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Die Blinde



Zweites Kapitel - Nugent verräth sein Spiel

Ich habe den ersten Theil meiner Erzählung am Tage der Operation, den fünfundzwanzigsten Juni, geschlossen.

Ich beginne den zweiten Theil sechs oder sieben Wochen später, am neunten August.

Wie verfloß die Zeit während dieser Wochen in Dimchurch? Indem ich meine Erinnerungen auffrische, steigen die Vorgänge in der Familie während jener sechs Wochen wieder lebendig vor mir auf. Bei diesem Rückblick erscheinen sie trostlos, langweilig und ereignißlos. Ich begreife jetzt kaum mehr, wie wir es in jenen langweiligen Wochen aushielten, wie wir die gezwungene Unthätigkeit, die schwere Last der Ungewißheit ertrugen.

Lucilla ertrug den einförmigen Wechsel zwischen dunklem Schlaf- und dunklem Wohnzimmer, das fortwährende Tragen einer Binde, außer wenn der Arzt ihre Augen untersuchte, sie ertrug dieses Gefängnißleben und was schlimmer war, die Ungewißheit während ihrer Prüfungszeit, mit dem Muth der Hoffnung, der Alles ertragen lehrt. Mit Hilfe von Büchern, von Musik, von Geplauder und vor Allem mit Hilfe der Liebe überwand sie die träge Langeweile der aufeinander folgenden Stunden, bis der Augenblick gekommen sein würde, wo dies zwischen den Augenärzten streitige Frage, die schreckliche Frage, wer von den bei den, Herr Sebright oder Herr Grosse, Recht habe, sich entscheiden würde.

Ich war bei der Untersuchung, die schließlich allen Zweifeln ein Ende machte, nicht zugegen. Ich traf Oscar im Garten, jeder, auch der kleinsten Selbstbeherrschuug ganz so unfähig, wie ich ihn kannte. Wir gingen schweigend nebeneinander auf dem Rasen auf und ab, wie zwei Thiere in einem Käfig. Zillah war die einzige Zeugin der Untersuchung der Augen unserer armen Lucilla durch den deutschen Arzt. Nugent hatte versprochen, im anstoßenden Zimmer zu warten und uns vom Zimmer aus das Ergebniß zu melden. Aber Herr Grosse kam ihm noch zuvor. Wieder hörten wir ihn in seiner eigenthümlichen Redeweise rufen »Halloh! he, ho! Halloh! he, ho!« wieder sahen wir sein riesiges seidenes Schnupftuch zum Fenster hinauswehen.

Mich machte die Aufregung des Augenblicks — die Verzückung krank; denn in eine solche versetzten mich die drei elektrisirenden Worte: »Sie kann sehen.« Herr des Himmels! wie wir auf Herrn Sebright schalten, als wir uns in Lucillais Wohnzimmer Alle wieder vereinigt hatten.

Nachdem die erste Aufregung vorüber war, galt es neuen Schwierigkeiten zu begegnen.

Von dem Augenblick an, wo sie bestimmt wußte, daß die Operation gelungen sei, war unsere bisher so geduldige Lucilla wie umgewandelt. Sie lehnte sich jetzt unablässig gegen die Vorsichtsmaßregeln auf, welche den Tag, wo sie zuerst ihre Sehkraft würde erproben können, hinausschob. Es bedurfte meines ganzen Einflusses, der Bitten Oscar’s und des wüthenden Protestes unseres vortrefflichen deutschen Arztes, — mit Herrn Grosse war nicht zu spaßen, das kann ich versichern, — um sie in der ärztlichen Zucht, welche sie in ihren Klauen hielt, zu halten. Wenn sie ganz unlenksam wurde und sich die heftigsten Ausfälle gegen ihn in seiner Gegenwart erlaubte, so pflegte unser guter Grosse sie in einer Sprache, die er sich selbst zurecht gemacht hatte, fluchend zu schelten, wodurch er sie regelmäßig zum Lachen reizte und allmählig zum Gehorsam zurückbrachte. Ich sehe ihn noch, während ich dieses schreibe, wie er bei solchen Gelegenheiten mit funkelnden Augen und seinen schäbigen Hut schief auf dem Kopfe das Zimmer verließ. »So! Sie kleiner Feuerkopf! Wenn Sie die Binde, die ich Ihnen angelegt habe, anrühren, so soll Sie dieser und Jener — weiter sage ich nichts! Adieu!«

Und nun will ich von den Zwillingsbrüdern reden.

Durch feinen Besuch bei Herrn Sebright über die Zukunft beruhigt, zeigte sich Oscar während der Zeit, von der ich jetzt rede, von seiner besten Seite.

Lucilla’s Haupttrost während der Tage, die sie im dunkeln Zimmer zubringen mußte, bestand in dem, was ihr Geliebter thun konnte, um ihr Erleichterung zu verschaffen und sie zu ermuthigen. Und er ließ es nicht an sich fehlen; seine Geduld war unerschöpflich; seine Ergebenheit grenzenlos. Ich spreche es im Hinblick auf spätere Ereignisse mit betrübtem Herzen aus; aber ich sage nur die Wahrheit, wenn ich erkläre, daß er in jenen letzten Tagen ihrer Blindheit, wo seine Gesellschaft ihr so unschätzbar war, sich ihrem Herzen noch theurer machte. In wie feurigen Ausrücken pflegte sie von ihm zu reden, wenn sie und ich Nachts miteinander allein waren. Man verzeihe mir, wenn ich diesen Theil der Geschichte von Oscar’s Werbung unerzählt lasse. Ich mag nicht davon schreiben — nicht daran denken. Gehen wir zu etwas Anderem über.

Wir müssen uns jetzt mit Nugent beschäftigen. Arm wie ich bin, würde ich doch viel darum geben, wenn ich seiner nicht mehr zu gedenken brauchte. Aber es geht nicht. Ich muß von dem Elenden erzählen und Ihr müßt es lesen, ob wir mögen oder nicht.

In jenen Tagen der Gefangenschaft Lucilla’s geschah es zum ersten Mal, daß ich mich in meinem Liebling getäuscht fand. Er und sein Bruder schienen die Rollen getauscht zu haben. Jetzt fiel der Vergleich der beiden Brüder zu Nugent’s Ungunsten aus. Er überraschte und betrübte seinen Bruder dadurch, daß er Browndown verließ. »Alles was ich für Dich thun kann, habe ich gethan«, sagte er. »Für jetzt kann ich Niemandem hier mehr was nützen, laßt mich gehen. Ich roste in diesem elenden Nest ein; ich muß und will Abwechselung haben.« Vergebens versuchte es Oscar, durch Bitten bei Nugent eine Sinnesänderung hervorzubringen.

Eines Morgens war er, ohne irgendjemandem Lebewohl gesagt zu haben, verschwunden. Er hatte davon gesprochen, er werde eine Woche fortbleiben; er blieb einen ganzen Monat fort. Wie wir hörten, führte er während der Zeit ein wildes Leben mit wüsten Gesellen. Man berichtete uns, daß sich eine wahnsinnige Ruhelosigkeit, die Niemand erklären konnte, seiner bemächtigt habe. Eines Tages war er ebenso plötzlich, wie er verschwunden war, wieder da. Seine wankelmüthige Natur hatte ihn inzwischen in das entgegengesetzte Extrem seines bisherigen Verhaltens verfallen lassen. Er bereuete jetzt bitter sein unbedachtes Benehmen; er war in einem Zustand der Niedergeschlagenheit, aus dem man ihn vergeblich zu reißen suchte; er verzweifelte an sich selbst und an seiner Zukunft. Bisweilen sprach er davon, nach Amerika zurückzukehren und dann wieder wollte er sich als Freiwilliger anwerben lassen. Ich zweifle, daß irgend Jemand, der wie ich Tag und Nacht von der Sorge für Lucilla hingenommen gewesen wäre, an meiner Stelle jene Anzeichen richtig gedeutet hätte. Selbst wenn ich von Natur argwöhnisch gewesen wäre, was ich Gott sei Dank nicht bin, so hätte doch mein Argwohn in der Alles verschlingenden Atmosphäre angstvoller Ungewißheit die Morgens, Mittags und Abends in dem dunklen Zimmer auf mir lastete, nicht aufkommen können.

An diesen kurzen Notizen über das, was die Hauptpersonen dieser Erzählung während der sechs Wochen, welche den ersten Theil vom zweiten trennen, sprachen und thaten, mag es genug sein.

Ich nehme meine Erzählung am neunten August wieder auf.

Das war der denkwürdige Tag, an welchem Herr Grosse beschlossen hatte, das Experiment zu wagen, Lucilla die Binde abzunehmen und ihr zu gestatten, zum ersten Mal ihre Sehkraft zu versuchen. Der Leser erlasse mir, zu schildern, was er sich selbst besser vorstellen können wird, die rasende Aufregung die jetzt, wo wir an der Schwelle des für unser Alter Leben so verhängnißvollen Ereignisses, welches ich im Beginn dieser Blätter zu erzählen versprochen habe, standen, in unserem kleinen Kreise herrschte.

Ich war an jenem Morgen zuerst von allen Bewohnern des Pfarrhauses auf den Beinen. Mein leicht erregbares französisches Blut wallte wie im Fieber. Unwillkürlich drängte sich mir die Erinnerung an mein eigenes Schicksal in längst vergangenen Tagen auf in jenen Tagen, wo mein ruhmwürdiger Pratolungo und ich, nachdem wir dem Schicksal und den Tyrannen unterlegen waren, als Märtyrer jener undankbaren Republik (hoch lebe die Republik!), für welche ich mein Geld und mein Gatte sein Leben opferte, in England eine Zuflucht suchen mußten.

Ich öffnete mein Fenster und begrüßte die an einem klaren Himmel aufgehende Sonne als ein gutes Vorzeichen. Als ich eben wieder von dem Fenster zurücktreten wollte, sah ich, wie eine Gestalt aus dem Gebüsch geschlichen kam und auf den Rasen trat.

Die Gestalt kam näher und ich erkannte Oscar.

»Was in aller Welt machen Sie da zu dieser frühen Stunde«, rief ich ihm zu.

Er legte die Finger an die Lippen, trat dicht an mein Fenster heran und flüsterte mir zu:

»Still. Lassen Sie Lucilla nichts hören. Kommen Sie zu mir herunter, sobald Sie können. Ich muß Sie sprechen.«

Als ich zu ihm in den Garten hinunter kam, sah ich sofort, daß etwas nicht in Ordnung sei.

»Bringen Sie schlimme Nachrichten von Browndown?« fragte ich.

»Ich habe mich in Nugent getäuscht«, antwortete er.

»Erinnern Sie sich jenes Abends, wo Sie mir nach meiner Consultation bei Sebright entgegen kamen?«

»Gewiß.«

»Ich sagte Ihnen damals, daß ich Nugent bitten wolle, an dem Tage, wo Lucilla zum ersten Mal zu sehen versuchen würde, Dimchurch zu verlassen.«

»Nun?«

»Nun, jetzt weigert er sich, Dimchurch zu verlassen.«

»Haben Sie ihm denn Ihre Gründe angegeben?«

»Ganz genau. Ich sagte ihm, wie unmöglich es sei, vorauszusagen, was sich ereignen könne. Ich erinnerte ihn daran, daß so vielleicht von der größten Wichtigkeit für mich sein würde, die Vorstellungen, die Lucilla jetzt habe, eine Zeitlang aufrecht zu erhalten. Ich versprach ihm, ihn sobald Lucilla sich mit meinem Anblick ausgesöhnt haben würde, zurückzurufen und ihr in seiner Gegenwart die Wahrheit zu sagen. Alles das sagte ich ihm, und was glauben Sie, antwortete er mir.«

»Hm er es Ihnen positiv verweigert?«

»Nein. Er trat an’s Fenster und dachte eine Weile nach. Dann drehte er sich plötzlich um und sagte: »Was hast Du mir als Herrn Sebrigth Ansicht mitgetheilt? Herr Sebright war der Meinung, Lucilla würde sich bei Deinem Anblick, statt entsetzt zu sein, erleichtert fühlen. Wenn aber dem so ist, wozu brauche ich denn fortzugehen? Du kannst ihr ja auf der Stelle sagen, daß es Dein und nicht mein Gesicht ist, welches sie zuerst gesehen hat?« Bei diesen Worten steckte er die Hände in die Taschen — Sie kennen ja Nugent’s Manier — und trat wieder an’s Fenster, als ob er nun jede Schwierigkeit beseitigt habe.«

»Und was erwiderten Sie ihm?«

»Ich sagte: »Wenn aber Herr Sebright sich geirrt haben sollte?« Er antwortete mir nur: »Wenn aber Herr Sebright sich nicht geirrt haben solltet?« Ich folgte ihm ans Fenster; ich hatte ihn noch nie so unfreundlich gegen mich gesehen, wie in jenem Augenblick. »Was hast Du denn dagegen, Dich auf ein paar Tage zu entfernen«, fragte ich. »Das will ich Dir sagen«, erwiderte er. »Ich bin dieser ewigen — Verwickelungen überdrüssig. Es ist unnöthig und grausam, die Täuschung noch länger fortbestehen zu lassen. Herrn Sebrigth Rath ist gut. Laß sie Dich sehen, wie Du wirklich bist.« Mit diesen Worten ging er zur Thür hinaus. Etwas, ich weiß nicht, was es ist, hat ihn ganz aus der Fassung gebracht. Bitte, sehen Sie doch zu, was Sie mit ihm anfangen können. Sie sind jetzt meine einzige Hoffnung!«

Ich muß gestehen, daß es mir widerstrebte, mich in die Sache zu mischen. So plötzlich und auffallend Nugent auch seine Meinung geäußert hatte, so schien er mir doch unleugbar Recht zu haben. Andererseits aber sah Oscar so unglücklich und verzweifelt aus, daß es mir unmöglich schien, ihm gerade an diesem Tage noch einen neuen Kummer zu bereiten und ihm seine Bitte rundweg abzuschlagen. Ich versprach ihm, zu thun was ich könne — und schmeichelte mir im Geheimen mit der Hoffnung, daß die Umstände mich der Nothwendigkeit überheben würden, überhaupt irgend etwas zu thun.

Aber die Umstände sollten mein Vertrauen auf sie nicht rechtfertigen.

Nach dem Frühstück war ich in’s Dorf gegangen, um einige Einkäufe von Lebensmitteln zu dem würdigen Empfange des Herrn Grosse zu machen, als ich meinen Namen hinter mir aussprechen hörte und, als ich mich umdrehte, Nugent mir gegenüber stehen sah.

»Hat mein Bruder Sie diesen Morgen, noch ehe ich aufgestanden war, geplagt?« fragte er.

Die Art, wie er diese Worte sprach, ließ mich erkennen, daß er wieder in dieselbe verstockte unangenehme Manier verfallen sei, die mir schon bei meiner letzten Unterredung mit ihm im Pfarrhausgarten ebenso unerklärlich gewesen war, wie sie mir mißfallen hatte.

»Oscar hat diesen Morgen mit mir gesprochen«, erwiderte ich.

»Ueber mich?«

»Allerdings, Sie haben ihn sehr unglücklich gemacht.«

»Ich weiß! Ich weiß! Oscar ist schlimmer ins ein Kind. Ich fange an, alle Geduld mit ihm zu verlieren.«

»Es thut mir leid, Sie das sagen zu hören, Nugent. Sie haben seine Schwäche bisher so geduldig ertragen, nun werden Sie doch wohl heute Nachsicht gegen ihn üben können? Seine ganze Zukunft steht bei dem, was sich in einigen Stunden in Lucilla’s Wohnzimmer vielleicht ereignen wird, auf dem Spiel.«

»Er macht aus einer Mücke einen Elephanten und das thun Sie auch.«

Er sagte das in einem bitterem fast rohen Tone. Ich antwortete gleichfalls ziemlich scharf:

»Sie sind der letzte Mensch, der ein Recht hätte, das zusagen. Oscar befindet sich Lucilla gegenüber mit Ihrem Wissen und Ihrer Zustimmung in einer falschen Position. Im Interesse Ihres Bruders erklärten Sie sich mit der Täuschung, die gegen sie verübt worden ist, einverstanden. Jetzt bittet man Sie, wieder im Interesse Ihres Bruders, Dimchurch zu verlassen. Warum weigern Sie sich, das zu thun?«

»Ich weigere mich, weil ich mich zu Ihrer Auffassung bekehrt habe. Erinnern Sie sich, was sie mir damals im Gartenpavillon in Betreff Oscar’s und in Betreff meiner sagten? Sie sagten, wir machten uns Lucilla’s Blindheit in grausamer Weise zu Nutze. Sie hatten Recht. Es war wirklich grausam von uns, ihr nicht die Wahrheit zu sagen und ich möchte mich nicht länger des Vergehens mitschuldig machen, ihr diese Wahrheit zu verbergen. Ich weigere mich, die gegen sie bis jetzt geübte unwürdige Täuschung auch noch an dem Tage, wo sie ihre Sehkraft wieder erlangt, fortbestehen zu lassen!«

Ich bin völlig außer Stande, den Ton, in welchem er mir diese Antwort gab, näher zu bezeichnen. Ich kann nur sagen, daß mich dieser Ton für den Augenblick verstummen machte. Ich trat ihm einen Schritt näher und sah ihm mit einer unbestimmten bösen Ahnung scharf in’s Gesicht. Er sah mich, ohne betroffen zu sein, wieder an.

»Nun?« fragte er mit einem unangenehmen Lächeln, das die Herausforderung zu enthalten schien, ihm sein Unrecht nachzuweisen.

Sein Gesicht gab mir keinen Aufschluß; ich mußte mich ganz von meinem weiblichen Instinkte leiten lassen und dieser Instinkt warnte mich, seine Erklärung zu acceptieren.

»Sie haben also, wenn ich Sie recht verstehe, beschlossen, hier zu bleiben?« sagte ich.

»Allerdings.«

»Und was beabsichtigen Sie zu thun, wenn Herr Grosse ankommt und wir uns in Lucilla’s Zimmer versammeln.«

»Ich beabsichtige, in dem wichtigsten Augenblick in Lucilla’s Leben mit Ihnen Allen zugegen zu sein.«

»Nein, das kann nicht Ihr Ernst sein.«

»Ganz gewiß.«

»Sie vergessen etwas, Herr Nugent Dubourg.«

»Und das wäre, Madame Pratolungo?«

»Sie vergessen, daß Lucilla glaubt, der Bruder mit dem einstellten Gesicht seien Sie, und der Bruder mit der natürlichen Hautfarbe sei Oscar. Sie vergessen; daß der Arzt uns ausdrücklich verboten hat, bevor er ihr erlaubt haben wird, ihre Augen zu versuchen, sie durch irgend welche Erklärung aufzuregen; Sie vergessen, daß die Täuschung, welche fortbestehen zu lassen Sie sich eben positiv geweigert haben, nichtsdestoweniger, wenn Lucilla Sie in dem Augenblick, wo sie zum ersten Male ihre Sehkraft anwenden fortbestehen wird. Ihre bessere Ueberzeugung legt Ihnen die Verpflichtung auf, das Pfarrhaus nicht eher zu betreten, als bis Lucilla, die Wahrheit weiß.«

Mit diesen Worten hatte ich ihn gefangen. Er wurde todtenblaß; zum ersten Mal konnte er meinen Blick nicht ertragen und senkte die Augen zu Boden.

»Ich danke Ihnen, daß Sie mich daran erinnert haben. Ich hatte das wirklich vergessen.«

Er sprach diese demüthigen Worte leise vor sich hin. In seinem Ton oder in dem Senken seiner Augen lag etwas, was mein Herz schneller klopfen machte und eine unbestimmte Ahnung in mir erweckte, über die ich mir selbst nicht klar zu werden vermochte.

»Sie sind also einverstanden«, sagte ich »daß Sie nicht mit uns Uebrigen im Pfarrhause zugegen sein dürfen? Was denken Sie nun zu thun?«

»Ich werde in Browndown bleiben«, antwortete er.

Ich war überzeugt, daß er die Unwahrheit sagte; man frage mich nicht nach meinen Gründen; ich weiß, nicht warum, aber als er sagte: »Ich werde in Browndown bleiben«, war ich überzeugt, daß er die Unwahrheit sage.

»Warum wollen Sie nicht thun, was Oscar Sie gebeten hat?« fuhr ich fort. »Wenn Sie doch nicht zugegen sein können, warum nicht lieber fortgehen, als hier bleiben? Sie haben noch reichlich Zeit, Dimchurch zu verlassen.« .

Ebenso plötzlich, wie er vorhin die Augen gesenkt hatte, blickte er jetzt wieder auf.

»Halten Sie und Oscar mich für einen Stock oder einen Stein?« brach er zornig aus.

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Wem verdanken Sie das, was sich heute hier ereignen wird?« fuhr er in immer leidenschaftlicher werdendem Tone fort. »Mir verdanken Sie das. Wer war es, der ganz allein ihnen Allen gegenüber die Ueberzeugung vertrat, daß sie nicht zu lebenslänglicher Blindheit verurtheilt sei? Ich war es! Wer hat den Mann hierher gebracht, der ihr ihre Sehkraft wiedergegeben hat. Ich! — und ich allein soll jetzt nichts erfahren, welchen Ausgang die Sache nimmt? Alle sollen zugegen sein und ich allein soll fortgeschickt werden; Alle sollen sehen, ich aber soll — wenn Einer von Ihnen daran denkt — auf brieflichem Wege erfahren, wie sie in dem ersten himmlischen Augenblicke, wo sie die Welt zum ersten Male vor sich aufgeschlossen sieht, aussieht, was sie in diesem Augenblick thut und sagt?« Er machte eine heftige Bewegung mit der Hand und brach dann mit einem bitteren Lachen in die wilden Worte aus: »Ich setze Sie in Erstaunen, nicht wahr? Ich mache Anspruch auf eine Stellung, die ich einzunehmen kein Recht habe. Was kann mich die Sache interessieren? O, du lieber Gott, was geht mich das Mädchen an, dem ich zu einem neuen Leben verholfen habe?« Bei diesen letzten, mit wildem Hohn ausgestoßenen Worten versagte ihm die Stimme und er schluchzte. Er griff sich en die Brust, wie wenn er ersticken müßte, drehte sich um und ging fort.

Ich stand wie festgewurzelt. Plötzlich ging mir die Wahrheit auf wie eine Offenbarung. Endlich hatte sich mir das schreckliche Geheimniß enthüllt: Nugent liebte Lucilla.

Das Erste, was ich mich zu thun getrieben fühlte, als ich wieder zu mir kam, war, so rasch wie möglich wieder nach dem Pfarrhause zu eilen. Einen Augenblick war ich, glaube ich, wirklich von Sinnen. Ein wahnsinniger Argwohn hatte sich meiner bemächtigt, daß er nach dem Pfarrhause gegangen sei und eben jetzt bei Lucilla eindringe. Als ich aber zu Hause Alles ruhig fand, als Zillah mir versichert — hatte, daß kein Fremder in den von uns bewohnten Theil des Pfarrhauses gekommen sei, legte sich meine Aufregung ein wenig und ich ging in den Garten, um meine Fassung ganz wieder zu gewinnen, bevor ich es wagte, zu Lucilla zu gehen.

Nach einer Weile, als ich mich gefaßt hatte, machte ich mir meine Stellung klar. Es gab keinen Menschen in Dimchurch, dem ich hätte vertrauen können. Mochte daraus entstehen, was da wollte, ich mußte mich bei dieser schrecklichen Complication von Umständen ganz auf mich selbst verlassen.

Eben hatte sich mir dieser schreckliche Schluß aufgedrängt, hatte ich mich unter bitteren Thränen erinnert, wie hart ich den armen Oscar bei mehr als einer Gelegenheit beurtheilt habe, eben war ich zu der — Erkenntniß gelangt, daß mein Liebling Nugent ein so verächtlicher Schurke sei, und hatte ich den Entschluß gefaßt, nichts unversucht zu lassen, was weibliche List vermöchte, um ihn von hier fortzutreiben, als mich die — Stimme Zillahs die vom Hause her nach mir rief, nöthigte, mich wieder ganz den Forderungen des nächsten Augenblicks zuzuwenden. Ich ging unverzüglich zu ihr.

Die Amme hatte einen Auftrag an mich von ihrer jungen Herrin. Meine arme Lucilla fühlte sich einsam und geängstigt; sie konnte nicht begreifen, daß ich sie verlassen habe, und bestand darauf, daß ich sofort zu ihr kommen müsse. Bei dem Betreten des Hauses wandte ich meine erste Vorsichtsmaßregel gegen etn unerwartetes Eindringen Nugent’s an.

»Unser armes Kind«, sagte ich zu Zillah, »darf heute nicht durch Besuche gestört werden. Wenn Herr Nugent Dubourg kommen und nach ihr fragen sollte, so melden sie es nicht Lucilla, sondern mir.«

Mit diesen Worten ging ich zu meiner lieben Lucilla, deren Zimmer halbdunkel gemacht war.


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