß es darin, würde sobald als möglich bei Mrs. Gallilee vorsprechen, momentan sei er noch von Miß Carmina in Anspruch genommen.

Damit war Mrs. Gallilee’s letzter Rest von Willenskraft gebrochen. Die Dienste ihres eigenen ärztlichen Rathgebers gehörten erst dann ihr, wenn Carmina deren nicht mehr bedurfte! Und noch besser, aus demselben Briefe starrte ihr die Adresse entgegen, nach der sie so lange vergebens geforscht hatte. Kaum fünf Minuten hatte sie bis nach dem Hause; und sie nicht im Stande, nur das Zimmer zu durchkreuzen! Zum ersten Mal in ihrem Leben drängte sich ihr die garstige Frage auf: »Wo finde ich Jemand, der mir hilft?«

Man klopfte an die Thür.

»Wer ist da?« rief sie.

Joseph antwortete von draußen:

»Mr. Le Frank ist da, Madame, und fragt, ob er zu Ihnen kann.«

Sie gönnte sich keine Ueberlegung. Sie schickte nicht einmal nach ihrem Mädchen, um nach ihrer Toilette zu sehen. Die Furcht vor ihrer eigenen Hilflosigkeit jagte sie vorwärts. Da war der Mann, dessen rechtzeitiger Verrath Carmina’s, sie, die schon halb fort war, auf ihrem Weg zu Ovid abgefaßt und zurückgebracht hatte; da war das stumme Werkzeug ihres Willens!

»Ich werde Mr. Le Frank empfangen,« rief sie. »Führe ihn herauf!«

Der Musiklehrer blickte sich zuerst in dem matt erhellten Zimmer um und verneigte sich dann gegen die auf dem Sopha kauernde Gestalt.

»Ich fürchte, ich störe Sie zu einer sehr unangemessenen Stunde, Madame.«

»Ich leide, bin krank, Mr. Le Frank, aber doch im Stande, Sie zu empfangen —— wie Sie sehen.«

Damit schwieg sie.

Jetzt, wo er ihr gegenüberstand, wo sie ihn sah und hörte, regte sich etwas wie Zweifel an ihm in ihrem Herzen; und jetzt, wo es zum Widerstand zu spät war, machte sie einen letzten schwachen Versuch, gegen ihn auf ihrer Hut zu sein. Welch ein Abfall von Energie (das fühlte sie jetzt selbst) in diesem Weib, welches sonst, kampfbereit und entschlossen, vor keiner Möglichkeit zurückbebte!

»Welchem Umstande verdanke ich die Ehre Ihres werthen Besuches?« nahm sie wieder das Wort.

Selbst ihre Stimme versagte ihr; sie zitterte, trotz ihrer Bemühungen, sie kalt und ruhig erscheinen zu lassen.

Mr. Le Frank hatte sich bereits gefaßt. Seine Eitelkeit schmeichelte ihm mit der ermuthigenden Einbildung, daß Mrs. Gallilee sich vor ihm fürchte.

»Ich möchte gern wissen, wie Sie von mir denken,« sagte er in Beantwortung ihrer Frage. »Wenige Stunden früher habe ich mir erlaubt, ein paar Zeilen von meiner Hand mit beigeschlossenem Brief und —— dem Ausdruck meiner Hochachtung hier abzugeben. Haben Sie den Brief empfangen?«

»Ja.«

»Gelesen?«

Mrs. Gallilee zögerte mit der Antwort. Mr. Le Frank lächelte still.

»Ich werde Sie um keine mehr direkte Antwort bemühen, Madame,« sagte er. »Ich will offen sein. Haben Sie die Güte, mir ohne Rückhalt zu sagen, wer ich in Ihren Augen bin —— ein Mann, der mit der Unterschlagung eines Briefes sich entehrt hat oder ein Mann, der sich durch einen Ihnen geleisteten Dienst Anspruch auf Ihre Anerkennung erworben hat?«

Eine unangenehme Fragestellung, sehr fein definiert! Mrs. Gallilee's Aufgabe war es nun, Mr. Le Frank zu verleugnen oder ihn —— zu gebrauchen. Sie konnte sich zu keinem Urtheil aufraffen; der bloße Versuch einer Entscheidung irritierte und ermüdete sie. Sie konnte die Situation wohl überblicken und sie vermochte auch zu erkennen, daß Unterwerfung das Leichteste sei, um sich daraus zu befreien. Ein gemeiner Schurke war mit ihrem eigenen freien Willen zu einer geheimen Besprechung mit ihr zugelassen worden. Warum ihn sich hiernach noch zum Feinde machen? Warum sich seiner nicht bedienen? Noch einmal bestimmte sie das unerträgliche Gefühl ihrer Hilflosigkeit.

»Ich kann nicht leugnen, daß Sie mir einen Dienst erwiesen haben,« sagte sie mit einer Art ruhiger Ergebenheit.

Er erhob sich, um das ihm bewiesene Vertrauen in der generösesten Weise zu erwidern, das heißt, um seine wohl studierte Verbeugung von vorhin zu wiederholen.

»Wir verstehen einander,« sagte er und —— setzte sich nieder. »Wenn ich Ihnen noch ferner dienen kann, Madame; etwa indem ich Ihre Nichte weiter bewache —— verfügen Sie über mich.«

»Sprechen Sie so aus Anhänglichkeit gegen mich, Mr. Le Frank?«

»Meine Anhänglichkeit an Sie könnte eines Tages versagen,« erwiderte er dreist. »Dagegen können Sie sich versichert halten, daß meine Gefühle gegen Ihre Nichte immer dieselben bleiben werden. Ich vergesse niemals eine Beleidigung. Darf man so indiskret sein, zu fragen, wie Sie beabsichtigen, Miß Carmina davon zurückzuhalten, daß sie ihrem Geliebten nach Quebec folgt? Hat auch ein Vormund das Recht, ein junges Mädchen in ihrem Zimmer gefangen zu setzen?«

Mrs. Gallilee empfand die versteckte Familiarität dieser Fragen, sehr sorgfältig versteckt in den Falten tiefster Ehrfurcht, die er dabei in seine Miene legte.

»Meine Nichte weilt nicht länger in meinem Hause,« war die in kaltem Tone gegebene Antwort. »Fortgegangen?« schrie Mr. Le Frank auf.

»Verzogen,« verbesserte sie und ließ den Gegenstand da fallen.

Mr. Le Frank nahm den Gegenstand da wieder auf. »Verzogen,« wiederholte er, »doch wohl unter der Fürsorge und Begleitung ihrer Amme vermuthlich?«

Die Amme? Was wußte er von der Amme ——?

»Darf ich fragen ——« begann Mrs. Gallilee.

Ein nachsichtiges Lächeln umkräuselte seine Lippen.

»Sie sind nicht mehr dieselbe, die Sie waren,« unterbrach er sie. »Gestatten Sie mir die bescheidene Erinnerung, daß Ihrer Nichte Brief an Mr. Ovid Vere ausführlich ist; ich habe mir die Freiheit genommen, ihn zu lesen, ehe ich ihn hier für Sie abgab.«

Mrs. Gallilee hörte ihm schweigend zu; sie fühlte, daß sie einen zweiten Fehler begangen habe. Sie hatte es sorgfältig vermieden, einen Mann ins Vertrauen zu ziehen, der jetzt schon um alle ihre Geheimnisse wußte! Mr. Le Franks höfliche Theilnahme hielt ihn ab, die bevorzugte Stellung, die er jetzt inne hatte, im eigenen Interesse auszudeuten.

»Ich werde mir zu gelegenerer Stunde die Ehre geben,« sagte er, »wenn Sie meine bescheidenen Dienstanerbietungen besser zu würdigen in der Lage sein werden. Ich möchte Ihnen durchaus nicht lästig fallen, Mrs. Gallilee, nicht um die Welt! Gestatten Sie mir gütigst nur noch eine Frage, die eben keinen Aufschub leidet. Hat Miß Carmina, als sie ihr Haus verließ, Schreibmappe und Schlüssel mitgenommen?«

»Nein.«

»Gestatten Sie mir zu bemerken, daß sie jeden Augenblick danach schicken kann.«

Ehe sie noch nach einer Erklärung fragen konnte, erschien Joseph wieder. Mr. Null wartete unten.

Mrs. Gallilee bestimmte, daß er auf ein Klingelzeichen zu ihr gelassen werden sollte.

Kaum waren sie allein, so näherte sich Mr. Le Frank noch einmal rasch dem Sopha und sagte:

»Mrs. Gallilee, jene Papiere Ihrer Nichte könnten Mittheilungen enthalten, die für Sie von der allerhöchsten Wichtigkeit sind. Wer weiß, was für Korrespondenzen da geführt werden, in welche die Amme und die Gouvernante verwickelt sind. Nachdem wir schon einen Brief aufgefangen haben, wäre es Thorheit, noch länger zögern zu wollen. Sie selbst sind einer solchen Aufgabe nicht gewachsen. Ich kenne das Zimmer. Fürchten Sie keine Entdeckung. Mein Tritt ist von Natur leicht und —— wenn noch Jemand einen solchen leichten Tritt hat, so weiß ich mich schon zu entschuldigen. Ueberlassen Sie Alles mir.«

Während er sprach, hatte er ein Licht angezündet. Wäre es nicht um seine Erinnerung an die Amme gewesen, sie würde ihm befohlen haben, es wieder auszulöschen.

»Ich werde morgen wiederkommen,« sagte er, ohne ihre Antwort abzuwarten, und dann stahl er sich leise hinaus.

Als Mr. Null gemeldet wurde, entfernte Mrs. Gallilee den verdunkelnden Schirm von der Lampe. Sie hatte ihre ganz besonderen Gründe für die Erzielung einer größeren Helligkeit im Zimmer.

Mr. Null erschien.

Sein schüchterner Blick, seine offenbare Zerstreutheit beim Vortragen der konventionellen Entschuldigungen, verriethen Mrs. Gallilee sogleich, daß Teresa gesprochen habe, und daß er wisse, was vorgefallen. Er selbst war nie so aufmerksam und sanft gewesen. Er fühlte den Puls, nahm Kenntniß von der Temperatur und schrieb sein Rezept, ohne auch nur nach dem Grunde oder der Veranlassung der bedauerlichen Veränderung zu fragen. Er hatte gar nicht mehr daran gedacht, oder schwieg er aus Furcht?

Mrs Gallilee folgte allen seinen Bewegungen mit tiefstem Schweigen.

»Kann ich noch in etwas dienen?« fragte er.

»Sie können mir wohl sagen,« erwiderte sie, »wann ich wieder hergestellt sein werde.«

Mr. Null war höflich; Mr. Null war theilnehmend. Mrs. Gallilee könnte wohl in ein, zwei Tagen wieder gesund sein; es könnte aber auch sein, daß Mrs. Gallilee unglücklicher Weise noch etwas länger an ihr Zimmer gefesselt bleiben würde. Er erhoffe das Beste von seiner Medizin und erhoffe das Beste von gänzlicher Ruhe und Zurückgezogenheit. Es würde sich sehr empfehlen, sich gleich niederzulegen; er würde nicht versäumen, am nächsten Morgen mit dem Frühesten wieder da zu sein.

»Nehmen Sie noch auf einen Augenblick Platz,« nöthigte Mrs. Gallilee.

Mr. Null wechselte die Farbe und gehorchte. Er wußte schon, was kommen würde.

»Sie haben Miß Carmina behandelt. Welcher Art ist ihre Krankheit?«

Mr. Null begann sehr weitschichtig: »Der Fall erregt unsere allergrößte Befugniß. Schwierige Verwickelungen. Selbst Doktor Benjulia ——«

»Gerade heraus, Mr. Null, kann sie fortgebracht werden?«

Das trieb zu einer entscheidenden Antwort.

»Ganz unmöglich.«

Sie wagte ihre nächste Frage erst nach einer Pause, in der sie ihre ganze Selbstbeherrschung zu gewinnen strebte.

»ist jene Ausländerin, die Amme —— die einzige Amme bei ihr?«

»O, erwähnen Sie ihrer nicht, Mrs. Gallilee! Ein schreckliches Weib; roh, jähzornig, eine ganze Wilde. Als ich eine zweite Amme in Vorschlag brachte ——«

»Ich verstehe. Sie fragten mich eben, ob Sie mir noch in etwas dienen können. Sie können mir sogar einen großen Dienst erweisen. Nennen Sie mir einen vertrauenswürdigen Advokaten.

Dies frappierte Mr. Null. Als alter Familienarzt war er mit dem Rechtskonsulenten bekannt. Er nannte deshalb Mr. Mool.

»Mr. Mool hat mein Vertrauen verwirkt,« bemerkte Mrs. Gallilee entschieden. »Können Sie mir einen Advokaten empfehlen oder nicht?«

»O, sicherlich; meinen eigenen.«

»Sie finden Alles auf dem Tisch da hinter mir. Ich werde Sie kaum fünf Minuten in Anspruch nehmen. Ich bitte, freundlichst nach meinem Diktat schreiben zu wollen.«

»Aber theure Lady, in Ihrem Zustande ——«

»Erfüllen Sie meinen Wunsch! Ich bin ruhig genug und mein Kopf ist klar. Selbst eine Frau in meinem Zustande kann ihrem Willen Ausdruck geben. Ich werde heute Nacht kein Auge zuthun, wenn ich mir nicht sagen kann, daß jenes elende Weib durch mich in ihre Schranken verwiesen ist. Wer sind Ihre gesetzlichen Rathgeber?«

Mr. Null nannte die Namen und ergriff die Feder.

»Beginnen Sie in der gewöhnlichen Form,« fuhr Mrs. Gallilee fort, »und» verweisen Sie dann die Advokaten auf meines Bruders Testament. ist das fertig?«

Es war fertig.

»Sagen Sie ihnen dann, wie meine Nichte von mir fort und wohin sie genommen wurde.«

Herr Null gehorchte.

»Nun also,« sagte Mrs. Gallilee, »schreiben Sie, wag ich zu thun gedenke!«

Die Aussicht sich an Teresa gerächt zu sehen, ließ sie neu aufleben. Für den Augenblick wenigstens sah sie beinahe wieder wie ihr altes Selbst aus.

Mr. Null wandte ein neues Blatt um und seine Hand zitterte ein wenig. Die diktierende Stimme sprach folgende Worte:

»Ich verbiete der Person Teresa bei Miß Carmina ferner als Pflegerin zu fungieren oder auch nur das Zimmer zu betreten, in welchem diese junge Dame jetzt krank liegt. Außerdem lasse ich diese Person wissen, daß meine Nichte wieder meiner Pflege zurückgegeben werden wird, sobald der Arzt ihren Transport gestattet. Und ich verlange, daß meine Sachwalter meine Autorität als Vormünderin morgen früh geltend machen.«

Mr. Null beendete den Brief in stiller Verzweiflung, zog sein Taschentuch hervor und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Ist solch’ schreckliche Anstrengung erforderlich, diese paar Worte zu sagen —— zu einem so entkräfteten Geschöpf wie ich jetzt bin?« fragte Mrs. Gallilee bitter. »Lassen Sie mich hören, daß die Sachwalter ihre Instruktion erhalten haben, wenn Sie morgen zu mir kommen, und bringen Sie mir die Adresse einer empfehlenswerthen Krankenpflegerin. Guten Abend.«

Endlich durfte Mr. Null geben. Als er leise die Stubenthür hinter sich zuzog, erfüllte noch immer die Frage seine Seele: Was wird Teresa thun?


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