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Mann und Weib



Windygates

Siebzehntes Kapitel - Nahe daran

Die Bibliothek in Windygates war das schönste und größte Zimmer im Hause. Die beiden großen Abtheilungen, in welche die Literatur unserer Tage gewöhnlich eingetheilt wird, nahmen die üblichen Plätze in der Bibliothek ein. In den Repositorien, welche sich längs der Wände hinzogen, standen die Bücher, welche die Menschheit im Allgemeinen hochschätzt, aber nicht liest; auf den im Zimmer zerstreut stehenden Tischen lagen die Bücher, welche die Menschheit im Allgemeinen liest, aber nicht hochschätzt. Zu der ersten Klasse gehören die Werke der Weisen des Alterthums und die Geschichtswerke, Biographien und Aufsätze moderner Schriftsteller. Sie umfaßt Das, was wir gewöhnlich die ernste Literatur nennen; zu der zweiten Klasse gehören die Romane unserer Tage, gewöhnlich die leichte Literatur genannt. In Windygates, wie, anderswo, hielt man die Geschichte für einen hochstehenden Zweig der Literatur, weil sie sich auf Autoritäten beruft, von denen wir wenig wissen, und Romane für eine sehr niedrige Gattung der Literatur, weil sie es versucht, der Natur getreu zu sein, von der wir noch weniger wissen. In Windygates, wie anderswo, waren wir mehr oder weniger mit uns zufrieden, wenn man uns bei dem Durchblättern eines Geschichtswerkes fand, und schämten wir uns mehr oder weniger wenn man uns bei der Lectüre eines Romanes überraschte. Eine architektonische Eigenthümlichkeit in der Anlage der Bibliothek begünstigte die Entfaltung dieser ebenso gewöhnlichen wie merkwürdigen Form menschlicher Abgeschmacktheit. Während sehr bequeme, zu beiden Seiten der Bibliothek in einer Reihe aufgestellte Lehnsessel den Leser guter Literatur einluden, seinen guten Geschmack vor Aller Augen zu pflegen, setzte eine Reihe von kleinen behaglichen, mit Vorhängen versehenen Nischen, die in kleinen Zwischenräumen an verschiedenen Stellen in die Wände eingelassen waren, den Leser leichter Literatur in den Stand, im Verborgenen seiner lasterhaften Neigung zu fröhnen. Im Uebrigen waren alle sonstigen Einrichtungen dieser geräumigen und schönen Bibliothek so vortrefflich und so gewählt, wie das Herz es nur verlangen konnte. Gute und leichte Literatur, große und kleine Schriftsteller erhielten alle das gleiche, schöne und reichliche Licht durch die bis auf den Boden reichenden Fenster.

Es war der vierte Tag nach dem Gartenfest und etwa eine Stunde vor der Zeit, wo die Glocke zum zweiten Frühstück zu läuten pflegte. Die meisten Gäste waren im Garten und erfreuten sich der milden schönen Morgensonne, nachdem mehrere Tage lang Nebel und Regen geherrscht hatten. Eine Ausnahme von den Uebrigen bildetest zwei in der Bibliothek sitzende Herren. Es waren die beiden letzten Menschen in der Welt, von denen man hätte annehmen können, daß sie sich veranlaßt fühlen würden, in einem Bibliothekzimmer zusammen zu treffen. Der eine war Arnold Brinkworth und der andere Geoffrey Delamayn, Sie waren am Morgen zusammen in Windygates eingetroffen. Geoffrey war mit dem Nachtzuge in Gesellschaft seines Bruders von London gekommen. Arnold, der durch Feierlichkeiten denen er nicht hatte entgehen können, auf seinem Gute aufgehalten worden war, hatte den vorbei kommenden Zug am Morgen auf der seinem Gute zunächst liegenden Station benützt und war wieder in Windygates eintroffen, wie er es verlassen hatte, in Gesellschaft seines Freundes. Nach einer kurzen vorläufigen Begrüßung Blanches war Arnold wieder mit Geoffrey in der stillen Zurückgezogenheit der Bibliothek zusammen getroffen, um ihm den Rest seiner Mittheilungen über Anne zu erstatten. Nachdem er mit seinem Bericht über die Ereignisse in Craig-Fernie fertig war, verlangte ihn jetzt zu hören, was Geoffrey seinerseits zu sagen habe. Zu Arnold’s Erstaunen schickte sich Geoffrey an, die Bibliothek zu verlassen, ohne ein Wort zu äußern. Arnold hielt ihn ohne Umstände zurück.

»Nicht so rasch, Geoffrey!« sagte er, ich interessire mich für Miß Silvester ebenso gut, wie für Dich. Was denkst Du jetzt, wo Du wieder in Schottland bist, zu thun?«

Wenn Geoffrey die Wahrheit hätte sagen wollen, so hätte er ungefähr Folgendes mittheilen müssen: In dem Augenblicke wo er sich entschlossen hatte, die Rückreise in Gesellschaft seines Bruders anzutreten, hatte selbstverständlich auch der Entschluß, Anne zu verlassen, bei ihm festgestanden, aber weiter war er noch nicht gekommen. Wie er es anfangen sollte, das Mädchen, dass sich ihm hingegeben hatte, sitzen zu lassen, ohne sein schmachvolles Benehmen der Oeffentlichkeit preisgegeben zu sehen, darüber war er selbst noch völlig im Unklaren. Eine verworrene Vorstellung von einer Möglichkeit, Anne durch eine Heirath, die in der That gar keine Heirath sein sollte, zu beschwichtigen oder zu betrügen, war ihm während der Reise durch den Kopf gegangen. Er hatte gedacht, es müsse leicht sein in einem Lande, das wegen seiner lockeren Ehegesetze berüchtigt ist, eine solche Falle zu stellen, wenn er nur wüßte, wie! Und er hatte es für wahrscheinlich gehalten, daß sein wohlunterrichteter Bruder, der in Schottland lebte, leicht dahin zu bringen sein müßte, ihm ganz unschuldiger Weise mitzutheilen, was er zu wissen wünschte. Er hatte die Unterhaltung auf schottische Ehen im Allgemeinen gebracht, um das Terrain zu sondiren, aber Julius hatte sich mit der Frage nicht näher beschäftigt, wußte nichts davon und so hatte Geoffrey diesen Versuch wieder aufgeben müssen. Die nothwendige Folge dieses mißlungenen Versuches war, daß er jetzt in Schottland war, ohne irgend welche Aussicht zu seiner Erlösung zu haben, wenn ihm nicht ein glücklicher Zufall zu Hülfe kam. —— So standen die Dinge und das hätte er Arnold antworten müssen, als dieser ihn fragte, was er jetzt zu thun gedenke. »Natürlich das, was sich gehört«, antwortete er ohne zu erröthen.

»Es freut mich, daß Du mit Dir selbst so im Reinen bist!« erwiderte Arnold, »an Deiner Stelle würde ich ganz rathlos sein. Ich dachte neulich bei mir, ob Du wohl, wie ich es unfehlbar gethan hätte, endlich auf den Ausweg verfallen würdest, Sir Patrick um Rath zu fragen.«

Geoffrey sah ihm scharf in’s Gesicht. »Sir Patrick um Rath fragen? Warum würdest Du das an meiner Stelle gethan haben?« »Weil ich nicht gewußt haben würde, wie ich es anfangen soll, mich mit ihr zu verheirathen, und da ich in Schottland bin, so würde ich mich, natürlich ohne Namen zu nennen, an Sir Patrick gewandt haben, weil er ohne Zweifel die Verhältnisse auf das Genaueste kennt.«

»Und wenn ich nun nicht so vollkommen mit mir im Reinen wäre, wie Du meinst«, sagte Geoffrey, »würdest Du mir rathen« . . . .

»Sir Patrick um Rath zu fragen? Ganz gewiß. Er hat sein Leben mit dem Studium und der Anwendung der schottischen Gesetze zugebracht«, sagte Arnold »hast Du das nicht gewußt?«

»Nein!«

»Dann lasse Dir von mir rathen und consultire ihn. Du brauchst ihm ja keinen Namen zu nennen. Du sagst es sei der Fall eines Freundes!«

Die Idee erschien Geoffrey ebenso neu wie gut. Mit verlangenden Blicken sah er nach der Thür. Begierig, Sir Patrick auf der Stelle zu seinem Mitschuldigen zu machen, versuchte er es zum zweiten Mal, die Bibliothek zu verlassen, aber wieder vergebens.

Arnold hatte noch andere unangenehme Fragen zu thun und noch mehr unerbetenen Rath zu ertheilen. »Wo willst Du Miß Silvester treffen? fuhr er fort. »Du kannst nicht als ihr Gatte im Hotel erscheinen, das habe ich unmöglich gemacht. Also, wo anders willst Du sie treffen, sie ist ganz allein. Das arme Mädchen muß es überdrüssig sein, noch länger auf Dich zu warten, kannst Du es nicht einrichten, noch heute mit ihr zusammen zu treffen?«

Geoffrey, der Arnold, so lange er sprach, angestarrt hatte, brach jetzt in Lachen aus. Eine uneigennützige Besorgniß für das Wohlergehen einer anderen Person war eine jener feinen Empfindungen, zu deren Verständniß ihn seine Muskelerziehung nicht befähigt hatte. —— »Höre einmal, mein alter Junge!« platzte er heraus, »Du scheinst Dich ja ganz außerordentlich für Miß Silvester zu interessiren. Du bist Doch nicht gar in sie verliebt?«

»Komm, komm«, sagte Arnold ernsthaft, »Weder sie noch ich haben es um Dich verdient, das Du Dich in dieser Weise über uns lustig machst. Sie und ich haben beide in Deinem Interesse ein Opfer gebracht.«

Geoffrey wurde wieder ernster. Sein Gelteimniß war in Arnold’s Händen und der Maßstab für seine Schätzung von Arnold’s Charakter war, ihm selbst unbewußt, sein eigener Charakter. »Schon gut, schon gut!« sagte er in einem einlenkenden und entschuldigenden Tone, »ich habe ja nur Spaß gemacht!«

»«ache so viel Spaß, wie Du willst, wenn Du sie erst geheirathet haben wirst, bis dahin scheint mir die Sache sehr ernst!« Er hielt inne, dachte einen Augenblick nach und legte die Hand feierlich auf Geoffrey’s Arm. »Vergiß nicht«, nahm er wieder auf, »Du darfst gegen keine Seele etwas davon verlauten lassen, daß ich im Gasthofe gewesen bin!«

»Ich habe Dir ja schon einmal versprochen zu schweigen, was willst Du noch mehr?«

»Ich bin besorgt, Geoffrey! Vergiß nicht, daß ich in Craig-Fernie war, als Blanche dahin kam. Das arme Mädchen hat mir Alles haarklein erzählt, was dort vorgefallen ist, in der festen Ueberzeugung, daß ich damals meilenweit von ihr entfernt gewesen sei. Ich schwöre Dir, ich konnte ihr nicht in’s Gesicht sehen; was würde sie denken, wenn sie die Wahrheit erführe. Ich bitte Dich dringend, nimm Dich in Acht!«

Geoffrey fing an ungeduldig zu werden. »Das haben wir ja schon Alles auf dem Wege hierher miteinander besprochen, wozu denn Alles noch einmal wiederkäuen?«

»Du hast ganz »Recht«, sagte Arnold gutmüthig, »aber mein Gemüth ist diesen Morgen umdüstert, ich habe böse Ahnungen, ich weiß selbst nicht warum!«

»Gemüth?« erwiderte Geoffrey im Tone tiefster Geringschätzung. Dein Fleisch ist es! Weiter nichts, Du bist vierzig Pfund zu schwer. Zum Teufel mit dem Gemüth; ein gesunder Mensch weiß gar nicht, daß er ein Gemüth hat. Mach’ Dir Bewegung mit den Hanteln oder laufe im Ueberrock bergauf; schwitze es ’raus, schwitze es ’raus!« —— Mit diesem vortrefflichen Rath drehte er sich um und machte zum dritten Male den Versuch, das Zimmer zu verlassen. Aber das Schicksal schien beschlossen zu haben, ihn diesen Morgen in der Bibliothek gefangen zu halten. Dieses Mal war es ein Diener, der ihm mit einem Brief in den Weg trat: der Bote warte auf Antwort. Geoffrey sah den Brief an, die Adresse war von seinem Bruder, den er vor etwa drei Stunden an der Station verlassen hatte, was konnte er ihm schon jetzt mitzutheilen haben? Er öffnete den Brief; Julius meldete ihm, daß das Schicksal sich bereits günstig für ihn zu gestalten anfange. Zu Hause angelangt, habe er sofort Nachrichten über Mrs. Glenarm vorgefunden. Während seiner Abwesenheit hatte Mrs. Glenarm seine Frau besucht, war von dieser zu einem längeren Besuche eingeladen worden und hatte versprochen, der Einladung nächster Tage Folge zu leisten. »Nächster Tage«, schrieb Julius, »kann morgen heißen. Entschuldige Dich bei Lady Lundie und sieh Dich vor, daß Du sie nicht verletzest. Sage ihr, daß Familienrücksichten, die Du ihr bald mittheilen zu können hofftest, Dich nöthigtem nochmals an ihre Nachsicht zu appelliren, sei morgen hier und hilf uns Mrs. Glenarm aufnehmen. »Geoffrey war betroffen, als er sich plötzlich der gebieterischen Nothwendigkeit gegenüber sah, einen definitiven Entschluß zu fassen. Anne kannte den Landsitz seines Bruders. Wie, wenn sie in der Unmöglichkeit ihn anderswo zu finden, plötzlich in dem Hause seines Bruders erschiene und ihre Rechte auf ihn in Gegenwart von Mrs. Glenarm geltend machte? Er gab Befehl, daß der Bote warten solle, bis er eine Antwort geschrieben haben werde.

»Von Craig-Fernie?« fragte Arnold, indem er auf den Brief seines Freundes hinwies.

Geoffrey sah ihn finster an. Er hatte eben die Lippen geöffnet, um diese unbequeme Frage nicht allzu freundlich zu beantworten, als eine, von draußen Arnald rufende Stimme, das Erscheinen einer dritten Person in der Bibliothek ankündigte und die beiden Herren mahnte, daß es mit ihrer vertraulichen Unterhaltung zu Ende sei.


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